Wie jeden Tag seit 3 Jahren liege ich in meinem Krankenbett in dem Krankenhaus, in dem meine Oma als erfolgreiche Ärztin arbeitet. Meine Eltern sind mal wieder sonst wo auf der Welt wegen einer Geschäftsreise. Ich nehme es ihnen nicht übel, wer will sein Kind beim Sterben zusehen? Niemand. Wegen ihrem schlechten Gewissen, wie ich schätze, schreiben sie ab und zu mal einen Brief oder eine Karte. Anrufe vermeiden sie so gut es geht, da sie meine immer leiser werdende Stimme nicht hören wollen. Sie wollen nicht wahrhaben, dass ihr einziger Sohn, der doch immer so gut in der Schule, in Sport usw. war und immer so gesund schien, plötzlich an einer unbekannten Krankheit erkrankt ist, die ihm immer mehr sein Augenlicht wegnimmt und oft Übelkeit, Fieber und noch viel mehr verursacht. Was es jetzt genau sein soll, weiß anscheinend keiner. Meine Oma versucht verzweifelt einen Ausweg, eine Lösung, ein Gegenmittel zu finden. Sie hat schon ihren Mann verloren und 2 Fehlgeburten erlitten. Sie lächelt mich zwar immer an, zu mindestens erkenne ich das gerade noch durch die zwar schon sehr dicke Brille, allerdings kann ich in ihren Augen erkennen, dass sie oft weint und sehr traurig ist. Ich bin ihr einziges Enkelkind und es tut mir Leid, dass ich ihr solche Sorgen bereite. Ich stehe vorsichtig auf, meine Beine und alle Muskeln sind sehr schwach, da sie fast nicht mehr seit diesen 3 Jahren gebraucht wurden und schleppe mich träge in das angrenzende Badezimmer, das zwar nur 5 Schritte vom Bett entfernt ist, aber ich fühle mich als wäre ich einen Marathon gelaufen. Als ich ankomme, blicke ich in den Spiegel. Verschwommen erkenne ich ein blasses Gesicht, das müde und schlapp mir entgegen blickt. Die früher immer so gebräunte Haut, ist schon längst verblasst, die immer so strahlenden blauen Augen, die mit einem selbstsicheren Blick einem entgegen geblickt haben, lassen nur noch Angst, Verzweiflung und Müdigkeit erkennen und das immer mit einem Lächeln gesegnete Gesicht, schafft nur noch ein schiefes Lächeln und mein strahlend blondes Haar, ist matt. Ich kann mich schon selbst nicht mehr wiedererkennen. Ich weiß, ich sollte nicht so denken, aber ich glaube nicht, dass ich das Überleben werde. Natürlich ist mein Lebenswille noch stark, aber mein Körper zeigt nur wenig Zuversicht. Betrübt wasche ich mein Gesicht, in der Hoffnung, dass ich aufwache und alles nur ein Traum sei, ein langer schrecklicher Alptraum, der mich aus seinen Fängen endlich frei lässt. Doch nach ein paar weiteren verstrichenen Minuten gebe ich diese nutzlose Vorstellung wieder auf. Vorsichtig schlurfe ich wieder zum Bett. Als ich mich dort wieder niedergelassen habe, kommt schon Oma Tanja in das Zimmer. Sie: „Guten Morgen, Niklas.“ Ich wispere, da ich nicht mehr anders reden kann: „Morgen.“ Sie nickt: „Wie geht es dir? Verschlechterungen, Verbesserungen?“ Ich: „Ich musste mich seit etwa 20 Stunden nicht mehr übergeben und hatte heute Nacht auch kein Fieber.“ Sie: „Gut. Wenigstens etwas. Ach so. Wir haben einen neuen Arzt in unseren Krankenhaus.“ Hinter ihr kommt ein Mann hervor. Ich erkenne nicht sehr viel, aber er hat auf jeden Fall schwarze Haare und trägt wie alle Ärzte einen weißen Mantel oder was das auch immer ist. Ich vermute, dass er mich anlächelt. Das machen alle Ärzte. Ich lächle schief: „Hallo. Nett sie kennenzulernen. Ich schätze wir werden uns noch eine Weile sehen. Darf ich Sie duzen?“ Der Arzt: „Gleichfalls. Natürlich. Ich bin Daniel.“ Er scheint nicht der gesprächige Typ zu sein, aber seine Stimme hört sich wirklich schön an. Sie ist so dunkel und kraftvoll, als würde sie geradezu Leben verteilen. Ich mag ihn jetzt schon einmal mehr, als die meisten anderen Ärzte hier. Meistens kümmert sich zwar Tanja um mich, aber manchmal müssen andere das übernehmen und ich hasse diese mitleidigen Augen, die so tun, als würden sie das Leiden verstehen. Sie hatten aber eigentlich keine Ahnung! Ich will nicht in Selbstmitleid versinken und ich weiß, dass es sicherlich Menschen gibt, denen es genauso schlecht oder noch schlechter geht, aber ich finde es trotzdem nicht richtig, dass sie in meiner Gegenwart traurig wirken, nur weil sie irgendein Typ betrogen hat. Von mir aus können sie eine Woche trauern, aber dann ist es gut und mich sollen sie deswegen auch nicht volljammern! Als ich dann eine Blonde mal angeschnauzt habe, dass das Leben weitergehen wird, meinte sie ernsthaft: „Wie kannst du solche Probleme schon verstehen?! Du liegst doch nur da und wirst sowieso balg verrecken!“ Ja das war eine der Ärztinnen, sie wurde danach zwar gefeuert, aber ich finde solche Sachen nicht richtig! Wie konnte sie nur? Naja kommen wir zu dem Arzt zurück. Tanja: „Ich muss dann gehen Nick, tut mir Leid. Daniel, könnten Sie noch ein wenig bei ihm bleiben?“ Daniel: „Natürlich.“ Tanja verlässt den Raum und Daniel zieht einen Stuhl neben meinem Bett. Ich: „Du kannst auch woanders hingehen, es ist schon OK.“ Meine Stimme ist ein wenig brüchig und ich bekomme nun einen Hustenanfall. Langsam legt sich der Husten wieder und Daniel reicht mir ein Glas Wasser, dankend nehme ich das Glas an und trinke es in einem Schluck leer. Daniel: „Nein. Ich denke ich bleibe ein wenig hier. Du bist mir angenehmer, als so manche andere Patienten.“ Er zwinkert, glaube ich. Ich interpretiere das jetzt einfach einmal aus seiner Stimme raus. Er: „Willst du über irgendetwas reden oder irgendetwas machen?“ Ich: „Ja. Ich würde gerne in den Park unten gehen, aber das kann ich nicht.“ Er: „Warum?“ Ich schaue ihn stutzig an. Ist der jetzt blöd oder so? Ich kann gerade noch so 5 Schritte gehen und das ist schon das Maximum, danach brauche ich eine Verschnaufpause und der frägt mich warum? Das allein wäre vielleicht das kleinere Problem, aber ich darf von den ganzen Geräten höchstens 15 Minuten weg bleiben und da sind wir dann gerade einmal im Park angekommen. Er: „Wir kriegen das schon hin.“ Er wuschelt mir durch die Haare und holt einen Rollstuhl, wie ich diese Geräte hasse und zugleich liebe. Er hilft mir mich hineinzusetzen und schiebt mich dann zum Park. Der Park im Krankenhaus ist recht schön eingerichtet und mir kommt es im Moment wie ein Paradies vor, da ich seit Monaten schon nicht mehr das Sonnenlicht leicht auf meiner Haut gespürt habe. Im Moment ist es Herbst. Die Blätter sind alle in wunderschönen bunten Farben gefärbt und neben der angenehm warmen Sonne, weht ein leichter Wind. Zufrieden schließe ich die Augen und erinnere mich an meine Kindheit zurück, in der ich immer auf Blumenwiesen, durch Felder gerannt bin und auf Bäume geklettert. Man konnte mich davon gar nicht abhalten. Mein jetziges 16-jähriges Ich dagegen scheint geradezu erbärmlich. Ich: „Hast du eine Familie?“ Daniel scheint überrascht über die plötzlich Frage, denn er zögert zuerst etwas: „Ja. Ich habe eine Frau und eine kleine Tochter.“ Ich: „Pass gut auf sie auf und verbringe viel Zeit mit ihnen. Die Zeit vergeht schneller, als einen lieb ist.“ Ich höre mich schon an wie ein alter Mann, aber dafür kann ich nichts, schließlich fühle ich mich auch so. Daniel: „Das mache ich.“ Er schiebt mich eine Runde um den schönen kleinen Teich und lässt mich sogar ein Eis essen. Es ist richtig angenehm in seiner Gegenwart. Ich: „Wie alt bist du?“ Er: „21 Jahre.“ Ich: „So jung?“ Er lacht: „Ja, ich weiß. In dem Alter haben nicht unbedingt viele einen Arztabschluss und eine Familie. Meine Frau ist schon vor 3 Jahren schwanger geworden und sie war damals erst 16. Aber es ist irgendwie alles geworden. Wie alt bist du denn?“ Ich: „16.“ Er: „So jung? Ich hätte dich doch glatt auf 18 geschätzt.“ Ich lache leicht, wobei das Lachen eher einem Keuchen ähnelt. Daniel: „Alles in Ordnung?“ Ich nicke nur, meine Stimme kann ich erst einmal vergessen, die hat sich für die nächsten Minuten verabschiedet. Daniel: „Ich habe gehört du bist schon seit 3 Jahren hier?“ Wieder nicke ich nur. Er fährt fort: „Kennst du so eine rot haarige Ärztin?“ Ich nicke. Er: „Ist die immer so anhänglich oder liegt das an mir?“ Die rot haarige Ärztin kann ich eigentlich neben Tanja noch mit am besten leiden, sie scheint aber etwas gewalttätig zu sein und verrückt. Ich räuspere mich: „Sie ist etwas anders, aber ganz OK.“ Er: „OK, wenn du das sagst, glaube ich dir mal.“ Daniel ist wirklich richtig offen und es machte richtig Spaß mit ihm. Ich vergas sogar meine Schmerzen und alles andere um mich herum. Natürlich kommen die Schmerzen gerade wieder, wo er gegangen ist und ich wieder in dem langweiligen Bett liege. Tanja schaut noch einmal vorbei und fragt mich über den Neuen (Daniel) aus und ich erzähle ihr ein wenig was wir gemacht haben. Eigentlich erwartete ich, dass nach diesen Tag Daniel vielleicht ab und zu mal vorbeischauen würde, aber ansonsten nur wenig Zeit für mich hätte, da ich ein hoffnungsloser Patient war. Das habe ich mal eine Schwester sagen hören. Sie hat in dem Gespräch mit der anderen Schwester gesagt, dass es eigentlich eine Schande ist, dass so ein hübscher Junge wie ich es bin bald sterben wird und Tanja ja mit so einem Unglück gestraft wurde. Ja lästern das können sie gut, nur leider nicht leise. Aber Daniel kam täglich für mindestens 1 Stunde vorbei. Ich liebe unsere Unterhaltungen und die Ruhe, die immer wieder zwischen uns herrscht. Wir verstehen uns richtig gut. Die nächsten 2 Wochen scheinen wie im Fluge zu vergehen, da ich immer wieder von Tanja und Daniel Abwechslung bekomme und immer in Gesellschaft bin. Ich erzähle Daniel von meinem Alltag bevor die Krankheit mich traf und Daniel erzählt mir viel über seine Familie, sein altes und sein gegenwärtiges Leben im Gegenzug. Er stammt aus einer wohlhabenden Familie und seine Familie wollte eigentlich, dass er die Firma übernimmt, er lehnte dies aber ab und wurde Arzt. Seine jetzige Frau war eigentlich nur ein One Nightstand gewesen und das Kind war schon gar nicht geplant gewesen. Seine Frau heißt Susan, sie scheint eine sehr freundliche und fröhliche Person zu sein. Daniel erklärt mir, dass er sie eigentlich nicht heiraten wollte, aber das Kind sollte ja auch nicht ohne Vater aufwachsen und er hatte anscheinend Schuldgefühle. Mittlerweile hat er sich an die Situation gewöhnt. Ich höre ihm gerne zu, es ist als würde er mir vertrauen und das gibt mir ein ganz eigenartiges Gefühl. Ein Gefühl, das ich in meinem Leben noch nicht verspürt habe. Mein Bauch kribbelt ganz komisch, meine Finger fühlen sich ganz kalt und etwas schweißig an und mein Herz klopft ganz wild in meinem Brustkorb, so dass ich Angst habe, dass ich an Herzrasen leide. Meine Sicht hat sich leider verschlechtert, ich kann Daniel kaum noch sehen trotz der dicken Brille. Deswegen habe ich beschlossen die Brille abzusetzen. Ich mag die Brille nicht, damit sehe ich aus wie einer dieser hoffnungslosen Nerds, die ich ab und zu in irgendwelchen Filmen gesehen habe. Ich bedaure es das ich Daniels Gesicht noch nie so richtig erkennen konnte, ich bin mir sicher es sieht makellos aus. Die Fotos seiner Familie konnte ich auch noch nie richtig erkennen, aber da es Daniel´s Familie ist bin ich mir sicher sie sind sehr hübsch und nett. Ich höre wie es kurz und kräftig an meiner Tür klopft. Das muss Daniel sein, schon öffnet sich die Tür mit einem leichten knarzen und Daniel kommt herein: „Hallo. Nick. Wie geht es dir?“ Ich antworte mit meiner Routineantwort: „Alles OK.“ Er: „Ich habe etwas für dich.“ Ich schätze er grinst gerade. Ich lächle schief: „Was ist es denn?“ Er: „Einmal hätten wir hier einen Brief von deinen und Eltern und dann noch eine Erlaubnis, dass du heute einen kleinen Ausflug machen darfst. Natürlich werde ich dich begleiten als deine Aufsicht. Was sagst du?“ Ich muss grinsen. Das hört sich ganz nach ihm an. Meine Stimme muss sich schrecklich leise anhören, nicht mehr als ein Wispern, aber er tut so als könnte man jedes Wort klar und deutlich verstehen. Ich: „Das ist echt super.“ Er: „Willst du den Brief gleich lesen?“ Ich schaue leicht zur Seite, auch wenn ich sein Gesicht nicht erkennen kann, will ich nicht, dass er sieht wie mir leichte Tränen in die Augen steigen. Meine Eltern werden wahrscheinlich nur von ihrer Geschäftsreise berichten und mir gute Besserung wünschen. Ich möchte das nicht lesen, gleichzeitig will ich es aber doch, um vielleicht darauf hoffen zu können eine gute Botschaft oder so etwas zu lesen. Allerdings KANN ich den Brief gar nicht lesen, weil ich so gut wie blind bin. Ich zwinkere die Tränen weg: „Könntest du ihn mir vorlesen?“ Er: „Stimmt du trägst ja gar nicht deine Brille. Hat man dir schon einmal gesagt, dass du wunderschöne Augen hast?“ Ich schaue ihn perplex an, naja gut ich schaue einfach in die Richtung, in der ich ihn vermute und die schwachen Umrisse einer Gestalt erkennen kann. Ich antworte noch leiser als sonst schon, sodass es nur noch ein Hauch zu sein scheint: „Nein…“ Dieses Kompliment kam zu plötzlich, ich hatte damit nicht ansatzweise gerechnet gehabt. Daniel liest vor: „Lieber Niklas, wir sind im Moment in Dubai. Wir konnten mal wieder ein großen Deal an Land ziehen und hoffen, dass bei dir alles in Ordnung ist. Wir wünschen dir auch einen schönen Geburtstag. Leider können wir nicht kommen, weil wir gleich wieder nach China fliegen müssen. Wir hoffen du kannst trotzdem mit Oma einen tollen Tag verbringen und hast jede Menge Spaß. In Liebe deine Eltern.“ Eine kurze Weile herrschte Stille. Sie würden also wieder nicht zu meinem Geburtstag kommen. Mir war es irgendwie schon klar gewesen, aber mein Herz scheint trotzdem mit einem Pfeil durchbohrt zu werden. Wieder wollen sich Tränen ihren Weg durch meine Augenwinkel bahnen. Schnell drücke ich mein Gesicht etwas in das Kissen, so dass die Tränen dort einfach nur abgewischt werden. Daniel: „Was ist das bitte?! Das ist alles? Was sind das bitte für Eltern?! Wann waren sie das letzte Mal hier Nick?!!“ Ich blicke auf. Regt er sich etwa meinetwegen so auf? Das ist irgendwie nett… Ich spreche wie immer mit leiser Stimme, die dieses Mal aber auch etwas weinerlich klingt: „Seit zwei ein halb Jahren…“ Er: „Solange?!! Was sind das für Eltern?! Ich werde die auf jeden Fall anrufen!“ Ich schüttle leicht den Kopf: „Es ist in Ordnung. Lass uns auf den Ausflug gehen.“ Wieder schweigen wir uns an. Daniel scheint sich etwas zu beruhigen und fragt vorsichtig: „Wann ist denn dein Geburtstag?“ Ich: „Der wievielte ist heute?“ Er: „Der 14. Oktober.“ Ich: „Dann morgen.“ Er: „Was? Schon? Warum hast du das nie erwähnt?“ Ich grinse schief: „Du hast nie gefragt. Wann hast du Geburtstag?“ Er: „Am 12. Dezember.“ Er hilft mir beim Umziehen. Das ist schon ziemlich peinlich, aber ich kann auch nichts dafür. Dann hebt er mich plötzlich huckepack und ich frage: „Kein Rollstuhl?“ Er: „Alle besetzt für heute. So geht es doch auch ganz gut.“ Er ist eindeutig viel zu nah und dieser Geruch, der leicht nach Zimt und etwas süßem riecht, ist einfach nur himmlisch. Wie kann man nur so gut riechen? Ich: „Wo gehen wir eigentlich hin?“ Er: „Das siehst du wenn wir angekommen sind.“
Da meine Augen so gut wie nutzlos sind, verlasse ich mich voll und ganz auf meine restlichen Sinne. Wir scheinen an einen wirklich lauten Ort anzukommen. Überall hört man Kreischen, Kinderrufe und noch andere Geräusche. Sind das Achterbahnen? Es hört sich so an und das verschwommene Bild passt dazu sehr gut. Wir sind also in einem Vergnügungspark. Ich war schon lange nicht mehr in einem gewesen. Ich lege meinen Kopf auf Daniels Schulter und wispere: „Danke.“ Seine Nähe und Freundlichkeit breiten in mir so ein Gefühl aus, dass ich seit einiger Zeit in seiner Nähe habe. Ich kann es immer noch nicht deuten, was das für ein Gefühl ist. Ich kann es einfach nicht einordnen. Daniel dreht seinen Kopf leicht in meine Richtung. Ich spüre seinen Atem auf meinem Gesicht. So nah. Er: „Das ist keine große Sache.“ Er hat ja keine Ahnung was für eine große Sache, das für mich ist. Seit langen hat niemand mehr so etwas Nettes für mich getan, alle waren viel zu besorgt und meine Gesellschaft war eher eine Last für sie. Wir probierten alle Achterbahnen, unterschiedliche Süßigkeiten und Attraktionen aus, die ich wollte. Daniel richtete sich total nach mir und achtete darauf, dass es mir auch ja gefiel. Am Schluss steigen wir in das Riesenrad, wie ich glaube. Leider kann ich die Aussicht nicht genießen, ich kann es mir nur in meiner Fantasie vorstellen und die verschwommenen Punkte und Flecken zu einem Bild zusammensetzen. Ich habe auch nicht meine Brille mitgenommen, ich mag das Gefühl nicht, sie auf meiner Nase zu haben und da es nun nicht mehr sonderlich viel Unterschied macht, wenn ich sie auf hab und wenn ich sie absetze, bevorzuge ich Letzteres. Daniel weiß sicherlich, dass mein Zustand sich verschlechtert hat, aber er ist mit der Einzigen, nein er ist der Einzige, der mich damit in Ruhe lässt und nicht weiter darauf eingeht. Daniel: „Da unten sind richtige Menschenmassen. Man kann von hier aus sogar das Einkaufszentrum, das Krankenhaus und jede Menge Häuser sehen. Der Park ist auch ein wenig zu erkennen. Und natürlich kann man die ganzen unterschiedlichen Attraktionen von hier aus sehen.“ Ich musste ihn zum Glück nicht bitten mir zu sagen, was er sieht, das hätte ich auch nicht getan, aber die Tatsache, dass er es tut bedeutet mir fast genauso viel wie seine Idee hierherzukommen. Ich lächle: „Schöne Aussicht.“ Ich merke wie Daniel aufsteht und sich neben mich setzt, seine Hand berührt meine Wange. Was macht er da? Ich drehe meinen Kopf zu seinem Gesicht. Erkennen kann ich nicht sonderlich viel, aber es scheinen mich 2 rotbraune Knöpfe anzustarren. Daniel´s Gesicht kommt meinem immer näher. Was wird das bloß? Und wieso kann ich mich nicht bewegen? Mein Körper will sich nicht zurücklehnen. Seine Lippen sind kurz vor meinen und ich spüre den Luftzug leicht auf meinem Lippen, als er die Worte haucht: „Ich werde das ganz sicher nicht bereuen, vielleicht versuche ich es mir irgendwann einzureden, dass ich es bereut habe, aber ich denke nicht, dass ich es haben werde. Du kannst dich jeder Zeit dagegen wehren.“ Und schon spüre ich seine weichen Lippen auf meinen. Sie scheinen so vorsichtig und sanft zu sein. Mein Körper reagiert wie von ganz allein. Ich verschlinge meine Arme in seinem Nacken und presse meine Lippen mit etwas mehr Druck gegen seine. Daniel scheint etwas überrascht zu sein, aber nach ein paar Sekunden gleitet seine Zunge in meinen Mund und er erkundet meinen Mundraum. Ich stupse ihn leicht mit meiner Zunge etwas neckisch an. Ich spüre wie meine Lunge anfängt sich zusammenzuziehen. Ich brauche Luft. Etwas unsanft löse ich den Kuss und ringe nach Atem. Mein Herz rast, als müsste es die Herzschläge von Jahren nachholen Und meine Augenlieder beginnen zu flattern. Was passiert nur hier mit mir? Ich spüre eine Tüte auf meinen Lippen und höre Daniels Stimme ganz leise, als wäre ich auf der einen Straßenseite und er auf der anderen und ganz viele Autos fahren zwischen uns und machen einen Höllenlärm: „Versuche ruhig in die Tüte zu atmen. Beruhige dich.“ Mit der Zeit wird meine Atmung wieder etwas gleichmäßiger, mein Herz beruhigt sich etwas, schlägt aber immer noch zu schnell und meine Augenlieder hören zum Flattern auf. Daniel: „Puh. Ich dachte schon…“ Er bricht mitten im Satz ab. Ich kann mir denken, was er dachte. Es ist nicht schwer zu erraten. Das ist schon erbärmlich, ich wäre hier fast wegen eines KUSSES umgekippt. Wegen eines verbotenen Kusses. Vielleicht war das ja die Strafe Gottes? Daniel ist verheiratet, hat eine kleine Tochter und ist einer meiner Ärzte. Da ist so etwas wie Liebe zwischen Arzt und Patient bestimmt verboten. Aber es hat sich nicht im Geringsten Falsch angefühlt. Ich schätze aber, dass ich von Daniel keinen weiteren Kuss bekommen werde, seine Angst wird nun zu groß sein. Als wir 15 Minuten später aus dem Riesenrad aussteigen, gibt es eine Art unausgesprochene Übereinkunft zwischen uns. Daniel nimmt mich wieder Huckepack und wir kehren in das Krankenhaus zurück. Dort schließt er mich wieder an ein paar Geräten an und setzt sich auf den Stuhl neben mich. Es herrscht eiskalte Stille zwischen uns. Es ist unangenehm, direkt schmerzhaft. Neben mir sitzt der Mann, den ich liebe, wie ich vorhin im Riesenrad feststellen musste und ich werde ihn wohl nie spüren können. Ich werde nie mit ihm alt und grau werden können und ich werde ihm nicht durch die schweren Zeiten, die in der weitentfernten Zukunft auf ihn zukommen werden, helfen können. Ich werde auch nicht mit ihm unsere Geburtstage feiern und seine Beförderung zum Oberarzt miterleben können. Wie lang sein Leben wohl sein wird? Es kommt mir so endlos lange vor, was er noch alles vor sich hat. Mein Leben hingegen kommt vor wie ein einziger Moment. Eine kleine Kerze, die schon nach 5 Minuten ausgebrannt ist und erlischt. Wieso? Wieso konnten wir uns nicht früher begegnen? Wieso muss ich diese Krankheit haben? Wieso musste es so kommen? Lauter sinnlose Fragen schießen mir durch den Kopf. Die Antworten auf diese Fragen, werde ich wohl nie in meinem Leben erfahren können. Eine Träne schafft es, sich ihren Weg über meine Backe zu bahnen. Daniel bleibt stumm und dafür bin ich ihm dankbar, ein Kommentar hätte nur die Stille zerstört, die mittlerweile eher tröstlich scheint und zu sagen scheint, dass wir wenigsten noch den Moment haben. Ich höre Tanjas Stimme: „Wieso so betrübt?“ Der Moment ist ruiniert. Sie: „Nick. Wir müssen einige Tests mit dir durchführen. Ich habe vielleicht ein wirksames Gegenmittel.“ Dieser Satz macht mir große Hoffnungen wie schon lange nicht mehr. Ich beginne zu Lächeln: „Das hört sich gut an.“ Trotz der Freude habe ich ein mulmiges Gefühl im Magen. Tanja führt einige Tests durch. Es kommt mir wie eine endlose Prozedur vor. Daniel weicht mir die ganze Zeit nicht von der Seite und bleibt immer in meiner Greifweite. Tanja: „Gut. Probieren wir es einmal aus.“ Sie gibt mir eine Spritze. Der kleine Picks kommt mir auch nicht mehr so schlimm vor wie früher. Früher habe ich immer ein Drama daraus gemacht, nun ist zu einer Art Routine geworden. Ich spüre wie mein Arm anfängt zu brennen. Ein sehr unangenehmes Gefühl. Etwas stimmt nicht. Ich spüre wie mein Herz wieder anfängt zu rasen. Nicht gut. Ich greife nach Daniel und halte mich an seinem Kittel fest. Ich beginne zu hecheln, spüre wie meine Lunge zu stechen anfängt, mein Herz schmerzhaft gegen meine Rippen drückt und Übelkeit in mir aufsteigt. Etwas stimmt nicht. Das sollte mein letzter Gedanke sein. Schon spüre ich wie ich umkippe und zwei Arme mich halten. Mein Herz scheint das Blut geradezu in meinen Kopf zu pumpen, es rauscht in meinen Ohren und mein Kopf pulsiert. Ich höre eine Stimme: „Nein! Du darfst nicht sterben! Noch nicht jetzt! Ich liebe dich doch!“ Schön diese letzten Worte wenigstens halbwegs zu hören. Daraufhin wird alles schwarz.
Geschockt knie ich neben Tanja und dem bewusstlosen Niklas. Immer wieder habe ich es gesagt. Er soll noch nicht sterben. Ich liebe ihn doch. Ist das die Strafe dafür, dass ich ihn mehr liebe als meine Frau und meine Tochter? Seine blauen Augen haben sich, kurz bevor die Lieder sich um sie geschlossen haben, auf mich geheftet. Es schien als hätte er mich erkennen können. Wieso jetzt? Sein Herz hat aufgehört zu schlagen und da half auch die lange Herzmassage von Tanja nichts mehr. Tanjas Gesicht nass von den vielen Tränen, die ihr immer wieder übers Gesicht rannen. Es tropft auf einmal etwas auf meine Hose. Überrascht blicke ich darauf. Es ist ein Wasserfleck oder so etwas, verblüfft betaste ich meine Wangen und auch diese sind feucht. Weine ich etwa? Ja, ich weine. Das letzte Mal, das ich geweint habe scheint eine Ewigkeit her zu sein. Mein Herz pocht schmerzhaft in meiner Brust. Wie soll es nun weitergehen? Ohne ihn scheint mein Leben so wertlos. Ich kann mich schon gar nicht mehr richtig an mein Leben erinnern, das ich geführt habe, bevor ich Niklas kennengelernt habe. Mein voriges Leben scheint mir verschwendet und nutzlos. Wieso kann er nicht gesund und munter sein? So wie er es immer versucht hat allen vorzuspielen. Er musste tapfer die Krankheit fast vollkommen alleine die 2 ½ Jahre durchstehen. Er hatte zwar Tanja, aber die schien eher mit der Idee besessen zu sein, eine Lösung zu finden, als dass sie sich richtig kümmerte. Tanja: „Wir werden ihn eingefrieren. Vielleicht gibt es in der Zukunft ein Medikament.“ Ich: „Er ist tot.“ Sie schüttelt nur schniefend den Kopf und ruft sogleich jemanden an, der ihrer Ansicht Niklas eingefrieren wird und später Mal findet man sicherlich eine Lösung. Dieser Gedanke scheint ein Hoffnungsschimmer zu sein, aber wie lange würde dies dauern? Jahrhunderte?
All die Bekannten würden nicht mehr leben. So wie ich dich kenne, wäre das eine Qual für dich. Ich kann Tanja davon überzeugen eine Beerdigung zu arrangieren. Auch wenn der Abschied schwerfällt. Du hättest es so gewollt, oder Niklas? Die Beerdigung verlief ruhig, es hätte dir, Niklas, bestimmt gefallen. Deine Eltern sind auch gekommen und sie haben sogar ein paar Tränen vergossen. Nicht zu glauben oder? Sie haben dich doch seit 2 ½ Jahren nicht zu Gesicht bekommen. Die Beerdigung fand auch nur im engsten Kreisen statt. Ich hoffe du bist mir nicht böse, dass ich meine Frau und meine Tochter nicht verlassen habe. Aber ich denke nicht, dass du gewollt hättest, dass ich dies tue. Du hättest mich wahrscheinlich versucht zu schlagen, um mir wieder Vernunft einzubläuen. Bei diesen Gedanken muss ich Lächeln. Ich werde dich auf keinen Fall vergessen. Da kannst du dir sicher sein, Niklas.
Texte: Alle Rechte sind bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 08.09.2012
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