Cover



Ein ungelöster Herzensfall



An diesem kühlen Winterabend im Dezember 2012 lockte Sie das Programm nicht vor den Fernseher. Sie durchschaute ihre Bücherregale. Sämtliche Bücher, die sich darin befanden, hatte sie bereits gelesen. Lustlos durchstöberte sie ihre Plattensammlung. Die Stille im Wohnzimmer empfand sie nicht störend. Sie entzündete die große Kerze, die auf dem Tisch stand und das flackernde Kerzenlicht tauchte den Raum in ein gemütliches, rötliches Licht.

Sie zog die unterste Schublade ihres Wohnzimmerschranks heraus. Dort lagen sie. Die Fotoalben ihres Lebens. Viele Jahre lagen die Alben dort unbeachtet an ihrem Platz. Sie zog das unterste heraus. Der dunkelrote Einband mit den goldfarbenen Ornamenten sah etwas verschlissen aus. Einige Pergamentpapierseiten klebten zusammen. Sie nahm das Album vorsichtig in ihre Hände und legte sich auf ihr Sofa. Sie wusste, welche Fotografien sich in diesem Album befanden. Ganz behutsam schlug sie die erste Seite auf und ihre Gedanken schweiften ab.

____________________________________________________

Bayerischer Wald, Sommer 1964 stand unter einem Bild. Vor der Kulisse einer Dorfkirmes zeigte die fast vergilbte Fotografie eine Familie. Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Ihre Familie. Die Kinder in Latz-Wildlederhosen in der Hocke vor den Eltern. Die Tochter hatte einen Kranz aus frisch gepflückten Gänseblümchen im Haar.

Sie war damals 29 Jahre alt, ihre Tochter 8 Jahre und ihr Sohn 4 Jahre alt. Auf dem Bild strahlte Sie. Ihr Mann und sie liebten die Berge, lange Spaziergänge und es war ein wunderschöner Urlaub.

Sie blätterte eine Seite weiter und ihr Herz pochte beim Anblick der letzten Fotografie, die in diesem Urlaub entstanden war. Die Pensionswirtin, eine robuste, warmherzige Bäuerin war dort abgelichtet. Breit lachend winkte sie in die Kamera. Ein letzter Gruß vor der Abreise. Neben ihr stand ein junger Mann um die dreißig. Der Sohn des Nachbarbauern. Ebenfalls zum Abschied winkend.

Niemals in ihrem Leben hatte Sie die erste Begegnung mit „Ihm“ vergessen können. Sie war mit ihren Kindern auf den Nachbarhof eingeladen, um dort die neugeborenen Ferkel anzuschauen. Während die Kinder fröhlich in den Stall liefen, stand Er wie aus dem Nichts neben ihr. Braune Augen blitzten sie an. Dieser Blick ließ sie frösteln. Kein einziges Mal zuvor hatte sie so intensiv etwas beim Anblick eines Mannes gefühlt. Sie war verwirrt und hoffte, dass Er ihre Unsicherheit nicht spüren würde. Ihr schien, als würden ihre Blicke minutenlang ineinander verschmelzen. Ihr Herz pochte laut und sie hoffte, dass er es nicht hören würde. Er ließ keinen Blick von ihr. Wie erstarrt standen sich beide gegenüber. Keiner von beiden wagte es, diesen Gefühlsmoment durch Worte zu beenden. Die Zeit um sie herum schien still zu stehen. Ein nie zuvor gekanntes Verlangen zog durch ihren Körper und sie wünschte sich sehnlichst, dass er sie küsste.

Er versuchte Sie an sich zu ziehen, doch Sie wich zurück.

„Mutti, Mutti…komm mal schnell, die Ferkel sind sooo süß“ rief ihre Tochter und zerrte sie am Ärmel. Sie hatte ihre auf sie zulaufende Tochter nicht bemerkt und war fast froh, dass sie ihren Blick von ihm abwenden konnte. Sie ging mit ihrer Tochter in den Stall und spürte seinen Blick im Rücken. Sie drehte sich nicht mehr zu ihm um.

Sie begegneten sich nur noch einmal. Er kam drei Tage später zum Hof herüber, um die Urlauberfamilie zu verabschieden. Sie drängte darauf, dass er mit auf das Bild kam. Im Nachhinein bereute sie es.

Zu oft holte sie nach diesem Urlaub das Album unbemerkt von ihrem Mann hervor und schaute auf das Bild. Sein Bild. Schaute in seine lachenden, so warmen Augen. Jedes Mal fing sie an zu frösteln.

Die Jahre vergingen und mit den Jahren verblassten die Erinnerungen an Ihn.

Ihre Ehe war glücklich. Sie liebte ihre Kinder und ihren Mann. Wirtschaftlich ging es ihrer Familie gut. Sie arbeitete in der kleinen Firma ihres Mannes mit, als die Kinder älter wurden. Beide Kinder konnten studieren. Ihre Freunde und Verwandten zogen sie manchmal mit der Bemerkung „Bilderbuchfamilie“ auf. Dann lachte sie und nickte heftig.

Sie war erst 47 Jahre alt, als ihr Mann starb. Lange Zeit vergrub sie sich in ihren Schmerz. Ihre Kinder, die viel zu früh ihren geliebten Vater verloren hatten, standen ihr bei und halfen ihr zurück ins Leben.

Eine neue Beziehung kam für sie nicht in Frage. Kein Mann der Welt hätte ihr mehr bedeuten können als ihr verstorbener Mann, den sie so sehr geliebt hatte. Bis auf einen. Vielleicht.

Ihre beste Freundin überredete sie zu einem gemeinsamen Urlaub. Sie war 63 Jahre alt und es zog sie in den Bayerischen Wald zurück. Das Arberland war ihr Ziel. Ihre Freundin, die sie erst lange Zeit nach dem Tod ihres Mannes kennengelernt hatte, ahnte nicht, weshalb sie unbedingt in diesem Ort Urlaub machen wollte. Sie hatte ihr nie etwas von diesem Urlaub im Jahre 1964 erzählt. Es waren ihre Erinnerungen, die sie in ihrem Herzen trug.

Unweit des kleinen Dorfes, in dem sie damals Urlaub machte, mieteten sie sich in einem gemütlichen Gasthof ein. Ihre Freundin war fasziniert von der fast unberührten Natur und verstand, weshalb ihre Freundin, das Nordlicht so begeistert von den Bergen und Wäldern Bayerns schwärmte.

Sie unternahm einen langen, ausgedehnten Spaziergang ohne ihre Freundin. Vorbei an Feldern und Wiesen. Manches Mal blieb sie stehen und ihre Erinnerungen an den damaligen Urlaub wurden lebendig.

Sie sah sich und ihre kleine Tochter auf einer Wiese sitzen. Viele Gänseblümchen wurden zu einem Blumenkranz verarbeitet und ihre Tochter strahlte sie an, als sie den fertigen Kranz auf dem Haar trug.

Die malerische Dorfkirche läutete zur Abendbrotzeit.

Sie war am Ziel.

Im Dorf hatte sich kaum etwas verändert. Beide Gutshöfe existierten noch und sahen fast genauso aus wie damals. Zielstrebig läutete sie an der Tür des Bauernhofes, in dem sie vor 34 Jahren Gast war. Ihr machte eine gut gelaunte Frau mittleren Alters die Tür auf. „Kommen Sie wegen eines Zimmers? “ Sie verneinte und fragte, ob sie die Tochter ihrer damaligen Wirtin sei. „Nein“, sagte die Frau lächelnd. Mein Mann und ich haben den Hof übernommen, als die ehemaligen Bauersleute verstarben.

Sie wagte kaum zu fragen, von wem der Nachbarhof bewirtschaftet wird. Sie nahm ihren Mut zusammen und fragte dennoch. Leutselig bekam sie eine Antwort. Eine Antwort, die sie traurig stimmte.

Die Frau wusste lediglich von dem neuen und jetzigen Besitzer des Gutes, dass der Sohn des ehemaligen Altbauern bis zu dessen Tod den Hof gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern bewirtschaftete. Nachdem sein Vater verstorben war, verkaufte er den Elternhof und zog mit seiner Familie nach Regensburg in die Stadt.

Mehr wüsste sie nicht.

Sie drehte sich um und verließ wortlos den Hof. Die Frau sollte ihre Tränen nicht sehen.

Der Kloß in ihrem Hals wurde dicker. Seine Familie. Ob er wohl glücklich ist? So wie sie in all den Jahren nach ihrer Begegnung. Sie gönnte es ihm. Aus ganzem Herzen. Vielleicht hatte er öfter mal an sie gedacht. Sie wünschte es sich.

Sie lief vorbei an den Feldern und Wiesen zurück zu ihrer Pension und weinte still in sich hinein.

Niemals mehr würde sie das Arberland besuchen.

________________________________________________________

Sie hatte nicht bemerkt, wie kalt es im Wohnzimmer geworden war. Fröstelnd und wehmütig klappte sie das Fotoalbum zu und verstaute es wieder in der untersten Schublade des Schrankes. Sie blies die fast herunter gebrannte Kerze aus. Nie wieder würde sie dieses Album öffnen. Dieses Album, in dem ihr ungelöster Herzensfall endgültig zu den Akten gelegt wurde.

Geschrieben für meine geliebte Mutti, Mum, allerbeste Freundin.

Sie ist jetzt 77 Jahre alt und ich werde diese Lebensepisode, die sie mir erst vor ein paar Monaten anvertraute, in mein Herz aufnehmen und darin verankern.

Gerührt schaue ich in diesen Tagen in mein Familienalbum und betrachte die Fotos.

Wären unsere Lebenswege anders verlaufen, wenn Du Dich nicht von ihm abgewendet hättest?
Du hattest Dich richtig entschieden, ich bin Dir dankbar dafür…..ich liebe Dich Mum!

© Ute Look





Impressum

Texte: Ute Look
Tag der Veröffentlichung: 14.12.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Der besten Freundin auf dieser Welt, meiner geliebten Mutti.

Nächste Seite
Seite 1 /