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Es gibt Orte, die ein Loch in die Zeit reißen. Orte, die still zu stehen scheinen. Manchmal ist es nur ein Zimmer. Vielleicht auch nur das Volumen, das die Tuppa-Schüssel faßt, in der am Freitag-Vormittag ein Butterbrot neben Cocktail-Tomaten gelegen hat. Und sehr oft ist es eine Straße. Asphalt, der sich ausdehnt, sich am Horizont verliert. Um dann doch wie gemalt, zweidimensional an einer Hausfront zu enden. Solcherlei Strassen gibt es Allerorten. Nicht selten finden sich diese in den Randvierteln der großen Städte, dort wo sich die Zeit vorbeistiehlt. Sich linkisch davonschleicht, wie ein Einbrecher, der Liebhaber, der sich am Morgen durch`s Fenster davonmacht, ohne Gruß, ohne Nachricht. Als wäre es nicht wahr gewesen.
An Freitag-Nachmittagen saß er manchmal auf ein paar Gläser im türkischen Imbiß an der Hauptstrassenkreuzung und betrachtete gelangweilt das geschäftige Treiben. Würde man sich die Menschen wegdenken, die hektisch vorbeihetzten, hätte diese Szenerie sogar etwas Elegantes, wie sich Autos und Busse, die Lastwägen wie an unsichtbaren Schnüren gezogen eilig aneinander vorbeischoben. In diesem funktionalen Hin und Her wirkten die gehetzten Körper wie Tumore. Parasitäre Unwesen, so häßlich in ihrer Unvollkommenheit, in ihrer Unterschiedlichkeit. Und doch verströmten sie Tost. Im Angedenk ihrer Vergänglichkeit. Es war gut zu wissen, daß sie altern, krank und gebrechlich, sterblich sind.
Frank betrachtete sich das geordnete Durcheinander durch die große Panoramascheibe und nährte seine Herbstmelancholie. In solchen Momenten gesellten sich dann immer wieder urplötzlich aus dem Nichts überaus bedrückende Gedanken als mißgelaunte Trinkkumpane zu ihm. Auf und Ab. In einem Augenblick beruhigte es ihn, nicht wirklich dort zu sitzen, im nächsten steckte er sich voller Abscheu die nächste Zigarette an. Was konnte er schon tun? Mit seinen vierzig Jahren und den Tränensäcken im Kneipenspiegel.
Selbstgerecht trohnte er dort am Tresen, kaum noch im Stande den Unterschied zwischen echter Gefühlsregung und geheuchelter Maskerade zu erkennen. Für ihn wahr mittlerweile Alles falsch. Nichts mehr echt. Und ein jeder nur mehr Projektionsfläche gesteuerter Werbekampagnen.
Solcherlei Gedanken diktierten den Tagesablauf. Sie versuchten es zumindest. Was allerdings eher selten gelang. Und das lag keineswegs an Franks menthaler Ausgeglichenheit, nein! Das lag hauptsächlich daran, daß sich in unterbewußten Räumen vereinzelt übellaunige Kobolde versteckt hielten, die sich von derlei Gedanken in keinster Weise aus der Ruhe bringen ließen. Und was so ein Kobold sein will, der hat dann eben so seine Gewohnheiten.
Franks unterbewußter Helfer war ein eher gelangweilter Geselle. Der wußte sich bei überbordendem Trübsinn eben dadurch zu helfen, indem er Frank dazu animierte, immer noch ein weiteres Bier zu bestellen. Nicht sehr originell, zugegeben, aber immerhin außerordentlich wirkungsvoll. Wenn auch nur für den Moment. Diese Methode verlangte allerdings von Frank, daß er um diesen Kobold wußte, daß er das nie vergessen durfte, um dementsprechend entgegenzuwirken, damit es nicht zuviel des Guten werden würde. An dieser Stelle muß man erwähnen, daß bei einem Kobold Alkohol in keinster Weise Ausfallerscheinungen verursacht. Dieser beginnt allenfalls zu Brummen, wenn es zuviel des Guten wird, mehr auch nicht. Und Brummen gilt bei derlei Geisteskindern als Singen. Beim ersten Brummen ist es also an der Zeit, sich nichtakoholischen Getränken zuzuwenden. Es sei denn, man hat nichts dagegen brummend an einem Kneipentresen unliebsame Wortgeflechte in seltsamen Sprachen seinem Gegenüber in`s Gespräch zu mischen.
Draußen rauschten die Verkehrslichter stumm im Dämmerlicht vorbei. Der alte Trinker, der tagtäglich wie verwachsen mit dem rissigen Tresen, am hinteren Ende der Theke trohnte, fuchtelte wild mit den Armen, um seinen Ausführungen den Nachdruck zu verleihen, den seine Worte vermissen ließen. Aus der Lücke in seinem zerfurchten Gesicht plätscherten die anatolisch gewürzten Sprachfetzen in den verrauchten Raum. Nickend brummte Frank in einen Schluck Bier, um im nächsten Augenblick einen Kaffee zu bestellen.
Die Strasse vibrierte im Licht der Laternen und Ampelwälder. Ruhe und Gelassenheit krochen durch türkische Volksweisen aus der billigen Stereoanlage zwischen Dönerfetzen und Rakidunst, als mit einem Ruck die Tür aufflog, und die kalte Abendluft in den Kneipenraum kroch. Rumänen-Sepp stand fröstelnd im Eingang, die Ledertasche für die Brotzeit in der Radlagerfabrik unter den Arm geklemmt. Als er Frank erkannte, erhellten sich seine Gesichtszüge. Mit seinem unwiderstehlichen "G`sundheit und Zufriedenheit", riß er die Arme in die Höhe, stürmte zu Frank, umarmte ihn herzlich und drückte ihm einen Kuß auf jede Wange. Den Kopf eingeklemmt zwischen den rauhen Arbeitspranken des kleinen radebrechenden Rumänendeutschen, bemerkte Frank lediglich den Anflug eines Brummens. Sofort standen ein paar Wassergläser voll Raki vor den Beiden. Es wurde angestoßen, getrunken, geredet, neue Runde, ein Toast, getrunken, gespielte Leichtigkeit. Franks Nachbar redete sich den Arbeitsalltag von der Seele. Auch wenn Frank nichts verstand, von dem was ihm sein bald sechzigjähriger Nachbar anvertraute, zu weit fort in Gedanken, er freute sich um die Ablenkung.
Und er mußte auch nicht verstehen. Die Worte hingen zwischen den angetrunkenen Köpfen, so als wären sie Andenken der letztjährigen Urlaubsreise, und nun nur mehr gelegentlich hervorgeholte Anekdoten, so als Zufriedenheitsersatz.
"Weil...z`frieden will der Mensch sein...und gut is`!"
Schließlich konnte Frank wenigstens soviel verstehen, daß irgendwer in der Wohnanlage, in der sie beide wohnten, heute ein größeres Fest feiern würde.
Der Alte in der Ecke lachte in sich hinein, immer wieder von Hustenanfällen unterbrochen, die ihm seine obere Gebißleiste lockerten, die er dann geschickt mit der Unterlippe zurückschob und in die Eckzähne einhakte. Mit einem leisen, doch deutlich wahrnehmbaren Schmatzen saugten sich die künstlichen Zähne an den Gaumen.
Sepp redete mit überschwenglicher Begeisterung. Immerhin das registrierte Frank, auch wenn er den Worten kaum Beachtung schenkte. Aber das war ja auch nicht notwendig. Worte sind eh nur Vibrationen von Gedanken. Und so wie man eine Landkarte lesen kann, ohne sie zu verstehen, findet man dennoch den Weg, ohne das drumherum zu entdecken. Und genau so kann man einen Blick lesen, und versteht das Gefühl dahinter. An der Färbung eines Tones, an der Melodie einer Stimme, erkennt man was Worte sagen wollen, auch wenn die Sprache unverständlich hinterherhinkt.
Schließlich ließ sich Frank dazu überreden, seinen Nachbarn zu dem Fest zu begleiten. Sie tranken gemütlich die Gläser aus, während Sepp in freudiger Erwartung darüber referierte, was auf der Welt denn wirklich wichtig sei.
Der Duft von Herbstlaub würzte die Abendluft, lag über den Gedanken, als sie die Hauptstrasse überquerten und sich dann zwischenden Aschentonnenhäuschen in die Hintehöfe schlichen. Sepp hatte ihn lediglich gewarnt, daß er sich nicht wundern solle, und um Gottes Willen ja nicht lachen solle, da die osteuropäischen Partygäste das Ganze ziemlich ernst nehmen würden, und überhaupt wäre die ganze Sache eine ziemlich seltsame Angelegenheit. Wenngleich auch überaus amüsant.
Marie-Annes "Kastanienfest" war in vollem Gange. Eine Gruppe dunkler Gestalten stand etwas abseits vom Feuer, das in einer Öltonne loderte. Auf einem Rost darüber verbreiteten Maronen knisternd ihren angenehmen Duft. Das Alles hatte etwas von den anheimelnden Sehnsüchten von Weihnachtsmärkten. Sieht man davon ab, daß weder blinkende Lichter noch der Geruch frischen Schnees die Dunkelheit erhellten. Doch lag etwas Archaisches, etwas Grundlegendes in den schattenbewährten Gesichtern der Anwesenden. Marie-Annes Fest war die wichtigste Party zwischen Sonnwendfeier und Halloween, jedenfalls für einige der osteuropäischen Hausgenossen. Das erfuhr Frank von seinem flüsternden Nachbarn. Irgendetwas Heidnisches, christlich-orthodox gewürzt von Dankbarkeit und Ehrfurcht gegenüber Fruchtbarkeit und Natur.
Sepp hakte sich bei Frank unter, und sie begrüßten höflich die anwesenden Hausgenossen, traten an das Feuer, wärmten sich die Hände, man nickte sich freundlich, höflich lächelnd zu, einer der Anwesenden reichte Wodka in Wassergläsern, gelöste Stimmung, leise, entspannte Stimmen, behutsame Bewegungen.
Immerhin trug das Fest dazu bei, daß sich die Hausgemeinschaft wenigstens einmal im Jahr so verhielt, wie man sich das im Allgemeinen so vorstellt. Das ganze Jahr über sah und hörte man kaum etwas von Juri aus dem Speicherabteil. Und Nadja aus dem dritten Stock sah man nur im Dunkeln aus dem Haus schleichen. Früh morgens in die Fabrik, und spät abends heimkehrend von ihrem Putzjob. Und Anatol, der in einem Zimmer im Kellergeschoß hauste, und so etwas wie der Hausmeister war, den hörte man nur, wenn er mal wieder in einer der Wohnungen hantierte, um verstopfte Rohrleitungen freizuräumen.
Frank nippte etwas verlegen an seinem Glas, beobachtend, fühlte sich nicht zugehörig. Alle standen um die Tonne, aus der die Flammen züngelten, und die Maronen ihren Duft verströmten.
So gesehen wäre das eine ganz normale Angelegenheit gewesen, wären da nicht die bunten Plüschtiere gewesen. Deren Anblick Frank doch etwas verwirrte.
An dieser Stelle sei erwähnt, das es die Tradition in den tiefen der osteuropäischen Hinterländer verlangte, daß sich dieselbe Anzahl von Tieren wie Menschen um das Feuer scharen mußte, um die bösen Geister des bevorstehenden Winters zu besänftigen. In der kasachischen Heimat Marie-Anne`s waren es natürlich lebende Zobel oder Frettchen gewesen, die sich die Dorfbewohner üblicherweise mit einer Leine an die Fußgelenke banden. Die waren aber hier, inmitten einer deutschen Großstadtgesellschaft etwas schwierig aufzutreiben. Also mußten Teddybären, Hasen und sonstiges Plüschgetier herhalten. Da Plüschtiere nun nicht in der Lage sind sich selbstständig zu bewegen, und die Anwesenden am nächsten Morgen ihre diversen Begleittiere ihren Blagen, den Nichten und Neffen, ihren Kindern und Enkeln, denen sie sie für diesen Anlaß entführt hatten, zurück in die Bettchen legen mußten, war es nun unmöglich die Stoffbegleiter an Leinen gebunden durch die schlammigen Pfützen der Hinterhofgassen zu zerren. Und so kamen die Anwesenden überein, sich die Tierchen mit Bändern auf die Köpfe zu binden.
So mußte sich Frank doch mehr als konzentrieren, um den heiligen Ernst, den die Anwesenden an den Tag legten, nicht mit einem Lachanfall zu entweihen. Es war schon ein kurioser Anblick, Oleg, einen etwa 50-jährigen Kasachen, mit einem rosaroten Panther auf den Kopf gebunden, seltsame Gesänge anstimmend um die dampfende Tonne herumtanzen zu sehen. Und zu allem Übel stand Victor, Marie-Annes Sohn, bekleidet nur mit Bademantel und Hausschuhen, etwas abseits vom Feuer. Unter dem Mantel quollen Papierknäuel heraus, weswegen sich Victor auch ein wenig vom Feuer fernhielt. Frank wußte von seiner Textilallergie, seit er sich eines Nachts aus seiner Wohnung ausgeschlossen hatte, und großzügig von Marie-Anne mit Kaffee und Keksen bewirtet worden war, bis der Schlüsseldienst damals am Sonntag-Morgen Frank erlöst hatte. Der hatte damals nur in Unterhose bekleidet neben Victor auf der geblümten Couch gesessen, und sich die Geschichte von Hautausschlägen und unüberwindbarer Abneigung gegen einengende Textilien anhören müssen. Und an einem anderen Abend war der Kasache im Hausgang raschelnd an Frank vorbeigehuscht. Frank glaubte das natürlich Alles nicht, sondern vermutete hinter Victor`s Drang sich in blütenweiße Seidenpapierbahnen zu wickeln, und so bekleidet tagein tagaus durch die mütterliche Wohnung zu geistern, eher ein zwanghaftes Hygieneproblem. Und er verließ die Wohnung so gut wie nie. Und wenn, dann nachts, wo ihn keiner sehen konnte. Weswegen Frank auch überrascht war, ihn hier zu sehen. Sei`s drum! Jedenfalls sah die giftgrüne Schildkröte auf dem Haupt des Bademantelträgers etwas unglücklich aus, wie sie so zusammen im Halbdunkel der beginnenden Nacht raschelnd im Abseits standen.
Frank vernahm ein langgezogenes Brummen, das tief aus seinem Innersten in die Abendluft hallte. Sepp rammte ihm den Ellenbogen in die Seite, so daß sich der Anflug eines Grinsens in Franks Gesicht schmerzhaft zu einer demütigen Maske verzerrte.
Marie-Anne murmelte seltsam klingende Laute, als sie undefinierbare Kräuter in den Teepot streute, der in der Mitte des Rostes dampfte. Roch nach verbranntem Gummi und Erbrochenem. Frank konnte seinen Blick einfach nicht von einem der Anwesenden losreißen, auf dessen Kopf ein überdimensioniertes Eiszeit-Eichhörnchen aus "Ice-Age" trohnte. Und, um Alles noch schlimmer zu machen, reichte ihm Victor einen Teddybären, den er sich nun provisorisch mit einer Hand auf dem Scheitel festhielt. Frank mußte sich wirklich außerordentlich konzentrieren. Und als er Sepp sah, dem sie ein lilagefärbtes Samtnilpferd auf den Haaransatz platziert hatten, war er kurz davor seinem Lachen freien Lauf zu lassen, und in schallendes Gelächter auszubrechen. Das wäre nun wirklich nicht nett gewesen. Das würde die Anwesenden nun wirklich in ihrer heiligen Ehre kränken. Die nahmen dieses Ritual wirklich sehr ernst. Und Frank mochte nun wirklich nicht den Unmut der Partygäste erregen, wußte er doch um diverse Gewaltausbrüche osteuropäischer Nachbarn, die schon bei geringeren Anlässen eher unangemessene Mittel körperlicher Gewalt dem gesprochenen Wort vorzug gaben.
Glücklicherweise schien das Teeritual beendet, und Marie-Anne reichte einem jeden eine blecherne Tasse mit dem dampfenden Sud. Die Brühe roch furchtbar. Frank verkniff sich nur mit Mühe einen angewiderten Gesichtsausdruck, und nippte schließlich unter dem zufriedenen Blick der Alten, nickte ihr wohlwollend zu.
Das Zeug schmeckte widererwarten recht angenehm.
Die Anderen taten es ihm gleich, und vefielen anschließend in masurische Volksweisen, begleitet von Olegs Akkordeon. Klang eigenartig, doch schön und anheimelnd dort unten im Hinterhof. Die Augen geschlossen, summten die Russen mit heiligem Ernst, kauten die Kastanien, spuckten immer mal wieder einen zerkauten Teil des Breis in das Feuer.
Später bedankte sich Frank höflich bei Marie-Anne, so freundlich bei dem Fest aufgenommen worden zu sein, und wurde herzlich mit Umarmungen und Bruderküssen verabschiedet.
Frank sah im Gehen noch einmal zurück, und prägte sich das Bild ein. Sie saßen nun alle in der Hocke um die Tonne herum, auf den Gesichtern die flackernden Schatten aus Feuer und Schnaps.
Oben in seiner Wohnung angekommen öffnete er das Fenster zum Hinterhof und besah sich seltsam gerührt noch eine zeitlang seine Nachbarschaft.
Seltsam war auch der Glanz in seinen Augen am nächsten Morgen. Den hatte er schon lange vermißt.

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Tag der Veröffentlichung: 14.01.2009

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