Der Schnee raschelte leise unter ihren Fußsohlen, während das Mädchen mit ihrem Butler durch die Stadt lief.
„Das da, das will ich haben!“, verlangte sie, während sie auf ein teures Spielzeug in einem Schaufenster zeigte. Der Butler zückte einen Stift und schrieb das Spielzeug auf die Liste mit den anderen Wünschen der kleinen, die sie sehr wahrscheinlich auch alle bekommen würde. So war das nun einmal, wenn man reiche Eltern hatte. Man bekam einfach alles, was man wollte und das nutzte dieses kleine Mädchen, welches auf den Namen Rosie hörte, auch wirklich aus. Speziell natürlich zu Weihnachten und ihrem Geburtstag.
Dieses Mädchen lief jetzt also durch die von Menschen verstopfte Stadt und ließ ihren Butler alles aufschreiben, dass sie gut fand, damit ihre Eltern es ihr später schenken konnten.
„Ms. Rosie? Die Zeit ist langsam um, wir müssen wieder zurück damit sie ihren Tanzunterricht nicht verpassen.“
„Nur noch dieses eine Geschäft da drüben, James.“
„Nun gut. Dann aber schnell.“
So ging es noch eine ganze Weile weiter, bis James die Zeit irgendwann wirklich nicht mehr ignorieren konnte.
„Wir müssen jetzt wirklich gehen.“
„Jaja.“ Schlecht gelaunt, weil sie von ihrem Geschenke aussuchen weg musste, schlenderte sie langsam dem ziemlich schnell voran schreitenden Butler hinterher. Und so kam es dann natürlich so, wie es kommen musste. Rosie verlor den Butler in dem Gewühl aus lauter durch die Gegend hetzenden Menschen aus den Augen, sodass sie dann komplett alleine dastand. Und was macht ein kleines 8-jähriges Mädchen in so einer Situation? Möglichkeiten gibt es sicher viele, doch Rosie sah in diesem Moment nur eine einzige. Sie lief einfach los und hoffte, sie würde den richtigen Weg finden.
Viele verschiedene Richtungen und Wege später hatte Rosie dann aber komplett die Orientierung verloren und wusste absolut nicht mehr weiter.
„Das kann doch nicht wahr sein! Wofür habe ich denn bitte einen Butler?“ Die Schuld bei sich selber zu suchen fiel ihr nicht einmal ansatzweise ein. Stattdessen beschuldigte sie ihren Butler, der vielleicht etwas besser hätte aufpassen müssen, aber ansonsten nicht wirklich etwas für ihre Situation konnte und das zeigte, wie verzogen sie in Wirklichkeit schon war.
Eine weitere halbe Stunde später, in der sie nur herum geirrt war, war Rosie den Tränen nah. Was sollte sie auch tun? Sie wusste nicht mehr, wo sie war, hatte weder Geld noch ein Handy und jemanden kennen tat sie auch nicht.
„Hey, hast du dich verlaufen?“, fragte plötzlich eine freundliche Stimme hinter ihr, was Rosie dazu brachte, sich schnell umzudrehen.
Als die Frau, die sie angesprochen hatte, Rosies Tränen sah, nahm sie sie vorsichtig in den Arm, sodass sie sich wenn es ihr zu unangenehm wäre, befreien könnte.
„Wie heißt du?“
„Ich...Rosie.“ In der Umarmung der netten Frau konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurück halten, bekam sie solche Zeichen von Liebe doch viel zu selten zu spüren.
„Und weißt du wo deine Eltern sind?“
Rosie konnte nicht mehr tun, als ihren Kopf zu schütteln.
„Aber warst du denn nicht mit ihnen unterwegs?“
„Nein, sie sind auf der Arbeit. Ich war mit unserem Butler Geschenke aussuchen und dann habe ich ihn verloren...“, schluchzte Rosie in den Mantel der Frau.
„Okey, Rosie. Wenn du möchtest kannst du mit zu uns ins Waisenhaus kommen, von dort können wir dann versuchen, bei dir anzurufen. Ich habe nämlich leider kein Handy dabei.“ Während sie sprach, zeigte die Frau auf vier Kinder die hinter ihr standen und geduldig warteten, bis es weiter gehen würde.
Waren das etwa echte Waisenkinder? Rosie betrachtete die Kinder neugierig durch ihre mittlerweile nicht mehr tränennassen Augen.
„Okey...“, antwortete sie schließlich mit schwacher Stimme. Alles war besser, als hier in der Kälte herum zu irren.
So kam es also, dass Rosie den 23. Dezember in einem Waisenhaus verbrachte, inmitten von fröhlichen Kindern, die alle aufgeregt dabei waren, ihre Zimmer zu dekorieren und Bilder für den Weihnachtsmann zu malen, während sie darauf wartete, dass James, den sie vorhin angerufen hatten, sich durch das Schneegestöber zu ihnen durchgekämpft hatte. Was war das nur für ein anderes Leben, im Gegensatz zu ihrem eigenen. So lustig und fröhlich ging es bei ihr zu Hause nie zu. Wenn ihre Eltern mal zu Hause waren, dann hatten sie nur Zeit, ihr ein neues Geschenk in die Hand zu drücken und in ihrem Büro zu verschwinden.
„Möchtest du auch ein Bild malen? Darüber freut sich der Weihnachtsmann immer besonders, wenn er uns besuchen kommt.“ Ein kleines Mädchen, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, war neben ihr aufgetaucht und hielt ihr ein Blatt hin. Zuerst starrte Rosie es nur zögernd an, aber dann nahm sie es entgegen und setzte sich an einen der Tische, um auch ein schönes Bild zu malen.
Das ganz Gewühl wurde von einigen Betreuern beobachtet, die nebenbei mit ein paar anderen Kindern zusammen den Weihnachtsbaum schmückten.
„Was wünscht du dir dieses Jahr zu Weihnachten?“, fragte ein Junge, der zwei Plätze weiter saß.
„Oh, eine Puppe, ein Spiel, einen Schminktisch...“ So fing Rosie an, alle ihre Wünsche aufzuzählen, die sie sich vorhin in der Stadt ausgesucht hatte.
Von allen Seiten wurde sie nur verblüfft angestarrt.
„Aber das geht doch gar nicht! Man darf sich nicht so viel wünschen! Das macht den Weihnachtsmann ganz wütend.“, empörte sich ein Mädchen, dass ihr gegenüber saß.
„Wieso sollte der dann wütend werden?“ Rosie verstand die Welt nicht mehr, immerhin hatte sie sich um sowas nie Gedanken gemacht.
„Na, bei Weihnachten geht es doch nicht um die Geschenke. Es geht darum, dass man zusammen ist und dass man gemeinsam die Geburt Jesu feiert.“, erklärte ein anderer Junge.
Von der Weihnachtsgeschichte hatte Rosie zwar schon gehört, aber besonders interessiert hatte es sie nie, deshalb war es ihr auch ganz neu, dass man die Geburt Jesu an Weihnachten feierte.
„Was wünscht ihr euch denn zu Weihnachten?“, fragte Rosie neugierig. Hier war einfach alles so anders.
Von allen Seiten berichteten ihr die Kinder ihre Wünsche. Ein Stofftier, neue Stifte, ein neues Puppenkleid, ein kleines Rennauto oder auch einfach nur Gesundheit oder Glück. Jedes Kind hatte einen Wunsch, aber es waren alles keine teuren Geschenke. Und plötzlich verstand die kleine Rosie, was der Junge gemeint hatte, als er sagte, bei Weihnachten ginge es nicht im die Geschenke. Jeder hier war glücklich und freute sich einfach darüber, mit den anderen zusammen sein zu können. Da waren die Geschenke sogar eher zweitrangig.
„Rosie? James ist hier um dich abzuholen.“, meldete sich die Frau, die sie in der Stadt mitgenommen hatte, Frau Hirschmeyer, wie sie mittlerweile wusste.
„Ich komme.“ Damit stand Rosie auf und überlegte kurz.
„Hier. Gebt das bitte dem Weihnachtsmann wenn er kommt ja?“ Rosie legte ihr gemaltes Bild auf den Stapel mit den anderen Bildern und ging mit einem Lächeln im Gesicht zu James.
„Können wir?“
„Wir können.“ Rosie zog sich schnell ihre Jacke und die Schuhe an und beide verließen das Haus.
Wieder zu Hause sah Rosie, wie James einen Zettel von einem anderen Angestellten bekam, auf dem jeder ihrer Wünsche abgehakt war. Normalerweise war sie nachdem sie das gesehen hatte immer besonders gut drauf, aber heute nicht. Heute hatte sie nämlich etwas gelernt und das wollte sie jetzt auch umsetzen.
„James?“
„Ja, Ms. Rosie?“
„Würden sie bitte dafür sorgen, dass ich nur ein kleines Geschenk bekomme? Keine anderen Geschenke, nur dieses eine.“
Damit überraschte sie James gewaltig, der schon damit gerechnet hatte, noch ein weiteres Geschenk genannt zu bekommen, welches er dann ganz kurzfristig noch zu besorgen hatte, aber nein. Dieses Mal verlangte Rosie das genaue Gegenteil.
„Aber Ms. Rosie? Was ist dann mit all den anderen Geschenken?“
„Die spenden sie bitte dem Waisenhaus, in dem ich heute war. Sie verdienen diese Geschenke mehr als ich und ich wäre auch viel glücklicher, wenn ich ihnen eine Freude machen könnte.“
Nun wusste James wirklich nicht mehr, was er sagen sollte. Konnte ein halber Tag in einem Waisenhaus einen Menschen so verändern? Die Antwort war ganz eindeutig ja.
„Nun gut. Ich werde mich darum kümmern. Ein kleines Geschenk sagten sie?“
„Ein kleines Geschenk.“, stimmte Rosie zu und ging mit einem nun viel leichteren Gewissen auf ihr Zimmer.
Die Kinder in diesem Waisenhaus hatten ihr die Augen geöffnet und ihr gezeigt, was Weihnachten wirklich bedeutete. Nämlich die Freude an der Freude anderer und an der Geburt Jesu. Und diese Erkenntnis sollte sie ihr Leben lang nicht mehr vergessen.
Und dann kam Heiligabend. Die Tür zum Esszimmer ging auf und die Augen von Rosies Eltern wurden riesig. Wo waren all die Geschenke, die es jedes Jahr gab? Was würde ihre Tochter sagen, wenn sie dieses eine mickrige Geschenk dort sah? Beide blickten ängstlich zu Rosie und wurden sogleich noch verblüffter. Rosies Augen leuchteten wie noch nie und sie hatte ein glückliches Lächeln im Gesicht. Was war hier um Himmels Willen los?
Während Rosie ihr Geschenk auspackte, zog Rosies Vater James zur Seite und wollte verblüfft wissen, was passiert wäre. Da erzählte James die ganze Geschichte und als Rosie bemerkte, dass James ihre eigene Weihnachtsgeschichte erzählte, gesellte sie sich zu ihnen, mit ihrer neuen CD in der Hand und einem fröhlichen Leuchten im Gesicht.
Nachdem James mit seiner Erzählung geendet hatte, war es an Rosie etwas zu sagen.
„Bei Weihnachten geht es nämlich nicht um die Geschenke, sondern um die Freude am Beisammensein.“ Da merkten auch ihre Eltern, wie sehr sie ihre Tochter vernachlässigt hatten und schworen sich, dass es von diesem Augenblick an anders sein würde.
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2013
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