Prolog
Lachend nahm er mich an die Hand und zog mich zu seinem Wagen. Ich sträubte mich, weil ich ahnte, was auf mich zukommen würde.
„Feigling, Feigling“ rief er mir zu und dann sagte er im ernsten Tonfall „Es wird Zeit, dass Du es lernst, schließlich können es alle aus Deiner Klasse“. Kaum hatte er das Wort Klasse ausgesprochen, drehte er sich schallend lachend um und zeigte auf die geöffnete Beifahrertür.
Schmollend und zögerlich ging ich auf den uralten R4 zu und setzte mich hinein. Gerd grinste mich an und dann fuhren wir los. Während der Fahrt wurde mir ganz mulmig und ein wenig schlecht. „Na Kleine, Muffensausen?“ Wenn er doch nur nicht immer so hämisch grinsen würde dachte ich.
Nach ca. 30 Minuten Fahrt hielten wir an einer kleinen Waldlichtung an. Ich wagte nicht zu Gerd herüberzuschauen, ahnte ich doch sein breites Grinsen.
„Wir sind angekommen Kleine und wie Du siehst, ist es hier menschenleer“. Ich stieg aus dem Klapperkasten, Verzeihung lieber Gerd R4 und er öffnete die Heckklappe. Da lagen sie zusammengekrümmt. Ein blaues und ein grünes Ungeheuer . Gerd zog die bunten Dinger heraus und mit wenigen Handgriffen standen zwei Klappfahrräder vor uns.
Bei diesem Anblick wurde ich noch kleiner als ich es sowieso schon war/bin. Gerd schob mich auf das blaue Rad zu und dann war er in seinem Element. Er zeigte auf die verschiedenen Bauteile und ich vernahm „Sattel, Lenker, Rad, Pedal, Rahmen, Kette, merken musst Du Dir aber nur eins: Bremsen und Absteigen „
Ha, ha, ha…ich hasste ihn.
„Nun löse den Ständer“ Gerd prustete los. So albern kannte ich ihn bisher nicht, aber ich musste auch lachen.
„Wir schieben erst mal, damit Du ein Gefühl für das Rad bekommst“ Das war mir sehr recht, denn uns kam ein Spaziergänger-Paar mit Hund entgegen und ich wollte nicht auffallen. Bloß nicht auffallen!
Während ich das Rad schob, erwachte eine Art Pioniergeist in mir. Ich blieb stehen und schaute zu Gerd. „Nicht lachen“ ermahnte ich ihn. „Ich doch nicht, niemals“ er versuchte das Lachen mühselig zu unterdrücken.
Gerd stellte sich vor mein Rad und hielt mit seinen Händen den Lenker fest, während ich auf das Rad stieg und mit beiden Händen ebenfalls den Lenker krampfhaft festhielt. Ich setzte meinen rechten Fuß auf das Pedal und trat zu, währenddessen mein linker Fuß Luft schnappen durfte. Das Rad setzte sich in Bewegung und Gerd stieß einen markerschütternden Schrei aus, als er sich mit einem Hechtsprung zur Seite rettete und seinen rechten Fuß rieb. „Geschieht ihm ganz recht“ dachte ich hämisch.
Nun hatte ich freie Bahn. Ich trampelte auf den Pedalen herum, als sei der Teufel hinter mir her. Der Lenker schlug wild nach rechts und links aus und Balance war nur noch Wunschdenken. Das Ungeheuer machte, was es wollte. Natürlich nicht in meinem Sinne. Wo war die Bremse? Ich erinnerte mich und zog voller Panik an dem Griff am Lenker.
Ein fataler Fehler.
Als ich vom Boden aufblickte, sah ich die rettende Hand. Gerd half mir hoch. Mit schmerzverzehrtem Gesicht richtete ich mich auf.
Wer um Himmels Willen hatte nur diese Höllenmaschinen erfunden? Es muss ein Sadist gewesen sein.
Gerd kullerten die Lachtränen von den Wangen herunter und ich schmiedete Rachepläne.
Meine Rachepläne wurden bösartiger, als ich folgende Worte vernahm:
„Das nächste Mal vergesse ich nicht, die Stützräder für Dich zu montieren“ Er prustete es förmlich heraus.
An diesem denkwürdigen Nachmittag im Jahre 1977 hatte ich meine erste Fahrradfahrstunde, war 21 Jahre alt und befand mich im ersten Semester Sozialpädagogik an der Uni Bremen.
„Schließlich können es alle aus Deiner Klasse“ hallte es in mir nachhaltig nach. Ich hätte ihn würgen können.
Gerd, der Boshafte war mein Freund und Höllenmaschinen-Fahrlehrer :-)
Danach fuhren wir mit den Klapprädern fast jedes Wochenende in den Wald und ich wurde sicherer.
Mächtig froh war ich, als ich mich traute, das erste Mal dem Bremer Straßenverkehr meine Fahrkünste präsentieren zu dürfen (sogar ohne Stützräder…kicher)
Ein gebrauchtes 26er Rad war mein ganzer Stolz. Ich lernte die Seele meines stählernen Freundes kennen und seine Feinde. Seine Feinde und meine Feinde waren schnellere Artgenossen mit ihren verwegenen Jockeys auf den Sätteln, rote Ampeln, rechtsabbiegende PKWs und
STRASSENBAHNSCHIENEN
Zielstrebig steuerte ich auf ein besonders schönes Exemplar zu. Mein Radvorderreifen und das Straßenbahngleis verschmolzen zu einer Symbiose und ich katapultierte kopfüber auf den grauen Asphalt.
Benommen stieg ich von dem ambulanten OP Tisch mit einer frisch vernähten Stirnwunde und von diesem Moment an gingen mein Drahtesel und ich getrennte Wege.
Für alle Zeiten war ich Fahrradbefreit.
Epilog
Als Kind hatte ich das Fahrradfahren nie gelernt. Ich konnte perfekt Rollschuhlaufen, Eislaufen, Rollerfahren, aber auf ein Fahrrad traute ich mich nie.
Während meiner Schulzeit vertuschte ich so gut es ging, dass ich nicht Fahrrad fahren konnte.
Ich erfand Ausreden, um nicht an Fahrradtouren teilnehmen zu müssen. Ausreden auch als Teenager in meiner Clique. Man wird unglaublich erfinderisch.
Nach dem Gleisunfall bin ich bis heute nie wieder auf ein Fahrrad gestiegen. Heute fällt es mir leicht zuzugeben, dass ich nicht Fahrrad fahren kann. Es gibt allerdings Menschen in meinem Umfeld, die das nicht verstehen wollen oder können. Z. B. bei meiner Schwiegermutter stoße ich auf Unverständnis, weil „Fahrrad fahren kann doch jeder“. Sie kann nicht Autofahren. Ich ja. Meinen Führerschein habe ich mit 18 Jahren gemacht. Viele Menschen können nicht schwimmen.
Und Du? Kannst Du alles? :-)
© Ute Look 2.2013
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Tag der Veröffentlichung: 02.02.2013
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