Cover

Erwachen

Erwachen

 

Auch als Sarturia® Taschenbuch Nr. 30135

ISBN 978-3-940830-13-5

 

 

Herausgeber: Daniel Schenkel

Lektorat: Autorenteam Sarturia®

Covergestaltung: Dieter König

Copyright © 2012-2013 Sarturia Verlag e.K. Autoren Service

Finkenweg 9, 72669 Unterensingen

 

 

Titel Autor

Abendessen mit einem Freund Silke Schulz

Der Maskenball Adela Schulz

Erwachen Cathy Guderjahn

Blood Rings Reni Zawrel

Ein Tag in Jena Monika Gröber

Es sieht mich Daniel Schenkel

Rastlos im Museum Marco Ansing

Wie ein grauer Nebelschleier Martina Pawlak

Nur eine Stunde Andreas Groß

Versteinerte Zeit Regina Müller

Es fährt ein Zug Reni Zawrel

Eiskalt Cathy Guderjahn

Im Auge des Betrachters Andreas Zwengel

Licht am Ende des Tunnels Dieter König

Vorwort

 

Der vorliegende Band ist der erste offizielle Band der Sarturia Macabre Buchreihe. Er sollte ursprünglich als Sammlung reiner Horrorerzählungen herausgegeben werden - Grauen, Angst und rasselnde Ketten.

 

Nach dem Probedruck haben sich unsere Autoren jedoch entschieden, sich in dieser Buchreihe nicht mit den in diesem Genre gängigen Stilmitteln zu begnügen. Sie wollten mehr. In diesem Werk nehmen sie den Leser vielmehr mit auf eine abenteuerliche Reise in die Welt des Makabren. Schon weltbekannte Autoren wie Robert Louis Stevenson, Charles Dickens, H. P. Lovecraft und Edgar Allan Poe bedienten sich der Elemente des Mysteriösen und Düsteren, um die Leser in atemlose Spannung zu versetzen. Die Autoren dieses Buches folgen deren Spuren. Dadurch eröffnen sich für den Leser dieser Anthologie unvergleichliche Spannungsmomente, die in ihrer Eindringlichkeit an die eigenen Ängste während nächtlicher Albträume erinnern.

 

Wir wünschen Ihnen Gänsehaut und staunend gruseliges Vergnügen auf Ihrer Reise durch die faszinierenden Welten des Sarturia Macabre Bandes „Erwachen“

 

Ihr Herausgeber

Daniel Schenkel

 

Abendessen mit einem Freund

Abendessen mit einem Freund

Silke Schulz

 

Heißes Wasser fließt über den nackten Körper des großgewachsenen Mannes. Er schließt seine Augen und lässt es langsam über Kopf, Schultern und Brust rinnen. Nicht nur, weil es sich richtig gut anfühlt, sondern auch, oder vornehmlich, um den Schmutz von seiner blassen Haut abzuwaschen. Der Mann ist nicht gern schmutzig. Es passt einfach nicht zu ihm. Während er mit einer großen Menge Duschgel die eingetrockneten Flecken von seiner Haut zu lösen versucht, atmet er tief ein und genießt den zitronenfrischen Geruch, der jetzt die kleine Kabine ausfüllt. Ein vertrautes Gefühl in der Magengegend erinnert ihn daran, dass es langsam Zeit für das Abendessen wird. Er steigt vorsichtig aus der rutschigen Duschkabine und trocknet jeden Zentimeter seines Körpers mit akribischer Genauigkeit ab. Dem Gesicht, das ihm aus dem Spiegel interessiert entgegenblickt, wirft er ein leichtes Lächeln zu. Es ist nicht nur sein eigener, wenn auch überaus angenehmer Anblick, der ihn zum Lächeln zwingt. Vordergründig ist es die Aussicht auf den heutigen Abend, auf den er sich schon so lange gefreut hat. Viel zu lange, wie er findet.

Aber das Warten hat sich gelohnt.

 

Der Mann verlässt das Bad mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch. Gemächlich schlendert er in das Schlafzimmer, wo er sich die Zeit nimmt, seine Garderobe sorgfältig auszuwählen. Viele Leute unterschätzen immer noch die Bedeutung des äußeren Erscheinungsbildes.

Nach seiner Meinung ist es immer wichtig, wie man aussieht. Auch wenn man nur einkaufen geht oder beim Bäcker eine Tasse Kaffee trinken will. Kleider machen Leute.

Es gibt wohl kaum ein Sprichwort, das so viel Wahrheit enthält wie dieses. Der Mann entscheidet sich für einen dunkelblauen Anzug und ein hellblaues Hemd, dazu passende Socken und eine Krawatte. Er ist sich sicher, dass er an diesem Abend der Einzige sein wird, der eine Krawatte trägt, aber das macht ihm nichts aus. In perfektem Outfit gekleidet, beäugt er sich vor dem großen Wandspiegel und kämmt sein Haar. Oder besser gesagt das, was davon übrig geblieben ist. Die kahlen Stellen auf seinem Kopf lassen ihn deutlich älter aussehen als er tatsächlich ist. Mit einem unterdrückten Seufzen bedauert der Mann diesen Makel.

 

Erneut erinnert ihn sein Magen daran, dass es höchste Zeit ist, hinunterzugehen und das Abendessen zuzubereiten. Er wirft einen letzten zufriedenen Blick auf sein Spiegelbild und schaltet das Licht aus.

Die Küche ist wie gewöhnlich auffallend sauber. Der Mann verabscheut Unordnung in seinem Haus. Es gibt schon genug Chaos und Durcheinander in der Welt da draußen. In den eigenen vier Wänden hat er das Sagen und er legt großen Wert darauf, dass alles seine Ordnung hat und in geregelten Bahnen verläuft. Er beginnt eine Melodie zu pfeifen, die er seit seiner Kindheit kennt. Er kann sich zwar nicht mehr genau daran erinnern, wann und wo er sie damals das erste Mal gehört hat. Doch seit er ein kleiner Junge war, wollte ihm das Lied nicht mehr aus dem Kopf gehen. Der Hausherr öffnet den Kühlschrank, um etwas von dem Fleisch herauszuholen, das er am Nachmittag vorbereitet hat.

Es macht eine Menge Arbeit, wenn man selbst schlachtet, und es ist, darüber hinaus, eine blutige und vor allem schweißtreibende Angelegenheit.

Er verbrachte mehrere Stunden damit, die Haut abzuziehen, die Knochen auszulösen und die grob herausgeschnittenen Fleischstücke in zarte Teile zu filetieren. Anschließend musste die Küche penibel gesäubert werden. Ordnung musste sein!

 

Als er die Ereignisse des Tages Revue passieren lässt, registriert er die Erschöpfung, die von ihm Besitz ergriffen hat. Wahrscheinlich wird er seinem Freund nicht lange Gesellschaft leisten können. Aber wie gesagt: Der Aufwand hat sich gelohnt. Er schaltet den Herd ein und holt die beste Pfanne aus dem Schrank, um sie auf die vordere, große Kochplatte zu stellen.

Heute gibt es eine Menge zu braten. Während er langsam etwas Olivenöl in die Pfanne laufen lässt, bedauert der Mann, dass Gelegenheiten wie diese sich so selten ergeben.

Er genießt es immer sehr, Freunde zum Abendessen bei sich zu haben, und wünscht insgeheim, er hätte die Chance dazu ein wenig häufiger. Obwohl er seinen heutigen Gast wohl kaum als Freund bezeichnen kann. Man sagte dazu wohl eher: einen flüchtigen Bekannten. Im Grunde genommen spielt das aber keine Rolle.

Es heißt nicht umsonst, ein Fremder ist nur ein Freund, den man noch nicht kennen gelernt hat, nicht wahr? Und heute Abend, davon ist der Mann überzeugt, werden sie Freunde sein – oder vielleicht sogar noch etwas mehr.

 

Als das Öl die perfekte Temperatur erreicht hat, legt der Mann vorsichtig das erste Stück Fleisch in die Pfanne.

Das Knistern und der angenehme Geruch, der sich schnell ausbreitet, lassen ihn nur noch hungriger werden, aber der Hausherr weiß, dass er ein wenig geduldig sein muss.

Auch das qualitativ hochwertigste Steak ist schnell ruiniert, wenn man es zu rasch brät oder es zu lange garen lässt.

Es mag auf dieser Welt vieles geben, wovon der Mann nichts versteht, aber wenn es um Fleisch geht, kennt er sich aus wie kaum ein anderer. Alles dreht sich um die richtige Temperatur und das richtige Timing. Nachdem er das Fleisch gewendet hat, wagt er es zögernd, für einen Moment den Raum zu verlassen.

 

Er wirft einen Blick ins Esszimmer, um sicherzugehen, dass dort alles perfekt arrangiert ist. Er hat den Tisch bereits vorher gedeckt und lobt sich insgeheim selbst für das wunderschöne Arrangement, das ihm da gelungen ist. Ein besonderer Gast verdient eben auch eine besondere Atmosphäre, nicht wahr?

Ein verführerischer Duft aus der Küche sagt dem Mann, dass das Fleisch so gut wie fertig ist. Er kann ein Lächeln nicht unterdrücken, als er zum Herd zurückkehrt und die Temperatur herunterdreht. Nur noch ein paar Sekunden. Fünf … vier … drei … zwei … eins … fertig! Er trägt die Pfanne in das Esszimmer. Mit einer Fleischgabel spießt er das Filet fast zärtlich auf und platziert es genüsslich auf dem Teller. Er nimmt sich einen Moment Zeit, um den verführerischen Anblick zu genießen, ehe er die Kerzen auf dem Tisch entzündet.

Schon vor Stunden hat er die Flasche Roten aus dem Keller geholt, ihren Korken gelöst und den Wein durch das Sieb in den kristallenen Dekanter gefüllt. Der vollmundige Charakter konnte so sein volles Aroma entfalten.

Diese Bouteille hat er für einen ganz speziellen Anlass aufgehoben, der heutige Abend ist ein solcher Grund zum Feiern.

 

Der Mann weiß eine Menge über Wein, fast ebenso viel, wie er über Fleisch weiß. Manchmal denkt er mit einem schelmischen Grinsen, er hätte Koch werden sollen.

Langsam gießt er den dunkelroten Wein in das Glas und nippt vorsichtig daran. Es gibt kaum etwas Schlimmeres als zu kalten oder zu warmen Wein. Ein solches Detail könnte in Sekundenschnelle die gesamte Atmosphäre ruinieren. Glücklicherweise ist die Temperatur perfekt, wohltemperiert.

Mit freudiger Erwartung nimmt der Gastgeber an der Stirnseite des Tisches Platz, breitet sorgfältig eine Stoffserviette auf seinem Schoß aus und räuspert sich. „Ich erhebe mein Glas auf dich, guter Freund. Bon appétit.“ Er prostet seinem imaginären Gast zu.

Vorsichtig schneidet er mit dem Messer ein mundgerechtes Stück des Fleisches ab. Er spießt es fast zögerlich auf die Gabel und führt diese nicht sofort zum Mund. Erst will er noch daran riechen, seine Sinne betören, ehe er bedächtig und mit geschlossenen Augen zu kauen beginnt. Es fällt ihm schwer, ein leises Stöhnen zu unterdrücken. Er kann wahrheitsgemäß behaupten, dass dies das delikateste Fleisch ist, das er je verspeist hat.

„Es ist ein wahres Vergnügen, dich heute Abend zum Essen hier zu haben, mein lieber Jared“, verkündet der Hausherr feierlich mit einem Blick zu seinem Teller, nachdem er sich die Mundwinkel sorgfältig mit der Serviette abgewischt hat.

„Ich hoffe, unsere Begegnung war für dich ebenso angenehm wie für mich. Das heißt“, unterbricht er sich kurz, „ich bin überzeugt davon, auch wenn du es nicht zeigen konntest.“

Er hebt sein Weinglas und klopft dreimal vorsichtig mit der Rückseite des Löffels gegen den Stiel.

„Einen Toast auf dich, mein neuer Freund. Es ist mir eine Ehre.“

Der Maskenball

Der Maskenball

Adela Schulz

 

Die Villa Brodenkamp stand allein auf einem Hügel. Sie war zur Kaiserzeit erbaut worden und hatte, umschlossen von einem weitläufigen Park, in jenen Tagen wohl einen prächtigen Anblick geboten.

Die Jahre waren jedoch nicht freundlich mit dem Gebäude umgegangen. Die einstmals weiße Fassade war durch Feuchtigkeit grau verfärbt, der Wind hatte Ziegel vom Dach gerissen, einige Fensterscheiben waren gesprungen oder völlig zerbrochen.

In der früher kunstvoll gepflegten Parkanlage wucherten Brennnesseln und anderes Unkraut. Die ursprüngliche Form der schon lange nicht mehr beschnittenen Hecken war höchstens noch zu erahnen.

Im Inneren der Villa setzte sich das Bild des Niedergangs fort. Risse durchzogen die Wände und in den Holzböden und -treppen hatte sich der Wurm eingenistet. Die Elektrik war bestenfalls unzuverlässig.

Aus all diesen Gründen war Herr Piers, ein in der Stadt angesehener Immobilienverwalter, gerne bereit, mir beim Kauf der Villa einen beträchtlichen Nachlass zu gewähren. Ich nahm das Angebot an, obwohl Freunde mich davor warnten. Sie meinten, das alte Gemäuer werde mir nichts als Ärger bereiten, da ich ohnehin nicht die Mittel für eine vernünftige Instandsetzung besäße.

Ich schenkte jenen Bedenken wenig Gehör.

Nach dem Tod meiner Frau Elois war mir das ehedem gemeinsam bewohnte Appartement zuwider geworden und so brauchte ich dringend einen Tapetenwechsel; zudem hatte ich mich schon immer für das ganz besondere Flair alter Häuser interessiert.

Der Gedanke, ein Anwesen zu bewohnen, in welchem schon Generationen vor mir gelebt hatten, übte auf mich eine kaum erklärbare Faszination aus.

Die Geschichte dieser Villa war mir allerdings nur bruchstückhaft bekannt.

Ich wusste, dass der Industrielle Heinrich Brodenkamp das Haus errichtet hatte. Die Gerüchte, wonach ein tragisches Unglück über die Familie hereingebrochen war, hatte ich ebenfalls gehört, aber über die Art der Katastrophe nichts Genaueres in Erfahrung bringen können. Manche munkelten von Mord, andere von einer Geisteskrankheit, die den Hausherren befallen und letztlich dahingerafft haben sollte.

 

**

 

Das Erste, das mir im Haus auffiel, war der Geruch. Es war nicht so sehr Moder, mit dem ich bei einem so lange leer stehendem Gebäude hätte rechnen müssen. Vielmehr stieg eine Mischung aus Alkoholdunst, Tabakrauch und Parfüm in meine Nase, alles schal und nur sehr entfernt wahrnehmbar, aber dennoch vorhanden.

Ich vermutete, dass Jugendliche oder Müßiggänger die verlassene Villa für nächtliche Abenteuer genutzt hatten, doch fand ich in keinem Zimmer die bei solchen Begebenheiten unweigerlich zurückbleibenden Hinterlassenschaften wie leere Flaschen und gebrauchte Präservative. Tatsächlich lag die Staubschicht in vielen Räumen millimeterhoch, durchbrochen lediglich von den winzigen Pfotenspuren der Mäuse.

 

 

Den Geruch vertrieb ich schließlich, indem ich die Fenster im Erdgeschoss für mehrere Stunden öffnete, und nachdem die frische Luft alle Winkel des Hauses erreicht hatte, hielt ich die Angelegenheit für erledigt.

Ich besaß nicht genug Möbel, um mein neues Domizil vollständig einzurichten. Bis der fehlende Hausrat geliefert würde, begnügte ich mich, ein Schlafzimmer und einen kleinen Salon im ersten Stock auszustatten.

Da ich außerdem über keine funktionierende Küche verfügte, bestellte ich mir bei einem Lieferdienst eine Pizza. Das Essen ließ auf sich warten und als der Lieferant endlich auftauchte, war der Mann über den langen Fahrtweg verstimmt und meine Mahlzeit lauwarm.

In einem Sessel im Salon sitzend, verzehrte ich den wabbeligen Teig nebst undefinierbarem Belag. Kurz nach dem letzten Bissen forderte die Anstrengung des Tages ihren Tribut und ich versank in einen bleiernen Halbschlaf, den Pizzakarton auf dem Schoß, die leere Weinflasche neben mir.

Bilder von Elois zogen tauchten auf. Meine Frau tanzte in einem Saal voller Menschen, wechselte mit fließend eleganten Schritten von einem Partner zum anderen und viele aus der Menge warfen ihr bewundernde Blicke zu.

Ich stand abseits des Geschehens. Niemand hatte mich eingeladen, was in mir ein Gefühl tiefster Einsamkeit hervorrief.

Gerade wollte ich zu Elois treten, immerhin war ich der Ehemann und hatte das Anrecht auf einen Tanz mit meiner Frau, als mir ihr Gesichtsausdruck auffiel.

Aus Elois Augen sprach Angst. Ihre Wangen waren blass und eingefallen, der Mund ein dünner Strich und ich musste an die letzten Monate meiner Frau denken, in denen ihr Leben unaufhaltsam dahingeschwunden war.

Die anderen Gäste erschienen mir auf einmal bedrohlich. Statt Anerkennung lauerte animalischer Hunger in den Blicken, alles Gelächter wirkte gekünstelt und jeder Tanzschritt verriet unterdrückte Aggression.

Ich drängte mich durch die Menge. Wollte meine Liebste bei der Hand nehmen und mit ihr von diesem schrecklichen Ort fliehen.

Aber die Gäste versperrten mir den Weg. Ich war gezwungen, Tänzern und Grüppchen aus Feiernden auszuweichen und verlor Elois aus den Augen.

Ich rief ihren Namen, schrie gegen den Lärm der Festivität an. Die Menge antwortete mit Hohngelächter; die Gesichter verzerrten sich zu boshaften Fratzen, welche mich von allen Seiten bedrängten, mir die Luft zum Atmen raubten und mir mit Haifischzähnen das Fleisch von den Knochen rissen.

 

**

 

Ich schreckte aus dem Sessel auf. Kalter Schweiß stand auf meiner Stirn und durchnässte mein Hemd. Im Zimmer war es dunkel, die Elektrik musste, während ich schlief, ihren Geist aufgegeben haben; im Mondschein huschten bizarre Schatten über die Wände.

Gelächter, vermischt mit Musik, drang an meine Ohren. Ich blinzelte und massierte mir die Schläfen, um den Rest des Traumes abzuschütteln.

Die Geräusche blieben, so sehr ich auch versuchte, sie zu vertreiben und ich gewann den Eindruck, keinem Hirngespinst aufzusitzen, sondern wirklich die Klänge einer Feier zu hören.

Mit steifen Gliedern erhob ich mich aus meinem Sessel und spähte in den Flur.

Das Spektakel war an der Tür deutlich lauter zu hören, weshalb ich schloss, dass was immer in diesem Haus vor sich ging, im Erdgeschoss stattfinden musste.

Mein erster Gedanke war, die Polizei zu rufen. Eine Mischung aus Neugierde und Zweifel an meiner immer noch schlafumnebelten Sinneswahrnehmung hielt mich jedoch davon ab.

Für einige Zeit stand ich, in lähmender Unschlüssigkeit, im Türrahmen. Der Lärm der Feier flutete zu mir herauf, schien sogar noch lauter zu werden.

Endlich gab ich mir einen Ruck. Ich wollte der Sache auf den Grund gehen; sollte es sich hier um einen banalen Einbruch handeln, konnte ich immer noch die Gesetzeshüter rufen. Meinen Leib und mein Leben wähnte ich nicht in Gefahr.

Ich stieg die Treppe hinunter. Schon auf den oberen Absätzen roch ich Tabakqualm, Parfüm und die Ausdünstungen schwitzender Körper.

Das Erdgeschoss war hell erleuchtet. Nackte Glühbirnen waren Kristalllüstern und bunten Lampions gewichen, Musik erfüllte die Luft mit schmerzhafter Intensität.

Die Villa Brodenkamp war in all ihrem einstigen Prunk auferstanden. Wo am Tag noch kahle Wände voller Schimmelflecken dem Betrachter aufs Gemüt geschlagen waren, hingen wertvolle Ölgemälde und Spiegel in goldenen Rahmen; wo sich ein staubiger Fußboden mit Mäusespuren befunden hatte, lag ein weicher Teppich. Kanapees und Sessel luden die Gäste zum Verweilen ein.

Die Feiernden waren überall. In Gruppen standen sie beisammen, lachten und schwatzten und einige wiegten sich im Rhythmus der zum Tanz reizenden Melodien.

Ich fühlte mich an meinen Traum erinnert, doch anders als dort trugen hier alle Gäste Masken im venezianischen Stil, reich mit Edelsteinen verziert und mit grellen Farben bemalt.

Vorerst beachtete mich niemand. Wie ein grauer Geist, verloren in der Farbenpracht des Lebens, schritt ich durch die Menge.

Ich erreichte den großen Saal, in dem der Hauptteil dieser merkwürdigen Festlichkeit stattfand; maskierte Musiker spielten auf einer Bühne und riesige Spiegel an jeder Wand erweckten den Eindruck, die Feier setze sich bis in die Unendlichkeit fort.

„Verzeihen Sie bitte!“ Jemand berührte meinen Arm.

Ich drehte mich um und bemerkte eine Frau. Ihre Maske war dem Gesicht einer Katze nachempfunden, mit funkelnden Rubinen dort, wo bei einem echten Tier die Schnurrhaare ansetzen. Die Musik wurde leiser - oder jedenfalls kam es mir so vor.

Durch die Schlitze in der Katzenmaske sah ich der Frau in die Augen und in diesem Moment wusste ich, dass ich sie kannte. Schon ihre Stimme hatte etwas in mir zum Klingen gebracht, wie mir jetzt klar wurde.

„Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber es ist nicht zu übersehen, dass Sie neu hier sind“, sagte sie. „Ich wundere mich, dass man Sie überhaupt hereingelassen hat, denn wie Sie sicher wissen, erlaubt unser Gastgeber keine Unmaskierten.“

Ich strich über die Stoppeln an meinen Kinn, während mein Verstand rasend arbeitete. Wenn meine Vermutung stimmte und die Frau vor mir diejenige war, für die ich sie hielt, dann gab es für meine Situation zwei mögliche Erklärungen:

Die erste war, dass ich immer noch träumte und in Wirklichkeit in meinem Sessel im ersten Stock schlief.

Die zweite Möglichkeit war bedeutend beunruhigender. Sie in Betracht zu ziehen, hieß geisteskrank zu sein.

„Mein Herr? Ist Ihnen nicht wohl?“

„Es geht schon wieder.“ Ich schüttelte den Kopf, um die Benommenheit abzuschütteln. „Das ist nur die Wärme hier. Möchten Sie tanzen?“

„Ausgesprochen gerne, mein Herr.“

Ich nahm ihren Arm und wieder glaubte ich, nein ich war mir absolut sicher, sie zu kennen. An ihrem Totenbett war ich gesessen und als vom Kummer gebrochener Mann hatte ich auf ihrer Beerdigung die Worte des Priesters vernommen: „Denn alles Fleisch ist Gras, aber siehe, ich bin die Auferstehung und das Leben.“

Sie hielt meine Hand und wir betraten das Parkett, sie so anmutig, wie ich sie in Erinnerung behalten hatte und ich so steif und nervös, wie ich bei meinem allerersten Tanz mit ihr gewesen war.

Ein klingender Schleier aus Musik umhüllte uns, wob uns ein, trug uns davon. Zwei Derwischen gleich drehten wir uns mit einer Geschwindigkeit durch den Saal, dass die Larvenmotive zu verschwommenen Farbflecken zerschmolzen.

Ich schwitzte, atmete schwer von der ungewohnten Anstrengung. Aber ich wollte nicht aufhören, konnte nicht aufhören.

Elois war bei mir. Endlich wagte ich es, ihren Namen zu denken.

Ob ich nun träumte oder restlos übergeschnappt war, kümmerte mich nicht länger. Alles was zählte, war der Tanz mit meiner Frau.

Ein Schatten wurde von meiner Seele genommen und ich frohlockte über das unverhoffte Glück, das mir zuteil wurde. Ich tanzte mit meiner geliebten Frau.

Die Musik verstummte. Die Stille brach so plötzlich herein, dass Elois und ich uns noch eine kleine Weile weiter drehten, bevor wir innehielten.

Auch die Tänze um uns herum verebbten. Ich fühlte die Augen aller auf mich gerichtet, fühlte die Ablehnung, fühlte die Verachtung und erneut wurde mir bewusst, dass ich ein Fremder war, der an diesem Ort nichts verloren hatte.

„Ein Eindringling ist unter uns!“ Die kalte Stimme ließ mich zusammenzucken. „Jemand hat sich unerlaubt Zutritt verschafft!“

Eine Gestalt schob sich durch die Menge. Der Mann war gut zwei Meter groß und sehr breitschultrig. Eine Pestmaske mit weißem Vogelschnabel verbarg sein Gesicht, eine schwarze Mönchskutte verhüllte seinen übrigen Körper.

Elois stieß einen verzweifelten Schrei aus. „Heinrich, ich bitte dich. Er hat es nicht mit Absicht getan, du darfst ihn nicht bestrafen.“

„Kein Pardon! Dieser Verstoß muss scharf geahndet werden.“

Der Pestmaskenträger kam auf mich zu. Hinter den Augenschlitzen seiner Larve sah ich nichts als Dunkelheit, keine Pupillen, kein Weiß von Augäpfeln, nicht das geringste Zeichen, dass in diesem Kostüm überhaupt etwas Menschliches steckte.

Instinktiv wusste ich, der Mann durfte mich nicht berühren. Wenn seine behandschuhte Hand mich auch nur streifte, musste ich sterben, keine Gewissheit konnte größer sein.

Ich packte Elois am Arm und rannte mit ihr los. Die Gäste, starr wie Statuen, versperrten uns den Weg, aber ich stieß sie rücksichtslos beiseite.

Der Pestmaskenträger verfolgte uns. Seine Präsenz lag wie ein eisiger Hauch in meinem Nacken.

Das Haus veränderte sich. Mit jedem meiner Schritte wurde die Wandlung deutlicher.

Risse brachen in den Wänden auf. Die Wandspiegel erblindeten. Die Gemälde verblassten zur Unkenntlichkeit.

„Ihr Unglücklichen, ihr wisst nicht, was ihr tut.“ Die Worte des Pestmaskenträgers dröhnten so laut in meinen Ohren, als trenne uns weniger als ein Fußbreit.

Elois hinter mir herzerrend gelangte ich zu einer Verandatür.

Für Überlegung war keine Zeit. Ich umfasste Elois und sprang in panischer Angst mit ihr durch das Glas.

Wir schlugen in einem Hagel aus Splittern auf die Terrassensteine. Ich spürte warme Flüssigkeit auf meinem Gesicht, schmeckte Blut, doch hatte all dies keine Bedeutung. Flucht war das oberste Gebot.

Der Pestmaskenträger folgte uns, seine Kutte umwallte ihn wie schwarzer Rauch.

Mit Elois rannte ich in die Nacht. Der Wind heulte und der bleiche Mond erleuchtete unseren Weg.

Wir hetzten den Hügel hinab, in unserem Rücken ein Ungeheuer, das uns jagte wie der Nachtmahr einen verschreckten Träumer.

Der Pestmaskenträger wollte Elois holen. Er wollte mich holen.

Längst hatte ich jede Orientierung verloren; ob ich auf die Stadt zulief oder in die entgegengesetzte Richtung rannte, ich konnte es nicht sagen.

Ein verrostetes Tor gewährte Elois und mir Einlass. Wir fanden uns auf einem Friedhof wieder, dessen mit phosphoreszierenden Flechten bewachsene Grabsteine schief in der Erde steckten wie faule Zähne im Mund eines Aussätzigen.

In der Mitte des Gottesackers erhob sich eine Kapelle. Im Inneren erwartete uns ein ärmlicher Andachtsstall mit grob gezimmerten Holzbänken und einem schmucklosen Steinblock als Altar.

Ich warf die Pforte zu und zerrte eine Bank davor. Das Mondlicht fiel als einzige Lichtquelle durch die schießschartenartigen Fenster, sodass wir in beinahe absoluter Finsternis standen.

Elois’ Gestalt war nicht mehr als ein vager Umriss. Als ich zu ihr trat, um sie in die Arme zu schließen, wich sie vor mir zurück.

„Du verstehst nichts.“ Sie sprach leise und bar aller Hoffnung. „Ich weiß, dass du mir helfen willst, aber glaube mir, all das ist vergebens.“

Ich widersprach ihr vehement, denn immerhin waren wir hier fürs Erste in Sicherheit. Zwar hatte ich mein Mobiltelefon nicht bei mir, aber sobald der Morgen hereinbrach, würden wir uns zu einem Ort durchschlagen, an dem es ein Telefon gab und ich würde die Polizei rufen, wie ich es von Anfang an hätte tun sollen.

„Sie hat recht.“ Höhnisch klang es aus dem Dunkel.

Ein grünes Glühen unklaren Ursprungs erhellte mit einem Mal die Kapelle.

Der Pestmaskenträger stand neben dem Altar. Obwohl sich im Raum kein Lufthauch regte, flatterte das schwarze Gewand, als stünde sein Träger inmitten eines unsichtbaren Orkans.

Es gab keinen Ausweg mehr. Die Kirchenbank, die unseren Verfolger eigentlich vom Eindringen hätte abhalten sollen, verhinderte nun Elois’ und meine Flucht. So blieb mir nur noch die Konfrontation.

„Lass uns in Frieden!“ Eher verzweifelt als mutig trat ich dem Pestmaskenträger entgegen. „Ich werde meine Frau mit mir nehmen. Hast du das verstanden?“

Der Pestmaskenträger stieß ein Geräusch aus, das mich an über Stein schabendes Sandpapier denken ließ und ich brauchte einige Momente, bis ich begriff, dass mein Gegenüber lachte. Hinter mir hörte ich Elois’ ersticktes Schluchzen.

Im Tonfall des Pestmaskenträgers schwang diabolische Erheiterung „Du armer Narr. Da stehst du und versuchst, den Helden zu spielen. Dabei hast du nicht die Spur einer Ahnung von den Kräften, die dieses Universum beherrschen, weißt nichts von den schwarzen Sternen, die ohne Sinn und Ziel durch den Kosmos taumeln.“ Er richtete seinen Blick, in dem die absolute Finsternis hauste, auf Elois. „Komm, mein Liebling. Zeig unserem Gast, wovon ich spreche.“

Elois, meine arme Elois, schüttelte gequält den Kopf. „Nein, ich will das nicht.“

„Tu, was ich dir sage!“ Der Pestmaskenträger stieß ein wölfisches Knurren aus. „Ich habe dir schon viel durchgehen lassen, aber diesmal gehorchst du oder trägst die Konsequenzen.“

Elois’ zitternde Hände griffen nach der Katzenmaske. Langsam, als bereite ihr die geringste Bewegung Schmerzen, schob sie die Larve von ihrem Gesicht.

Ich wollte Elois immer noch packen und irgendwie aus der Kapelle bringen, aus der Reichweite jener Spukgestalt, die solch unbegreifliche Macht über meine Frau besaß.

Doch die Absurdität des Geschehens lähmte mich. Mein Geist war einfach nicht in der Lage, meinen Körper unter diesen bizarren Umständen handeln zu lassen.

Ich musste auf meinem Platz verharren und das Grauen aus schreckgeweiteten Augen betrachten, einem durch plötzlichen Hirnschlag Gelähmten gleich, der auf einem Bahngleis liegt und nichts tun kann, außer der heranrasenden Lok entgegenzustarren.

Die Kreatur, die ich für meine geliebte Ehefrau gehalten hatte, lüftete die Katzenmaske.

Ich sah das Gesicht darunter und schrie, bis ich glaubte, erstickten zu müssen, bis ich vor Atemnot in die Knie ging, bis bunte Flecken vor meinen Augen tanzten.

Dies war nicht Elois. Ich war Opfer einer grausigen Täuschung geworden, die meinen Geist umnachtet und die Mächte der Hölle über mich gebracht hatte.

Der Pestmaskenträger lachte immer noch. Er machte sich über mich, über das Ding, das ich Elois genannt hatte, und das Dasein im Allgemeinen lustig; die Welt war ein Witz, den ein sadistischer Clown einer debilen Affenhorde erzählte.

Verwestes Fleisch, durch das bereits der morsche Schädelknochen erkennbar war, ein Mund wie eine eiternde Wunde, von Maden löchrig gefressene Wangen, all dies hatte die Katzenmaske bisher gnädig verborgen.

„Verstehst du jetzt?“

Das tote Etwas kam auf mich zu, streckte eine behandschuhte Hand nach mir aus und ich wusste, dass die Gaze eine Skelettklaue verbarg.

Ich wich zurück. Allein die Vorstellung, dass ich mir noch vor kurzer Zeit gewünscht hatte, jene Verhöhnung der Natur in die Arme zu schließen, brachte mich zum Würgen.

„Wenn wir nicht für alle Zeit tot sein wollen, müssen wir tanzen“, wisperte die verfaulende Kreatur.

Das flatternde Gewand des Pestmaskenträgers hüllte mich ein wie schwarzer Qualm. Die Finsternis hinter den Augenschlitzen der Larve hielt meinen Blick gefangen und unwillkürlich kam mir Nietzsches Metapher in den Sinn, wonach der Abgrund auch in den Betrachter blickt.

„Die Feier endet niemals.“ Ein schraubstockartiger Griff um meine Kehle. Ich bekam keine Luft. „Die Ewigkeit ist erfüllt mit Musik, Gelächter und Gläserklirren und niemand geht jemals nach Hause, niemand wird meiner Gesellschaft überdrüssig, denn das hieße, der eigenen Existenz überdrüssig zu sein.“

Höllenpein explodierte in meiner Brust. Meine Beine gaben nach. Überlebensgroß, einem griechischen Koloss gleich, ragte der Pestmaskenträger über mir auf. Ich stürzte in die Dunkelheit hinter seiner Maske, verlor jedes Gefühl für meine Welt und meine Zeit, löste mich ganz und gar in alles verzehrender Schwärze auf.

 

**

 

Herr Piers fand mich am nächsten Morgen. Der Verwalter war eigentlich gekommen, um mir eine beglaubigte Kopie der Besitzurkunde für die Villa vorbeizubringen.

Als ich auf sein Klingeln und Klopfen nicht reagierte, begann der brave Mann sich Sorgen zu machen, sah er doch meinen Wagen in der Einfahrt stehen, sodass ich nicht weggefahren sein konnte.

Nach kurzem Überlegen verschaffte Piers sich durch eine nicht richtig geschlossene Verandatür Zutritt und schließlich entdeckte er mich in meinem Sessel.

Meine Lippen waren blau, vor Schmerz und Luftnot brachte ich kein Wort heraus.

Der herbeigerufene Notarzt erkannte einen Herzinfarkt, den ich in der vergangenen Nacht erlitten haben musste und verfrachtete mich unverzüglich in die nächste Klinik.

Während des folgenden Kuraufenthaltes ließ ich mir von Piers Material zur Geschichte der Villa Brodenkamp schicken; ich tat dies zum einen, um die bei Kuren übliche Langeweile zu vertreiben, zum anderen, weil mich eine nicht näher beschreibbare Ahnung beschäftigte. Gar zu drastisch war der Albtraum in der Nacht meines Infarktes gewesen.

Was ich las, beunruhigte mich so sehr, dass die Ärzte meine Rekonvaleszenz für gefährdet hielten und mich zur Beobachtung in eine Akutklinik überstellten.

Laut Piers’ Dokumenten war Heinrich Brodenkamp zu Lebzeiten im ganzen Land für seine pompösen Feste bekannt gewesen, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auszurichten pflegte; jedes Weihnachts- und Neujahrsfest, jeder Geburtstag im Verwandten- und Freundeskreis bot Anlass für eine rauschende Festlichkeit mit oftmals bis zu tausend Gästen.

Auf einer solchen musste Heinrich ein junges Mädchen namens Amalia kennengelernt haben. Sie war die Tochter eines Diplomaten und, wenn man den von Piers beigelegten Zeitungsausschnitten Glauben schenken konnte, eine außerordentliche Schönheit gewesen.

Heinrich, zu dieser Zeit schon über sechzig Jahre alt und verheiratet, verliebte sich in das Mädchen. Alle Konventionen beiseite schiebend begann er, Amalia den Hof zu machen.

Er scherte sich weder um das Gerede in den oberen gesellschaftlichen Kreisen, noch um die Demütigung seiner Frau Pauline. Selbstverständlich lud er Amalia zu all seinen Festen ein. Das unerfahrene Mädchen schien Heinrichs Annäherungsversuche zuerst abgewehrt zu haben, doch irgendwann gab sie dem Drängen des Mannes nach, der ihr Großvater hätte sein können.

Ein weiterer Zeitungsbericht schilderte den Skandal. Angeblich waren Heinrich und Amalia von einem Diener im ehelichen Schlafzimmer ertappt worden, woraufhin Pauline einen Hirnschlag erlitt, den sie nicht überlebte.

Heinrich Brodenkamps guter Ruf war mit einem Schlag zerstört. Amalia, von ihren Eltern verstoßen und ohne einen Pfennig auf die Straße gesetzt, blieb nichts anderes übrig, als in Heinrichs Villa zu ziehen, was den Tratsch noch anheizte.

Verwandte, Freunde und auch Geschäftspartner wandten sich von Heinrich ab. Zuerst versuchte er so zu tun, als ob nichts geschehen wäre, verschickte sogar weiterhin seine Einladungen, aber aus Angst, der gesellschaftliche Bannstrahl könnte sie ebenfalls erfassen, wagte niemand, sie anzunehmen.

Wie die wilde Ehe mit der blutjungen Amalia sich gestaltete, ging aus den Quellen nicht hervor. Man konnte jedoch davon ausgehen, dass das Zusammenleben zweier Geächteter alles andere als harmonisch verlief, zumal Heinrichs Vermögen immer weiter dahinschwand, da niemand mehr mit ihm Geschäfte machte.

Überdies erkrankte der ohnehin arg geprüfte Mann schwer. Was genau ihn befiel, darüber schwiegen die Quellen ebenfalls; fest stand, dass das Leiden sein Gesicht entstellte und zwar so sehr, dass er begann, eine Maske zu tragen. Er wurde jähzornig, steigerte sich in Tobsuchtsanfälle, in deren Verlauf er Möbel durch die Zimmer und aus den Fenstern schleuderte.

Nach einem Jahr Siechtum und Isolation kam es zur Katastrophe.

Piers Großvater – ein Freund der Familie, der sich noch zu gelegentlichen Besuchen herabließ – fand Amalia und Heinrich eines Morgens tot in dem Bett, in welchem der Hausherr zum ersten Mal seine Ehe gebrochen hatte.

Laut den polizeilichen Ermittlungen hatte Heinrich seine Geliebte erwürgt, bevor er zwei Tage später seiner Krankheit erlegen war.

 

**

 

Seit Stunden blättere ich im Schein der Nachttischlampe durch Piers’ Dokumente. Ich stelle mir Heinrich Brodenkamp in seinen letzten Stunden vor, wie er fiebernd und wahnsinnig neben seiner toten Amalia liegt, der Frau, für die er sein ehrbares Leben aufgab.

Vermutlich denkt er an seine Feste, die einstmaligen Höhepunkte seines Lebens. Wie gerne möchte er alles zurückhaben. Das Gelächter, die Musik, den Tanz, die Anerkennung.

In der Rückschau erscheinen ihm die Ereignisse wie ein bizarres Unglück, als sei er einen Regenbogen hinabgerutscht und abrupt an einem Ort ohne jede Wärme und Licht aufgeschlagen.

Wie aus weiter Ferne meint er, die vertrauten Geräusche einer Feier zu hören.

Er braucht nur die Hand auszustrecken. Braucht nur aufzustehen und in den Saal im Erdgeschoss gehen und schon ist alles wie früher: Ein ewiges Fest, ein rauschender Ball bis zur Unendlichkeit.

Viele Dinge auf unserer Erde entziehen sich dem menschlichen Verständnis. Auf einem Foto von Amalia sieht Heinrichs Geliebte meiner verstorbenen Frau so ähnlich, dass sie Zwillingsschwestern sein könnten.

Mein eigenes Leben wirkt zunehmend fremd auf mich, traumhaft gar.

Irgendwo, ein paar Zimmer weiter in diesem Gebäude, lachen Menschen und Gläser klirren, Musik spielt.

Ein Maskenball. Dies muss die Feier sein, die niemals endet.

Alles, was ich tun muss, ist, dieses Zimmer zu verlassen und mich den Gästen anzuschließen; gewiss werden sie mich mit offenen Armen empfangen.

Was ist schon die Wirklichkeit? Nicht mehr als ein Traum innerhalb eines Traumes. Können wir überhaupt sagen, wer der Träumer ist, der all diese Phantasmagorien durchlebt?

Elois wartet auf mich. Amalia wartet auf mich und ich denke, der erste Tanz wird mir gehören.

Erwachen

Erwachen

Cathy Guderjahn

 

In einer Welt, in der Veränderungen die Regel sind, finden wir unsere Geborgenheit und unsere Sicherheit in den Konstanten des Lebens, dass die Sonne aufgeht, dass die Erde sich dreht. Aber was passiert, wenn wir uns auf nichts mehr verlassen können? An was klammern wir uns dann?

(Aus „Outer Limits")

 

„Nein! Nein!“ Meine ganze Hilflosigkeit, meine panischen Ängste, die Verzweiflung, alles brach aus mir hervor.

 

 

Immer noch schreiend fuhr ich hoch. Schweißgebadet. Zitternd. Voller Panik. Mein Herz raste. Keuchend rang ich nach Luft.

Ich brauchte Sekunden, eine Ewigkeit, um zu begreifen, dass es nur ein Traum gewesen war. Ein Albtraum.

Ich starrte in die Finsternis und während mein Herzschlag langsamer wurde und meine Atmung ruhiger, stellte ich fest, dass ich mich an nichts erinnern konnte. Das Unterbewusstsein, welches die Bilder produziert und mich brutal aus dem Schlaf gerissen hatte, verschloss sich meinen Erinnerungen.

Nur ein Albtraum.

 

Ich fand in meine Realität zurück. Der Radiowecker blinkte. Verdammt! Ein Stromausfall während der Nacht hatte die Geräte kurzzeitig außer Betrieb gesetzt. Hastig sprang ich aus dem Bett. Wie spät war es?

Mir war klar, dass die Zahlen auf dem Display nicht der tatsächlichen Uhrzeit entsprechen konnten.

Ich schaltete die kleine Messinglampe auf dem Nachttisch neben mir ein und griff nach meiner Armbanduhr. Halb sechs! Erleichtert atmete ich auf. Es war noch genügend Zeit.

Bedächtig zog ich die Jalousien hoch. Draußen war es noch fast dunkel. Schwarze Regenwolken bedeckten den Himmel. Nur ab und zu versuchte die Dämmerung ein wenig Licht durch die Wolken zu schicken. Ich öffnete die Balkontür. Kühle, feuchte Luft schlug mir entgegen. Fröstelnd trat ich nach draußen und atmete tief die frische Luft ein. Es nieselte. Tausende kleine Regentröpfchen hatten sich auf der Balkonbrüstung niedergelassen. In diesem Moment fiel es mir noch nicht auf. Diese Stille - diese absolute, vollkommene Stille …

 

Wohltuende Wärme empfing mich, als ich zurück ins Zimmer kam. Das blinkende Display an meiner Musikanlage forderte mich auf, die Uhrzeit wieder richtig einzustellen. Es war Zeit für die Sechs-Uhr-Nachrichten, ich drückte den Einschaltknopf des Radios. Nichts! Nur ein Rauschen war zu hören. Großartig! Der Kabelanschluss schien wieder einmal gestört zu sein. Neugierig geworden, versuchte ich mein Glück beim Fernsehapparat. Fehlanzeige! Auf dem Bildschirm erschien das erwartete Schneegeriesel und bestätigte meine Vermutung. Ich schob eine Michael-Jackson-CD ein und ging ins Bad. Obwohl ich die tristen Novembertage mit dieser lang anhaltenden Dunkelheit, dem trüben Nebel und der einhergehenden Nässe abgrundtief hasste, freute ich mich dennoch auf diesen Tag.

Ich musste heute nur vier Stunden unterrichten und würde gegen Mittag wieder zu Hause sein.

Der ganze Nachmittag gehörte mir und gegen Abend war ich mit Christian verabredet. Mit ihm konnte ich stundenlang über alles reden, er dachte in anderen Bahnen als die meisten Menschen. Es war erfrischend, sich mit jemandem zu unterhalten, der nicht bereit war, die Welt so zu akzeptieren wie sie es einem aufdrängten. Er definierte den Begriff „normal“ neu, obwohl ich mich manchmal fragte, ob es den Begriff „normal“ in seinem Wortschatz überhaupt gab.

 

Als ich meine Wohnung im sechsten Stock verließ, fiel es mir zum ersten Mal auf. Das Geräusch der sich schließenden Tür und das Drehen des Schlüssels im Schloss hallten überlaut durchs ganze Treppenhaus. Dann wurde es still. Ich blieb bewegungslos stehen. Die Stille schlich bis in den hintersten Winkel meiner Seele und löste einen Schauer in mir aus. Langsamer als sonst und aufmerksam lauschend ging ich die Treppen hinunter. Im Haus wohnten insgesamt achtzehn Familien auf sechs Etagen. Aus keiner Wohnung hörte ich die sonst üblichen Morgengeräusche, die ich schon seit Jahren gewöhnt war. Kein Radio, kein Lachen, keine Kinderstimmen. Kein Kaffeegeruch, kein Duft von frisch getoastetem Weißbrot zog durch das Treppenhaus. Nur ab und zu wehte der Duft des eigenen Parfüms an meiner Nase vorbei.

 

Ich trat vor das Haus. Es hatte aufgehört zu nieseln, aber die Feuchtigkeit kroch sofort in meine Kleidung. Fröstelnd zog ich die Schultern zusammen. Noch immer hing der Himmel voll schwerer Regenwolken.

Es schien noch dunkler geworden zu sein. Von einer Sekunde zur anderen hatte ich das Gefühl, als ob eine eiskalte Hand nach mir griff. Erstarrt blieb ich auf der Stelle stehen.

 

Etwas war anders.

Etwas?

Irgendjemand Unnennbares, Unheilvolles hatte innerhalb des Bruchteils einer Sekunde von meinem Gehirn Besitz ergriffen und vor meinem geistigen Auge erschien ein Satz, der nicht Produkt meiner Gedanken war:

„Alles ist anders!“

 

Ich wehrte mich gegen dieses Fremdartige, es machte mir Angst, weil ich spürte, dass ich die Kontrolle über meine eigenen Gedanken verlor. Genauso schnell wie es gekommen war, verschwand es auch wieder.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Stromschlag. Ich sah, was meine Augen nicht entdeckten – hörte, was meine Ohren nicht erreichte.

Die Straßenlaternen erhellten die Gehsteige und Fahrbahnen nicht mit dem Licht ihrer Neonröhren. Kein einziges Fenster der unzähligen Wohnungen in diesem Wohngebiet, die ich überblicken konnte, war erleuchtet. Kein Mensch war auf den Straßen und Wegen zu sehen. Kein Geräusch durchbrach die Stille.

Das ständige Rauschen des Verkehrs, das sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit zu hören war, fehlte. Ich drehte mich hastig um. Durch die laublosen Bäume konnte ich direkt auf die Hauptstraße sehen. Kein Auto, dessen Scheinwerferlicht sich zwischen den Baumstämmen verirrte – keine Menschen, die vorbeihasteten.

Verstört blickte ich auf meine Armbanduhr und klopfte gegen das Uhrglas. Zeigte mein Chronometer die richtige Zeit an?

War es vielleicht noch mitten in der Nacht? Hatte ich mich im Tag geirrt? War heute gar nicht Dienstag, sondern Sonntag? Oder ein Feiertag?

 

Ich wusste genau, dass dies nicht die Erklärung sein konnte. Egal, welcher Tag heute war und egal. zu welcher Stunde, in diesem Wohngebiet waren normalerweise zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen unterwegs. Immer konnte man Licht aus einzelnen Fenstern scheinen oder Autos auf den Straßen fahren sehen. Was zum Teufel geschah hier?

Mein Auto – ich beschleunigte meinen Schritt und stand kurze Zeit später davor. Der Wagen stand völlig unberührt auf seinem Parkplatz, alles schien wie immer. Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich etwas verändert hatte. Wenn es gerade jetzt Dienstag und sieben Uhr morgens war, und dessen war ich mir sicher, mussten einige der Mietparkplätze frei sein. Uwes Wagen stand auf seinem Platz, obwohl er jeden Tag gegen fünf Uhr früh das Haus verließ. Hatte mein Nachbar verschlafen?

Alle Stellplätze waren besetzt. Alle Wagen standen an ihrem Platz, nebeneinander aufgereiht. Nirgends gab es eine Lücke.

Aufseufzend stieg ich in mein Auto, das gehorsam ansprang. Ich atmete tief durch. Wenigstens etwas, das normal schien. Ungewohnt laut dröhnte der Motor auf, als ich losfuhr. Überall offenbarte sich mir der gleiche Anblick: Die Straßen waren dunkel, keine einzige Straßenlaterne brannte. Ich konnte nirgendwo einen Menschen entdecken. Kein Fenster war erleuchtet. Autos parkten ordentlich abgestellt am Straßenrand oder in den zur Verfügung stehenden Parkzonen. Die Straßen waren verlassen, ich hatte absolut freie Fahrt. Eigentlich war dies der Traum eines jeden Autofahrers - dennoch spürte ich Angst in mir aufsteigen, fühlte, wie Panik nach mir zu greifen begann.

Automatisch hatte mich mein Weg in die Schule geführt. Ich stellte den Wagen auf meinem Parkplatz ab und blickte mich im Hof um. Nichts. Keine Kinder …

In der Schule brannte kein Licht. Weder das Foyer noch die Treppenhäuser waren beleuchtet. Keine Menschenseele weit und breit.

Langsam stieg ich die Stufen zum Eingang empor. Entgegen meiner Erwartung war die Eingangstür nicht verschlossen. Ein leiser Anflug von Hoffnung keimte in mir auf. War doch jemand in der Schule?

Ich betrat das Foyer. Kein Laut war zu hören. Meine Hand tastete nach dem Lichtschalter.

Die grellen Halogenleuchter erhellten den langen Gang des Erdgeschosses, der Strom funktionierte also.

 

„Hallo?“ Unnatürlich laut schwang meine Stimme durch diesen Teil des Schulgebäudes. Wieder folgte Stille. Beinahe panisch durchsuchte ich jede Etage. Keiner der Räume war verschlossen, gleichwohl aber alle Zimmer verlassen.

Meine Schritte hallten durch die leeren Gänge und wurden von den Wänden zurückgeworfen. Das schallende Echo vermittelte mir das unangenehme Gefühl, doch nicht allein zu sein. Verfolgte mich jemand? Ich verharrte bewegungslos, lauschte, ohne zu atmen.

Doch nur der pulsierende Herzschlag dröhnte in meinen Ohren. Eiskalt hüllte mich das grelle Licht der Deckenlampen ein.

Was immer ich zu hören glaubte, da war nichts – ich war allein in diesem Gebäude. Unschlüssig kehrte ich in die Vorhalle zurück und blieb dort stehen. Was sollte ich jetzt tun? Die erste Schulstunde hätte gleich beginnen müssen und noch immer zeigte sich keine Menschenseele.

Kurz entschlossen betrat ich das Sekretariat. Mein Blick blieb am Telefonapparat hängen, der auf dem Schreibtisch stand,. Schnellen Schrittes eilte ich hin, nahm den Hörer ab und stellte erleichtert fest, dass das Freizeichen ertönte. Nicht nur der Strom, auch das Telefon schien zu funktionieren.

Die erste Nummer, die mir in den Sinn kam, war die meiner Eltern – ich drückte die mir so vertrauten Ziffern auf der Telefontastatur.

Ich wusste, dass beide noch nicht auf dem Weg zur Arbeit waren. Sie mussten einfach noch zu Hause sein, hoffte ich inständig. Schrilles Klingeln ertönte im Hörer.

„Bitte geht ran! Bitte geht ran!“, flehte ich in Gedanken. Nach dem vierten Freizeichen sprang der Anrufbeantworter an. Das Band spulte den üblichen Text ab. Die Stimme meines Vaters klang merkwürdig hohl, es war seine Stimme und doch auch wieder nicht.

„Hey! Ich bin’s! Seid ihr da? Bitte geht ran! Ich muss euch unbedingt sprechen! Bitte! Irgendetwas stimmt nicht! Könnt ihr mich hören?“

Keine Antwort, nur das gleichmäßige Rauschen des Anrufbeantworters drang durch die Leitung. Dann plötzlich ein Knacken.

Hoffnung schoss in mir hoch und schnürte mir kurzzeitig die Luft ab. Ich brauchte Sekunden, um zu begreifen, dass der Anrufbeantworter die Verbindung unterbrochen hatte.

Tränen traten in meine Augen und hinterließen salzige Spuren auf

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: ©2012-2013 Sarturia Verlag e.K. Autoren Service, Finkenweg 9,72669Unterensingen
Bildmaterialien: Covergestaltung: Dieter König
Lektorat: Autorenteam Sarturia
Tag der Veröffentlichung: 24.03.2014
ISBN: 978-3-7309-9460-3

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