Die wundersame Welt des Todes
Als der junge Mann das Zimmer von Frau Magda R. betrat, lächelte die hochbetagte Frau ihn an. „Wie geht es Ihnen?“ fragte er. „Ich fühle mich gut und in ihrer Nähe sogar sehr gut“ sie kicherte dabei wie ein junges Mädchen.
Der neue Praktikant konnte gut mit den alten Menschen umgehen. Bevor er im Seniorenheim „Hortensienweg“ sein Praktikum begann, erwarb er Praxiserfahrungen bei einem Bestatter. Er wollte sich nach dem Praktikum in unserem Hause entscheiden, ob für ihn eine Ausbildung als Bestatter oder Altenpfleger in Betracht kam. Er war seit einer Woche im Heim und wir waren mit seiner Arbeit sehr zufrieden. Über seine Persönlichkeit wunderten wir uns im Kollegenkreis.
Unser kleines Heim bot vierzig alten Menschen ein letztes Zuhause. Wir nahmen pflegebedürftige Menschen auf, die keine Angehörigen oder keinen Kontakt mehr zu ihren Familien hatten. Sie alle lebten in Altersarmut und ihr Heimaufenthalt wurde aus der staatlichen Pflegekasse bezahlt. Bewundernswert, wie einige von den Senioren ihren Lebensmut trotz Vereinsamung, Verarmung und Krankheit nicht verloren.
Wir bemühten uns, unseren Menschen den Aufenthalt im Heim so angenehm wie möglich zu gestalten. Wir hatten gut ausgebildetes Personal, doch leider viel zu wenig Planstellen. Die Pflege konnte sich nur auf das Nötigste beschränken. Der Umgang mit den Ärmsten der Armen unserer Gesellschaft war beschämend.
Deshalb waren wir froh, dass unser Praktikant sich Zeit für die Menschen nahm, ihnen vorlas, sie, sofern es noch möglich war auf Spaziergänge begleitete oder sie einfach in die Arme nahm und ihnen zuhörte. Für all die menschliche Zuwendung fehlten uns Gelder und Personal. Doch Till veränderte sich in den letzten Tagen.
Es mutete ein wenig seltsam an, dass Till, der Praktikant bei der Heimleitung vorsprach und eine Bitte aussprach. Ob es ihm als Praktikant möglich gemacht werden könne, bei einem Sterbeprozess eines unserer Hausbewohner unmittelbar dabei sein zu dürfen. Er hatte während seines Praktikums beim Bestatter die toten Menschen gesehen, aber das genüge ihm nicht. Till wollte den Übergang zwischen Leben und Tod hautnah miterleben. Er philosophierte bei jeder Gelegenheit über den Tod. Gab es eine Kunst des Sterbens? Oder ist der Tod der Beginn etwas Neuem, Schönem? Ist die Seele sterblich oder unsterblich?
Langsam fing es an zu nerven. Till war zwanzig Jahre jung und wir fanden, dass es ihm nicht gut tat, sich fast fanatisch mit dem Sterben zu beschäftigen. Seiner Bitte, ihn zu benachrichtigen, wenn der Tod eines Bewohners kurz bevor stand, kamen wir nicht nach.
Als eine Pflegerin der Frühschicht das Zimmer von Hermann K. betrat, sah sie sofort, dass der alte Mann verstorben war. Er war einer der ältesten Heimbewohner und sie gönnte ihm den Tod. Er war so schwach gewesen in den letzten Tagen. 86 Jahre waren ein gesegnetes Alter. Sie öffnete das Fenster und per Pieper informierte sie die Heimleitung. Er musste in der Nacht sehr unruhig gewesen sein, denn sein Kopfkissen lag halb auf seinem Gesicht. Seine Augen waren ungewöhnlich weit aufgerissen. „Er hatte es wohl sehr schwer gehabt“ dachte die Pflegerin. Es gab keinen Angehörigen, der von ihm Abschied nehmen konnte und man brachte den Leichnam in den Keller des Heims. Hier herrschte eine ausreichende Kühlung, bis der Amtsarzt und ein Beerdigungsinstitut ihre Dienste verrichten konnten.
Unser Praktikant schwieg den ganzen Tag. Er lief mit betrübter Miene herum. Wir hatten ihm von dem Ableben des Herrn K. berichtet und er schwieg. Er äußerte kein Mitleid, kein Empfinden. Nur seine Mundwinkel trafen fast auf der ihm zu Füßen liegenden Erde an. War er beleidigt, weil der werte Herr ohne ihn gestorben war? Es machte fast den Anschein.
Zwei Tage später starb Frau Magda R. im Alter von 79 Jahren. Während der Nachtschicht hatte sie den Notruf, der an ihrem Bett befestigt war betätigt und die diensthabende Pflegerin war auch sofort zur Stelle, aber es war zu spät. Sie lag zusammengekrümmt im Bett und ihre Arme lagen in Abwehrhaltung auf ihrem Gesicht.
Wir betteten sie neben Hermann K. im Keller. Zwei Todesfälle innerhalb kürzester Zeit lähmten den Betrieb unseres Hauses. Jeder Bewohner war uns ans Herz gewachsen und umso trauriger waren wir, wenn wir Abschied nehmen mussten.
Fröhlich pfeifend betrat unser Praktikant den Essenssaal. Wir nahmen es als Respekt, -und pietätlos wahr.
„Ist was?“ Er schaute grinsend und unverfroren in die Runde. Till wurde uns zunehmend unheimlicher. „Der Tod ist Erlösung und Erlösung bedeutet Freiheit. Freiheit gehört zu den Grundrechten der Menschheit“ sinnierte er vor sich hin. Er verteilte überall im Haus Prospekte einer ausländischen Sterbehilfeorganisation. Dabei lächelte er zynisch. Wir vernichteten die Prospekte und verboten ihm, sie weiter auszulegen. Eine ältere Pflegerin bemerkte während einer Dienstbesprechung, dass er aussähe wie Harold aus dem Film „Harold an Maude“ mit seinem korrekten Seitenscheitel und den gebügelten Hemden. Dazu trug er karierte Schlipse. Jugendliche trugen so etwas nicht. Es mag ein Spleen sein entgegnete unsere Heimleiterin, aber Till konnte gut mit den Menschen umgehen und seine Sprüche über den Tod tat sie als altkluges Gehabe ab.
In der darauffolgenden Nacht leuchtete die Notruflampe im Zimmer 4 auf. Mangels Personal waren wir in dieser Nacht personaltechnisch hoffnungslos unterbesetzt. Freundlicherweise hatte Till sich bereit erklärt, eine Nachtschicht zu übernehmen. Normalerweise durften Praktikanten nachts nicht eingesetzt werden, aber wir waren für seine Unterstützung sehr dankbar.
Herr Paulsen aus Zimmer 4 fuchtelte wild mit seinen Armen umher. Aus seinem Mund lief Speichel und vor lauter Erregung brachte er nur stotternde Worte zustande. Till saß auf seinem Bett und versuchte ihn zu beruhigen. Fast erschrocken drehte er sich um, als er uns wahrnahm. „Er muss wohl einen üblen Traum gehabt haben“ vermutete Till. „Aber ich konnte ihn beruhigen“. Im Dienstzimmer verzog sich Tills Gesicht wieder zu dieser zynischen Maske und er redete und redete. Eiskalt lief es uns den Rücken herunter, als wir ihn sagen hörten, dass der alte Herr P. wohl den Tod gehört haben muss und um seine Erlösung gebettelt hat. „Die Aura des Todes umgibt ihn, ich sehe Schatten um ihn herum.“ Er erhob sich vom Stuhl, blickte zur Zimmerdecke und mit tiefer Stimme sagte er laut und beschwörend „Ich bin der Befreier“ Wir schickten Till nach Hause. Zweifel überkahmen uns, ob dieser Praktikant noch in unser Heim passen würde.
Eine Kollegin sprach etwas aus, was uns alle beschäftigte. Könnte Till zu etwas Ungeheuerlichem fähig sein?
Wir beobachteten ihn. Gerade ging er Hand in Hand mit unserer ältesten Bewohnerin im Garten spazieren. Er musste ihr etwas Lustiges erzählen, denn ihr kleines, eingefallenes Gesicht lächelte verschmitzt. Sie wirkte glücklich. Wir waren berührt von dem Anblick dieses so ungleichen Paares.
„Heute ist ein guter Tag zum Sterben“ trällernd betrat Till die Wäschekammer. „Es reicht Till“ wir schauten ihn mahnend an. Er grinste und zog seine Krawatte gerade. Er nahm sich frische Bettwäsche aus dem Regal und schaute uns kokett an. Wir folgten ihm heimlich. Er ging in das Zimmer der alten Dame, die er vorhin so liebevoll im Garten begleitete. Frau Dorothea M. war 89 Jahre alt und erfreute sich bester Gesundheit. Seit Wochen bereiteten wir heimlich mit den anderen Bewohnern und dem Personal ihren 90. Geburtstag vor. In einem Monat sollte die große Feier stattfinden.
Till hielt sich ungewöhnlich lange im Zimmer von Frau Dorothea M. auf. Wir lauschten verbotener,- und unhöflicherweise an der Tür. Leise Musik drang aus dem Zimmer. Eine Musik, die wir bei Frau M. noch nie gehört hatten.
„Nun will die Sonn' so hell aufgehn,
Als sei kein Unglück die Nacht geschehn!
Das Unglück geschah nur mir allein!
Die Sonne, sie scheinet allgemein!
Du musst nicht die Nacht in dir verschränken,
Musst sie ins ew'ge Licht versenken!
Ein Lämplein verlosch in meinem Zelt!
Heil sei dem Freudenlicht der Welt!“
Mahlers Kindertotenlieder. Wir ahnten, dass nur Till für diese Musik verantwortlich sein konnte, denn Frau M. mochte keine klassische Musik. Unsere Heimleitung rief uns zu einer außerordentlichen Dienstbesprechung zusammen und wir eilten in das Heimleitungsbüro. Das seltsame Gebaren unseres Praktikanten stand auf der Tagesordnung. Die Heimleitung sprach sich für eine vorzeitige Beendigung des Praktikums aus. Eine hitzige und lebhafte Diskussion war die Folge. Einige von uns empfanden seine Arbeit mit den alten Menschen durchaus als Bereicherung, andere wollten mit so einem Spinner nicht länger zusammenarbeiten. Wir einigten uns auf eine schriftlich verfasste Abmahnung und formulierten klare Verhaltensregeln für Till. Wir wollten ihm noch eine letzte Chance einräumen, dieses Praktikum fortsetzen zu können. Als wir das Büro verließen war es 11 Uhr. Um diese Uhrzeit war es meistens still im Heim. Das Küchen-Pflegepersonal war mit den Essensvorbereitungen auf der Pflegestation beschäftigt. Die nicht pflegebedürftigen Bewohner hielten sich in ihren Zimmern auf und vertrieben sich ihre Zeit bis zum Mittag. Wir wollten Till das Ergebnis unserer Dienstbesprechung mitteilen, doch er meldete sich nicht. Sein Dienstpieper war auf Bereitschaft eingestellt. Das war merkwürdig.
Schnaufend kam Doktor Hellweg, der für dieses Seniorenheim zuständige Amtsarzt aus dem Keller. Sein Gesicht war puterrot angelaufen und er japste nach Luft. „Weshalb haben Sie mich nicht früher benachrichtigt?“ polterte er los. Herr K. und Frau R. sind keines natürlichen Todes gestorben. Sie sind erstickt. Ich werde sofort die Polizei in Kenntnis setzen müssen. Er rang nach Fassung.
Wir waren alle in heller Aufregung. Kurz darauf gellte ein markerschütternder Schrei durch das Haus. Eine Kollegin kam aus dem Zimmer von Frau Dorothea M. gelaufen. Ihr Gesicht war blass und sie schien fast ohnmächtig zu werden.
Wir betraten das Zimmer. Die Kindertotenlieder von Mahler liefen ohne Unterbrechung. „In diesem Wetter, in diesem Braus“. Till hatte wohl die Endlostaste der alten Stereoanlage aktiviert. Uns bot sich ein schrecklicher Anblick. Frau M. lag angezogen rücklings auf ihrem Bett. Ihre Hände waren um ihren Hals gepresst und die Augen hervorgequollen. Man sah förmlich die Todesangst in ihrem Gesicht. Sie war tot. Ihr Kopfkissen war vor ihr Bettgefallen.
Till? Wo war Till?
„Hier, hier, hier ist er“ kreischte eine Pflegerin. Im winzigen Badezimmer saß Till zusammengekrümmt an der Duschkabinenwand angelehnt. Sein Gesicht war aufgedunsen. Kleine Blutgerinnsel durchzogen sein Gesicht. Eine gelbliche Lache quoll unter ihm hervor und breitete sich auf den weißen Fliesen aus. Sein Blick ging ins Leere. Er war ebenfalls tot.
Wir rannten auf den Flur und jeder schrie jeden an. Panik brach aus.
Aus der Duschkabine schlängelte sich etwas Dunkelbraunes lautlos über die Beine von Till. Glänzend und anmutig kroch der schlanke Körper über den Leichnam von Frau M. Durch die geöffnete Balkontür glitt das Wesen auf den Balkon hinaus. Das angrenzende, halb gekippte Fenster von Alois S. bot Zuflucht. Der rüstige Mann hörte den regionalen Radiosender. Dieser unterbrach sein Programm für eine Eilmeldung.
„Warnung! Eine wichtige Durchsage. Soeben erreichte uns die Meldung, dass eine sehr gefährliche und äußerst giftige schwarze Mamba aus dem städtischen Zoo entwichen ist. Wir bitten alle Bürger und Bürgerinnen wachsam zu sein und Fenster und Türen geschlossen zu halten. Verständigen Sie sofort den Notruf, wenn Sie das Tier sehen. Ein einziger Biss kann zum Tode führen.“
Alois sah in pechschwarze Augen. Der gelbe Pupillenrand wirkte bedrohlich. Ihren Biss spürte er kaum.
~ Oh schöner Tod komm und mach mich glücklich ~
Texte: Ute Look
Bildmaterialien: Friedrich Wilhelm Murnau Faust
Tag der Veröffentlichung: 26.12.2013
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