Erinnerungen…
Oft liege ich in meinem Bett und schaue fernsehen. Doch manchmal lenke ich meinen Blick vom Fernseher weg und schaue auf das eingerahmte Bild, welches über dem Fernseher hängt.
Es zeigt eine Sonnenblumenwiese.
Mitte der 80er Jahre lernte ich einen wundervollen Menschen kennen. Er liebte den Sommer und das Meer. Irgendwie war er anders.
Unsere erste Begegnung werde ich niemals vergessen.
Freunde erzählten mir vorab, dass er schwierig und hässlich sei. Als er dann auf mich zulief, sah ich zuerst sein etwas spitzbübisches Lächeln. Dann schaute ich in leuchtende Augen, die ebenfalls zu lächeln schienen. Er rückte seine Brille etwas verlegen gerade und gab mir zur Begrüßung die Hand.
Ich fand es komisch, denn ich war es gewohnt, dass man sich mit einem flapsigen „Hi“ begrüßte und ich musste lachen. Ich fand ihn von Beginn an sehr sympathisch.
Er hatte Akne, die wohl als Teenager nicht richtig behandelt worden war. Später stellte ich fest, dass nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein gesamter Oberkörper übersät war von vermeintlichen Akne Narben. Damals wusste ich nicht, dass es Neurodermitis war. Es störte mich nicht. Sein ständiges Kratzen störte mich auch nicht. Er hatte schöne Augen. Neugierig und irgendwie fordernd war sein Blick.
Ich ahnte damals nicht, wie krank er war.
Der erste gemeinsame Urlaub. Wir waren ein lustiger Haufen und es zog uns nach Griechenland.
Wir fuhren zu der Halbinsel Kassandra und fanden in einer malerischen Bucht einen kleinen Campingplatz.
Unsere Zelte und Campingbusse waren aufgebaut und platziert und der Urlaub konnte beginnen. Nun fehlten nur noch frische Lebensmittel. Wir beschlossen, den Platz zu erkunden und in dem kleinen Supermarkt etwas einzukaufen. Er blieb auf dem Platz zurück, weil er sich nicht gut fühlte.
Als wir zurückkamen, erblickten wir ein Feld der Verwüstung. Kein Zelt stand mehr, alles lag durcheinander. Tische und Stühle waren umgeworfen und mittig auf dem Rasen saß ein Häuflein, ein verkrampftes Elend.
Als er zu sich kam, sah er sich mit verschämtem Blick um. Wir halfen ihm hoch und er legte sich auf eine Decke im Schatten. Wir sagten ihm, dass er wieder einen Anfall hatte. Ich lächelte ihn an und sagte „ist alles oki, mein Lieber“
„Schwimm` nicht so weit raus“, rief ich ihm nach. Du weißt, weshalb.
Ich sah seinen strohblonden Schopf inmitten der kleinen Wellen auf und abtanzen und er winkte mir fröhlich zu. In mein Buch vertieft nahm ich gar nicht wahr, wie die Zeit verrann. Erschrocken stellten wir alle fest, dass unser Freund längst wieder hätte bei uns sein müssen.
Wir alarmierten die Campingplatzwache und die Polizei. Gerade als ein Rettungsboot losfahren wollte, kam er uns freudestrahlend vom Festland aus entgegen. Er war weit hinaus geschwommen, hatte auf Klippen Rast gemacht und uns alle um einen Urlaubstag ärmer. Innerlich ballte ich meine Fäuste und hätte ihn am liebsten angeschrien. Doch ich konnte es nicht. So stolz stand er vor mir.
„Ihr wisst doch, dass ich ein sehr guter Schwimmer bin.“
Er sah wie ein Sieger aus. Die strohblonden Haare ungekämmt und wild auf seinem Kopf abstehend. Durch die sonnengebräunte Haut sah man seine Pusteln nicht. Sein Gesicht verzog sich zu dem unwiderstehlichen Lausbubenlächeln.
Niemand von uns hätte es in diesem Moment gewagt, ihn zu kritisieren.
Wir nahmen ihn oft mit. Er gehörte zu unserer Clique. Wir alle mochten ihn, obwohl wir es schräg fanden, dass er mit Mitte 20 noch bei seinen Eltern wohnte und Hemden trug. Gebügelte. Er achtete sehr auf sein Äußeres.
Keine Party ohne ihn. Doch fast keine Party verlief ohne Zwischenfall. Seine Verkrampfungen und Anfälle häuften sich. Wir waren es gewohnt und achteten lediglich darauf, dass er sich nicht verletzte.
Ich erinnere mich an ein Ostsee-Wochenende. Wir wollten nach Laboe und dort zelten, grillen, schwimmen.
Mein damaliger Lebensgefährte und ich nahmen ihn in unserem Camping-VW-Bus mit.
Wir mussten anhalten, weil er etwas suchte und Unruhe in unserem VW-Bus herrschte. Er saß auf der Rückbank und fuchtelte herum. Wir fragten ihn, was denn los sei? Er suchte seinen Daumengrossen kleinen Freund, der ihm heruntergefallen war. Er suchte und suchte.
Sämtliche Gepäckstücke, die in für ihn greifbarer Nähe waren wurden aufgerissen. Auf meinen Einwand hin, dass das doch Quatsch sei, reagierte er fast bösartig. Wir ließen ihn dann gewähren und suchten des lieben Friedens willen mit. Ich tat so, als hätte ich etwas gefangen und reichte ihm seinen Minifreund. Er strahlte mich an. Es war eine etwas befremdliche und unheimliche Situation für uns.
Kurze Zeit später das gewohnte Bild. Sein Blick begann abwesend zu werden und er verkrampfte sich. Wir hielten ihn fest umarmt, bis er wieder erwachte. Gemeinsam lachten wir über seinen „kleinen Freund“. Er wusste nichts von dem, was in den letzten zwei Stunden zuvor passiert war.
Ohne weitere Zwischenfälle erreichten wir den Campingplatz und das Meer. Ein unglaublich schönes Wochenende wollten wir mit einem feinen Essen zu Ende bringen.
Piekfein war das Restaurant. „Gesteifte Servietten an Meerblick“ so hätte es auch heißen können.
Das Essen war vorzüglich. Ein schöner Abschluss eines sonnigen, tollen Wochenendes.
Ich sah in sein Gesicht. Er saß mir gegenüber. Zuvor hatte er sich eine Zigarette angesteckt und sein Blick wanderte durch die große Fensterfront nach draußen zum Meer hin. Sein Blick wurde glasig und seine Augen leerer.
Seine linke Hand zog die Tischdecke herunter. Gläser, Geschirr. Alles fiel mit einem lauten Scheppern zu Boden. Peinliche Blicke von überall zu uns herüber. Seine glimmende Zigarette bohrte er sich in seine rechte Handfläche. Ungeachtet des Chaos sprang ich auf und versuchte ihm die Zigarette wegzunehmen. Es war fast unmöglich, gegen seine Kräfte gegen zu wirken. Wir kannten diese Epilepsie-Anfälle hinreichend. Wir klärten das Servierpersonal kurz auf und fuhren heim.
Unser letzter Urlaub am Meer im September.
Spanien, Costa Brava….Spätsommer und um diese Zeit fast Touristenlos. Nur wir. Wir drei Sonnenanbeter. Drei Freunde. Enge Freunde.
Das erste Frühstück am ersten Urlaubstag. Mäklig kam er aus dem Zelt.“ Wie, kein Nutella? Nichts Handfestes zum Frühstück?“
Ich musste lachen, denn er wusste genau, dass ich dieses Zeugs nicht mag und deshalb Käse und Wurst zum Frühstück gekauft hatte. Er maulte nur noch. 10 Tage lang ein maulendes, nörgelndes Etwas. Seine Krämpfe schien er ohne uns gehabt zu haben, denn er vermied es, irgendetwas mit uns gemeinsam zu unternehmen. Egal, was wir vorschlugen, er fand alles mies und doof. Er zog es vor, alleine die kleinen Dörfer zu erkunden. Wir bemerkten, dass er im Gegensatz zu früher sehr viel mehr Medikamente zu sich nahm. Irgendwann war dieser Urlaub zu Ende und ich beschloss, nie mehr mit ihm in den Urlaub zu fahren. Innerlich zwinkerte ich mir zu ;-)
Unsere Clique veränderte sich. Jeder Einzelne von uns veränderte sich. Wir waren in den 90ern angekommen.
Mein bester Freund veränderte sich auch. Aus dem lebensfrohen Menschen wurde ein anderer. Ernster, stiller.
Wir konnten ihn kaum noch dazu bewegen, etwas mit uns zu unternehmen und mussten es akzeptieren.
Ich erinnere mich an ein intensives Gespräch nur zwischen ihm und mir. Nach diesem Gespräch war ich verstört, irgendwie befangen.
Er vertraute mir Dinge an, die mich ihm gegenüber nicht mehr so sein lassen konnten, wie ich ihm immer begegnet war. Einem Freund.
Danach sah ich ihn nur noch selten. Hin und wieder telefonierten wir.
Anfang des Jahres 2001 hörte seine Haut auf zu atmen.
Ärzte sagten schon damals voraus, dass er das 40te Lebensjahr nicht erreichen würde. Er wurde 41.
Ich bewunderte ihn und auf meine Art liebte ich ihn. Er hat viele Klippen überwunden. Viele Meere durchschwommen. Beruflich und menschlich.
Niemals eine Beziehung gehabt und ich glaube auch niemals Sex. Dennoch denke ich, dass er ein glückliches und erfülltes Leben hatte.
Er lebt in meinen Erinnerungen weiter.
Ich glaube, er war der beste Freund, den ich jemals hatte.
„ Ich weiß, dass Dich nun die Wellen der Meere küssen“
Das Sonnenblumenbild über dem Fernseher verschafft mir manches Mal frohe und melancholische Ablenkung vom langweiligen TV-Programm.
Heute ist ein guter Tag, es vom Staube zu befreien.
© Ute Look
Tag der Veröffentlichung: 13.09.2012
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