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Winterkälte

Ich benötigte Ruhe, einfach nur Ruhe.

Am Samstag vor dem dritten Adventssonntag war in der Stadt die Hölle los. Schon am Vormittag wälzten sich die Menschenmengen durch die Läden. Überall aufgesetzte Weihnachtlichkeit. Scheußliche künstliche Weihnachtsbäume glitzerten und blinkten um mich herum. Kitschige Lichter wohin man blickte. Aus den Lautsprechern plärrte "Oh Du Fröhliche"

Vom Stress gezeichnete Verkäufer und Käufer. Weinende und quengelnde Kinder.

Raus!

Ich benötigte Ruhe und Einsamkeit.

Ich setzte mich in meinen Wagen und fuhr aus der Stadt heraus. Gegen sechzehn Uhr wurde es langsam dunkel und ich parkte am Rande einer kleinen Waldschneise. Den Weg bis zu dem kleinen See kannte ich noch vom Sommer. Er lag etwas versteckt, war bislang ein Geheimtipp und wurde fast ausschließlich von den Bewohnern des nahe gelegenen Dorfes besucht.

Die Stille um mich herum war beeindruckend, aber auch etwas unheimlich. Kahle Bäume, deren Äste unter der klirrenden Kälte und dem Schnee knarrten. Ich zuckte zusammen, denn direkt über mir krächzte ein Rabe und flog aufgeschreckt davon.

Ich erreichte den kleinen zugefrorenen See. Zu meiner Freude vernahm ich Lachen. Ein paar Kinder liefen auf dem See mit ihren Schlittschuhen. Die Kufen Geräusche, die beim Stoppen verursacht wurden, hallten zu mir herüber. Sie bewarfen sich kichernd gegenseitig mit Schneebällen und ich fühlte mich in meine Kindheit zurück versetzt. Ein Lächeln stieg in mir hoch.

Ich beschloss, um den See zu wandern. Das Kinderlachen rückte in immer weitere Ferne.

Ein eisiger Wind und das Knirschen des Schnees unter meinen Schuhen begleiteten mich. Mittlerweile war es stockdunkel geworden, aber der Schnee erhellte die Winterlandschaft. Es glitzerte überall.

Ein atemberaubender Anblick.

Ich blieb stehen. Etwa hundert Meter von mir entfernt, saß ein Mann auf einer Bank. Mich überkam ein mulmiges Gefühl. "Umdrehen und zurück laufen" schoss es mir durch den Kopf.

In meinem Kopf entstanden im Sekundentakt scheußliche Bilder. Eine Axt, die mich traf, ein Schuss in meinen Rücken, wenn ich ihn passiert hätte. Er zog mich ins Gebüsch und hielt mir ein Messer vors Gesicht. Würgte mich, bis meine Augen brachen. Ich hatte Angst. Ganz fürchterliche Angst.

Doch ich spürte etwas in mir, was mich weiter gehen ließ. Ich näherte mich dem Mann und betrachtete ihn verstohlen. Attraktiv, dunkelhaarig, ca. 40 Jahre alt. Kurz bevor ich die Bank erreichte, schaute er erstaunt auf als er mich erblickte und dann lächelte er mich an. Sein bleiches Gesicht mit den dunkelsten Augen, die ich je gesehen hatte, ließen mich frösteln und gleichzeitig verspürte ich den Drang, ihn in meine Arme zu schließen. Ich lächelte zurück. Er zeigte auf den Platz neben sich und wie in Trance setzte ich mich neben ihn auf die Bank. Ich musste verrückt geworden sein, dass ich mich in dieser Einöde auf einen fremden Menschen einließ.

"Darf ich Ihnen etwas erzählen?" Ich nickte.
Während er erzählte, sah ich ihn unentwegt an und spürte Wärme, Vertrautheit und Traurigkeit in mir. Mir fiel auf, dass die Atemluft, die er beim Erzählen ausstieß nicht weiß war. Es war so kalt, dass es hätte so sein müssen.

Als er verstummte, begann ich die Kälte um mich herum und in mir zu fühlen und zitterte am ganzen Leib. Wir hatten bestimmt zwei Stunden auf der Bank gesessen. Ich schaute ihn an und konnte so gut verstehen, dass er diesen Ort heute und in der Vergangenheit an jedem dritten Adventssamstag besuchte.

Die Jahreszahl, die er erwähnte, musste und wollte ich wohl überhört haben.

Ich umarmte ihn einfach nur und drückte ihn. Er fühlte sich eisig an, und mir schien, als würde sein Gesicht immer fahler werden. Er lächelte mich mit starrem Blick an und durch mich hindurch. Dieser Blick ließ mich frösteln, doch die Winterkälte hatte nichts damit zu tun. Dieses Frösteln berührte meine Seele.

"Ich muss nun gehen", sagte er und drückte mir ein Stück Papier in die Hand, auf das er vorher hastig etwas geschrieben hatte. „Ich danke Ihnen“ und er überreichte mir mit diesem seltsam abwesenden Gesichtsausdruck das Papierstück.

Ich nahm es an mich, in der Hoffnung darauf seine Adresse oder Telefonnummer zu lesen. Ich hielt das Papierstück in der Hand, als ich mich von der Bank erhob, mich von ihm verabschiedete und ging.

Nach einigen Schritten drehte ich mich um, um ihm zu winken. Die Bank war leer. Er musste sich sehr schnell entfernt haben, denn auch durch die kahlen Bäume hindurch sah ich von ihm nichts mehr.
Keine Fußspuren im Schnee. Nichts. Als wäre er nie hier und bei mir gewesen.

Ich schaute auf das vergilbte Stück Papier und las die Worte "Verzeiht mir" J.
Ich spürte ein Brennen in meinen Fingern. Kleine, leuchtende Sterne fielen auf den verschneiten Boden, verursachten dort ein Knistern und meine Hand war plötzlich leer.
Das Papierstück war verglüht. Lediglich ein kleiner schwarzer Aschehaufen blieb im Schnee zurück.
Es begann zu schneien und die Schneeflocken vermischten sich mit meinen Tränen.

Als ich auf meinem Rückweg wieder an dem See vorbei kam, war er ruhig und erstarrt. Kein Kinderlachen mehr. Nur Stille um mich herum. Ich stolperte fast über einen Gegenstand und war verwirrt, als ich ihn aufhob. Es war ein Schlittschuh, doch ich war mir sicher, dass kein Kind auf so einem alten und schäbigen Schlittschuh laufen könne. Er war aus Holz mit angebundenen Stahlkufen. Das Metall war rostig und mit Spindel und Flügelmutter an den Absatz geklemmt. Die Riemchenbefestigung des Schuhs war auseinandergerissen. Ich warf das alte Ding auf den See.

Ein Schuss zerfetzte jäh die Stille. Ich blieb zu Tode erschrocken stehen. Aus welcher Richtung der Schuss fiel, konnte ich nicht einordnen. Waren um diese Jahreszeit Jäger im Wald? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Nach all den Erlebnissen zog es mich in mein Heim. Ungeachtet der bitteren Kälte, die sich durch mein Gesicht schnitt und des rutschigen Bodens unter meinen Füßen rannte ich zu meinem Auto.

Zu Hause angekommen ließ ich mich erschüttert und völlig unterkühlt in meinen Lieblingssessel fallen.

In der Nacht recherchierte ich im Internet nach zurück liegenden Geschichten aus diesem kleinen Dorf und fand folgende Meldung in einer historischen Kreiszeitung:

Am Samstag, den 15.12.1923 gegen 17 Uhr ertrank ein siebenjähriges Mädchen im fast zugefrorenen See beim Schlittschuhlaufen.
Das Mädchen brach in das Eis ein und konnte nicht mehr gerettet werden.
Der Vater des Kindes J. M. wurde nur wenige Stunden nach dem tragischen Unfalltod seiner Tochter tot auf einer Waldbank in der Nähe des Sees aufgefunden. Er hatte sich erschossen.
Die Dorfgemeinschaft trauert.
~ Der Bürgermeister ~



Ich ahnte, wohin mich mein Weg im nächsten Jahr am dritten Adventssamstag führen musste und ein eiskalter Schauer durchfuhr mich...
Er wartet auf mich.
© Ute Look


Diese Musik gehört für mich zu meiner Geschichte. Lasst sie auf Euch wirken. Gänsehautfeeling!
http://www.youtube.com/watch?v=SkRqI2J7iRU


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 16.12.2012

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