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Der Mysophobiker


Weiß!

Alles war weiß. Die Wände, die Möbel, der Steinfußboden, die Vorhänge.

Staubfrei, clean und frei von Keimen und Bazillen.

Ein steriler Wohntraum!

Die Dekoration beschränkte sich auf das Notwendigste. Auf ein Nichts. Keine Pflanzen, keine Blumen auf dem Tisch.

Bücher in Regalen waren ihm ein Graus. Es könnten sich Staubablagerungen bilden und er mochte sich nicht vorstellen, was sich zwischen den Bücherritzen für Dreck ansammeln könnte.

Ab und zu gönnte er sich ein Lesevergnügen und kaufte sich im Kiosk Zeitschriften, die er sorgfältig in Folie einwickelte und die Seiten nur mit Gummihandschuhen umblätterte. Nach dem Lesen warf er sie sofort in einen Müllsack, band ihn fest zu und wusch sich gründlich die Hände.

Er hasste Lebendiges in seiner Wohnung. Mit Ausnahme eines Bildes über dem weißen Sofa.
Es zeigte ein buntes Stillleben mit Früchten. Die Früchte wirkten in dieser Wohnung fast lebendig.

In der gesamten Wohnung waren überall kleine Boxen, bestückt mit blütenreinen Feucht-Papiertüchern platziert.

Jedes Mal, wenn er etwas angefasst hatte, zog er danach ein Tüchlein aus der nächstgelegen Box und wischte sich sorgfältig die Hände ab. Die Tüchlein warf er dann in einen Abfalleimer, der sich im komplett, bis an die Decke weiß gefliesten Badezimmer befand und per Fußtritt geöffnet werden konnte. Vor dem Eimer befand sich eine rutschfeste Gummimatte auf der er sich nach dem Öffnen des Eimers seinen rechten Fuß abstrich

Er liebte seine saubere Wohnung. Kein Staubkorn entging seinen Blicken. Kein Fussel hatte eine Überlebenschance.

Er vermied es, die Welt außerhalb seiner Wohnung zu besuchen. Jeden Einkauf oder Arztbesuch empfand er als Ausflug in die staubige Hölle.

Sobald er von draußen zurück war, entledigte er sich seiner Kleidung, warf sie in die Waschmaschine und duschte sich mindestens eine Stunde lang. Danach zog er sich einen weißen baumwollenen Bademantel an, der zuvor in einem großen Plastikwäschesack im Schlafzimmer an einer Stahlstange hing. Diese Stange diente ihm als Kleiderschrank und dort hingen zehn Säcke mit Bademänteln.

Darunter standen zehn Paar grüne OP-Clogs.

Es wurde Zeit fürs Abendessen und er ging in seine weiß eingerichtete Küche, die eher einem Labor, denn einer gemütlichen Koch-Oase glich. Brot aus dem Schrank nehmen, danach Tüchlein benutzen, Käse und Butter aus dem Kühlschrank holen und Tüchlein benutzen, Messer benutzen, essen…

~ Tüchlein, Tüchlein, Tüchlein, Tüchlein, Tüchlein ~

Der Plastikeimer neben der Spüle füllte sich rasend schnell.

Abwaschen. Als er den Wasserhahn aufdrehen wollte schreckte er zurück.

Ganz langsam kroch etwas Schwarzes aus dem Spülenabfluss. Ein Fühler streckte sich ihm entgegen. Danach bahnten sich ein dicker, länglich geformter Körper und sechs Beine ihren Weg in das Becken.

Eine Küchenschabe huschte in seiner hochglänzenden Spüle herum. Angeekelt und panikartig schlug er mit der bloßen Hand auf das Monstrum. Platsch! Es knackte laut unter seiner Handfläche. Der Brei des Monsters verschwand in den Tiefen des Abflusses. Er ließ den Wasserhahn zwei Stunden laufen.

Er brauchte mindestens hundert Tücher, um seine Hände wieder rein zu bekommen.
Er duschte fast die ganze Nacht hindurch. Immer wieder von Panikkrämpfen geschüttelt.

Er musste handeln.

Vollgepackt mit mehreren Tüten, in denen sich Insektenvernichtungsmittel befanden, kam er am frühen Morgen nach Hause.

Sein erster Weg führte ihn ins Badezimmer, um sich seiner schmutzigen Kleidung zu entledigen und zu duschen. Der heiße Duschstrahl tat ihm nach der schlaflosen Nacht gut. Etwas Hartes fiel ihm auf den Kopf und rutschte dann zu seinen Füßen herunter. Etwas, was krabbelte. Etwas Schwarzes. Aus dem Duschkopf fielen sie im Sekundentakt heraus und bahnten sich ihre Wege aus dem Wasser in Richtung Schlafzimmer.

Wie von Sinnen versuchte er über die Schaben zu laufen, ohne sie berühren zu müssen.

Er machte das Licht im Wohnzimmer an. „Husch, husch, husch“. Die Äpfel und Birnen seines Stilllebens waren nicht mehr bunt, sondern schwarz. Es schien, als bewegte sich das Bild hin und her.

Voller Panik griff er sich eine Dose von den gekauften Vernichtungsmitteln und sprühte gegen das Bild. Einige Schaben fielen zu Boden. Hilflos krabbelten sie rücklings auf den weißen Bodenfliesen herum.

Er lief ins Schlafzimmer und holte sich seine OP-Clogs und aus der großen Kiste neben seinem Bett und die robusten, dicken Gummihandschuhe. Aus seiner Bettdecke lugten Fühler heraus, die er nicht bemerkte. Die Decke hob und senkte sich.

Zurück im Wohnzimmer wurde, was noch lebte, von seinen Schuhen zerdrückt. Ein abscheulicher Gestank begleitete das „Knack, Knack, Knack“

Angewidert hob er die zerquetschten Leichenteile der abscheulichen Kreaturen auf. Er warf sie in den Abfalleimer, der am nächsten verfügbar war. Er zog seine Schuhe aus und warf sie ebenfalls in den Eimer.

Flucht! Das war sein einziger Gedanke.

Die Wohnungstür erreichen. Der Gestank ließ ihm fast keinen Atem mehr. „Raus, raus, raus“

Auf dem Flur wimmelte es. Die Wände, der Boden, die Decke schwarz. Tausende Fühler streckten sich ihm entgegen. Eine schwarze Masse kroch auf ihn zu.

Er rutschte auf dieser Masse aus und fiel zu Boden. Als er einen schwarzen Fühler aus seinem Handrücken heraus krabbeln sah, wurde er ohnmächtig.

Das letzte, was er wahrnahm waren gierige Futteraugen.

Wabern!

Seine Haut schlug Blasen am gesamten Körper, bis er mit einem lauten Knall zerplatzte.
Schwarze Fühler, Körper und Beine bahnten sich ihren Weg aus ihm heraus nach draußen in die weiße, sterile Wohnwelt.

Schwarz!

Alles war schwarz.


© Ute Look / 20. November 2012


Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

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