Freundinnen
Ich sitze im Zug. Vor mir liegen 800 km Fahrt.
Fünf Jahre sind seit unserem letzten Treffen vergangen.
Noch 700 km.
Es war auf dem Abi-Ball und Du trugst dieses scheußliche, plüschige Kleid mit den Schulterpolstern. Du wolltest Dich ein einziges Mal in eine „Grande Dame“ verwandeln. Ich schämte mich fast ein wenig neben Dir. Du hattest es nicht bemerkt. Das Kleid passte überhaupt nicht zu deinem kurzen Pagenkopf. Es passte einfach nicht zu Deiner burschikosen Art und Erscheinung. Es war überhaupt das erste Mal, dass ich Dich in einem Abendkleid sah. Aber Du hattest Spaß auf der Feier. Ich sehe Dich jetzt noch vor mir, wie Du kokett Deinen Kopf nach hinten warfst. Flirtest und lachtest. So schön, einfach nur schön. Deine Augen glitzerten und Du warst verliebt. In diesen Chaoten. Ich konnte es nachvollziehen. Björn hatte es einfach drauf. Klug, charismatisch …kurzum unser aller Schwarm.
Wir tanzten, bis sich die Sonne über uns lustig machte. Die Sonne tänzelte am Himmel hin und her und Du und ich gingen, nein wir schwankten Arm in Arm die Straßen entlang. „Was wollen wir trinken sieben Tage lang?“ Wir sangen und lachten.
Noch 600 km.
Als wir uns kennen lernten, trugst Du lange Zöpfe. Schüchtern fragte ich Dich, ob ich mich neben Dich setzen dürfe. Du lachtest mich schelmisch an und klopftest auf den freien Stuhl.
Unser erster Schultag war geschafft. Ein schöner Sommertag. Heitere, beschwingte Sommer sollten folgen.
Wir waren damals wie siamesische Zwillinge. Du, die aufgeweckte, freche Göre. Ich, die ruhige und schüchterne. Im Gummitwist schlug ich Dich. Ich war stolz auf mich, denn eigentlich war ich unsportlich bis zum Abwinken. Abwinken ist das Stichwort. Du hattest Deine festen Plätze bei den Schul- Mannschaften. Mich wollte niemand für die Staffellaufmannschaft haben, denn ich war ein Garant dafür, die Staffel vor dem Zieleinlauf fallen zu lassen. In meinen Ohren klingt noch heute das hämische Lachen meiner Mitschüler. Sport war Mord. Für mich, für Dich nicht. Du warst der Liebling unserer Sportlehrer.
Irgendwie muss ich jetzt seufzen. Keine sprang so voller Ehrgeiz über den Bock wie Du. Damals war ich eifersüchtig auf Dich. Hörst Du? Ich sitze hier im Zug und hoffe, dass Du es hörst. Du wirst meine Gedanken lesen können, ich weiß es. Du wirst lächeln und Deine Grübchen zeigen. „Ach komm, dafür bist Du besser in Geschichte und Erdkunde“ wirst Du nun sagen.
Ich erinnere mich an Deinen Eintrag in mein Poesiealbum „Mach es wie die Sonnenuhr,
zähl die heiteren Stunden nur.“ Du hattest darunter mit Buntstiften ein Bild gemalt. Ein Motorrad. Kein aufgeklebtes Glitzerbildchen wie die meisten meiner Mitschülerinnen und Klassenkameraden mein Poesiealbum verschönerten. Nein. Du warst schon immer etwas eigen.
Damals war ich empört. Was sollte das denn? So eine schräge Zeichnung und in meinen Augen noch nicht einmal eine schöne Zeichnung zierte fortan mein Album.
Gerade muss ich lachen und die Leute im Zug schauen mich merkwürdig an. Es ist mir egal. Damals hatte ich überlegt, Deinen Eintrag herauszureißen. Heute bin ich froh, es nicht getan zu haben.
Noch 500 km.
Kannst Du dich noch an den Jungen aus der Parallelklasse erinnern? In den ich so schrecklich verliebt war? Er lud mich damals auf die Klassenfete ein und wenig später knutschte er mit einer anderen. Du nahmst mich in deine Arme und sagtest: „Der Kerl ist doof.“ Recht hattest Du.
Ein Jahr später, als Du mich heulend zu Hause besuchtest, sprach ich die gleichen Worte zu Dir. Wir kicherten und am Abend sind wir in die Jugenddisco gegangen und flirteten mit allen anwesenden Jungs.
Noch 300 km.
Nach dem Abi zogst Du in die Stadt, in die mich dieser Zug jetzt fahren wird. Dort hattest Du einen Studienplatz bekommen. Ich war traurig, weil Du weggezogen warst.
Regelmäßig schriebst Du mir und in deinen Briefen las ich, dass es Dir sehr gut geht. Du warst immer die abenteuerlustigere von uns beiden. Selbstbewusst, kämpferisch und dickköpfig. Ich hab Dich immer bewundert. Weißt Du das?
Einen von deinen letzten Briefen, die Du mir geschrieben hattest, halte ich gerade auf meinem Schoß. Darin las ich, dass Du dein Studium erfolgreich mit Aussicht auf eine Festanstellung abgeschlossen hattest. Du legtest ein Bild von Dir bei. Deine Grübchen waren immer noch vorhanden und dieses unsagbar schelmische Grinsen. Nur deine Haarfarbe hatte sich geändert. Ein leuchtendes Rot. Steht Dir. Dass Dich dein damaliger Freund verlassen hatte, als Du ihm deinen Mutterpass zeigtest, stimmte mich damals und jetzt beim wiederholten lesen im Zug traurig. Deine Entscheidung, das Kind nicht auszutragen respektierte ich.
Über den allerletzten Brief, den ich von Dir erhielt freute ich mich damals wahnsinnig. Es war eine Einladung zur Hochzeit. Deine Hochzeit. Niemals hätte ich gedacht, dass ausgerechnet Du heiraten würdest. Du fandst es doch immer so spießig mit Trauschein verbandelt zu sein. Dieser Kerl musste Dir mächtig den Kopf verdreht haben.
Leider konnte ich damals nicht an Deiner Hochzeitsfeier teilnehmen. Noch heute bereue ich es zutiefst. Eine kleine Entschädigung waren die Bilder. Du warst eine so schöne und strahlende Braut. Nun konnte ich auch verstehen, dass Du diesen Mann heiraten wolltest. Ihr passtet einfach ganz wunderbar zusammen.
Danach brach der Kontakt zwischen uns ab. Oft dachte ich an Dich. Ich vermutete, dass Du es mir nicht verzeihen konntest, dass ich nicht zu Deiner Hochzeit gekommen war. In meinem Leben veränderte sich damals auch viel und so gerietst Du ein wenig in Vergessenheit.
Noch 100 km.
Ich war ziemlich erstaunt, als ich dann vor fünf Jahren einen Anruf von Dir erhielt. Du hattest in deinen Sachen gestöbert und uralte Bilder von uns beiden gefunden. Ich zögerte keinen Moment, als Du fragtest, ob wir uns treffen wollen.
Meine tausend Fragen an Dich wolltest Du nicht beantworten. Nicht am Telefon sagtest Du.
Und wir beide lachten.
Ich fuhr zu Dir und lernte dann auch deinen Mann kennen, mit dem ich mich auf Anhieb gut verstand. Wir verbrachten ein wunderschönes Wochenende miteinander. Unvergessen! Noch immer warst Du so quirlig und lebensfroh wie in unseren Kindheitstagen. Wir redeten und redeten und mir tat Dein Mann fast leid, denn er fühlte sich ein wenig ausgeschlossen. Eines meiner schönsten Wochenenden nahte sich dem Ende und beim Abschied versprachen wir uns, uns zukünftig öfter zu sehen.
Noch 50 km.
Während dieser letzten Kilometer schaue ich aus dem Fenster. An mir ziehen Wälder und Wiesen in sattem Grün vorbei. Der Sommer hat ein buntes und fröhliches Gesicht in die Natur gemalt.
Der Zug hält und ich steige aus.
Dein Mann steht am Bahnsteig und holt mich ab. Ich schaue in ein ernstes und trauriges Gesicht. Wortlos nehme ich ihn in meine Arme.
Nun stehe ich vor Deinem geöffneten Grab und muss Abschied nehmen von Dir.
Der Anruf Deines Mannes vor einer Woche traf mich mitten ins Herz. Jemand verursachte einen Verkehrsunfall und Du musstest gehen. Deinen Weg gehen. Ob er vorher bestimmt war?
Du wirst meine Tränen sehen und ich bin mir sicher, dass Du lächelst und mir über die Wange streicheln möchtest.
Ich möchte alleine sein.
Der Bahnhof liegt neben dem Stadtpark. In diesem Park sind wir damals zusammen spazieren gegangen und hatten uns auf einer Wiese gebräunt. Ich laufe einen Weg entlang, der mich an großen Bäumen vorbei zu einer kleinen Bank führt. Ich setze mich und lausche dem Vogelgesang.
„Ob Du wohl jemals auf dieser Bank gesessen hast?“ Glücklich lachend, weinend, verliebt oder traurig?
Leb wohl geliebte Freundin!
Am Ticketschalter löse ich eine Rückfahrkarte ein.
Im August 1998 liegen 800 km vor mir nach Bremen zurück.
Meine liebsten Freundinnen und ich (links unten)
Texte: Ute Look
Bildmaterialien: Ute Look
Tag der Veröffentlichung: 05.07.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für Dich!