Wahnsinns-Nacht
Eine Sommernacht 1974 kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag.
Kurz bevor ich die Wohnung verließ, schaute ich in die Küche hinein. Mein Vater saß auf seiner geliebten Küchenbank und lachte mir ins Gesicht. „Tschüss Papi“ rief ich ihm winkend zu. „Hab viel Spaß mein Schnütchen und komme nicht zu spät nach Hause“ Ich nickte kurz und dann zog ich die Eingangstür unserer Wohnung von außen zu.
Draußen atmete ich tief den Duft des herrlichen Sommerabends ein. Kurz zuvor hatte es geregnet und es roch nach frisch gewaschener Welt. Mein Fußweg führte mich in das nahe gelegene Ostertorviertel. Damals wie heute ein Stadtteil, der vielen alternativen Menschen ein Zuhause bot und bietet. Von Tante Emma Läden, über Dönerbuden, kleine Szene Cafés und Kneipen. Damals gab es in diesem Viertel viele besetzte Häuser. Ein buntes, lebendiges Lebens,- und Geschäftsviertel.
Hier verbrachte ich meine Jugend und besuchte meine Stammläden. Einer dieser Läden war die Diskothek „Lila Eule“. Dort fühlte ich mich sehr wohl. Sie spielten dort meine Musik. Rockmusik und keine typischen 70er Discohits , die damals gespielt wurden.
Ich ging vorbei an vielen historischen Altbremer Patrizierhäusern und freute mich auf den Abend bzw. die Nacht. Die neu gekaufte knallenge, rote Hose stand mir gut und passte wunderbar zu dem schwarzen, indischen Samtoberteil, welches mit vielen Bordüren und eingestickten, kleinen Spiegeln verziert war. Die Spiegelchen reflektierten im Straßenlicht. Bedauerlicherweise lag mein Freund mit einer Sommergrippe im Bett, aber er hatte nichts dagegen, dass ich unsere Freunde alleine treffen würde.
Am „Vierteleck“ rempelte mich ein junger Mann an und torkelte orientierungslos weiter. Er führte laute Selbstgespräche. Was er sprach konnte man nicht verstehen. Es waren wirre Laute, die seinem Mund entwichen und manchmal hörte es sich wie Hundegebell an. Ich kannte ihn. Alle aus dem „Viertel“, wie wir diesen Stadtteil nannten kannten ihn. Zumindest vom Sehen. Denn Zugang hatte niemand mehr zu ihm. Er war auf einem Trip hängengeblieben und tat mir sehr, sehr leid. Er lebte in seiner eigenen Welt. Ob es ihm gut ging, vermochte ich nicht zu beurteilen, aber er galt als harmlos und nicht gewalttätig.
In der „Eule“ angekommen, zahlte ich Eintritt und ging die Stufen hinab zur Theke. Bedingt durch das warme Wetter war der Laden nicht so gut besucht. Es waren auch kaum Freunde aus unserer Clique anwesend und ich beschloss, nicht allzu lange zu bleiben. Der junge Mann hinter der Theke begrüßte mich herzlich und mit einem Augenzwinkern fragte er „wie immer?“ Ich nickte und er stellte mir ein Glas Tomatensaft mit Eiswürfeln auf den Tresen. Es gab Zeiten, da mochte ich keinen Alkohol und trank dann liebend gerne Säfte. Das wurde unter meinen Freunden überwiegend akzeptiert.
Ich nahm mein Glas und stellte mich in die Nähe des DJ-Pults an einen kleinen Stehtisch. Etwas später bekam ich Lust auf einen Song, stieg ein paar Stufen zum DJ hoch und fragte ihn ob er „Whole Lotta Love“ von Led Zeppelin spielen könne. Er sicherte mir zu, dass er später meinen Wunschsong spielen würde. Zurück an meinem Tisch trank ich mein Glas leer und schaute mich um. Mir fielen zwei Typen auf, die unentwegt zu mir herüberstarrten. Die beiden hatte ich noch nie zuvor gesehen. Sympathisch waren sie mir nicht und meine innere Stimme raunte mir „Vorsicht“ zu. Ich beschloss, mich wieder an die Theke zu stellen, zumal ich dort auch jemanden aus meiner Clique gesehen hatte. Auf dem Weg dorthin merkte ich, dass mir etwas übel wurde. „Vielleicht hatte mein Freund mich angesteckt und eine Grippe war im Anmarsch“ dachte ich. Ich stellte mein Glas auf den Tresen und ging auf die Toilette. Im Waschraum ließ ich eiskaltes Wasser über meine Handgelenke laufen. Mir wurde immer übler und ich fasste den Entschluss, nach Hause zu gehen.
Als ich mich dem Ausgang näherte, tippte mir jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah in zwei grinsende Gesichter. Es waren die beiden Männer, die mich schon die ganze Zeit beobachtet hatten.
„Hey, hast Du nicht Lust mit zum Osterdeich zu kommen? Wir wollen uns noch ein Fläschchen Wein auf dem Rasen genehmigen. Es ist so schön warm draußen“ sagte einer von den beiden zu mir. Alles in mir schrie NEIN, ich möchte nicht und das sagte ich dann auch ganz laut. „Hey, sei doch nicht so eine Langweilertante“ der Ältere zog mich an meinem Oberteil. Ich riss mich los und rannte die Stufen nach oben, stieß die Eingangstür auf und rannte weiter in Richtung Viertelkreuzung. Dort blieb ich stehen und schaute mich um. Es war keine Spur von den beiden Typen zu sehen. Ich atmete tief durch. Mittlerweile war es fast zwei Uhr nachts und ich sog die frische Luft ein.
In den kleinen, verwinkelten Straßen, durch die ich auf meinem Heimweg ging, herrschte Stille. Kaum ein Fenster war beleuchtet. Ich musste mich an einem Zaun festhalten, weil der Boden unter meinen Füßen zu wanken begann. Es fühlte sich an, als befände ich mich auf einem Schiff bei hohem Wellengang. „Was war das?“ Ich schaute in den Himmel und begann zu frösteln. Im stärker werdenden Wind schwankten die Straßenbeleuchtungen hin und her. Mit jedem Schwenk veränderten sich ihre Farben. Gleißendes Neonlicht, mal pinke, grüne und blaue Farben wechselten sich ab. Sie machten mich schwindelig und ich hatte das Gefühl, dass ich mich übergeben müsste. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten, weil der Boden unter mir stärker anfing zu wackeln. Zum ersten Mal fühlte ich Verzweiflung und Panik in mir aufkommen. Ich ahnte, dass mir etwas ganz Schlimmes zugestoßen sein müsste und versuchte Schritt für Schritt nach vorne zu gehen.
Hinter mir hörte ich Stimmen. Ich drehte mich um und sah niemanden. Etwas krächzte mir ins Ohr, aber ich verstand es nicht. Lautes, unheimliches Lachen verfolgte mich. Ich versuchte, schneller zu gehen, um dem Gelächter zu entgehen. Eine hell erleuchtete Telefonzelle war meine Rettung. Das Licht, welches ich im Inneren der Zelle sah war regenbogenfarbig durchgemischt. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich kaum in der Lage war, mein Portmonee zu öffnen. Irgendwann gelang es mir und ich holte ein paar Zehnpfennigstücke heraus und rief meinen Freund an. Ich brauchte Hilfe und nun nahm am anderen Ende der Leitung niemand ab. Die Telefonzelle fing nun ebenfalls an zu wanken, ich ließ den Hörer fallen und floh aus der Enge der Zelle. Hinter mir hörte ich die Zehnpfennigstücke auf dem Boden aufschlagen. Schrecklich laut machte es unentwegt „klirr, klirr, klirr“. Die Aufprallgeräusche verwandelten sich in Kichern und Lachen. Taumeln und torkelnd ging ich auf der Straße weiter. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah ich mein Zuhause. Ein kleines Lächeln umspielte meinen Mund. „Sicherheit, gleich bist Du in Sicherheit“ raunte es in mein Ohr.
Ich weiß nicht, wie ich es schaffte, meinen Haustürschlüssel aus der Handtasche zu ziehen, aber ein paar Minuten später befand ich mich im Treppenhaus und vor einer weiteren riesigen Hürde. Wir wohnten im ersten Stock und nun stand ich vor Treppenstufen, die immer größer und höher zu werden schienen. Ich ließ mich fallen und krabbelte auf allen Vieren die Stufen hinauf. Ganz, ganz vorsichtig öffnete ich unsere Wohnungseingangstür. Meine Eltern sollten nicht wach werden. In diesen Minuten war ich völlig klar, ohne Schmerzen und ominösen Sinnestäuschungen. „Vielleicht war mir einfach nur schlecht gewesen“ dachte ich. Ich sollte mich gewaltig irren.
Der Wahnsinn begann.
Ich war so froh, dass meine Eltern meine Ankunft nicht mitbekommen hatten und zog meine Kleidung aus. Dann legte ich mich ins Bett und versuchte einzuschlafen. Im Dämmerschlaf fuhr ich hoch. Was waren das für kratzende Geräusche dicht neben meinem Bett? Ich war mit einem Schlag hellwach und knipste die kleine Nachttischlampe, die neben meinem Bett stand an. Obwohl das Fenster geschlossen war, wehte ein eiskalter Wind im Zimmer und die Gardinenvorhänge bauschten sich auf. Ganz langsam krochen aus den Vorhangfalten riesige, handtellergroße Spinnen. Pechschwarz und mit behaarten Beinen starrten sie mich an. Es wurden mehr und mehr. Sie krochen im Zeitlupentempo auf mich zu und ich erstarrte. Je näher sie kamen, desto größer wurden sie. Als eine Monsterspinne fast meinen Arm berührte sprang ich aus dem Bett. Neben meinem Kleiderschrank befand sich ein großer Standspiegel. Vor ihm blieb ich stehen und erstarrte vor Angst.
Mein Spiegelbild zeigte nicht mich, sondern eine grün fluoreszierende Medusa mit weit geöffnetem Mund aus dem eine ekelige Schleimmasse hervorquoll. Meine Augen waren blutunterlaufen und tausende Minischlangen wälzten sich auf meinem Kopf. Auch sie starrten mich an und lachten. Schallendes Gelächter und Raunen und Wispern erfüllte mein Zimmer. Ich fasste an meine Haare und griff in eine weiche Masse, die wie verfaultes Obst roch. Als eine von den Riesenspinnen auf meine Schulter kroch, stieß ich einen gellenden Schrei aus und sackte ohnmächtig zu Boden.
Als ich aufwachte, bemerkte ich, dass jemand meine Hand hielt. Ich sah in das lächelnde Gesicht meiner Mutter. Etwas unbeholfen setzte ich mich auf und schaute mich um. Ich lag in meinem Bett und alles um mich herum war normal. Ich atmete erleichtert auf.
„Es ist Mittwoch“ sagte meine Mutter. Ich hatte vier Tage geschlafen. Meine Eltern erzählten mir, dass sie durch die gellenden Schreie aufgewacht waren und mich nicht beruhigen konnten. Ich wollte in Panik aus dem Haus rennen und mein Vater hielt mich fest. Sie wussten nicht, was mit mir los sein könnte und riefen einen Notarzt herbei. Dieser klärte meine Eltern auf. Ein Bluttest ergab, dass ich unter dem Einfluss von LSD stand. Er klärte meine Eltern über die halluzinogene Droge auf. Durch die unfreiwillige Einnahme war ich auf einem Horrortrip gelandet. Es hätte ganz böse für mich ausgehen können, wenn ich nicht zu Hause bei meinen Eltern gewesen wäre, als die Horrorhalluzinationen begannen. Ich erzählte meinen Eltern von der Nacht in der Eule und von den beiden Männern. Nur sie konnten mir den Trip ins Glas geworfen haben. Nicht auszudenken, wenn ich mit ihnen gegangen wäre.
Bis zu zehn Jahren nach dem Trip litt ich unter unangenehmen Flashbacks.
Meine Eltern hatten mir beigestanden und mich gehegt und gepflegt. Es gab keine Vorhaltungen und ich bin ihnen sehr dankbar gewesen für ihre liebevolle Unterstützung.
Nie mehr hatte ich ein Glas unbeaufsichtigt stehen gelassen und harte Drogen waren und sind für mich absolut tabu.
Texte: Ute Look
Bildmaterialien: Titelbild: Gemälde von Alice Pike Barney, Wikimedia
Tag der Veröffentlichung: 13.11.2013
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