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[…]„Guten Morgen!“ Rufe ich ihr entgegen. Mutti erschrickt für einen kurzen Moment. Leise läuft das Radio im Hintergrund. Verkehrsservice. „Vorsicht auf der A 4 Richtung Aachen. Zwischen Buir und Düren liegt ein Fahrradkorb auf der Fahrbahn.“
„Guten Morgen Sarah! Na? Gut geschlafen? Hast du gehört? Auf der Autobahn liegt ein Fahrradkorb. Wer fährt mit dem Fahrrad auf der Autobahn?“
„Keiner, Mama.“
„Wenn Sie es doch sagen!“
„Der Mann hat gesagt, dass ein Fahrrad-Korb auf der Fahrbahn liegt! Der kann überall runter gefallen sein!“
„Ah so.“
Mutti, die an Küchenzeile steht und das Kaffeepulver in den Kaffeefilter füllt, hat es wieder einmal falsch verstanden. „Gestern lagen Zementsäcke auf der Fahrbahn!“ erzählt sie aufgeregt. „Toll!“ murmel ich vor mich hin. Sie holt ein kleines Büchlein hervor, nimmt einen Kugelschreiber vom Tisch und trägt das Wort „Fahrradkorb“ in das Buch ein.
Jeder Mensch hat ein Hobby. Das Hobby meiner Mutter ist, alles was im Verkehrsfunk als auf der Fahrbahn liegend gemeldet wird zu notieren. Sie macht das bereits seit 7 Jahren. Vor sieben Jahren verlor sie ihren Job als Schaffnerin. Mittlerweile arbeitet sie als Kassiererin in einem Baumarkt. Leider darf sie dort kein Radio hören.
„Wenn deine Mama schläft, schmeiß’ ich das Buch in den Ofen!“ hat Oma Hedwig vor wenigen Jahren gehässig gesagt.
Ich muss gähnen.
„Sarah!“ schimpft die Mutti.
„Die Hand vor den Mund! Mensch!“
„Ach ja... vergessen!“
„Vergessen? Das machst du doch extra!“
„Nee! Hab ich jetzt echt vergessen!“
Mutter ist genervt.
„Mama?“
„Was denn?“
„Mama, weißt du was Herr Singh gemacht hat?“ wechsel' ich das Thema.
Herr Singh ist ein Nachbar der Familie. Gebürtig kommt er aus Indien und lebt nun seit 16 Jahren in Deutschland.
„Nein. Was denn?“
„Ich war draußen am Auto, da ging Herr Singh mit der vollen Mülltonne durch seinen Vorgarten.“
„Blödsinn!“
„Doch, echt! Der hat die volle Mülltonne wieder auf sein Grundstück gestellt. Er hat gar nicht gemerkt, dass die Müllabfuhr noch nicht da war.“
„Hast du ihm denn nix gesagt?!“ fragt sie mich böse.
„Hätte ich ja gemacht, aber Frau Beier war schneller. Die hat dem Bescheid gesagt.“
„Ah so. Ja. Und? Was sagte er?“ Fragt Mama.
„Ach deswegen ist die so schwer.“
Frau Baier. Frau Baier ist eine attraktive, wenn auch schusselige brünette Dame, geschätzte 40 Jahre alt und gehört zur Familie Beier, die zur selben Zeit wie wir ein Haus in der Siedlung „Am Forst“ gebaut hat. Die Familien kennen sich bereits seit 10 Jahren. Frau Baier ist immer overdressed. Grundsätzlich trägt sie meterhohe Absätze und ihre Haare sind stets äußerst voluminös gestylt. Man könnte neidisch auf diese Frau sein, wenn sie nicht so „ballaballa“ wäre. Omi tippt auf die heiße Fön-Luft die sich Frau Baier täglich an den Kopf führt. Gelegentlich habe ich Frau Baier dabei beobachtet, wie sie mit einem Gartenstuhl bewaffnet durch den Garten stapfte – natürlich auf ihren Pumps! Sie positionierte ihr Stühlchen so, dass sie exakt in das Wohnzimmer der Nachbarn zur linken blicken kann. Sie schaut dann durch die Büsche und das Gestrüpp auf den riesigen Flachbild-Fernseher, den sie in ihrem trauten Heim offensichtlich nicht vom Staub befreien kann. Meistens schaut sie gespannt „Wer wird Millionär?“. Sie ratet auch immer mit. Und das nicht unbedingt leise! Ob außer mir nie jemand etwas davon mitbekommen hat?
Herr Beier weiß davon nichts. Er hat in dieser Zeit immer Spätschicht in einem Chemieunternehmen. Um Punkt 22 Uhr schleicht Frau Beier zurück ins Haus. Dass sie auch hierbei bereits mehrmals umknickte und sich auch ein ums andere Mal lang gemacht hat, bleibt natürlich nicht aus. An den Schuhen wird es ihrer Meinung nach natürlich nicht liegen!
Mutti schüttelt den Kopf, schmunzelt und wartet darauf, dass sie endlich ihren heißgeliebten Kaffee trinken kann.
„Könnte mich nicht langsam mal jemand entkalken?!“ Imitiere ich die Kaffeemaschine mit „Micky Maus“ Stimme.
„Ich entkalke die Maschine jeden zweiten Dienstag!“
„Sollte ein Scherz sein! Kam neulich im Radio. Lustig, nicht wahr?!“
„Nee! Is’ nich’ lustig!“
„Nee? Dich würde es nur interessieren, wenn die Kaffeemaschine auf der Autobahn liegen würde!“[…]

[…]Ich muss wieder an das Handy denken. Eigentlich denke ich an Boris. Ich werde ganz unruhig. Gerne würde ich Boris jetzt eine SMS schreiben. Eine SMS vollgepackt mit Belanglosigkeiten. Hauptsache er antwortet. Und wehe Boris antwortet nicht! Dann ist aber was los! Das kommt mir einem Weltuntergang gleich. „Man, bin ich verliebt in diesen Trottel!“
Ich schaue durch die riesige Fensterfront auf die Hauptstraße. Es herrscht reger Verkehr. Ein schwarzer BMW parkt auf dem Parkplatz vor dem Sonnenstudio. „Der glänzt ja toll!“ Denke ich beim Anblick auf die bayrische Nobel-Karosse. Ein feiner Herr im feinen Zwirn kommt rein. „Guten Morgen!“ sagt er mit dunkler Stimme. „Wow! Dieser Mann könnte im Kirchenchor den Bass singen!“ schießt mir durch den Kopf.
„Geht’s ihnen gut?“ fragt der Kunde.
„Ja, Danke! Ihnen auch?“ ich muss ihn anlächeln!
„Ja, vielen Dank! Was haben wir denn noch frei?“
„Es sind alle Kabinen frei außer die Kabinen 1 und 4.“
„Hm, normalerweise gehe ich in die Kabine 1. Was können sie mir alternativ empfehlen?“
„Gehen sie doch in die Kabine 2 aber 5 Minuten länger. Dann erzielen sie das selbe Ergebnis.“
„Klingt gut! Das mache ich. Was kostet mich das?“
„Sieben Euro neunzig macht das dann.“
Der Kunde greift in seine Jackentasche und schaut ins Leere.
„Entschuldigen sie, ich muss noch mal zum Auto. Ich habe meine Brieftasche liegen gelassen.“ Sagt der Herr leicht geniert.
„Kein Problem!“ Antwortete ich freundlich.
Ich beobachte wie der Mann zu seinem Fahrzeug geht. Der Anzug sitzt wirklich perfekt! „Die Dame in der Kabine 1 hat bestimmt keine Chance bei so einem tollen Mann.“ Sage ich vor mich hin.
Er schließt die Autotür und betritt wieder das Solarium.
„Sagen sie, warum arbeitet so eine charismatische Frau wie sie eigentlich in einem Sonnenstudio? Sie können doch mehr! Das merke ich doch sofort!“
Ich bin irritiert. Ich grinst ihn an und sage: „Ach wissen sie, es gibt Momente im Leben, da will man einfach mal was anderes machen. Mögen sie Salami-Pizza?“
„Pizza? Ehm... also. Ab und an esse ich gerne eine Pizza.“
Der Kunde runzelt die Stirn und schaut mcih ungläubig an.
„Ich mag auch Pizza. Eigentlich am liebsten mit Salami.“
„Schön!“ sagt der Herr gelangweilt.
„Nee, was ich sagen will ist“ setze ich meine Antwort fort
„ich habe lange genug am Schreibtisch gehockt und stupide Aufgaben abgearbeitet. Es ist wie mit der Pizza. Essen sie immer die selbe Pizza, dann schmeckt sie irgendwann langweilig. Dann bestellt man eine andere.“ Ich schaue auf den auf den Boden „Wenn sie Pech haben, schmeckt diese Pizza dann gar nicht gut. Zu scharf! Aber hier ist es toll. Gefällt mir gut. Gut, es ist nix für immer, ne?! Klar! Da verblödet man auf Dauer. Aber für den Moment ist es echt super.“
Der Mann setzt sich auf einen der roten Sessel, die gegenüber der Theke stehen und schlägt die Beine übereinander.
„Aha! Sie haben ihren eigenen Kopf. Das ist super! Was haben sie denn gelernt?“
„Bürokauffrau“.
„Eine ausgelernte Bürokauffrau möchte lieber im Solarium arbeiten. Das habe ich noch nie gehört.“ Der Kunde lacht.
„Sie haben ja eine tiefe Stimme!“
Der Kunde lacht weiter.
„Singen sie im Chor?“
„Was?“ der Kunde unterbricht sein Lachen.
„Ob sie im Chor singen?“
„Nein, wie kommen sie darauf?“
„Sie könnten im Kirchenchor den Bass singen.“
„Könnte ich... aber...“ er zuckt mit den Schulter. „Singen sie etwa im Kirchenchor?“
„Nein.“
Der Kunde lächelt wieder.
„Sie gefallen mir.“
„Sie gefallen mir auch aber sie sind zu alt.“ Denke ich.
„Ich gebe ihnen mal meine Karte. Momentan suche ich eine Bürokraft.“ Dabei zwinkert er mir zu. „Vielleicht haben sie ja Interesse.“ Er drückt mir die Karte in
die Hand.
„Dankeschön!Und sie sind Uwe Scherhammer?“
„Genau! Und sie sind?“
„Sarah.“
„Na gut Sarah!“ sagt er und steht auf.[…]

[…]Ich gehe zum Drucker um ihre Ausdrucke abzuholen. Na, aber Hallo?! Was liegt denn da? Wer lässt solche Ausdrucke hier einfach herumliegen? Ich nehme ein Blatt aus dem Drucker, welches um 12:03 Uhr ausgedruckt wurde. Das entnehme ich dem Text aus der Fußleiste. Dass auf dem Blatt „streng geheim“ steht, ist natürlich verführerisch. Nun ist es viertel nach zwölf. Dieses Blatt ist offensichtlich nicht für jedermanns Augen bestimmt. Und dann wurde es vergessen. Da war eine sehr „schlaue“ Person am Werk. Ich überlege, ob ich dieses Dokument mitnehmen soll. Man weiß ja nie wofür es mal gut sein kann. Nein. Ich mache eine Kopie davon. Zack, zack! Dass es bloß niemand sieht! Kopie fertig. Das Original lege ich schnell wieder zurück, nehme meine Ausdrucke samt gestohlener Kopie und gehe zurück an meinen Schreibtisch. Mir ist nicht wirklich wohl bei der Sache. War das rechtens was ich da grade getan habe? Und wenn das ein Test war? Immerhin bin ich noch in der Probezeit! Ob es in den Büros Kameras gibt? Aber jetzt ist es zu spät! Ich habe es getan. Ich habe ein geheimes Dokument kopiert. Ich fühle mich schlecht. Ich schaue mir das Blatt an und bin von mir selbst enttäuscht. Warum habe ich das denn jetzt getan? Diese Neugier mal wieder. Ich fühle mich wie eine Spionin. Ein Spitzel. Dabei habe ich gar keinen Auftrag. Das war doch jetzt wirklich ein Zufall.
In meiner Fantasie male ich mir aus, wie die Polizei herein stampft und mich in Handschellen abführen will. Würden jetzt Polizisten rein kommen wüsste ich gar nicht was sie sagen soll. Die Türe zu ihrem Büro steht immer auf. Die Eingangstür des Unternehmens ist nur angelehnt und einen Werkschutz gibt es nicht. Deswegen kann ich das Dokument auch ganz einfach aus dem Gebäude schmuggeln. Es wäre aber auch ein Leichtes mich jetzt festzunehmen. Fest zu nehmen. Festnahme. „Wir nehmen sie fest!“ Auch ein blöder Satz den man durchaus zweideutig verstehen kann.
Wie würde ich das nur meinen Eltern erklären? Wer würde den Stapel Post bearbeiten, der sich auf meinem Schreibtisch aufgetürmt hat? Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Unter anderem, warum die Dreißig mit „scharfem ‚s’“ geschrieben wird. Zehn, Zwanzig, Vierzig, Fünfzig, Siebzig. Alle mit „z“. Warum ein „ß“ bei der Dreißig? Ich verstehe die Welt nicht mehr! Ob die Polizei das weiß? Würde ich jetzt abgeführt werden könnte ja mal fragen.

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Tag der Veröffentlichung: 31.07.2011

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