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Metamorphose

Metamorphose

 

Alf blieb wie angewurzelt stehen. In der Auslage der Musikalienhandlung lag sie.

 

Eine uralte Stainer Geige. Der geflammte Boden, der Löwenkopf und die kunstvollen Intarsien sprangen ihm sofort ins Auge. Sie war so wunderschön. Gebettet auf mitternachtsblauem Samt lag sie hingebungsvoll da.

Ihr Körper leuchtete kastanienbraun. Die hochgewölbte Decke streckte sich ihm förmlich entgegen.

Wie ein williges Weib. Bereit für ihn. Er musste sie haben, besitzen, fühlen, streicheln, beherrschen und bespielen.

 

Nur eine einzige Berührung wäre Erfüllung. Sein Leben!

 

Alfs Blick verklärte sich, er begann am ganzen Leib zu zittern. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm. Gedankenverloren streichelte er die Schaufensterscheibe. Sie war so nah bei ihm. Ihm schien, als schaute sie ihn an. Nur ihn. Alf, den unscheinbaren Mann. Mitte vierzig und ledig. Frauen hatten ihn nie interessiert.

 

Menschen interessierten ihn nicht. Ihre Banalitäten, ihre Kleingeistigkeit, ihr Dasein. Er verabscheute Menschen. Sie bewegten sich plump und sie rochen nach Kanalisation. Fehlentwicklungen seinem Empfinden nach.

 

Manchmal wurde er zu Hochzeitsfeiern eingeladen, wenn ehemalige Klassenkameraden oder seine Verwandtschaft ihn einluden. Gedanklich verschickte er Kondolenzkarten, doch er besaß Stil und sagte diese Feiern ab. „Bedauerlicherweise lässt es meine berufliche Situation nicht zu, dass ich an Eurem Glück teilhaben kann. Ich freue mich mit Euch und wünsche Euch alles Glück dieser Welt. Euer ergebener Alf“

 

Alf wurde von seinen Mitmenschen und Verwandten als Sonderling angesehen. Als Kind und Jugendlicher trat er scheu und linkisch auf. Man beachtete ihn kaum, allenfalls tuschelte man hinter vorgehaltenen Händen über sein Äußeres. Dichtgewachsene, schwarze Augenbrauen prägten sein eher fahles Gesicht. Mausgraue, eng zusammenstehende Augen ließen ihn etwas verschlagen aussehen. Seine hohe Stirn verlieh ihm Intellektualität. Dies wurde noch verstärkt durch das schüttere, schwarze Haar. Schon im Alter von fünfundzwanzig Jahren begannen ihm die Haare auszufallen. Es störte ihn nicht. Er machte sich nichts aus Äußerlichkeiten.

 

Seine große und einzige Leidenschaft in diesem Leben war klassische Musik.

Seine erste Geige bekam er an seinem fünften Geburtstag geschenkt. Linkisch und schüchtern strich er mit dem Bogen über das Instrument. Es hörte sich katastrophal an. Alf und sein Umfeld litten. Doch das änderte sich rasch. Fast über Nacht traf der kleine Junge die Töne. Fortan war er besessen davon, seiner Geige Leben einzuhauchen.

 

Kein Klassenkamerad konnte ihn davon abhalten nach der Schule mit seinem Fahrrad sofort in die Bibliothek zu fahren, um sich Notenblätter auszuleihen. Bereits als Kind versuchte er sich am perfekten Geigenspiel. Er war geradezu begierig, immer schönere Klangfarben aus seiner Geige hervor zu zaubern.

Er war der Star im Schulorchester.

 

Alf betrat das Musikaliengeschäft. Ein unsägliches Glücksgefühl überkam ihn, als er mit dem Geigenkasten das Geschäft verließ. In diesem Sarg lag sie. Die Geige aus der Auslage. „Jacobus Stainer in Absam prope Oenipontum“ stand auf dem kleinen vergilbten Zettel. Er hatte einen originalen Nachbau dieser berühmten Geige erworben. Der Händler schätzte das Baujahr um Achtzehnhundertachtzig. Seine Hände zitterten, sein Körper bebte. Seine Füße glitten ihm fast unter dem Boden weg. In seiner Hose pochte es. Alf schämte sich fast dafür. Er vibrierte und spürte Erregung, Sinnlichkeit. Sie gehörte ihm.

 

Der hohe Preis für die Geige störte ihn keineswegs.

 

Alf lebte zwar bescheiden, aber in gut situierten Verhältnissen.

 

Er bewohnte eine kleine Villa, die außerhalb der Stadtgrenze lag. In seinem großen Garten stand mittig ein weißer, barocker Pavillon.

 

Am Abend machte Alf es sich in seinem Haus gemütlich. Im Wohnzimmer knisterten die Flammen im Kamin und der Rotwein tat sein Übriges für die behagliche Wärme, die ihn umgab.

 

Alf saß in seinem Lieblingssessel, einem braunen Lederohrensessel, den er von seinem Urgroßvater geerbt hatte. Der uralte, an vielen Stellen beschädigte Sargkoffer lag vor ihm. Er öffnete ihn und holte die Geige behutsam heraus.

 

Sie! Sie war so makellos schön.

Vorsichtig strich er über sie. Über den Korpus, Hals, Schnecke bis hin zu den Wirbeln, die er zärtlich massierte. Sie war eine vollendete Schönheit. Alf nahm den mitgekauften Geigenbogen und strich sanft über die Saiten.

 

„Der Frühling“ von Vivaldi erklang.

 

Sie ließ sich leicht spielen. Sie folgte ihm. Sie war... Alf war irritiert. Sie war seine Muse. Der Bogen bewegte sich glatt über ihren Körper. Nie zuvor hatte er eine Geige so leicht spielen können. Es sah fast aus, als würde der Bogen selbständig über die Geige gleiten.

 

Durch das große Wohnzimmerfenster beobachte er, wie Nebelschwaden immer dichter heranzogen. Der kleine Pavillon im Garten war kaum noch zu erkennen.

 

Alf legte die Geige weg.

 

Es wurde Zeit, die Nachtruhe anzutreten. Als er die Samtvorhänge im Erker zuziehen wollte, fiel sein Blick nach draußen. Durch den Nebel hindurch sah er ein paar in weiß gekleidete Wesen vor dem Pavillon im Garten. Es schien, als ob sie tanzten. Sie tanzten im Gleichklang einer Musik, die er nicht hörte. Hin und wieder fassten sie sich an den Händen. Schemenhaft nahm er sie wahr. Wiegend umkreisten sie seinen Pavillon. Hin und her bewegten sie sich zu einer imaginären Musik. Er sah ihre langen Kleider im Wind flattern. Ihre wehenden Haare. Fast elfengleich sahen sie aus. Weiße, durchsichtige Geschöpfe im fahlen Mondlicht schaukelnd. Ab und an schwang sich ein Körper in die Luft, tänzelte dort kurz, fiel hinab und reihte sich wieder in den tanzenden Reigen ein.

 

Er hörte Stimmen. Aus weiter Ferne klangen sie gedämmt zu ihm herüber.

 

Begleitet durch ächzen und stöhnen vernahm er seinen Namen.

 

Aaalf, Aaalf riefen die Wesen. Ganz deutlich, obwohl es wie gehaucht klang konnte er die Wesen nach ihm rufen hören. Die Stimmen klangen nicht menschlich. Fast hätte man sie fein und zart nennen können, doch irgendwie ging etwas Bedrohliches von diesen Stimmen aus.

 

Alf starrte wie gebannt auf die tanzenden Wesen. Er konnte seinen Blick nicht abwenden. Eiskalt kroch es ihm den Nacken hoch.

 

 

Das konnte doch nicht sein. Wer waren diese Wesen? Er bekam nie Besuch. Der Garten war verschlossen und für Besucher nicht zugänglich.

 

„Es muss am Rotwein oder der Müdigkeit liegen“, dachte Alf. Bestimmt spielten ihm der Wind und die Nebelschwaden Streiche an diesem kalten Herbstabend.

 

Alf ging in sein Schlafzimmer und träumte. Er träumte von einer Frau, so schön vollendet geschwungen wie seine Geige. Niemals würde er einer Frau begegnen, die so perfekt sein würde wie „SIE.“

 

Am darauf folgenden Abend war es noch kälter. Fröstelnd zündete Alf Holzscheite in seinem Kamin an. Er setzte sich in seinen Ohrensessel und legte eine Decke über seine Beine. Sein Blick wanderte nach draußen zum Garten. Nichts, Stille! Nur die heranziehenden Nebelschwaden wurden wieder dichter. Ein paar Krähen zogen krächzend ihre Bahnen um den Pavillon und flogen mit lautem Geschrei in den nahe gelegenen Wald.

 

Alf hatte sich für diesen Abend etwas sehr Besonderes vorgenommen. Vor ihm lag ausgebreitet eine Studienpartitur der „Metamorphosen“ von Richard Strauss. Er beherrschte diese Komposition nicht.

Schon als Kind übte er sie erfolglos.

 

Diese von Strauss so intensive, ausdrucksstarke in elegischen Tönen gemalte Musik übte auf Alf eine nicht erklärbare Faszination aus. Er wollte sie perfekt spielen können. Nicht nur spielen, beherrschen. Er war geradezu besessen davon.

 

Er musste, es war seine Bestimmung. Seine Obsession.

 

In den letzten Jahren hatte Alf es aufgegeben, dieses Werk zu spielen. Es klang jedes Mal wie ein schlechtes Übungsstück.

 

Als Alf vor der Musikalienhandlung stand und die Geige auf dem Samt-Bett liegen sah, wusste er, dass nun die Zeit gekommen war. Für seine Musik.

 

Alf nahm behutsam seine Stainer Geige aus dem Sarg. Er küsste ihren Hals, strich immer wieder über den Korpus. Er fühlte eine unbändige Lust in sich aufkeimen. Mit ihr würde er die „Metamorphosen“ spielen können. Nur mit ihr! Sie waren beide dafür geschaffen.

 

Eine Symbiose der bedingungslosen Leiden, der hingebungsvollen Leidenschaft!

 

Draußen wurde es nebeliger. Alf fühlte es, er stand auf und ging zum Fenster.

 

Was er erkennen konnte, ließ das Blut in seinen Adern gefrieren. Im Mondlicht war sein Pavillon umrahmt von menschenähnlichen Wesen. Es waren weitaus mehr als am Abend zuvor. Dicht an dicht hielten sie einander an den Händen. Im Nebel waren sie fast nicht erkennbar. Im Einklang mit den Nebelschwaden bewegten sich die weißen Gestalten ganz langsam auf sein Haus zu. Sie riefen unaufhörlich seinen Namen und diesmal hegte er keinerlei Zweifel daran, dass er nur übermüdet war und sich die Stimmen einbildete. „Aaaaaalf, Aaaalf, Aalf“ hörte er sie laut rufen. Die Rufe klangen seufzend herüber und die Wesen kamen immer näher. Eine wabernde weiße Masse.

 

Der Pavillon war gänzlich im Nebel verschwunden.

 

Alf hielt sich die Ohren zu. Er zitterte am ganzen Körper. Angstschweiß tropfte von seiner Stirn herunter. Wie hypnotisiert starrte er aus dem Fenster. Die weißen Kreaturen hatten sein Haus erreicht und standen im großen Reigen unterhalb seines Fensters. Hunderte Augenpaare starrten erwartungsvoll zu ihm hinauf. Er konnte ihre Gesichter kaum erkennen, denn sie waren in den Nebelschwaden eingehüllt. Ein spitzer Schrei entwich ihm, als das Mondlicht einen kurzen ungetrübten Blick auf die Wesen frei gab. Er schaute in pupillenlose weiße Augen. Tote Augen.

Er wich zurück. Auf wackeligen Beinen ging er zu seinem Sessel.

 

Taumelnd ließ Alf sich in seinen Ohrensessel fallen. Auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Sessel lag der Geigenbogen.

 

Alf sah den Geigenbogen auf sich zu schweben.

 

Tief drang der Bogen in ihn ein und durchbohrte mit Wucht sein Herz. Sein Kopf fiel nach vorne.

 

Ganz sanft begann der Bogen durch ihn hindurch zu streichen. Es erklangen die „Metamorphosen“. Düster, elegisch, ergreifend und prachtvoll.

 

Alfs Körper schwang gleichmäßig im Takt der Musik mit. Hin und her. Sein toter Körper schien schwerelos.

 

In dieser Nacht hörte kein irdisches Wesen ein schöneres, perfekteres, schwermütigeres Lamento. Alfs Mund lächelte verzückt. Seine Gesichtszüge waren völlig entrückt. Die Blutlache vor seinem Sessel wurde größer und größer.

 

Es brandete tosender, frenetischer Applaus inmitten wehklagender Gluckse auf.

 

Dicht vor seinem Sessel standen die Geisterwesen. Im Kreis schwangen sie ihre blassen Körper langsam hin und her wie Geigenbögen.

 

Sie lächelten und verneigten sich als der Schlussakkord erklang.

 

Eine prächtige Apotheose.

 

Letzter Akt:

Alfs Verwandlung war vollendet.

 

 

© Ute Look



Impressum

Texte: Ute Look
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2013

Alle Rechte vorbehalten

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