Cover

 


***
Stärke wächst nicht aus körperlicher Kraft
- vielmehr aus unbeugsamen Willen.


(Mahatma Gandhi)

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Ich spürte die Druckwelle der Explosion auf mich zu rasen, noch ehe sie mich erfasst hatte und ich in hohem Bogen durch die Luft geschleudert wurde. Glassplitter bohrten sich in meine Haut; Metallteile flogen mir entgegen und trafen mich mit voller Wucht an Armen und Beinen.
Die sengende Hitze verbrannte mir das Fleisch und drang in jede Pore meines Körpers.
Ringsumher stürzten die Mauern des Gefängnistraktes ein und ich nahm wahr, dass etwas Schweres mit markerschütterndem Knirschen meinen Fuß unter sich begrub.
Seltsamerweise empfand ich keinerlei Schmerz.
Es erschien mir vielmehr, als hätte sich ein Teil meines Geistes von seiner fleischlichen Hülle gelöst.
Um mich herum tobten Flammen, Staub und Qualm, begleitet vom tosenden Donnern der umstürzenden Säulen.

Ich spürte, wie ich das Bewusstsein verlor.
Das Letzte, woran sich meine panischen Blicke klammerten, war Damiens Gesicht.

Es wurde still und doch verstand ich das Flehen seiner Augen, noch ehe seine Stimme tief in meiner Brust zu vibrieren begann.
Sie füllte mich aus und drang warm und vertraut bis in die letzte Nische meines zertrümmerten Körpers.

„BITTE MAEVE! DU DARFST NICHT STERBEN!"

Dann wurde es dunkel...

 

Kapitel 1

 

***


Im Schutz der hereinbrechenden Dunkelheit schlich Damien vorwärts und näherte sich dem eigenartigen Summen, das die Luft, die ihn umgab, in sanfte Schwingungen versetzte und ihm lautlose Schauer über die Haut jagte.

Aufgeregt registrierte er das Ziehen in der Magengegend,das von Minute zu Minute stärker zu werden schien.
Mit einem Mal wurde das Geräusch so durchdringend, dass er stehen blieb und sich eingehend umsah.

Ohne, dass er die Adresse auf dem eilig gekritzelten Zettel in seinen zitternden Fingern überprüfen musste, war er sicher, am Ziel angelangt zu sein.

Das Haus, welches den Ursprung des seltsamen Geräusches verbarg, lag ruhig und friedlich da.
Niemand war zu sehen, doch er wusste, dass er sie gefunden hatte.

Damien verharrte für einen Augenblick bewegungslos, während seine Augen unruhig jeden Zentimeter des in die sanfte Dämmerung gehüllten Straßenabschnitts abtasteten.

Die letzten weichen Strahlen der untergehenden Sonne brachen sich in blitzeblank geputzen Fensterscheiben und warfen tanzende goldene Flecken auf die weißen Kieselsteine der sorgsam gerechten Auffahrten.
Er betrachtete die gut gepflegten Vorgärten, bepflanzt mit Rhododendren, Dahlien und Stockmalven.

Was war das? Unruhig wanderte sein Blick zurück zu dem Haus, vor dem er stand.

In einem Fenster im Obergeschoss war das Licht angegangen. Damien starrte gebannt auf die dahinter tanzenden Schatten.
In ihm loderte das Verlangen, einen Blick auf sie zu werfen, heraus zu finden, welcher, der sich bewegenden Silhouetten wohl zu ihr
gehören mochte, doch er durfte diesem Wunsch nicht nachgehen.
Er musste bedachtsam vorgehen. So kurz vor dem Ziel konnte er sich keine Unüberlegtheiten leisten.

Eine Welle freudiger Erregung ergriff ihn, während er ein Buch aus seinem Rucksack zückte und Stellung unter einer leuchtenden Laterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite bezog.
Nun hieß es warten…

 

***

 

Kapitel 2



Seitdem ich denken konnte, wurden Geburtstage bei den Crows zelebriert wie ein hoher Staatsempfang. Dies reichte von kindischer Dekoration im ganzen Haus, bis hin zum festlich gedeckten Geburtstagstisch. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich gut und gerne darauf verzichten können!

Ich hasste Geburtstage!
Besonders meine eigenen, denn ich fand es furchtbar, wenn meinetwegen ein derartiger Zirkus veranstaltet wurde.
Morgen würde ich 18 werden und meine bescheuerte „Familie“ ließ es sich nicht nehmen, aus diesem Anlass völlig durchzudrehen.

Ich lag im Wohnzimmer, zusammengekuschelt in meinem Lieblingssessel aus grünem Samt und bemühte mich, die Geschehnisse um mich herum bestmöglich zu ignorieren.

Aus der Küche drangen beunruhigende Laute: Tante Fianna trällerte vor sich hin und untermalte ihren schauerlichen Gesang mit eifrigem Geschirrgeklapper.

KLATSCH!
Etwas Klebriges landete in meinen Haaren und riss mich aus meinen Gedanken.
Erschrocken fuhr ich aus dem Sessel hoch und ließ die Zeitschrift fallen, in der ich bis gerade noch geblättert hatte.


Maya, meine 14-jährige Schwester, hopste lachend vor mir auf und ab und schwang dabei einen Holzlöffel, mit dessen Hilfe sie soeben eine Ladung Kuchenteig auf mich abgefeuert hatte.

“Hoch mit dem faulen Arsch, jetzt wird gebacken!“

Sie gluckste amüsiert und eine weitere Salve landete neben mir auf der Sessellehne,wo sie einen hässlichen, braunen Fleck hinterließ.

„Hast du nen‘ Knall?“, fauchte ich und nahm die Verfolgung auf.

Na warte, du kleines Scheusal, wenn ich dich in die Finger kriege...!


Mit einem Satz war ich bei ihr, schnappte ihr den Löffel aus der Hand und verpasste ihrem Gesicht eine hübsche Kriegsbemalung. Maya kicherte und quiekte. Gerade setzte sie erneut zum Angriff an und ihre blauen Augen funkelten übermütig,
doch unserer Rauferei wurde ein jähes Ende gesetzt, als Tante Fianna aus der Küche geschossen kam und uns mit einem beherzten Griff auseinander zerrte.

"Schluss jetzt, sonst ist nachher nichts mehr für den Kuchen übrig!", sagte sie energisch und warf mir einen ihrer typischen "Maeve-das-ist-wirklich-nicht-sehr-erwachsen"
-Blicke zu, während sie sich die mehligen Hände an ihrer geblümten Schürze abwischte.

Gehorsam ließen Maya und ich voneinander ab und grinsten. Maya standen die blonden Haare zu Berge und sie hatte braunen Teig im ganzen Gesicht. Auch ich war über und über mit Teig beschmiert und folgte Tante Fi schnaufend in die Küche, um mich halbwegs wieder herzurichten.

Während ich mit einem Geschirrtuch verzweifelt versuchte, meinen Nacken und mein Haar von der störrischen Pampe zu befreien, kam Zach, Tante Fiannas Sohn, zur Haustür herein gewankt.

"Aus dem Weg!", brachte er keuchend unter einer gewaltigen Ladung brauner Papiertüten hervor, aus denen zu meinem Entsetzen bunte Partyhütchen, Girlanden und Konfettipackungen quollen.
Zach feuerte seine Fracht schwungvoll auf den Küchentisch.

Luftballons, eine große 18-förmige Kerze und kleine, pinke Schweinchen aus Marzipan kullerten durcheinander.

„Würdet ihr bitte nicht so einen Aufstand machen?“, jammerte ich gequält, obwohl mir natürlich klar war, dass eh kein Mensch auf mich hören würde.

Ich warf einen wütenden Blick auf die Schweinchen, die sich fröhlich grinsend auf dem Küchentisch tummelten.

Ja lacht ihr nur! Ihr werdet schon sehen, wer WEM am Schluss den Kopf abbeißt!



Zu allem Überfluss begannen Maya, Zach und Tante Fi im gleichen Moment durch die Küche zu tanzen und meinen entsetzten Gesichtsausdruck zu bestrafen, indem sie dreistimmig “Maeeeeeve hat bald Gebuuuuurtstaaaag!" schmetterten.

Einer derartigen Euphorie konnte man nur entgegenwirken, indem man den Rückzug antrat.

Ich trollte mich seufzend ins Wohnzimmer und widmete mich wieder meiner Zeitschrift.

Endlich Ruhe!



Keine zwei Minuten später vernahm ich aus dem Augenwinkel, dass Zach sich ächzend in den Sessel neben mir fallen ließ und scheinbar beabsichtigte, mir weiter auf die Nerven zu gehen.

Mürrisch schielte ich über den Rand der Zeitschrift hinweg zu ihm rüber und betrachtete ihn.

Je älter er wurde, desto mehr glich er Tante Fi: Haselnussbraunes Haar, das er in letzter Zeit gerne mit Gel zu kunstvollen Frisuren stylte, sanfte braune Teddyaugen mit langen, dunklen Wimpern, die seinem Blick stets etwas Verträumtes verliehen, ein etwas zu groß geratener Mund und ein paar Sommersprossen auf der Nase.

Er sah gut aus, das musste ich ihm lassen, aber da ich ihn schon seit gefühlten hundert Jahren kannte, war er für mich einfach nur wie ein Bruder und zudem seit Jahren mein allerbester Freund.

Maya und ich lebten bei den Crows, seitdem unsere Mum vor 13 Jahren bei einem Autounfall verstorben war.

Da unser Vater bereits kurz nach Mayas Geburt spurlos nach Argentinien verschwunden war, blieb außer Fianna Crow, Mums bester Freundin aus Collegezeiten und unsere Patentante, kein näherer Verwandter mehr übrig, der sich unserer hätte annehmen können.

Als wir zu ihr kamen, war Zach gerade acht geworden und übernahm in unserer kleinen "Familie" fortan so etwas wie die Vaterrolle, da Tante Fi ebenfalls alleinerziehend war.

Wenn mich jemand in der Schule ärgerte, wurde er ohne Zögern von Zach verprügelt.
Schlug ich mir das Knie auf, klebte er mir bunte Pflaster darauf und wenn ich morgens mein Brot für die Schule vergessen hatte, gab er mir seins.

Auch heutzutage bewachte er mich noch mit Argusaugen, womit er es meines Erachtens ganz schön übertrieb.

Nicht selten kam es vor, dass er mich auf Partys ermahnte, weniger zu trinken, oder eventuelle Verehrer mit spitzen Bemerkungen vergraulte. Bis jetzt hatte er erfolgreich jeden Kerl vertrieben, der auch nur ansatzweise Interesse an mir zu haben schien.
Aus diesem Grund vermied ich es auch weitestgehend Jungs mit nach Hause zu bringen.

Zach jobbte glücklicherweise seit ein paar Wochen nach der Uni in einem Café, was mir etwas mehr Freiraum verschaffte, da ich die meiste Zeit alleine zu Hause war.

“Erwartest du zufällig irgendwelche besonderen Gäste?“

Zachs Stimme riss mich in die Gegenwart zurück und als ich aufblickte, grinste er mich an und hob die Augenbrauen.

Ich streckte ihm die Zunge raus und ließ mich tiefer in den Kuschelsessel sinken, fest entschlossen, den Artikel über Angelina Jolie und Brad Pitt zu Ende zu lesen, von dem ich durch Mayas Kuchenteig-attacke abgelenkt worden war.

“Komm sag schon", drängte er, "Gibt es irgendwas Neues?“

„Mmmmmpf“, machte ich und rümpfte die Nase.

Zach rutschte interessiert näher und warf mir dabei einen verschwörerischen Blick zu.

“Du hast also nicht zufällig irgendwen kennengelernt und es versäumt, ihn mir vorzustellen?"

Er beugte sich so weit vor, dass sich unsere Nasenspitzen beinahe berührten und musterte mich eindringlich.

„Nö“, murmelte ich giftig und schob ihm demonstrativ die Rückseite meiner Zeitung vor die Nase.

„Und wer ist dann der Schönling, der draußen vor der Tür rumlungert?“

Resigniert ließ ich die Zeitschrift sinken.

„Keine Ahnung!?!"

„Der steht schon seit Stunden auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hat mich eben total merkwürdig angestarrt, als ich vom Einkaufen kam!
Halt' mich für bescheuert, aber es kam mir ernsthaft so vor, als würde der Kerl unserer Haus beobachten."

Ich bedachte Zach mit einem äußerst skeptischen Blick.

„Ich hab wirklich keine Ahnung,von wem du sprichst.“

Meine Augen wanderte entschlossen zurück in Richtung Zeitschrift, doch meine Neugierde war bereits zu sehr geweckt, als dass ich mich weiter für "Brangelina" und ihr multi-kulturelles Kindergeschwader interessierte.

Seufzend erhob ich mich und trat zum Fenster.

Wenn tatsächlich ein fremder Typ vor unserem Haus stand, den selbst Zach als Schönling

bezeichnete, dann wäre ich schön blöd gewesen, wenn ich nicht zumindest einen kurzen Blick auf ihn geworfen hätte.

Neugierig spähte ich also hinaus.

Tatsächlich!
Direkt unter einer Laterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand eine Gestalt!

Ich kniff die Augen zusammen und wartete, bis sie sich vollends an die draußen herrschende Dunkelheit gewöhnt hatten.

Während die Umrisse des Fremden langsam schärfer wurden, konnte ich mit absoluter Gewissheit sagen, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.

Ein derartiger Anblick hätte sich zweifellos in mein Gedächtnis gebrannt!

Heiliger Strohsack!!!



Ich schätzte ihn auf Anfang 20.
Er trug verwaschene Bluejeans, ein weißes T-Shirt, Chucks und eine Lederjacke. Das Haar des Fremden war dunkelbraun, leicht gelockt und schaute unter einer grauen Strickmütze hervor, die ihm lässig ein Stück in den Nacken hing.

Er war ohne Zweifel von überdurchschnittlicher Attraktivität und einer von diesen Kerlen, die bloß nur so da standen und trotzdem einen Hauch von Abenteuern und dunklen Geheimnissen verströhmten. Gedankenversunken hatte er den Blick auf ein ziemlich abgegriffen aussehendes Buch geheftet.

Vonwegen Haus beobachten!

Zach wird in letzter Zeit zunehmens paranoid.

Ich war sofort gefesselt von dem, was meine ungläubigen Augen da soeben erblickt hatten. Es kam selten vor, dass mir ein Typ bereits auf den ersten Blick so gut gefiel.

Gedanklich sah ich mich schon in seinen starken Armen in den Sonnenuntergang galoppieren und konnte nicht anders, als einen theatralischen Seufzer auszustoßen, doch genau in diesem Moment ließ der Unbekannte plötzlich sein Buch sinken, lächelte und sah mir direkt in die Augen.

Sein Blick verschlang den meinen und ich hatte das Gefühl, als stünde die Zeit für ein paar Sekunden still. Regungslos stand ich da und starrte ihn an, während mein Magen mir mit einem sanften "plopp" in die Hose zu rutschen schien.

Das Lächeln des Unbekannten weitete sich zu einem breiten Grinsen, während er schüchtern die Hand zum Gruß hob.

Schlagartig wurde ich mir des peinlichen Ausmaßes meiner Erscheinung bewusst:

Da stand ich, das Gesicht mit braunem Teig beschmiert und starrte kuhäugig einen wildfremden Kerl an!

Gott, der Typ muss dich für eine durchgeknallte Spannerin halten!



  Fluchtartig sprang ich vom Fenster weg und zog die Gardinen so ruckartig zu, dass ich sie fast samt Stange von der Wand gerissen hätte.

Zach, der bis dahin regungslos im Türrahmen gelehnt hatte, sah mich mit ärgerlich gerunzelter Stirn an.

"Bist du jetzt fertig mit glotzen? Kommen wir mal lieber zum Wesentlichen...."

Er rieb sich nachdenklich das Kinn und begann auf und ab zu laufen.

"Ich frag mich, was der Kerl hier treibt."

„Ach lass gut sein, der wartet bestimmt auf irgendwen- ICH kenne ihn jedenfalls nicht!“, versicherte ich hastig und wankte mit wackeligen Knien zurück in meinen Sessel.

Im Schutze des weichen Samtstoffes überkam mich die wagemutige Idee, hinunter zu gehen und den mysteriösen Fremden anzusprechen, aber nach reiflicher Abwägung entschied ich mich dagegen.

Zunächst einmal war ich absolut unfähig darin, fremde Jungs anzuquatschen -schon garnicht welche, die mir gefielen- und zweitens fiel mir beim besten Willen kein witziger Spruch ein, mit dem ich die Blamage von zuvor hätte aufwiegeln können.

Entschlossen schüttelte ich den Kopf. Das kam überhaupt nicht in Frage!

Verzweifelt versuchte ich, mich wieder auf "Brangelina" zu konzentrieren, doch der Unbekannte schien ebenso meine Gedanken zu verschlingen, wie zuvor meinen Blick.

Er hatte mich gesehen -so viel stand fest.

„Ich spring mal unter die Dusche“, hörte ich Zach hinter mir murmeln.

DEN hatte ich ja völlig vergessen! Ich drehte mich um, versuchte zu lächeln (wobei das Ganze eher einer Grimasse gleichkam) und sah ihm nach, als er schmollend ins Bad verschwand.

Lustlos blätterte ich in der Zeitschrift und überflog die Modeartikel. Der Leopardenprint kehrt zurück.

Mut zu Lack und Leder!

 Na Bravo! Ich hätte gerade lieber eine Portion "

Mut zur Initiative".

So gut ich mich auch abzulenken versuchte, der Fremde hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt und wollte meine Gedanken nicht freigeben. Ich musste ihn einfach wieder sehen, aber wie sollte ich das anstellen? Brieftauben? Morsezeichen? Ihn beschatten?

Zunächst einmal musste ich mich vergewissern, dass er noch da war, sonst waren meine Überlegungen ohnehin hinfällig.

Vielleicht ist er neu in der Straße und wartet auf jemanden? Starrt er noch zu uns rüber? Verdammt, ich muss es wissen!


Kurzentschlossen erhob ich mich aus dem Sessel, ging in die Knie und kroch auf allen Vieren mit geducktem Kopf zum Fenster.

Wenn mich jemand sehen könnte! Maeve, fast 18 Jahre alt, kriecht auf dem Fußboden herum und macht sich zum Volldeppen.



Ganz langsam richtete ich mich auf und spähte hinter der Gardine hervor.
Der Fremde war verschwunden!

Erleichtert, aber nicht ohne eine Spur von Enttäuschung, beschloss ich, mir den Unbekannten aus dem Kopf zu schlagen!

Wahrscheinlich war das Ganze reiner Zufall gewesen und mein bescheuerter Auftritt hatte wohl kaum dazu beigetragen, dass er mich wiedersehen wollte.

Was für ein Jammer! Da sah ich endlich mal einen tollen Kerl und schaffte es, ihn binnen Sekunden zu vergraulen. Ich seufzte.

Bravo, Maeve! Du hättest den Traummann-Jackpot knacken können und hast es verbockt!


Enttäuscht schlurfte ich in die Küche.
Da Tante Fi und Maya mich jedoch unter lautem Geschrei und mit erhobenen Holzlöffeln und wedelnden Küchentüchern aus der "Geburtstagszone" verbannten, angelte ich kurzerhand meinen Rucksack vom Küchentresen und zog mich in mein Zimmer zurück.

Dort machte es mir samt Gesichtsmaske und einer Folge "the vampire diaries" im Bett gemütlich.

In meinen Fußspitzen kribbelte es merkwürdig.

Es fühlte sich an, als würde ein Dutzend Ameisen über meine Zehen krabbeln.

Nachdenklich rieb ich meine juckenden Füße am Bettrahmen.

Wurde ich etwa krank? Ich musste zugeben, dass es mich keineswegs gestört hätte, meinen Geburtstag im Bett zu verbringen, doch das konnte ich den anderen nicht antun.

Ich sah ihre enttäuschten Gesichter förmlich vor mir, wie sie den Kuchen traurig in den Abfalleimer kippten, während ich blass und mit einem Thermometer im Mund unter der Bettdecke hervorlugte und musste bei dieser Vorstellung grinsen.

Einfach mal den eigenen Geburtstag schwänzen...

Schluss jetzt mit dem Theater!, versuchte ich mir einzuschärfen, ehe ich langsam in den wohligen Schlaf glitt.

Morgen war auch nur ein Tag, wie jeder andere, so dachte ich noch bei mir, doch mit dieser Vermutung lag ich sehr viel weiter von der Wahrheit entfernt, als ich mir je hätte träumen lassen...

Kapitel 3



Damien klemmte sein Buch unter den Arm und ging mit raschen Schritten die Straße hinauf.
Sein Körper bebte vor Erregung und seine Finger zitterten so sehr, dass er nur mit Mühe den Touchscreen seines Handys bedienen konnte.
„Komm schon Zoe, geh dran!“, flehte er mehr zu sich selbst.
Es klingelte einmal, zweimal, dreimal.
Endlich hob jemand ab.
„Damien was gibt’s?“

Die Stimme seiner Schwester klang angespannt.
„Zoe, sie hat mich gesehen. Was soll ich jetzt tun?“
„Kannst du schon irgendwas über ihre Fähigkeiten sagen?“

Zoe hielt gespannt den Atem an.

„Nein, es ist noch zu schwach, aber ich spüre dass sie kurz vor dem Turn steht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit!“, brachte Damien mühsam hervor.

„Irgendwelche besonderen Vorkommnisse?“
„Nein, bisher nicht. Ein braunhaariger Kerl hat mich schief angeguckt,scheint auch im selben Haus zu wohnen.“
„Mutant?“
„Auf keinen Fall, nein.“
„Okay, hefte dich an ihre Fersen, bleib' immer in ihrer Nähe und wenn der Turn beginnt, trittst du mit ihr in Kontakt! Finde heraus wie sie tickt und wenn die Zeit reif ist, weih‘ sie ein!"
„Was mach ich, wenn einer der anderen hier aufkreuzt?“
„In dem Fall nimmst du sofort Kontakt zu mir auf. Ich schicke dir jemanden vorbei, der die Sache kurz und schmerzlos regeln wird.“
„Alles klar. Ich bleibe aber auf jeden Fall in der Nähe.“
„Damien?“
„Ja?“
„Viel Glück!“

Damien legte auf und ließ sich ein paar Minuten Zeit, seine Gedanken und Gefühle wieder in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken.
Noch immer raste sein Herz, seine Finger zitterten und in seinem Kopf wummerte es unangenehm.

"Herrgott, reiß dich zusammen!", fluchte er leise in sich hinein und massierte seine schmerzenden Schläfen.


Wenn er den Auftrag zu Attius' Zufriedenheit erledigte, würde er endlich in einen höheren Rang aufsteigen dürfen. All seine Mühen würden endlich belohnt werden...

Damien seufzte.
Mutant der Stufe drei -mehr Rechte -mehr Pflichten.

Für Damien war es eine Premiere einen neuen Mutanten auszubilden, sein Debut als Lehrmeister, doch er hatte Angst es zu versauen, wenn es ihm nicht gelingen würde, Ruhe zu bewahren.

Im Grunde war er wie geschaffen für den Job, da er unter Anderem über die Fähigkeit verfügte, die Anwesenheit von Mutanten über Kilometer hinweg wahr zu nehmen.

Niemand konnte andere Mutanten besser aufspüren als er!

Zwar waren seine Kräfte noch nicht ganz ausgereift, aber in letzter Zeit hatte er es dank des enormen Trainings schon sehr weit gebracht.

Als Mutant der Stufe drei würde er endlich sein bescheuertes Architekturstudium an den Nagel hängen und sich für den Geheimdienst bewerben können.

Ein echter Durchbruch! Er durfte sich keinen Patzer leisten, doch
zu seinen zermürbenden Selbstzweifeln und dem enormen Erfolgsdruck gesellte sich noch ein weitaus beunruhigenderes Gefühl:

Es war dieses Mädchen, das mit einem einzigen Blick seine Rationalität völlig über den Haufen geworfen hatte. So lange hatte er diesen Moment herbei gesehnt.

Wie sie am Fenster gestanden hatte, das Gesicht voller -was war es gewesen- Schokolade??? Damien lächelte in sich hinein. Und dann diese Augen! Verzweifelt raufte er sich das Haar.

Wieso musste ausgerechnet SEINE Schülerin so verdammt niedlich sein? Ihre Fähigkeiten waren noch nicht entfaltet, aber sie lauerten bereits unter der Oberfläche, waren kurz davor auszubrechen.
Welche Kräfte sie auch entwickeln mochte, in einem Punkt war Damien sich schon jetzt absolut sicher: Sein Leben würde sich durch dieses Mädchen verändern und er spürte eine dunkle Vorahnung, dass diese Veränderung ihn noch ins Verderben stürzen würde, wenn er sich nicht zusammen riss.

 

Kapitel 4



„It’s a beautifull morniiing”

fiedelte mein Wecker und riss mich aus dem Schlaf. Leicht benebelt richtete ich mich auf. Es war 7:00 und ich hatte Geburtstag.

Eigentlich sollte mich das nicht besonders freuen, aber entgegen aller Erfahrungswerte war ich unheimlich gut drauf. Ich fühlte mich seltsam beschwingt, so als durchzöge ein angenehmes Prickeln meinen Körper, das mich mit einer unerschöpflichen Kraft erfüllte. Während ich mich leise summend auf den Weg ins Bad machte, nahm dieses Gefühl sogar noch zu. Am Badezimmerspiegel hing eine Haftnotiz von Tante Fi:

Guten Morgen Geburtstagskind!
Wir sind schon alle ausgeflogen, aber heute Abend wird gefeiert!
Lad' doch noch ein paar Freunde ein!
Es gibt genug Essen für eine ganze Kompanie.
Kuss, Fianna



Ich musste grinsen. Es war typisch Tante Fi, nach der Arbeit die ganze Nacht auf zu bleiben und wieder viel zu viel Essen aufzutischen.

Seit ein paar Jahren besaß sie ein eigenes kleines Geschäft für esoterischen Krimskrams und richtete Firmen im Feng-Shui Stil ein. Sie gab außerdem Meditationskurse, war ausgebildete Reikiheilerin und coachte gestresste Manager, wenn sie dringend mal ihre Chakras ausbalancieren mussten.

Viele hielten sie für ein wenig verrückt. Sie legte Edelsteine in Wasserflaschen, besaß Möbelstücke, die nach unsichtbaren Schwingungen ausgerichtet werden mußten, und unser Haus war vollgestopft mit Räucherkerzen, Pendeln und anderem abergläubischen Schnickschnack.

Ich machte mir zwar nicht viel aus ihren Gepflogenheiten, aber im Großen und Ganzen war Fianna echt in Ordnung -von ihrer Schwäche für jüngere Liebhaber und flippige Geburtstagsparties mal abgesehen.

Jedes Jahr versuchte sie aufs Neue mich zu überreden, eine große Party zu veranstalten, doch bisher waren sämtliche ihrer Bemühungen an mir gescheitert.

Glücklicherweise hatte ich in der Schule nicht an die große Glocke gehangen, dass ich Geburtstag hatte.
So würde ich wenigstens dort für ein Weilchen ungestört sein.
Zumindest dachte ich das!

Energisch riss ich Tante Fiannas Notiz vom Spiegel und warf einen Blick auf mein Spiegelbild.

Was ich sah, ließ mich zusammenfahren:

Meine Chakras schienen jedenfalls in bester Ordnung zu sein, denn ich sah heute richtig erholt aus!-Geradezu umwerfend!

Begeistert betrachtete ich mich von allen Seiten.

Ich konnte nicht behaupten, dass ich prinzipiell unattraktiv war: blaue, große Augen -von langen dunklen Wimpern umrahmt, volle Lippen, eine kleine Stubsnase, langes, dunkelbraunes Haar, das mir in leichten Wellen über die Schulter fiel und eine durchaus passable Figur.
Dennoch brauchte mein Gesicht morgens für gewöhnlich erstmal eine gehörige Ladung kaltes Wasser und ein paar geübte Handgriffe mit Wimperntusche und Puder, um einen ansehnlichen Zustand anzunehmen.

Heute schien dies jedoch völlig überflüssig. Auch nach eingehender Betrachtung, bei der ich mir beinahe die Nase am Spiegel platt gedrückt hatte, blieb das Ergebnis verblüffend: Kein Knautschgesicht, keine Kissenabdrücke und keine bläulich schillernden Ringe unter den Augen!
Mein Haar glänzte, meine Wangen waren leicht gerötet und es kam mir sogar vor, als leuchteten meine Augen noch eine Spur blauer, als gewöhnlich.

Selbst der hässliche Pickel, der bis gestern noch auf meiner Stirn gethront hatte, war über Nacht auf mysteriöse Weise verschwunden.
Die gestrige Anti-Stress-Maske hatte scheinbar ein kleines Geburtstagswunder bewirkt.

"Was für eine fabelhafte Überraschung!", jubelte ich, doch meine Freude stellte sich rasch wieder ein, als ich mit einem eiligen Blick auf die Uhr feststellte, dass ich mal wieder ziemlich spät dran war.

Jetzt bloß nicht trödeln!

Ich schlüpfte hastig in eine alte Jeans, die ich aus dem Kleiderhaufen in meinem Zimmer gefischt hatte und entschied mich in der Eile für ein T-shirt und Kapuzenpulli. Schnell putzte ich mir die Zähne und bändigte meine Mähne, indem ich sie halbherzig zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen band. Für Make-up blieb leider keine Zeit.

Da ich auf die Schnelle mein Deo nicht finden konnte, griff ich kurzerhand nach einem von Tante Fi's Duftölen und tupfte mir einen Hauch Patchouli hinter die Ohren. Das musste reichen!

Frühstück fiel leider ebenfalls flach, denn ich wollte nicht riskieren, zu spät in der Schule aufzutauchen, obwohl mein Magen vor Empörung nur so knurrte.

  Keuchend stolperte ich aus dem Haus und rannte zur Bahnstation.

Auf dem Weg dorthin spürte ich die Blicke der Passanten auf mir ruhen und sah aus dem Augenwinkel, dass ein Fahrradkurier sogar um ein Haar gegen eine Laterne gedonnert wäre, während er mich mit unverhohlenem Interesse musterte, anstatt seine Aufmerksamkeit auf die Straße zu richten.

Glücklicherweise war ich zu sehr in Eile, um mir auf diese Tatsache etwas einzubilden und trabte kopfschüttelnd weiter.
So entging mir auch der Fremde, der sich an meine Fersen geheftet hatte und langsam hinter mir her kam.
Als ich den Bahnsteig erreichte, war soeben eine passende Linie  zum Stehen gekommen.

Die Glückssträhne riss nicht ab!

Beherzt sprang ich durch die Tür und suchte mir ein Viererabteil etwas weiter hinten, da ich keine Lust hatte, mich zu der Horde lärmender Schulkinder zu quetschen, die wie jeden Morgen die besten Plätze belagerten.

Ich fand einen freien Fensterplatz und machte es mir gemütlich. Während die hohen Gebäude der Stadt an mir vorbei zogen, malte ich mir aus, wie ich den restlichen Tag verbringen würde. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war ich immer noch so gut gelaunt, das mir die Aussicht auf eine kleine Party plötzlich garnicht mehr so abwegig erschien. Ich könnte ja mal das neue schwarze Kleid anziehen, in dem ich mich unwiderstehlich fühlte und das seit Wochen beleidigt in meinem Schrank versauerte.

Gerade, als ich gedanklich bei der Schuhfrage angelangt war, riss mich eine tiefe, aber doch sanft klingende Stimme aus meinen Träumereien.

„Entschuldige, ist hier noch frei?“

  Neugierig sah ich auf und erstarrte vor Schreck.
Neben mir stand -fleischgeworden und wahrhaftig- der Typ, den ich gestern vor unserem Haus gesehen hatte und pustete sich strahlend eine Haarlocke aus der Stirn.


Oh mein Gott! Maeve Crow, du bist schon so verzweifelt, dass du dir deinen Traummann herbei halluzinierst!



Zur Bestätigung blinzelte ich heftig mit den Augen und riss sie erneut auf. Der Fremde war immer noch da!

Kapitel 5



Die nächsten Sekunden vergingen in Zeitlupe. Ich war gefangen von seinen Augen, die von einem so unbeschreiblichen Grün waren, dass sie funkelten wie Smaragde.

Los sag' irgendwas! , versuchte meine innere Stimme mir Mut zu machen, doch ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

Stattdessen öffnete und schloss ich den Mund wie ein Karpfen und schwieg.

Nach einer gefühlten Ewigkeit konnte ich mir schließlich ein stummes Nicken abringen.

Mehr Spontaneität war leider nicht drin!

Dies schien den schönen Unbekannten nicht im Geringsten abzuhalten, denn er zuckte die Achseln und ließ sich ohne weitere Peinlichkeiten von meiner Seite abzuwarten, auf den freien Platz neben mich fallen.
Ehe ich etwas antworten konnte, steckte er sich demonstrativ die Stöpsel seines i-Pods in die Ohren, begann mit seinen schlanken Fingern auf seinem Oberschenkel zu trommeln und schien mich völlig ausgeblendet zu haben.

Das Gespräch war beendet.
Darüber war ich nicht gerade unerfreut, denn dies gab mir wenigstens genug Zeit zum Überdenken meiner weiteren Vorgehensweise.


Meine Gedanken überschlugen sich, während ich angestrengt aus dem Fenster starrte und hektisch auf meiner Unterlippe herum kaute.

Was ist das überhaupt für einer? Irgendein kranker Stalker, der mich verfolgt? Oder ist das Ganze reiner Zufall?



Eigentlich hätte ich ernsthaft beunruhigt sein müssen, aber der Fremde strahlte eine Ruhe aus, der ich mich nicht entziehen konnte.
Gleichzeitig jagte mir seine Anwesenheit einen Schauer nach dem anderen durch den Körper.

Ich hatte mich noch nie so in der Gegenwart eines Mannes gefühlt.

Was war nur los mit mir? Meine Hormone schienen eindeutig mit mir durch zu gehen.

Da saß er...mein Traummann... keine zwanzig Zentimeter von mir entfernt.
So sehr ich mich auch bemühte, einen kühlen Kopf zu bewahren, ich brachte es nicht fertig, ihn für einen gefährlichen Irren zu halten.
Jemand der SO aussah, hatte es definitiv nicht nötig, fremde Mädchen zu beschatten.

Dafür war er erstens viel zu umwerfend und zweitens erweckte er nicht gerade den Eindruck, als hätte er mich überhaupt wieder erkannt.
Im Gegenteil, er schien sich nicht das Geringste aus mir zu machen! Nein, es musste eine logische Erklärung für das Ganze geben.

Vorsichtig schielte ich zur Seite, um gleich festzustellen, dass er aus der Nähe noch viel umwerfender war, als vom Fenster unseres Hauses aus.

Das Beste an seiner vollkommenen Erscheinung war zweifellos sein fesselndes Gesicht: Leicht gebräunter Teint, eine gerade, perfekte Nase und ein toller Mund mit sinnlich geschwungenen Lippen. Ein Profil zum Dahinschmelzen!

Die perfekte Mischung aus männlich und sanft!!!Selbst die leichten Bartstoppeln auf seinen markanten Wangenknochen fügten sich auf malerische Weise in dieses Gesamtkunstwerk und ließen mich vor Verzückung nach Luft schnappen.

Das Objekt meiner Begierde räkelte sich lässig mit geschlossenen Augen und bewegte den Kopf zur Musik.
Ein Hauch von Aftershave, angereichert mit seinem Körpergeruch, wehte zu mir herüber und ich spürte ein angenehmes Ziehen in der Magengegend.

Mich überkam das wilde Verlangen, mich an ihn anzulehnen, ihm auf den Schoss zu springen und in seinen Haaren zu wühlen, aber auf wundersame Weise schaffte ich es, mich brav und anständig auf meinem Sitz zu halten.

Angestrengt starrte ich wieder auf die Straße und tat, als wäre es mir völlig engangen,dass neben mir das achte Weltwunder saß.
Die Fahrt zur Schule zog sich wie Kaugummi und ich rutsche ungeduldig auf meinem Platz hin und her.
Ich musste schleunigst weg von diesem Typen.

Vorzugsweise in ein Loch tief in der Erde, wo er mich und meinen peinlichen Auftritt schnell wieder vergisst!



Als die Bahn endlich an der Station nahe der Schule zum Stehen kam, sprang ich auf und schob mich am Objekt vorbei auf den Zwischengang.

So schnell ich konnte, stolperte ich hinaus und versuchte in der Masse unterzutauchen, während das Blut in meinen Ohren dröhnte.

Obwohl ich mich nicht umsah, spürte ich den Blick seiner leuchtend grünen Augen im Rücken.

***


Damien sah ihr hinterher, als sie mit eiligen Schritten den Bahnsteig entlang lief. Er hätte sich selber ohrfeigen können!

Sein akribisch zurecht gelegter Plan war mächtig in die Hose gegangen.

Jahrelang hatte er davon geträumt, wie er seinen ersten Mutanten nach dem Turn begleiten und in die Geheimnisse seiner Welt einweihen würde und jetzt hatte er alles vermasselt.


Er erinnerte sich, als ob es gestern gewesen wäre, als seine Verwandlung plötzlich begann und seine Fähigkeiten wie Schübe kamen und gingen.

Die Welt, in der er lebte, hatte sich für immer verändert und es war schwer gewesen, sich an diese Veränderung zu gewöhnen.
Damals war es Zoe, die ihm die ersten Unterweisungen erteilt und ihn zu Attius gebracht hatte, aber da sie seine Schwester war, hatte sie dabei in etwa mit der gleichen Ungeduld agiert, wie wenn sie ihm bei den Mathehausaufgaben half, oder ihn zum Aufräumen ermunterte.

Damals hatte er nächtelang wach gelegen und sich geschworen, ER würde einfühlsam und verständnisvoll sein, wenn er eines Tages an der Reihe wäre, seinen ersten Mutanten anzulernen, doch sinnloses Geradeausgestarre und peinliches Schweigen hatten definitiv NICHT zu seinem Plan gehört!

Er war nicht der Typ dafür, sich durch unvorhergesehene Ereignisse aus dem Konzept bringen zu lassen.
Er erledigte die Dinge, die zu tun waren gründlich und ohne Umschweife und verlor nie die Kontrolle.
So war er schon immer gewesen und er hatte nicht vorgehabt, es jemals anders zu handhaben, doch dieses Mädchen....ihre Augen, und dann dieser DUFT. Es hatte ihn fast um den Verstand gebracht, so nah neben ihr zu sitzen.

Er hatte schon viele Mutantinnen kennengelernt und eine Reihe von ihnen hatte nach der Verwandlung sehr gut gerochen...dies lag in der Natur der Mutation, doch ein derartig betörender Duft war ihm selten untergekommen. Und als sie dann auch noch auf ihrer Unterlippe herum gekaut hatte. Es war die reinste Folter gewesen.

Wenn er die Sache nicht in den Sand setzen wollte, dann musste er unverzüglich seine Begierde in den Griff bekommen.
Nichts war seinem Erfolg als Lehrmeister abträglicher, als wenn er sich körperlich zu seiner Schülerin hingzogen fühlte. Das hatte ja gerade noch gefehlt! Die Umstände waren auch so schon kompliziert genug und würden jede Menge  Fingerspitzengefühl und Bedachtsamkeit erfordern.

Ärgerlich aufstöhnend trat er nach einem Kieselstein und vergrub die Fäuste tief in den Hosentaschen.

Im Schutze der Menschenmassen nahm er die Verfolgung auf.....

 

***


Als ich nach etwa fünf Minuten Fußweg quer durch die Stadt endlich den Vorhof der High-School betrat, musste ich enttäuscht feststellen, dass Jenny, meine beste Freundin, noch nicht da war.

Verzweifelt seufzend machte ich mich auf den Weg ins Gebäude, denn ich konnte es kaum erwarten, Jenny von meiner Begegnung der dritten Art zu berichten.
Die erste Stunde war zum Glück bloß Kunstunterricht -eine herrliche Gelegenheit zu quatschen-

Apropos Kunst... Scheiße, da war doch noch was?



Siedend heiß fiel mir die schriftliche Ausarbeitung ein, die Mr. Peterson, unser Kunstlehrer, mir bis heute aufs Auge gedrückt hatte, nachdem ich trotz mehrfacher Ermahnung malwieder verschlafen hatte.

Die hatte ich natürlich völlig verpeilt und Peterson war -um es gelinde auszudrücken- nicht gerade ein Fan von mir.

Es war, als könne er mir meine Abneigung gegen alles was auch nur annähernd mit Farbe oder Pinsel zu tun hatte, vom Gesicht ablesen. Mit Kunst hatte ich einfach nichts am Hut und meine Bilder trieben jedem Sechsjährigen die Tränen in die Augen.
Jedenfalls hasste mich Peterson, seitdem ich ihm einmal zum Thema "Licht und Schatten" ein völlig leeres Blatt abgegeben und kleinlaut argumentiert hatte, dass zumindest das Licht doch sehr gut hervor käme.

Ich beschloss,die Flucht nach vorne anzutreten und die fehlende Hausaufgabe noch vor Beginn des Unterrichts zu beichten.

Vielleicht ersparte mir dieser Schachzug  eine peinliche Standpauke vor dem versammelten Kurs. Beherzt klopfte ich an seine Bürotür und trat ein, noch ehe ich dazu aufgefordert wurde.

Geoffrey Peterson saß in einem großen Ohrensessel, eine Ausgabe der „Art of America“ vor sich auf dem klobigen Eiche rustikal Schreibtisch.
Er war klein, rotgesichtig und hatte eine Halbglatze, in der sich das Licht der Deckenbeleuchtung spiegelte, als wäre sie eigens dafür poliert worden. Sein gedrungener Körper steckte in einem viel zu engen, braunen Cordanzug unter dem sich eine beträchtliche Plautze hervorwölbte.

Angeekelt schüttelte ich den Kopf und räusperte mich dann.

Mr. Peterson sah auf und musterte mich mit verwirrtem Blick, die buschigen Augenbrauen vor Erstaunen hochgezogen.

„Miss Crow, was verschafft mir denn SO FRÜH am Morgen die Ehre ihres Besuchs?“, fragte er mit süffisantem Unterton und grinste dabei boshaft.

Na das fängt ja großartig an. Gleich zu Anfang eine blöde Anspielung! Jetzt bloß nicht nervös werden!



„Ich … ich wwollte …mich nur entschuldigen, …wweil ich die schriftliche Ausarbeitung, die ich für heute vorbereiten sollte, noch nicht ganz fertig habe. Ich haaaabe nnnämlich heute Gebbburtstag!“, stotterte ich los und merkte, dass ich bereits rot anlief.

Ding Ding! Hundert Punkte für die schlechteste Ausrede seit Menschengedenken!



Peterson schien dies ähnlich zu sehen, denn während ich sprach neigte er den Kopf leicht zur Seite wie ein aufmerksamer Hund. Seine schwarzen Äuglein blinzelten mich versonnen durch die runden Gläser seiner Lesebrille an.

Nachdenklich runzelte er die Stirn, sodass ich schon dachte, dass er jeden Moment los schreien würde, doch entgegen aller Erwartungen huschte plötzlich ein strahlendes Lächeln über sein Gesicht.

Peterson sprang von seinem Stuhl auf und fiel mir um den Hals. Er roch nach Zigarren und altem Schweiß. Mir wurde übel. Er drückte mich innig und sagte zu meiner Verwunderung in freundlichem Singsang:

„Aber selbstverständlich, Miss Crow! Alles Liebe zum Geburtstag! Wissen sie was? Vergessen sie die Ausarbeitung! Vergessen sie die Kunststunde! Machen sie doch heute einfach mal frei und genießen sie ihren Ehrentag!“

Mit diesen Worten schob er mich zur Tür hinaus und machte dabei ein Gesicht wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland.

„Das ist wirklich nicht nötig, aber vielen Dank“, murmele ich zutiefst verwirrt und stand ratlos auf dem Korridor.
„Ganz wie sie wünschen, junge Dame“, flötete Peterson und schloss die Tür.


Ich stolperte hinaus in den Innenhof der High-School. Irgendwie war mir flau im Magen, aber für ein Frühstück in der Mensa war es nun zu spät, da der Unterricht in spätestens 10 Minuten beginnen würde. Ich beschloss mir zur Überbrückung wenigstens eine kalte Cola zu genehmigen, taumelte wie in Trance zum Getränkeautomat und warf mit zitternden Fingern mein letztes Kleingeld in den Münzschlitz. 

Die Dose war so kalt, dass sich Wassertropfen darauf bildeten. Gierig öffnete ich den Verschluss und ließ die kühle Flüssigkeit meine Kehle hinunter rinnen.


Tatsächlich belebte die Zuckerbombe meine Sinne und ich fühlte mich ein wenig besser.

Meine Gedanken überschlugen sich.
Was zum Teufel war das bitte für eine Vorstellung gewesen? Mr. Peterson kiffte doch nicht etwa heimlich in seinem Büro?

Während ich noch grübelte, marschierte eine Gruppe Schüler an mir vorbei und konfrontierte mich mit einem weiteren merkwürdigen Ereignis:

Zwei Jungs, die gerade noch angeregt über seltene, genetischen Krankheiten diskutiert hatten, hielten mitten im Gespräch inne und starrten mich mit offenen Mündern an.

Ein Anderer stolperte gegen das Mädchen vor ihm und blieb wie angewurzelt stehen.

„Wollt ihr ein Passbild?“, fragte ich ärgerlich und warf ihnen einen misstrauischen Blick zu.

„Oh ja gerne“, stammelte ein schlaksiger Junge mit Brille.

"Hier gibt es nichts umsonst!", fauchte ich und zog ihnen eine Fratze.

Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen, aber in meinem Leben gab es eben zwei Dinge, die mir schlechte Laune verursachten:

Punkt 1: Hunger und Punkt 2: Im Mittelpunkt zu stehen. Das machte mich nervös und wenn ich nervös war, wurde ich kratzbürstig, um meine Unsicherheit zu überspielen, aber nun gut...für eine Entschuldigung war es eh zu spät, denn der Trupp setzte sich bereits zögerlich in Bewegung, wobei einige der Jungs sich jedoch immer wieder zu mir umdrehten.

Nachdem sie außer Sicht waren, sah ich mich vorsichtig um.

Von überall her spürte ich neugierige Blicke auf mir ruhen und ich bemerkte, dass die Jungs auf dem Hof die Köpfe zusammenstecken, heimlich auf mich zeigten und anzüglich mit der Zunge schnalzten.

Etwas in ihren Blicken beunruhigte mich, doch ich konnte nicht definieren, was es war.
Ich wusste nur, dass diese geballte Aufmerksamkeit mir allmählich furchtbar unangenehm wurde.


Mmh, vielleicht hab ich ja irgendwo Zahnpasta im Gesicht oder mir hängt ein Stück Klopapier aus der Hose??? Wäre nicht das erste Mal!



Für ein paar Sekunden sah ich mich wieder ins 3. Schuljahr zurück versetzt, als ich mich binnen Sekunden zum Gespött der Schule gemacht hatte, indem ich total verschlafen mit einem riesen Schnäuzer aus Zahnpasta in die Klasse gestürmt war.

Auf Ereignisse dieser Art schien ich seit jeher eine enorme Anziehungskraft auszuüben.

Warum auch ins Fettnäpfchen treten, wenn einem eine ganze Fritteuse zur Verfügung stand?

Nervös wischte ich mir mit dem Ärmel meines Pullis durchs Gesicht.
Nichts!
Vorsichtshalber überprüfte ich auch noch unauffällig den Reißverschluss meiner Jeans. Alles in Ordnung.

Als es endlich klingelte und die Kunststunde begann, setzte ich mich in die letzte Reihe und verschanzte mich hinter meinen Unterlagen.

Jenny nahm mein merkwürdiges Verhalten mit missbilligendem Blick zur Kenntnis, ließ mich ansonsten aber in Ruhe und stellte demonstrativ achselzuckend  ihre Tasche auf den freien Platz neben sich.

Die Stunde schien endlos und als ich vorsichtig hinter meinem Buch hervor schielte,ertappte ich Mr. Peterson mehrere Male dabei, dass er kurz in seinen Worten innehielt und gedankenversunken zu mir hinüber schaute.

Auch Ryan Smith, ein Junge aus der Nachbarschaft, warf mir perverse Blicke zu.
Nicht, dass mich dies erstaunt hätte. Ryan war seit jeher für seine Vorliebe bekannt, jedem Mädchen in den Ausschnitt zu glotzen und wurde nicht umsonst von allen nur "Titten-Ryan" genannt. Dennoch war ich bisher wie durch ein Wunder vor ihm verschont geblieben.

Was als freudige Überraschung angefangen hatte, erwies sich mehr und mehr als Fluch, daher verzog ich mich schleunigst wieder in den Schutz hinter meinem Kunstbuch, wobei ich es mir jedoch nicht nehmen ließ, Ryan kurz den Stinkefinger zu zeigen.

Himmel, wir sind doch nicht im Zoo. Fehlt nur noch, dass ihr anfangt, mich mit Erdnüssen und Bananen zu füttern!


Mein Körper wurde  erneut von einer Welle des Unbehagens erfasst.


Ich spürte, dass etwas Merkwürdiges vor sich ging, auch wenn ich nicht wusste, was es war.

Mein Arm kribbelte und plötzlich bemerkte ich den eigenartigen Geruch.

Zunächst lag nur ein Hauch davon in der Luft, doch mit jeder Sekunde stieg er mir deutlicher in die Nase.
Es war eine Mischung aus Honig und Vanille, irgendwie süßlich, aber auch eine Spur holzig.

Als hätte irgendwer gerade einen frisch gebackenen Kuchen aus seinem Schulranzen gepackt, doch ein prüfender Blick durch die Tischreihen bestätigte meine Annahme: Ich schien neuerdings an Halluzinationen zu leiden!

Ich zuckte die Achseln und dabei löste sich versehentlich eine Strähne meines Haares aus dem Pferdeschwanz.


Wieder vernahm ich den eigenartigen Geruch und schlagartig wurde mir klar, dass er eindeutig von mir auszugehen schien.

Mit gespreitzten Fingern und zusammengekniffenen Augen zog ich die Haarsträhne an meine Nasenlöcher und schnupperte vorsichtig daran.

ZWEIFELLOS!!!!!
Es roch einfach köstlich- besser als alles, was ich je in meinem Leben gerochen hatte.
Etwa im gleichen Moment bedachte mich Peterson mit einem anzüglichen Blick und leckte sich über die Lippen.

IRGH!
Das wurde ja immer unheimlicher.
Ich hätte heute Morgen besser die Finger von Tante Fi's Patchouli-Parfum lassen sollen! Sie schwört schon immer auf dessen betörende Wirkung.



Ich bemerkte, wie einige um mich herum nun ebenfalls geräuschvoll einzuatmen begannen und neugierig umherspähten.

Ich musste sofort nach Hause und diese Duftwolke loswerden!

Peterson hatte mir den Tag ohnehin freigegeben, also warum unnötig herumtrödeln? Diese Chance bekam ich vielleicht kein zweites Mal.
In meinen Fingerspitzen begann es merkwürdig zu pulsieren. Wurde ich etwa tatsächlich krank?
Beim ersten Ton des Gongs sprang ich auf.

"Sorry ich muss weg, bis heute Abend!", brüllte ich Jenny entschuldigend über die Schulter hinweg zu, während ich wie von der Tarantel gestochen aus dem Kunstraum stürmte.

Jenny, in der Hand ein kleines Geburtstagspäcken schwenkend, schüttelte fassungslos ihre platinblonde Mähne.
Na toll! Jetzt war die auch noch beleidigt, aber für schmollende Freundinen hatte ich gerade echt keinen Nerv.
Klopfenden Herzens eilte ich die Treppen zum Ausgang hinunter.
Während meine Füße über die Treppenstufen flogen, wurde mir mit einem Mal unsäglich heiß. Ich wollte nur noch eins: raus hier! Meinen ganzen Körper drängte es an die frische Luft.
Im Laufen zerrte ich mir meinen Kapuzenpulli über den Kopf und stopfte ihn in den Rucksack. Vielleicht konnte ich auf diese Weise zugleich meine Parfumwolke bekämpfen.

Als ich das Tor zur Straße erreichte, blieb ich keuchend stehen um zu verschnaufen. Der Schulhof war menschenleer. Obwohl ich nur noch mit T-Shirt und Jeans bekleidet war, trat mir der Schweiß auf die Stirn und die Hitzewallungen schienen sogar noch stärker zu werden. Ich lehnte meinen Kopf an das kühle Eisentor und atmete die klare, würzige Luft ein. Langsam verscheuchten die Sonne und der Sauerstoff mein körperliches Unbehagen.

Nach einer Weile trat ich unschlüssig auf die Straße und überlegte, was ich mit meiner freien Zeit anstellen sollte.

Zach und Maya würden frühestens um vier wieder nach Hause kommen und Jenny war noch im Unterricht und höchstwahrscheinlich angepisst, also beschloss ich, erst einmal zu Fuß nach Hause zu schlendern und in Ruhe die Geschehnisse des bisherigen Tages zu verarbeiten.

Noch immer rauchte mir der Kopf, da ich mir absolut keinen Reim auf die seltsamen Erlebnisse der letzten Stunden machen konnte.

Dazu kam erschwerend, dass jedes Mal, wenn ich nachzudenken versuchte, der mysteriöse Unbekannte vor meinem inneren Auge auftauchte und mich auf ganz andere Gedanken brachte.

Es war zum Verzweifeln, so sehr ich auch versuchte, mich zu konzentrieren, meine Gedanken kehrten immer wieder zu seinen wunderschönen, grünen Augen zurück.

Grüne Kontaktlinsen! , versuchte ich mir einzureden, doch ich wusste, dass dies nicht die Wahrheit war.

Mein Magen begann laut zu knurren. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich seit Stunden nichts mehr gegessen hatte. Kein Wunder also, dass ich mich nicht richtig konzentrieren konnte und Kreislaufbeschwerden hatte.

Kurzentschlossen lief ich über die Straße und legte einen Stop bei "Dunking Donuts" ein um wenigstens erstmal meinen lärmenden Magen zu besänftigen.

Meine morgendliche Anziehungskraft schien sich in Luft aufgelöst zu haben, denn ich wartete geschlagene zwei Minuten, bis die Bedienung, ein hässlicher Typ mit Pickeln und langen fettigen Haaren, sich erbarmte und meine Bestellung entgegen nahm, obwohl der Laden um diese Zeit nur wenige Besucher hatte. Auch der vanillige Duft schien verschwunden zu sein, denn als ich unauffällg an meinem Arm schnupperte, roch ich zu meiner Erleichterung genau wie immer.

Ich orderte einen Donut mit Schokoglasur und einen Milchkaffee, setzte mich an einen der freien Plätze am Fenster und begann zu essen.

Allmählich kehrte ein wenig Kraft in meinen durchdrehenden Körper zurück. Zucker war schon echt was Tolles!

Gedankenverloren sah ich hinaus auf die belebte Straße und traute meinen Augen nicht.

Grüne Augen leuchteten mich an und ein honigsüßes Lächeln verschlug mir den Atem. Wir sahen einander ein paar Sekunden lang durch die Glasscheibe an, dann war er fort.

Kapitel 6



Hatten meine Sinne mir einen Streich gespielt, oder war mir der mysteriöse Fremde etwa gefolgt? Jetzt reicht’s!


Von einer inneren Eingebung getrieben, feuerte ich meinen Donut auf den Tisch und stürmte hinaus auf die Straße.

Im letzten Moment sah ich einen braunen Wuschelkopf um die Ecke biegen.

Ich preschte los. Der Fremde ging zügigen Schrittes weiter, doch schließlich holte ich ihn ein.

„Hey Lockenköpfchen, bleib stehen!", rief ich atemlos und wäre um ein Haar mit ihm zusammengeprallt, denn er tat wie ihm geheißen und drehte sich überrascht zu mir um.

Sein Gesicht war so nah vor meinem, dass ich seinen Atem spürte und ich sah, wie es hinter seiner Stirn fieberhaft arbeitete.

Sein ganzer Körper war angespannt, doch dann schien er zu einem Entschluss gekommen zu sein.
Der Fremde entspannte sich und lächelte erwartungsvoll.

„Sag mal, verfolgst du mich, oder was?“, fragte ich keuchend.

Der Unbekannte blitze mich aus seinen grünen Augen verschmitzt an und konterte mit tiefer, maskuliner Stimme:

„Ich will ja nicht klugscheißen, aber WER ist WEM gerade noch gleich hinterher gelaufen?“

Seine Mundwinkel kräuselten sich spöttisch. Arrogant war er auch noch, aber fasziniert wie ich war, konnte ich ihn nur anstarren, während meine Lippen wie zugenäht waren.

Na toll! Darauf fiel mir jetzt nichts ein!

In der Tat, war ich diejenige gewesen, die einem wildfremden Kerl auf der Straße hinterher gerannt war, und ihn einfach so angequatscht hatte.

Ich merkte, wie lächerlich das Ganze wirken musste und wog ab, ob es Sinn machte, mich auf dem Absatz umzudrehen und davon zu stürmen, aber dies hätte nur zur Folge gehabt, dass der mysteriöse Unbekannte mich auf ewig als völlig durchgeknallt in Erinnerung behalten würde und das konnte ich nicht auf mir sitzten lassen.

Mit einem Mal packte mich die Wut.
Zum einen, weil ich es wirklich unheimlich fand, möglicherweise verfolgt zu werden und zum anderen -und das war der schlimmere Teil-, weil es mich wütend machte, welche Wirkung der Fremde auf mich hatte.
Sonst war ich doch auch nicht auf den Mund gefallen!

Ich baute mich also vor ihm auf, so selbstbewusst ich konnte und zeterte los:

„Pah, dann willst du mir sagen, dass du zufällig gestern vor unserem Haus gestanden hast und eben neben mir in der Bahn saßt? Und jetzt bist du gerade rein zufällig genau in der gleichen Straße unterwegs und oooh was für ein Zufall, GENAU vor dem Laden stehen geblieben, in dem ich auch war? Soll ich ehrlich sein? An so viele Zufälle in so kurzer Zeit glaube ich nicht! Dafür ist Manhattan ein wenig zu groß!“

Angriffslustig stemmte ich die Hände in die Hüften und reckte mein Kinn vor, um meiner Ernsthaftigkeit etwas mehr Ausdruck zu verleihen.

Der Fremde schwieg.
Um meine Unsicherheit aus dem Weg zu räumen, beschloss ich, noch einen nach zu legen:

„Pass‘ auf Freundchen, du kannst mir entweder jetzt sofort sagen,warum du mich verfolgst, ODER ich rufe die Polizei und erzähle denen mal ganz ausführlich, dass ich von dir belästigt werde. Wenn ich schon dabei bin, könnte ich auch gleich meinen Bruder anrufen. Der hätte mit Sicherheit große Freude daran, dir eine zu verpassen!“

Ich blies mir eine Strähne aus dem Gesicht und bemühte mich um einen möglichst bedrohlichen Gesichtsausdruck.

Der Fremde blickte mich eine Weile unergründlich an und schien zu überlegen. Dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und streckte mir die Hand entgegen.

„Ok. Kein Grund gleich so herum zu zetern! Starten wir einen Neuanfang? Ich bin Damien.“

Seine Hand hing auf halber Strecke zwischen uns in der Luft und wartete darauf, dass ich sie schüttelte.

Von wegen! So einfach kommst du mir nicht davon!



„Nur wenn du mir sagst, warum du mich verfolgst“, erwiderte ich misstrauisch.

Damien nickte.

„In Ordnung, aber nicht hier. Die Sache ist ein wenig komplizierter, als du wahrscheinlich annimmst. Lass' uns doch hier irgendwo einen Kaffee trinken! Ich schulde dir wohl ein neues Frühstück.“

"Ok. Einverstanden. Da bin ich ja mal gespannt...also... ich bin Maeve", antwortete ich und machte zögerlich einen Schritt auf ihn zu.

"Maeve, es freut mich sehr."
Damien reckte seine Hand ein wenig höher und warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu.

Dieses Mal willigte ich ein und drückte seine Hand. Sie war unglaublich weich und  warm. ZU warm.

Noch während meine Gedanken um die Wärme seiner Haut kreisten und ich Luftsprünge hätte machen können, weil ich trotz meines Ausrasters soeben von einem Topmodel zum Kaffeetrinken eingeladen worden war, geschah etwas Merkwürdiges:

Mein Körper begann erneut zu zittern und zu vibrieren.

Es war nicht schmerzhaft, vielmehr eine unsichtbare Welle von Energie, die mich in zarten Stößen durchströmte und aus meinen Händen austrat.

Damien schien es auch zu spüren und sprang mit vor Schreck geweiteten Augen einen Schritt zurück.

„Hoppla!“, stammelte er und ließ meine Hand fallen wie eine heiße Kartoffel.

„Entschuldige“, murmelte ich und starrte ungläubig auf meine zitternden Finger.

Damien lächelte schief.

"Toller Duft übrigens!"
"Danke, ich glaub das ist..."

Mehr brachte ich nicht heraus, denn wieder wurde mir heiß. Schrecklich heiß!

„Irgendwas stimmt nicht mit mir, ich…!"

Erneut erfasste meinen Körper eine Welle stromstoßartiger Krämpfe.

Ich sackte in die Knie und mir wurde schwindelig. Die Hitze strömte durch meinen Körper und füllte mich aus. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, ließ sie ebenso abrupt wieder nach.

Damien beobachtete mich erstaunlich ruhig, doch sein Blick wirkte besorgt, als er mir vorsichtig wieder auf die Beine half.

"Sorry, bin woh noch immerl unterzuckert", stammelte ich und versuchte, mich auf den Beinen zu halten.

Durch meinen Zusammenbruch waren mittlerweile auch ein paar Passanten auf mich aufmerksam geworden und kamen neugierig näher.

Ein Mann, der zunächst achtlos vorbei gegangen war, blieb stehen, drehte sich mit unendlicher Langsamkeit zu mir um und sah mich an.

Dann neigte er plötzlich den Kopf und sog geräuschvoll die Luft ein, sodass sich seine Nasenflügel unheimlich aufblähten! Schnuppernd kam er auf mich zu.


Ich sah, dass sich die Augen des Mannes veränderten, seine Pupillen weiteten sich und mir wurde klar, dass es der gleiche Blick war, den ich zuvor bei den Jungs in der Schule gesehen hatte, nur war er dieses Mal lüsterner, unheimlicher und trotzdem auf eine eigentümliche Art ehrfürchtig.


Dann ging alles sehr schnell.

Ehe ich mich in Sicherheit bringen konnte, hatte der Fremde mich erreicht und fiel vor mir auf die Knie!!!
Inbrünstig ergriff er meinen Fuß, begann ihn zu küssen und fragte mit seltsam monotoner Stimme: „Herrin, was verlangst du von mir?“

„Lassen sie mich in Frieden, sie verdammter Irrer!“
Verwirrt riss ich mich los und sprang hinter Damien, der schützend einen Arm vor mich hielt.

Das Herz klopfte mir bis zum Hals.

„Natürlich Gebieterin!", stammelte der Fremde und zog sich eilig einen Schritt zurück. Er verneigte sich mehrere Male und flüsterte: „Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Eine junge Frau löste sich aus der Menge und kam nun ebenfalls auf mich zu. Ihre Augen nahmen denselben glasigen Ausdruck an, während sie die Arme ausbreitete.

„Mein liebes Kind, lass' dich umarmen. Was tut dir der böse, fremde Mann?“ Sie ergriff meine Hand und zog mich so heftig an ihre Brust, dass mir die Luft weg blieb.

Binnen Sekunden spürte ich, dass mich jemand aus ihrer Umklammerung löste.

Damien zog mich an sich und sah mir fest in die Augen.

„Maeve, vertraust du mir?“

Ich werde ganz sicher keinem wildfremden Typen vertrauen, der mich seit Tagen verfolgt, da kann er noch so schnuckelig sein!!

, durchfuhr es mich, doch
ehe ich etwas erwidern konnte, hatte Damien meine Hand ergriffen und begann zu rennen.

***


Als Damien bemerkte, wie die Menschen auf der Straße auf Maeves beginnende Mutation zu reagieren begannen, geriet er in Panik. Langsam beschlich ihn eine dunkle Vorahnung, was es mit ihrer Mutation auf sich hatte: Scheinbar wirkte sie aus irgendeinem Grund auf andere Menschen derartig betörend, dass sie ihr verfielen wie hypnotisiert und ihr folgten wie Bienen ihrer Königin.
Es mußte irgendwie mit ihrem Geruch zusammen hängen, den er jetzt schon ein paarmal an ihr wahrgenommen hatte.
Es war höchste Zeit, sie so schnell wie möglich aus der Öffentlichkeit zu schaffen. Eine Massenhysterie war das Letzte, das er jetzt brauchen konnte.

Damien riss Maeve an sich und rannte mit ihr die Straße entlang. Mehrmals drehte er sich um und sah, dass eine Menschentraube die Verfolgung aufgenommen hatte.
Sie weinten und flehten und streckten die Hände aus um ihre "Gebieterin" zu berühren.

Damien fasste einen Entschluss. Er musste Maeve so schnell wie möglich zu Attius schaffen.

„Bitte Zoe, du musst uns holen! Schnell!!! Ecke 23. Straße!“, flehte er seine Schwester in Gedanken an.

Damien rannte weiter und wiederholte seine Gedanken wieder und wieder.

Endlich schoss Zoes silberner "Hummer" um die Ecke.

„Steig ein!“, schrie Damien und riss die Hintertür des Wagens auf. Maeve folgte ihm verängstigt und sprang ins Auto.

Damien schwang sich auf den Beifahrersitz und schon rasten sie los.

„Dein Timing ist grauenhaft, ich wollte gerade ein Bad nehmen!", lachte Zoe und gab Gas.
„Notfall“, murmelte Damien und deutete mit seinem Kopf auf den Rücksitz.

„Was hast du jetzt mit ihr vor?“, fragte Zoe und trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf das Lenkrad.

"Ich werde sie in die Villa bringen!"

"Aye aye Sir!" Zoe wendete den Wagen und fuhr los.

Damien drehte sich beunruhigt zu Maeve um. Sie lag auf dem Rücksitz und hielt die Augen geschlossen.

„Maeve!“, flüsterte er und berührte vorsichtig ihr Bein. Ein elektrisches Zucken durchfuhr seine Finger, doch sie war nicht mehr bei Bewusstsein.

"Mach dir keine Sorgen!“
Zoe lächelte vom Fahrersitz zu ihm herüber.
„Bei dir war es genauso, erinnerst du dich noch?“

Damien nickte. Er konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie er wochenlang von elektrischen Krämpfen geschüttelt worden war.
Es war der Horror gewesen. Wie oft hatte er seine mutierten Gene und seine Fähigkeiten zum Teufel gewünscht.

Die Fahrt kam ihm ewig vor, doch irgendwann bog der Wagen ENDLICH in die Auffahrt zu Attius' Grundstück ein. Langsam fuhren sie den geschlängelten Pfad zwischen den Bäumen hinauf und erreichten eine große, silberne Pforte.

„Öffnen, wir sind’s!“, sendete Damien einen Gedanken an Janosch den Pförtner und freute sich, dass sie dank seiner Fähigkeiten nicht mal die Fensterscheibe hinunter lassen und in die Sprechanlage sprechen mussten.

Das Tor glitt zur Seite und Zoe parkte den Hummer neben den anderen Wagen.
Attius' riesige Villa lag eingekuschelt zwischen hohen Bäumen am Fuße eines Berghangs.

Hinter dem Haus erstreckte sich eine mächtige Parkanlage. Vor dem Haus gab es einen Platz, der mit weißem Kies bedeckt war und von wunderschönen Hecken und bunten Blumenbeeten gesäumt war.
Damien hob Maeve aus dem Wagen und trug sie zum Zentrum des Platzes. Dort befand sich ein runder marmorner Springbrunnen.
Damien tastete nach einer Vertiefung am Innenrand des Wasserbeckens und fand sie. Er betätigte einen Knopf, der darin verborgen lag und der Springbrunnen hob sich wie von Geisterhand ein Stück und schwenkte zur Seite.
Er gab den Blick auf eine breite, silberne Treppe frei, die in die Tiefe führte.

Langsam machten sie sich auf den Weg nach unten.

 

Kapitel 7



Als ich erwachte dröhnte mein Kopf und ich fühlte mich, als hätte ich den schlimmsten Kater meines Lebens. Vor meinen Augen flimmerten kleine Lichter, die in dicke, zähe Nebelschwaden eingehüllt waren.
Ich blinzelte und der dunkle Schleier begann sich nach und nach zu lösen. Wo zur Hölle bin ich?



Langsam richtete ich mich auf und blickte mich um.
Ich lag in einem riesigen, silbernen Bett, dass sich in der Mitte eines fensterlosen Raumes mit niedrigen Decken befand.
Die Dunkelheit wurde vom Licht brennender Fackeln erhellt, die an den kargen Wänden angebracht waren.

Auch ansonsten war der Raum nur spärlich eingerichtet. Bis auf einen kleinen, schnörkeligen Beistelltisch gab es nicht viel zu sehen, doch anstatt unheimlich zu wirken, strahlte dies alles schlichte Eleganz aus.

Mit einem Seitenblick stellte ich fest, dass jemand meine Schuhe und meinen Rucksack fein säuberlich neben dem Bett aufgestellt hatte.
Es gab eine eiserne Tür, die verschlossen war und einen weißen flauschigen Teppich über den ich mit meinen nackten Füssen strich. Auf dem Tisch lagen ein Bündel weißer Kleidung und ein eilig gekritzelter Brief.

Ich hob ihn auf und überflog die krakeligen Zeilen:

Hey, Schlafmütze!
Wenn du willst, dass ich dich hole, dann denk ganz fest an mich. Vorher solltest du aber den Anzug anziehen, den ich für dich rausgesucht habe. Er ist vielleicht nicht besonders ansprechend, aber er reguliert deine Körpertemperatur und hilft gegen die Hitzewallungen =).
P.S. Du brauchst keine Angst zu haben! Alles wird gut.
Damien

 


Keine Angst haben??? Der hat gut reden!!!!!



Langsam kehrten meine Erinnerungen zurück. Ich zählte im Kopf die Ereignisse des bisherigen Tages zusammen und kam zu einem beunruhigenden Ergebnis:

Zuerst war ich aufgewacht und allem Anschein nach über Nacht ein Topmodel geworden.
Dann hatte ich die halbe männliche Belegschaft der Schule in meinen Bann gezogen und war von fremden Menschen auf der Straße belästigt worden, die mich mit „Gebieterin“ angesprochen hatten.
Danach hatte mein Körper angefangen Funken zu sprühen und ich war zusammen geklappt.
Jetzt wachte ich in einem fremden Haus auf und las einen Brief von einem überirdisch gutaussehenden Kerl, der mich in den letzten Tagen verfolgt hatte.

Das alles machte überhaupt keinen Sinn und es kam mir immer noch vor, als wäre alles nur ein wirrer Traum, aus dem ich HOFFENTLICH bald erwachen würde.

Widerwillig ergriff ich die Kleidung, die auf dem Nachttisch lag und hielt sie mit ausgestreckten Armen vor mich.

Holla die Waldfee!


Leise pfiff ich durch die Zähne. Bei dem weißen Bündel handelte es sich um einen silberweißen Nylonanzug, der an einigen Stellen absichtlich Löcher hatte, sodass er sich wie ein Netz um die Haut legte.
Ich brauchte nur einen kurzen Blick um festzustellen, dass dieser Fummel hauteng anliegen würde.

DAS soll ich anziehen? Das sieht ja aus wie ein Gymnastikanzug...nur nuttiger...



In dem Teil hätte ich gut und gerne in einem dieser billigen "Sexy-Sportclips" mitspielen können,die nachts über alle Kanäle geisterten.
Die, in denen sich Frauen mit falschen Brüsten und blonden Extensions auf dem Golfplatz räkelten.
Ich schauderte.
Dennoch schmiegte sich der Stoff so samtweich und federleicht an meine Finger, dass ich schließlich seufzend aus meinen Klamotten stieg und in den weißen Einteiler hinein schlüpfte.

Er passte wie angegossen und fühlte sich großartig auf der Haut an. Die Hitze meines Körpers legte sich zu meiner Überraschung schlagartig und ich fühlte mich sofort wesentlich besser. Im selben Moment erwachte auch mein Fluchtinstinkt.

Ich trat zur Tür und stellte fest, dass sie keine Klinke hatte. Es gab auch weder Knöpfe noch Griffe. Ich war gefangen! Verzweifelt begann ich mit den Fäusten an die eiserne Tür zu trommeln, doch nichts geschah.

Plötzlich fielen mir Damiens Worte wieder ein: Wenn du willst, dass ich dich hole, dann denk ganz fest an mich.



Was hatte das nun wieder zu bedeuten?

"Na schön, du Scherzkeks, lass mich hier raus!“, sprach ich mit fester Stimme in Richtung Tür und versuchte die Panik zu unterdrücken, die in mir aufzusteigen begann.

Nichts geschah.
„Damien das ist nicht witzig, mach sofort auf!“, wiederholte ich noch einmal.

Nichts.

Verzweifelt gab ich es auf und ließ mich aufs Bett sinken. Hatte dieser Kerl mich tatsächlich irgendwohin verschleppt?

Du verdammter Scheißkerl, wenn ich dich in die Finger bekomme, dann schlage ich dich zu Brei!



Diesen Gedanken hatte ich kaum zu Ende gedacht, da öffnete sich die Tür und Damien erschien, ebenfalls in einem weißen Trainingsanzug, und lächelte mich an.

Seine Locken standen wild vom Kopf ab, was seinem Aussehen etwas Verwegenes gab und wieder spürte ich dieses Ziehen in der Magengegend.

Wütend fegte ich den Gedanken weg, wie eine lästige Fliege und bemühte mich, ihn halbwegs mürrisch anzublicken.

"Das wurde aber auch Zeit!"

„Warum denn gleich so zitronig?“, fragte Damien lachend und hielt mir die Tür auf.

„Heraus spaziert, junge Dame!“ Er machte höflich nickend einen Schritt zur Seite.

Ich erhob mich zögerlich und bewegete mich langsam auf ihn zu, ohne seinen Blick los zu lassen. Als ich an Damien vorbei ging bemerkte ich, wie seine Augen bewundernd an mir hinab glitten.

Sein unverhohlenes Interesse verunsicherte mich. Beschämt verschränkte ich die Arme vor der Brust und trat an ihm vorbei über die Türschwelle.

Ich fand mich auf einem langen Gang, der so grell beleuchtet war, dass meine Augen davon schmerzten.

Die Wände waren mit silbern eingefassten Bildern behangen, die allesamt Portraits, wunderschöner Menschen zeigten, welche mit ihren leuchtenden Augen auf mich hinunter blickten und freundlich lächelten.
Bild reihte sich an Bild und der Gang schien kein Ende zu nehmen, während Damien, der meinen Arm ergriffen hatte, mich hinter sich her zog.

Vor einem der letzten Bilder blieb ich stehen.

Es zeigte Damien in einem schicken Anzug, doch dann erweckte etwas anderes meine Aufmerksamkeit:

Es hingen noch zwei weitere Bilderrahmen an der Wand. Was mir an ihnen ins Auge gesprungen war, war die Tatsache, dass diese beiden Rahmen völlig leer waren!

Damien, der die ganze Zeit schweigend neben mir her gegangen war, sah mich an und tippte lächelnd auf einen der freien Rahmen.

"Wenn du lieb bist, wirst du hier auch bald hängen“, flüsterte er geheimnisvoll.

„Und wenn ich das gar nicht will? Als ob ich auch nur ansatzweise Interesse hätte, eurer komischen Sekte beizutreten“,fauchte ich zurück.

Von wegen, soweit kommt's noch! Erst mal werde ich dich wegen Entführung einbuchten lassen!



„Ganz wie du willst“, antwortete Damien, doch sein Blick wirkte plötzlich traurig.

„Du hast natürlich die Wahl, ob du alleine bleibst, dich UNS anschließt, oder für SIE arbeiten willst."
Sein Blick hing gedankenversunken an dem leeren Bilderrahmen, während er fortfuhr: „Jeder hat die Wahl. Ich werde dich nicht zwingen.“

Plötzlich schien er sich zu besinnen, weshalb er mich hergebracht hatte und er setzte sich zügig in Bewegung, den Rest des Ganges entlang.
Eilig lief ich hinter ihm her. Es ging leicht bergab und plötzlich machte der Gang eine Kurve, welche in eine fensterlose Halle mündete.

Zahlreiche eiserne Türen erstreckten sich an den Wänden links und rechts von mir, doch nichts war mit einem normalen Haus zu vergleichen.

Alles glänzte weiß oder silbrig und es gab keinerlei natürliches Licht, nur grell leuchtende Deckenfluter.
Langsam begriff ich, dass wir uns irgendwo unter der Erde befinden mussten!

Ich versperrte Damien den Weg, packte ihn an beiden Schultern und schüttelte ihn.

"Wer ist "uns" und wen meinst du mit "sie"? Und WO ZUM TEUFEL HAST DU MICH HINGEBRACHT?"

Als ich seinen Blick auffing, entdeckte zu meiner Verärgerung einen Hauch Belustigung darin.
Ehe ich meine Fäuste erheben und auf ihn einprügeln konnte, hatte er scheinbar eingesehen, dass mit mir unter den gegebenen Umständen überhaupt nicht zu spaßen war, daher bemühte er sich, mich zu beschwichtigen, indem er mir unbeholfen den Arm tätschelte.

„Ich verspreche dir, du wirst alles erfahren, sobald du etwas gegessen hast. Dein Magen hat nämlich geknurrt wie eine Wildkatze, als ich dich ins Bett getragen hab. Und du solltest vielleicht besser sitzen, sonst brichst du mir noch ein zweites Mal zusammen!“

Er grinste schief und nahm meine Hand, ehe ich protestieren konnte.


Kurz darauf blieb er mit mir im Schlepptau vor einer der Türen stehen und betätigte mit der freien Hand einen goldenen Knopf, welcher daneben in die Wand eingelassen war.

Kapitel 8



Wir betraten einen großen Saal, von dessen Decke ein wuchtiger, gläserner Kronleuchter hing. Der Boden war mit weißem Marmor bedeckt und überall auf dem Boden und auf kleinen Tischlein standen unzählige Vasen mit exotischen Blumen herum, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte.

In den Ecken des Saals waren weißgepolsterte Sofas aufgestellt und die Wände waren mit wunderschönen, bunten Ornamenten verziert, die neben den Blumen den einzigen Farbklecks im gesamten Raum darstellten.

"Weiß scheint wohl das neue BUNT zu sein", sagte ich spöttisch.

"Attius mag es eben schlicht", gab Damien ironisch zurück und führte mich in die Mitte des Saals.

Dort stand ein gewaltiger, ovaler Tisch aus Glas, um den silberne Stühle aufgestellt waren.
Der gesamte Raum wirkte, als wäre er direkt einer "Modern-living-Zeitschrift" entsprungen und nicht, als würde Damien hierher gelegentlich wehrlose Mädchen verschleppen. Diese Schlussfolgerung beruhigte mich ein wenig.

Zu meiner Überraschung, war der Tisch mit zahlreichen Schalen und Schüsselchen gedeckt, aus denen es verführerisch dampfte.

Zumindest behandelte man Geiseln hier gastfreundlich!

Damien führte mich zum Tisch und nicke mir aufmunternd  zu: "Setz' dich!"

"Du hast eben von einem Attius gesprochen...Wer zur Hölle ist Attius? Dein Vater? Und wieso lebt er unter der Erde?", fragte ich und nahm zögerlich neben Damien Platz.

"Attius ist ein guter Freund von mir und im Übrigen lebt er nicht HIER, sondern in einer Villa über der Erde.
Das hier ist unser Geheimversteck."

Ich hob die Brauen, doch ehe ich etwas erwidern konnte, sprach Damien bereits munter weiter.

Mach' dir keine Sorgen, ich hab dich nur hierher gebracht, weil du auf der Straße fast zusammen geklappt wärst und ich konnte dich schließlich nicht in DEM Zustand zurück lassen."

Schnaubend starrte ich ihn an.

Dieser Typ tat gerade so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, ein Geheimversteck unter der Erde zu haben, dass mit millionenschweren Möbeln ausgestattet war, während er mir höflich den Stuhl zurecht rückte.


Er war schon süß. Verdammt süß sogar.

Ich beäugte ihn misstrauisch, als er mir einen Teller mit dampfendem Reis und Gemüse füllte und sich dann neben mich auf den Stuhl fallen ließ.
Von wegen keine Sorgen...Wäre ich nicht so hungrig, würde ich dir jetzt erstmal die Meinung geigen Freundchen!



"Magst du Hähnchencurry?", fragte Damien fast schon familiär und schob mir eine Schale rüber.
Ich nickte stumm. Damien gab mir etwas von dem Hähnchen, goss Wasser aus einer gläsernen Karaffe in mein Glas und schaufelte sich dann selbst den Teller voll.
Schweigend begannen wir zu essen.

Kannst du mir jetzt bitte sagen, was hier los ist??? Ich spucke dir gleich eine Ladung Reis ins Gesicht und dann bin ich hier raus, ehe du auch nur mit den Wimpern klimperst.



Damien musterte mich nachdenklich kauend und schien ebenfalls zu dem Entschluss gekommen zu sein, dass er mich ohne eine Erklärung nicht länger hier würde festhalten können.

Endlich sagte er etwas:

"Es tut mir echt leid, dass ich dich ohne deine Erlaubnis hierher gebracht habe. Ich kann verstehen, dass die ganzen Ereignisse der letzten Stunden für dich gerade keinen Sinn ergeben und ich hätte mir nichts mehr gewünscht, als dir alles in Ruhe zu erklären, aber deine Kräfte kamen so schnell und stark, dass ich improvisieren musste."

Entschuldigend sah er mich an.

"Meine...was?" Ungläubig zog ich die Augenbrauen hoch.

"Deine Kräfte", wiederholte er und sah mich durchdringend an.

"Maeve, seit heute bist du eine Mutantin."

...Stille...

Damien wartete gespannt, wie ich diese Worte aufnehmen würde.

Ich musste mich zusammen reißen, nicht laut los zu prusten.

Jetzt macht das Weiß um mich herum einen Sinn...ich bin in einer Edel-Klappsmühle gelandet und Damien muss einer der Insassen sein...Ich muss hier schleunigst raus, sonst trage ich bald ebenfalls ein weißes Jäckchen!



"Mutantin?????Das soll doch wohl n' schlechter Scherz sein?", gluckste ich und hoffte, Damien würde im nächsten Augenblick in schallendes Gelächter ausbrechen, doch er schwieg und seine Miene blieb unverändert ernst.

Im selben Moment durchfuhr erneut eine Welle Energie meine Adern und ein weißblaues Licht zischte -diesmal deutlich sichtbar- aus meinen Fingern. Ich stieß einen erstickten Schrei aus und ließ die Gabel fallen.

"Du meinst, die Funken und der ganze Rest passieren mit mir, weil ich eine MUTANTIN bin?", fragte ich entsetzt und deutete mit dem Kopf auf die kleinen Funken, die aus meinen Händen austraten.

Damien nickte.
Fassungslos starrte ich auf meine zitternden Finger. Das Licht verschwand mit leisem Knistern.

Damien fuhr fort: "Es gibt nicht viele Menschen, die sind wie wir- Mutanten meine ich.
Die Chancen, dass es zu einer genetischen Mutation kommt, liegen bei etwa 1:1000.000.
Trotzdem geschieht es...und bei dir geschieht es genau jetzt.
Sind dir heute im Verlauf des Tages nicht einige merkwürdige Dinge passiert, die du dir nicht erklären konntest?"

Meine Wut war mittlerweile der absoluten Fassungslosigkeit gewichen und so sehr ich mich auch dagegen wehrte....Ich hatte die Funken mit eigenen Augen gesehen und sie gespürt.

"Maeve, sei ehrlich, du hast es doch gemerkt, oder nicht?" Seine Stimme holte mich zurück in diesen verrückten, völlig abgedrehten Film, der gerade vor meinen Augen abzulaufen schien.

"Och, bis auf die Hitzewallungen, die Stromstöße, meinen Geruch und die komischen Reaktionen der Menschen auf mich, war eigentlich alles wie immer", murmelte ich kleinlaut.


Damien schnalzte missbilligend mit der Zunge. Scheinbar war es für ihn nicht nachvollziehbar, dass mir das Ganze absolut lächerlich und unglaubwürdig erschien. Er trank einen tiefen Schluck aus seinem Wasserglas, knallte es dann etwas unsanft auf die Tischplatte und begann zu sprechen:

"Ich werde dir jetzt ein paar Dinge erklären und bitte dich, mir erst zuzuhören, ehe du ausflippst, davonläufst, oder irgendeine andere Dummheit anstellst, ok? Wenn ein Mensch zum Mutanten wird, dann macht er eine Verwandlung durch -ähnlich der Pubertät.
Sein komplettes System ändert sich und es kommt zu verschiedenen Entwicklungsschüben.
Wir Mutanten nennen das den Turn.
Wann der Turn zum Mutanten beginnt kann variieren, aber ansonsten sind die Begleiterscheinungen die gleichen: Stromstöße, Hitzewallungen, Blitze.
Für die meisten Mutanten ist es die Hölle. Die Symptome kommen und gehen und man kann nichts dagegen tun -fast nichts."

"Turn", wiederholte ich tonlos und kämpfte gegen die Übelkeit an, die in mir hoch stieg.

"Turn bedeutet Umkehr oder Drehung", fuhr Damien fort.

"Dein genetischer Fingerabdruck ändert sich bzw. wird teilweise umgeschrieben und das hat weiterhin zur Folge, dass du ab sofort über außergewöhnliche Fähigkeiten verfügst."

Er machte eine Pause und hob die Augenbrauen.

Meine Gedanken überschlugen sich. Konnte ich seinen Worten Glauben schenken, oder war das alles bloß ausgemachter Schwachsinn?

Mutationen kannte ich noch vage aus dem Biologieunterricht und meines Erachtens hatten sie immer etwas mit Krankheiten zu tun gehabt.
Ängstlich musterte ich meine Finger und stellte erleichtert fest, dass es immer noch zehn waren.
Auch Damien sah in keinster Weise deformiert aus -im Gegenteil, er war geradezu überirdisch makellos, zumindest für meinen Geschmack, aber Fähigkeiten? Das hier war immerhin die Realität und nicht irgendein stumpfsinniger Actionfilm!

"Und was sollen das bitte für Fähigkeiten sein? Bin ich von einem auf den anderen Moment zu einer Funken sprühenden Gebieterin mutiert?", fragte ich spöttisch.

Ungläubig starrte ich zurück.

"So...in...etwa...ja...", murmelte Damien und lief rot an.

"Es scheint irgendwas mit der Energie zu tun zu haben, die du aussendest. Vielleicht ein Duftstoff, der die Menschen um dich herum in einen Rauschzustand versetzt. In der Tierwelt gibt es sowas auch. Viele Tiere und auch Pflanzen benutzen Düfte, um ihre Beute anzulocken, oder g-e-f-ü-g-i-g zu machen."

Er dehnte das Wort bewusst und sah mir fest in die Augen. Dann brach seine Stimme plötzlich ab und er starrte verlegen auf seinen Teller.

Ein besonderer Lockstoff??? Die Sache klang zum Schreien, doch sie würde zumindest erklären, weshalb Mr. Peterson, der mich eigentlich nicht leiden konnte, mich anscheinend plötzlich zu seiner Lieblingsschülerin auserkoren hatte.

Nachdenklich stocherte ich in meinem Reis.

Vielleicht hatte ich ihn unbewusst manipuliert nicht sauer zu sein, ohne dass ich dies hatte aussprechen müssen, doch irgendwie passte das alles noch nicht zusammen.

Ich dachte eine Weile  über die Geschehnisse des bisherigen Tages nach und fragte dann:

"Okay, nehmen wir mal an, du sagst die Wahrheit...Wieso habe ich diese fremden Menschen  dann so wahnsinnig gemacht? Das war überhaupt nicht beabsichtigt, ich kannte sie ja nicht einmal. Die sind doch regelrecht durchgedreht! Ich dachte ehrlich gesagt, die seien geistig nicht mehr ganz auf der Höhe!"

Vorsichtig lächelte ich, doch Damien überging meinen genialen Witz, indem er ernst vor sich hin murmelte:

"Beim ersten Turn waren deine Kräfte wahrscheinlich so stark, dass du sie nicht kontrollieren konntest. Du bist ein Jungmutant und hast dich in keinster Weise im Griff.
Wahrscheinlich sendest du im Moment eines Schubs doppelt oder dreimal so viele Duftstoffe aus wie gewöhnlich, was erklären würde, warum die Menschen auf der Straße so durchgedreht sind, als sie dich gerochen haben.
Sicher kann ich das aber alles nicht sagen, ehe wir dich untersucht haben. Ich bin da auch kein Experte."


Wow, das wird ja immer besser. UNTERSUCHUNGEN? Nein Danke!


Andererseits erschien mir die Vorstellung, dass ich für den Rest meines Lebens von einer Horde Wahnsinniger angebetet werden könnte nicht wirklich besser und WIE sollte ich das Ganze überhaupt meiner Familie beibringen? Kein Mensch würde mir glauben und ich würde am Ende noch in der Irrenanstalt landen und gesetz dem Fall, dass mir DOCH irgendwer glauben würde, so landete ich wahrscheinlich in irgendeinem Versuchslabor. Ich erschauderte und eine Gänsehaut kroch meinen Nacken empor.

Damien schien meine Gedanken erraten zu haben, denn er fuhr eilig fort:
"Keine Sorge, wenn du trainierst, dann kannst du lernen, deine Kräfte zu beherrschen und genau an dieser Stelle komme ich ins Spiel."

Damien sprang vom Stuhl auf, reckte den Kopf und legte feierlich eine Hand auf die Brust.

"Du bist meine erste Schülerin und es ist meine Aufgabe, dich zu beschützen und mit dir zu trainieren, bis du soweit bist. Wenn ich meine Sache gut mache, dann werde ich sogar einen Rang höher steigen!"

Ich hatte zwar keine Ahnung, wovon er sprach, aber Damiens Aufstiegschancen interessierten mich in diesem Moment herzlich wenig.

"Woher zum Teufel wusstest du überhaupt, das mir das alles  passieren würde?", fragte ich matt.

"Komplizierte Berechnungen", antwortete Damien und nahm ein wenig beleidigt wieder Platz.
Für seine Begriffe schien ich eindeutig nicht genügend Begeisterung an den Tag zu legen.

"Wir haben hier einen Mutanten namens Linus, der sozusagen ein Superhirn hat. Er gibt uns Bescheid, wenn es einen neuen Mutanten in der Nähe gibt und dann macht sich einer von uns auf die Suche nach der betreffenden Person."

"Superhirn?" Ich brach in hysterisches Gelächter aus, doch Damien blieb ernst und warf mir einen fast schon strafenden Blick zu, ehe er fortfuhr:

"Lernen, bedeutet biologisch nichts anderes, als dass bestimmte Nervenzellen im Gehirn, die für die jeweilige Handlung zuständig sind, dichter miteinander verzweigt werden, wenn wir eine Sache häufiger tun. Bei Linus bilden sich diese Verschaltungen im Gehirn viel schneller aus, als bei normalen Menschen."

Mit den Fingern zeichnete Damien Gänsefüßchen um das Wort normal.

"Er kann beispielsweise eine neue Sprache in wenigen Minuten lernen, weil sein Gehirn seit der Mutation schneller und besser arbeitet, als bei einem gewöhnlichen oder einem hochbegabten Menschen. Er scheint irgendwie Zugriff auf Hirnareale zu haben, die andere Menschen nicht haben"

Mir dröhnte der Kopf.
Um Zeit zu schinden widmete ich mich wieder meinem Reis, doch leider war mir der Appetit vergangen.
Damien schien davon nichts zu bemerken und plapperte munter auf mich ein.

"Linus ermittelt für uns, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Mutation WANN und bei WEM auftritt, aber wie er das im Einzelnen macht, weiß ich nicht. Das fragst du ihn besser selbst."

Und ob ich das würde. Nur weil dieser Kerl gut aussah brauchte ich ihm noch lange nicht jeden Scheiss zu glauben, den er erzählte. Diese Lektion hatte ich über Männer schon früh genug gelernt. Dennoch machten seine Erklärungen bis jetzt Sinn.

"Du hast es also gewusst? Hast du mich deshalb die ganze Zeit verfolgt?", fragte ich atemlos.

"Ich sollte natürlich erstmal bestätigen, ob wir überhaupt die Richtige haben und als ich mir sicher war, sollte ich immer in der Nähe bleiben, falls der Turn einsetzt."

"Wie konntest du denn wissen, dass ich die RICHTIGE bin?"

"Weil ich ebenfalls ein Mutant bin und somit AUCH über ein paar ganz nette Fähigkeiten verfüge."

Er lächelte selbstgefällig und machte eine bedeutungsvolle Pause.

"Die da wären?", fragte ich leicht beunruhigt.

Ich hatte keine Lust, dass er mich wohlmöglich in Flammen aufgehen lassen würde, wenn ich nicht parierte.

"Ich kann andere Mutanten spüren, wenn sie in der Nähe sind. Du warst zwar noch nicht vollends verwandelt, aber es hatte schon begonnen."

Ich schob den Teller von mir weg. Mir war übel. Das alles kam mir so absurd und gleichzeitig logisch vor, dass ich das Gefühl hatte, gleich durchzudrehen.

In jedem Film wäre jetzt wahrscheinlich die Szene gekommen, in der ich ungläubig davonlaufen oder mich mit Händen und Füßen gegen das Gesagte wehren würde, doch ich war zu schwach und zu verstört, um in irgendeiner Art und Weise zu reagieren.

Gleichzeitig wollte ich um jeden Preis glauben, dass Damien mir die Wahrheit sagte, denn das alles klang wahnsinnig aufregend und war endlich mal eine willkommene Abwechslung zu meinem ansonsten stinklangweiligen Leben.

Kurzerhand beschloss ich, die Sache so gefasst aufzunehmen, wie in Anbetracht der Gesamtsituation möglich war.
-Man bekam schließlich nicht alle Tage eröffnet, dass man ab sofort über Superkräfte verfügte.

Schweigend starrte ich auf meinen Teller. Der Gedanke, mit Damien hier unten fest zu sitzen, machte mich immernoch ziemlich nervös.

"Wie wär’s, wenn ich dich jetzt unserem Anführer vorstelle? Dann weißt du wenigstens, dass dir hier niemand etwas tun möchte!", schlug Damien sofort vor und lächelte beschwichtigend.

"Kannst du etwa auch Gedanken lesen?", fragte ich mehr zum Scherz, doch als ich seinen entschuldigenden Blick sah, durchfuhr mich ein eisiger Schreck.

"Nein! Du kannst es wirklich, nicht wahr?"

Entsetzt sprang ich auf.

"Ich will nach Hause. Sofort!"

Mir fielen die unanständigen Gedanken ein, die ich seinetwegen gehabt hatte und wenn er das alles gehört hatte, dann wollte ich auf der Stelle im Erdboden versinken.

"Nicht direkt", murmelte Damien.

Seine feingliedrigen Finger strichen nervös
über eine Serviette.

Als Damien registrierte, dass mich seine Worte keineswegs beruhigten, beeilte er sich hinzuzufügen:

"Ich spüre zwar die Gegenwart eines Mutanten und ich kann ihm tatsächlich durch Telepathie Botschaften schicken, aber ich kann nicht einfach in sein Gehirn eindringen, um seine Gedanken zu lesen.Dafür sind meine Kräfte noch zu schwach."

"Na, DAS beruhigt mich ungemein!", zischte ich wütend und verschränkte die Arme vor der Brust.

Langsam aber sicher riss mir der Geduldsfaden. Mutant hin oder her, niemand hatte das Recht, mich irgendwohin zu verschleppen und erst recht nicht, meine Gedanken zu lesen!
Damien verzog verzweifelt das Gesicht.

"Maeve, versteh' doch! Ich kann nur in den Geist eines anderen Mutanten eindringen, wenn dieser es auch zulässt. Das bedeutet, dass ich deine Gedanken nur in Situationen lesen kann, in denen du sie bewusst an mich richtest, nicht wenn du es nicht möchtest, also kein Grund zur Sorge!"

Wütend starrte ich ihn an und kaute auf der Innenseite meiner Wange.

"Eigentlich ist das wirklich ein Jammer! Ich wüsste zu gern, was sich gerade in diesem hübschen Köpfchen abspielt!"

Er grinste und tippte mir mit dem Zeigefinger an die Stirn.

"ARSCHLOCH. Wo hast du mich hier bloß reingeritten?", dachte ich klar und deutlich und funkelte ihn wütend an.

"Ich muss doch sehr bitten! Wer wird denn gleich kratzbürstig zu seinem Retter werden?", fragte Damien vorwurfsvoll.

Trübseelig musterte er seine perfekt gefeilten Fingernägel.

Es funktionierte wirklich! Er hörte meine Gedanken wenn ich sie an ihn richtete!

Wütend beschloss ich, mich in Zukunft trotzdem besser darauf zu konzentrieren, woran ich in seiner Gegenwart dachte. Nur zur Sicherheit!

Plötzlich kam mir eine wagemutige Idee...
Wenn ER seine Kräfte im Umgang mit mir benutzen konnte, konnte ich es dann umgekehrt auch?

Immerhin war ich jetzt eine waschechte Mutantin. Wenn Damien also die Wahrheit gesagt hatte, dann konnte ich ihn auf der Stelle mit meinem Geruch um den Verstand bringen!
Wer sollte es mir verdenken, dass ich mich von der Wahrheit seiner Worte überzeugen wollte?

Mit einem unschuldigen Augenaufschlag sah ihn an und lächelte so süß ich konnte.

"Und ich??? Kann ich dich mit meinen Kräften dazu bringen, die verrücktesten Dinge zu tun?"

Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann.
Damiens Gesicht nahm einen seltsamen Ausdruck an. Erstaunt hob er die Augenbrauen und ich bemerkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

"Maeve, was hast du vor?", stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Die Adern auf seiner Stirn schwollen an und ich sah, dass er sichtlich nervös wurde.

Ganz langsam ging ich auf ihn zu und blickte ihm fest in die Augen. Sie waren so grün. Schrecklich grün, mit kleinen goldenen Sprenkeln. Ich sah seine Lippen und mein Herz schlug auf einmal wie verrückt.

"Na, kannst du mir widerstehen?", fragte ich so verführerisch ich konnte und überlegte, ob ich ihm vielleicht auch einreden konnte, dass er ein Frosch sei und ihn quakend durch den Saal hopsen lassen sollte.
Schon spürte ich eine unsichtbare Energie in mir anschwellen, die mit jedem Pulsschlag aus mir austrat. Es funktionierte! Ich konnte es spüren! Bereits nach wenigen Sekunden war der ganze Raum mit meinem süßlichen Duft erfüllt und ich bemerkte zufrieden, dass Damien sich entsetzt die Nase zuhielt.

Mein Hirn schien sich allerdings im selben Moment freundlich zu verabschieden, denn anstatt Damien in einen Frosch zu verwandeln, ging ich einfach auf ihn zu und fühlte mich plötzlich selbst wie hypnotisiert.

Von irgendwoher meldete sich mein letzter Funken Verstand:

Maeve, was tust du da??? Herrgott, du wolltest  ihn manipulieren, nicht über ihn herfallen!!!!



Damien rührte sich keinen Zentimeter, sondern sah mich nur mit weit aufgerissenen Augen an.

Jetzt war er ganz nah und ich hörte und spürte zum ersten Mal seine Stimme tief in mir erzittern: "Bitte Maeve, du bringst mich um den Verstand!"

Ich war nun so dicht vor ihm, dass ich die Wärme seines Atems und das rasende Pochen seines Herzens spüren konnte. Damien bewegte sich nicht, doch seine Augen zogen mich zu ihm hin, als hinge ich an unsichtbaren Fäden.

Ich hatte ihn fast erreicht. Gleich würde ich die verlockende Süße seines Mundes schmecken.
Langsam schloss ich die Augen und meine Lippen machten sich daran, die letzten Zentimeter zwischen uns zu überbrücken, da klirrte es plötzlich mehrere Male so laut, dass wir erschrocken auseinander stoben.

Jemand hatte eindeutig gegen ein leeres Glas gehauen!
Mein Herz schlug wild und meine Haare standen zu Berge wie bei einem Stachelschwein.

„Ich störe eure kleine Kennenlernrunde ja nur äußerst ungern, aber Attius würde gerne mit euch sprechen!“, ertönte eine glockenhelle Stimme, die mich herumfahren ließ.

Direkt hinter Damien und mir stand, bewaffnet mit Glas und Silberlöffel, eine junge Frau, die so atemberaubend schön war, dass ich ihren Anblick kaum ertragen konnte.

Jetzt wo ich sie beide direkt nebeneinander stehen sah, war unschwer zu erkennen, dass sie Damiens Schwester sein musste: Braune Locken,die mit goldenen Strähnen durchzogen waren, ebenfalls grüne Augen und die gleiche goldbraune Haut.

Sie war groß, gertenschlank und trug einen blauen Satinoverall mit langen Schleppen an den Ärmeln, neben dem ich mir in meinem weißen Einteiler wie eine Presswurst vorkam.

Wie konnten wir sie nicht bemerkt haben!?!

Großartig Maeve! Es geht doch nichts über einen guten ersten Eindruck!



Am Liebsten wäre ich im Erdboden versunken.

Die schöne Unbekannte schien meine Scham zu bemerken, denn sie kam mit federnden Schritten um den Tisch und streckte mir warmherzig ihre Hand entgegen.

„Ich bin Zoe! Meinen Bruder kennst du ja schon!“

Sie zwinkerte mir spitzbübisch zu während ich verlegen eine Locke um den Finger drehte und mich an irgendeinen anderen Ort auf dieser Erde wünschte. Da dies trotz größter Bemühungen nicht möglich war, entschied ich mich dann doch für die Flucht nach vorn und hob schüchtern meine Hand.

„Hallo, ich bin Maeve!“, murmelte  ich und fügte in Gedanken hinzu: „Jungmutantin und Flittchen….“



Wir reichten einander die Hand und Zoe tat, als bemerkte sie nicht, dass ich ihr dabei versehentlich einen kleinen Stromschlag verpasste, denn sie wendete sich sogleich mit gespielt- erbostem Gesichtsausdruck ihrem Bruder zu: “Also wirklich Bruderherz, ich denke nicht, dass die wunderhübsche Lady hier, Unterricht in dieser Art von Dingen benötigt! Für SOWAS habt ihr sicher noch ein andermal Zeit!“

Damiens Gesichtsfarbe näherte sich zunehmend der Farbe einer überreifen Tomate. Verlegen starrte er auf seine Füße und schwieg.

Zoe wandte sich wieder an mich:

„Nimm dich vor ihm in Acht, er ist ein Weiberheld!Und jetzt Abmarsch, Attius erwartet dich schon!“

Lachend klatschte sie in die Hände, drehte sich um und verließ den Saal, mit so rauschenden Bewegungen, dass die Schleppen ihres Anzugs wallend hinter ihr her wehten.
Betretenen Blickes folgten wir ihr durch das Labyrinth von Gängen.

Nach einer Weile wagte ich es, Damien, der neben mir her trottete, einen verstohlenen Blick zuzuwerfen.

Er schämte sich noch immer in Grund und Boden und starrte mit roten Ohren auf die Erde, was bewirkte, dass ich mir nur noch erbärmlicher vorkam.

Hallo??? Nun guck' mal nicht so betreten aus der Wäsche!!!!Ich habe mich DIR aufgedrängt. Was soll ich denn sagen?



In diesem Moment schwor ich mir bei meiner weiblichen Ehre, nie wieder zu versuchen, ihn zu küssen - zumindest vorerst.
Eher soll dich der Teufel holen, Maeve Crow!



Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als Zoe mir sanft die Hand auf die Schulter legte und mir zuflüsterte: „Ok. Ihr seid jetzt da. Hab keine Angst Maeve, Attius ist einer der großherzigsten und wunderbarsten Mutanten, die ich kenne...Wir sehn' uns sicher die Tage!“

Mit diesen Worten schob sie mich und Damien durch eine große, geflügelte Tür und verschwand.

Das Erste, was ich spürte, war die enorme Luftfeuchtigkeit, die mir so dampfend und warm entgegen schlug, dass ich kaum atmen konnte.


Wir befanden uns in einer Art Gewächshaus, in dem es vor exotischen Pflanzen, Insekten, Reptilien und Vögeln nur so wimmelte. Große, azurblaue Schmetterlinge flatterten an der Decke und kleine, gelbgefleckte Pfeilgiftfrösche kletterten quakend zwischen den Blättern riesiger Bromelien umher.

Abgefahren! Das ist ja der reinste Zoo hier!



Mal ganz abgesehen von der Tatsache, dass es für Mutanten scheinbar ganz normal war, kleine Regenwälder unter der Erde wachsen zu lassen, obwohl es kein Sonnenlicht gab, wurde ich plötzlich ziemlich nervös. Attius war also der Anführer der Mutanten. Was er wohl für Fähigketen haben mochte? Unbewusst stellte ich ihn mir als ein zweiköpfiges Ungetüm vor.

Ehrfürchtig wanderte ich hinter Damien durch das dichte Dickicht von Schlingpflanzen und Getier und da erblickte ich Attius, der mit dem Rücken zu uns auf einer kleinen Bambusbrücke stand.


Mit Schrecken erfasste ich seine enorme Körpergröße, die mit etwa 2 Metern jeden mir bekannten Menschen überragte. Versonnen kraulte er einen grünen Kakadu, der auf einem Ast saß und zärtlich an seiner Hand knabberte. Ansonsten wirkte er ganz normal, wie ich erleichtert feststellte.

Er trug kurze, beige Shorts und ein weißes Hemd, unter dessen Stoff sich die Muskeln eines Athleten abzeichneten.

Als wir auf die Brücke traten, drehte er sich zu mir um.

Auch seine Vorderansicht verschlug mir die Sprache, jedoch im positiven Sinne.
Er hatte strohblondes, kurzgeschorenes Haar, war braungebrannt und besaß, genau wie Zoe und Damien, so strahlende Augen, dass mir vom Hingucken allein eine Spur schwindelig wurde.

Ok... leuchtende Augen scheinen ein Markenzeichen von Mutanten zu sein...genau wie ihre atemberaubende Schönheit....



Als Attius mich erblickte, trat ein warmes Lächeln auf sein Gesicht.

Mit ausgebreiten Armen schritt er auf uns zu und umarmte erst Damien und dann mich so fest, als wäre ich eine alte Bekannte. Komischerweise machte es mir nichts aus, sondern gab mir das Gefühl, absolut sicher zu sein.
Ein Mensch, Verzeihung, MUTANT, der so strahlte, konnte einfach keine bösen Absichten haben.

„Wie schön, dass ihr da seid! Begleitet mich doch ein wenig.“ Attius machte eine einladende Geste mit der Hand und drehte sich um.

Wir folgten ihm über die Brücke und erreichten einen kleinen See, an dessen Rand ein herrlicher Wasserfall plätscherte. Dort ließ er sich wie selbstverständlich im Gras nieder.

"Setzt euch!"

Da es keine Sitzgelegenheiten gab, tat ich es ihm gleich.

„Bitte entschuldigt, dass wir uns hier im botanischen Garten treffen, aber ich war in den letzten Tagen so viel auf Reisen, dass ich einfach kaum Zeit hatte, her zu kommen... Es geht doch nichts über ein bisschen Entspannung und Tropenatmosphäre, nicht wahr?“

Ich ließ ein erneutes Mal einen neugierigen Blick umher schweifen und versuchte, die vielfältigen Eindrücke in mich aufzunehmen. Nur schwer konnte ich glauben, was sich vor meinen Augen abspielte. Auch wenn ich mich mit physikalischen Gesetzen nicht überdurchschnittlich gut auskannte, so wusste ich EINES doch sicher: Pflanzen benötigten Sonnenlicht; um zu wachsen, doch wir befanden uns unter der Erde, also wie konnte das sein??? Mein Blick wanderte in Richtung Decke und was ich sah, ließ mich erneut erschaudern: ich konnte zweifellos den Himmel und zwischen den Baumkronen die Sonnenstrahlen erkennen. Wie war das möglich???

"Die perfekte Illusion!", vernahm ich Attius' Stimme, während er mit der Hand über das Gras fuhr, eine kleine Pflanze heraus riss und sie mir vor die Nase hielt, während er sie zwischen den Fingerspitzen drehte.

"Nichts von dem, was du hier siehst existiert wirklich, Maeve. Der Raum ist ein Geschenk einer sehr begabten Freundin von mir. Sie hat ihn eigens für mich entworfen, damit ich einen Rückzugsort habe!"

Damien, der sich neben mich auf den Boden hatte fallen lassen, rückte ein wenig näher und legte seine Hand auf mein Knie. Obwohl ich mich an einem Ort befand, der so bizarr und phantastisch war, dass es mich hätte verrückt machen müssen, gab mir diese Geste Kraft und kribbelte zu allem Überfluss malwieder angenehm in der Magengegend. Unbemerkt fuhr ich mit den Fingerspitzen über den moosigen Grund. Er fühlte sich echt an...Zu echt.

„Also Maeve, ich nehme an, Damien hat sich schon ausreichend mit dir bekannt gemacht und dir erklärt, WAS du bist und warum du hier bist?“

Attius strahlte mich an und fuhr sich mit der Hand über das kurzgeschorene Haar.

Ich nickte und wieder stieg mir die Röte ins Gesicht, als ich daran dachte, WIE GUT wir uns bereits miteinander bekannt gemacht hatten.

Damien schien sich wieder gefangen zu haben, denn er nickte mir zu und grinste bedeutungsvoll.

„Gut Maeve, dann würde ich mich wirklich freuen, wenn du uns in den nächsten Tagen die Ehre erweisen könntest, dich kennenzulernen und uns für ein paar Untersuchungen zur Verfügung stehen würdest? Keine Sorge, wir wollen nur herausfinden, wie deine Kräfte funktionieren und wie wir sie am Besten in den Griff bekommen. Wenn du uns vertraust und dich in unsere Obhut begiebst, werden wir alles Erdenkliche tun, um die Situation für dich so angenehm wie möglich zu gestalten.“

Ich war mir nicht sicher, ob mir der Gedanke gefiel, unter der Erde von einer Horde Mutanten in die Mangel genommen zu werden, allerdings hatte ich zu große Angst, dass ich ohne Damiens und Attius' Hilfe wieder eine Massenhysterie auslösen würde, also nickte ich tapfer.

Was hatte ich auch für eine Wahl? Alleine würde ich mich jedenfalls nicht wieder unter Menschen trauen, solange ich ein wandelnder Blitzableiter war.

"Du brauchst wirklich keine Angst vor uns zu haben, Maeve! Wir helfen dir und sind für dich da, versprochen!

"Habe ich nicht", sagte ich hastig und ließ die Sorgenfalten auf meiner Stirn verschwinden, so gut es ging.
Attius strahlte mich an.
„Das freut mich sehr. Die anderen freuen sich auch schon darauf, dich kennenzulernen, aber dazu haben wir ja alle Zeit der Welt, nicht wahr? Ich denke, dass es erst mal wichtiger ist, dich sicher und ohne Aufsehen zu erregen, wieder nach Hause zu schaffen.“

Heilige Scheiße! Ich hab bei dem ganzen Theater doch tatsächlicn meinen Geburtstag vergessen!


Mittlerweile war es sicher schon früher Abend und Fianna und die anderen warteten bestimmt schon ganz ungeduldig auf mich!
Attius ergriff meine beiden Schultern und sah mich eindringlich an.

"Ich bitte dich im Übrigen inständig, zunächst niemandem von alledem hier zu erzählen, ok? Bitte, Maeve, das ist wirklich äußerst wichtig für unsere und deine Sicherheit. Versuche dich so normal zu verhalten wie es geht und den Rest übernehmen wir."
Ich nickte schwach.
Attius kramte in seiner Hosentasche und holte ein paar gelbe Pillen hervor, die er mir hinhielt.
„Die dürften für die nächsten Tage reichen. Wenn du sie einnimmst, wirken sie in etwa 24 Stunden und unterdrücken die Symptome der Mutation. Linus und ich haben sie vor einiger Zeit entwickelt. Wir wollen doch nicht, dass du wieder Funken in der Öffentlichkeit sprühst.“

Das wollte ich in der Tat nicht.

Dankbar ergriff ich die Pillen und schob sie unauffällig in meinen BH, als Attius mir den Rücken zukehrte und in Richtung Ausgang schritt.
Eine andere Möglichkeit blieb mir nicht, da ich noch immer in der weißen Presswurst steckte und mein Rucksack irgendwo in diesem Geisterhaus herum stand.

Damien, der die ganze Zeit geschwiegen und mich nicht aus den Augen gelassen hatte, blickte erst verwirrt auf meine Finger und sah mit offenem Mund, wie ich die Pillen in meinem Einteiler verschwinden ließ. Er schluckte nervös, dann schüttelte er den Kopf, als wolle er die Erinnerung daran abschütteln.

Er drehte sich abrupt zu Attius um und warf ihm einen flehenden Blick zu.
„Bitte, darf ich Maeve mit deinem Auto zurück fahren, Attius?“

Attius blieb stehen, seufzte und zückte aus der Tasche einen Wagenschlüssel, den er Damien sichtlich ernst in die Hand drückte.

„Bitte Damien, fahr ausnahmsweise wie ein MENSCH!"

Damien nickte grinsend und versenkte den Schlüssel wie einen kostbaren Schatz in seiner Hosentasche.

Wir verabschiedeten uns von Attius und machten uns auf den Rückweg durch das unterirdische Tunnelgewirr. Noch einmal sah ich mich um und betrachtete die Bilder an der Wand, als wir an ihnen vorbei gingen. Der leere Rahmen kam mir plötzlich wie ein Vorbote meiner ungewissen Zukunft vor.  Ich gehörte nicht hierher, war ein ganz normales Mädchen und doch hatte sich bereits jetzt alles verändert.

Irgendwann blieb Damien vor einer der Türen stehen, schlüpfte kurz hinein und kam mit meinem Rucksack samt Klamotten (die mir in dieser Umgebung auf einmal äußerst schmuddelig und unpassend erschienen) wieder heraus.

Schlagartig wurde ich mir der Tatsache bewusst, dass ich ohne Damien niemals hier herausfinden würde.

Bei dem Gedanken an mutierte Unbekannte, die hinter jeder der Türen hätten lauern können, wurde mir mulmig.
Hastig hakte ich mich bei Damien unter. Er warf mir mit seinen glimmenden grünen Augen einen Blick zu, der mir das Blut in den Adern zum Kochen brachte und führte mich mit energischen Schritten Richtung Ausgang.

Wir gingen einen schmalen Gang entlang und erreichten eine Treppe, die nach oben führte. Am Ende des Gangs betätigte Damien einen Knopf und eine Öffnung erschien in der Decke. Als wir hindurch traten war es schon dunkel.

Anhand der Lichter konnte ich erkennen, dass wir uns auf dem Vorplatz einer gigantischen Villa befanden. Mit offenem Mund betrachtete ich den riesigen Springbrunnen, der geräuschlos an seinen alten Platz glitt und erspähte das Dutzend sündhaft-teurer Schlitten am Ende des Parkplatzes. Geld spielte hier keine Rolle, das konnte man deutlich spüren.

„Heiliger Strohsack, womit verdient Attius eigentlich so viel Asche, dass er sich DAS alles leisten kann?“

„Prostitution und Drogenhandel“, antwortete Damien todernst und brach in schallendes Gelächter aus, als er meinen entsetzten Blick sah.

„Sehr witzig!“, murmelte ich ärgerlich.

Elegant sprang Damien durch das offene Dach eines silbernen Cabrios, mit dem er schnittig neben mir anhielt.

Ich kletterte auf den Beifahrersitz und verdrehte genervt die Augen.

Männer und Autos…



Ehe ich mich versah, waren wir schon auf dem Heimweg. Damien betätigte einen Knopf am Radio und begann lautstark zu irgendeinem Rocksong  mitzusingen, während der Wagen über die Straße  brauste.

Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück, ließ den Fahrtwind mein Haar zerzausen und hatte das Gefühl, mich zum ersten Mal an diesem Tag wirklich entspannen zu können. Die Fahrt verging wie im Flug.

Als wir vor Fiannas Haus hielten, sah ich, dass Zach bereits am hellerleuchteten Fenster stand und uns neugierig beäugte.
Das fehlt gerade noch!



Vorsichtshalber stopfte ich mir eine der Pillen in den Mund und machte mich ans Aussteigen. Ich hoffte, sie würden ihre Wirkung schnell entfalten, denn das ganze Geburtstags-Brimborium und Zachs bevorstehendes Verhör reichten mir.

Ich hatte keine große Lust, mich auch noch für zuckende Blitze aus meinen Fingern und dergleichen rechtfertigen zu müssen.

Damien drückte mich eilig zum Abschied und schob mich dann eine Spur zu schnell wieder von sich weg.

„Okay Maeve, wir sehen uns morgen... ich melde mich, versprochen!“

Er sprang auf und half mir, aus dem Wagen zu klettern.

Ich nickte ihm noch einmal kurz zu und ging wie in Trance über die Straße. Gerade, als ich die andere Straßenseite erreichte, ertönte ein langgezogener Pfiff.
Fragend warf ich einen Blick über die Schulter.. Es war Damien, der mich aus dem offenen Verdeck des Cabrios so bezaubernd anlächelte, dass mir schon wieder die Knie weich wurden.

„Was denn noch?“ fragte ich mit gespielt genervter Stimme.

„Happy Birthday, Kleines!“ Dann brauste er mit quietschenden Reifen davon.

Mein Herz rutschte mit einem anmutigen Salto in die Hose....Spätestens jetzt musste ich mir eingestehen, dass dieser Typ mich in den kompletten Wahnsinn trieb. Wie konnte man gleichzeitug so arrogant, sexy und süß sein und woher hatte er das nun wieder gewusst? Ich hatte meinen Geburtstag keinmal erwähnt.

 

Kapitel 9



Noch euphorisch von Damiens Abschiedsworten sprang ich, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zu unserer Veranda hinauf.

Schon von draußen empfing mich  leises Getuschel und Stimmengewirr.

Ok ...tief durchatmen, Maeve...maximal drei Stunden freundlich lächeln, nicken, brav beim Geschenkeauspacken 'aaaahhh' und 'oooh' rufen und dann hast du's geschafft!



Ich steckte den Schlüssel ins Schloss, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und trat ein.

Aus dem Wohnzimmer schallte Musik und der Flur war vom Licht zahlreicher, bunter Lampions erleuchtet, die an den Wänden angebracht worden waren.

Tante Fianna war die erste, die mit ausgestreckten Armen so schwungvoll auf mich zustürmte, dass ihre 20 goldenen Armreifen nur so klimperten.

"Maeve-Schätzchen, wo hast du nur gesteckt? Wir haben schon fast die ganze Geburtstagsbowle ohne dich getrunken!"
Überschwänglich umarmte sie mich und drückte mich dabei so fest an sich, dass meine Rippen knackten.

"Alles Liebe zum Geburtstag!"
Mit ausgestreckten Armen schob sie mich von sich weg und musterte mich von Kopf bis Fuß.

"Mensch Schätzchen, du siehst ja fabelhaft aus!"
Sie zog mich lachend hinter sich her ins Wohnzimmer, wo Maya, Zach und Jenny, die mit leicht vorgezogener Schmolllippe auf der Couch hockte, schon auf mich warteten.

Trotz meiner Geburtstagsphobie musste ich lachen, denn alle drei hatten sich mit bunten Partyhütchen ausstaffiert und bewarfen mich mit Konfetti.

Bunte Girlanden, haufenweise Luftballons und ein Tisch, der sich unter der enormen Fracht von Essen und pinkem Kitsch gefährlich in Richtung Boden neigte, hatten das Wohnzimmer in das perfekte Schaubild einer Hochglanz Party-accessoire- Broschüre verwandelt.

Maya sprang auf und warf sich mir um den Hals.
"Schwesterherz alles Lieeeebe!"
Sie schmatzte mich von oben bis unten ab und hinterließ dabei eine Spur ihres heiß geliebten Erdbeerlippglosses in meinem Gesicht.
"Wow, du riechst heute echt gut!"

Zach zog sie lachend von mir weg und ersparte mir eine hinreichende Erklärung.

"So, jetzt lasst mich mal."  Er hob mein Kinn mit dem Zeigefinger und sah mir warm in die Augen.

"Alles Gute Schwesterchen!"
  Zach schloss mich fest in die Arme, hob mich hoch und wirbelte mich unter lautem Protest im Kreis, bis ich anfing Sternchen zu sehen.

Als er mich endlich wieder losließ, betrachtete er mich argwöhnisch mit zusammengekniffenen Augen und grinste dann breit.

"Was hast du da eigentlich an?"

Verfluchte Scheiße, vor lauter Mutanten hab' ich doch glatt vergessen, die Presswurst wieder auszuziehen! Wenn DER wüsste...



Im Kopf ging ich die dreihundert, wohl schlechtesten Ausreden der Welt durch, die mir spontan in den Sinn kamen und entschied mich dann für ein knappes: "War beim Sport."

"In DEM Fummel?"
Endlich war auch Leben in Jenny gekommen, die gnädigerweise beschlossen hatte, mir mein morgendliches Verhalten nicht mehr nachzutragen.

Vorsichtig zupfte sie an meinem Ärmel und schnalzte mit der Zunge. "Junge, Junge... du siehst ja aus... Wen wolltest du denn DAMIT abschleppen?"

Um weiteren Fragen aus dem Weg zu gehen stopfte ich mir schnell eine Ladung Chips in den Mund und hob entschuldigend die Achseln.

Glücklicherweise musste ich keine weiteren quälenden Fragen mehr über mich ergehen lassen, denn Fianna hatte tatsächlich ein kleines Programmheft für den heutigen Abend zusammengestellt und der erste Punkt der Tagesordnung war das Geburtstagsfoto. Es folgte eine Reihe der typischen "die-Crows-drehen-durch-Geburtstagsspiele": Twister, Scharade und Negerkuss-Wettessen.
Zuguterletzt packte ich sogar unter vielen 'Aaaahs' und 'Ooohs'meine Geschenke aus.

Tante Fi schenkte mir einen Shopping-gutschein, an dem Maya sich mit anschließendem Besuch bei Mac Doof und ihrer fachkundigen Hilfe in Stylingfragen beteiligen wollte.
Jenny überreichte mir eine neue Handtasche und ein eingerahmtes Foto, das uns beide auf der letzten Halloween-party zeigte.

Von Zach bekam ich das neue Album von Kayne West und ein paar bewundernde Blicke.

Da ich dank der gelben Mutantenpillen den ganzen Abend über weder Hitzewallungen noch Stromstöße erlitten hatte und nur noch einen winzigen Hauch Vanille an meiner Haut warnahm, schob ich seine Reaktion nicht auf meine Fähigkeiten, sondern auf den Mutantenanzug, der -was ich mittlerweile im Badezimmerspiegel herausgefunden hatte- meinen Bauch vorteilhaft ins Nimmerland und meine Brüste eine Etage nach oben zu befördern schien.

Trotzdem irritierte es mich, dass Zach mich plötzlich auf DIESE Weise anstarrte, daher war ich auch froh, als Fianna uns alle zum Buffet scheuchte und wir uns die Bäuche vollschlagen konnten.

Ich haute rein, als hätte ich tagelang nichts zu essen bekommen und ließ mich schließlich mit voller Wampe in den Samtsessel fallen.

Tante Fi verabschiedete sich alsbald ins Bett und räumte mit leicht vorwurfsvollem Blick die Reste des Essens in die Küche.

Ich hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn und flüsterte entschuldigend: "Du weißt doch, große Feiern sind nicht mein Ding...ich esse die Reste schon noch auf und der Schokopudding ist reserviert!"

Zach und Maya verzogen sich eine halbe Stunde später ebenfalls in ihre Zimmer und überließen Jenny und mir das Wohnzimmer.

Beunruhigenderweise hatte es Zach sich jedoch nicht nehmen lassen, mir im Vorbeigehen noch ein unheilvolles "Wegen deiner Begleitung sprechen wir uns noch!" ins Ohr zu raunen. Er hatte es nicht vergessen.

Was hatte ich auch erwartet? Zach wäre nicht Zach, wenn er es auf sich beruhen lassen würde, dass ich von einem mysteriösen Unbekannten im Prolloschlitten vor der Tür abgeliefert worden war.
Darüber konnte ich mir allerdings den Kopf zerbrechen, wenn es soweit war. Vorerst würde Damien und alles, was ihn umgab mein Geheimnis bleiben.


"Und was machen wir jetzt?", fragte Jenny, knatschte erwartungsvoll mit ihrem Kaugummi und riss mich aus meinen Gedanken.
"Keine Ahnung, am liebsten würd ich mich mit dem Rest des Kuchens ins Bett verkrümeln und einfach chillen."
Ich zuckte die Achseln und seufzte.
Maeve Crow, 18 und Schlaftablette...



Glücklicherweise war Jenny sofort einverstanden und wir machten es uns in meinem Zimmer gemütlich.
Ich warf eine "Sex and the City"-DVD ein und belud das Bett mit Kuchen und anderen Leckereien, zwischen denen wir uns zusammenkuschelten.

Irgendwann später, als Jenny leise neben mir schnarchte, begann ich die Ereignisse des vergangen Tages noch einmal Revue passieren zu lassen. Hier, im Schutze meines Zimmers, mit meiner schlafenden besten Freundin an der Seite, fühlten sich die letzten Stunden unwirklich und weit entfernt an.

Bis jetzt war mir mein Leben immer banal und unbedeutend vorgekommen und ich begann mich zu fragen, ob das in Zukunft immer noch so sein würde.
Würde ich je wieder einfach nur Maeve sein können, die mit ihrer besten Freundin einen Abend zu Hause verbrachte?

Irgendwo tief in mir machte sich die Gewissheit breit, dass dies vielleicht der letzte Abend meines "normalen" Lebens war und das machte mich traurig und unruhig.

Eine Weile lag ich da und fühlte mich seltsam melancholisch...Während ich auf den flimmernden Bildschirm starrte, musste ich plötzlich wieder an Damien denken. "Wir sehen uns morgen", hatte er gesagt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt.

Mein Herz tat einen großen Hüpfer und machte es mir unmöglich, mich weiter meinen bösen Vorahnungen hinzugeben.
Sein Lächeln, seine Hände, seine Lippen...da war wieder das freudige Kribbeln in der Magengegend.
Er würde sich melden. Ich würde ihn wiedersehen...Allein für dieses Glück konnte ich dankbar sein, egal was die Zukunft auch bringen würde.
Seelig schlief ich ein.

Kapitel 10



Der folgende Tag verlief vorerst unspektakulär.
Es war Samstag, was glücklicherweise schulfrei bedeutete. Maya und Tante Fi waren in den Zoo gegangen und Zach arbeitete im Cafe. Unschlüssig, was ich mit meiner freien Zeit anfangen sollte, hatte ich mich an den Resten des vorherigen Tages bedient und zunächst ausgiebig gefrühstückt, dann ein langes Bad genommen. Jenny war bereits am frühen Morgen abgehauen und hatte mir mit Lippenstift ein großes Herz auf den Spiegel meiner Schminkkommode hinterlassen.

Nun lag ich im Bademantel und mit einem Handtuchturban um den Kopf auf meinem Bett und löste halbherzig das Kreuzworträtsel in meiner Klatschzeitschrift. Laaangweilig.



Ich sehnte mich nach einer Nachricht von Damien, doch es war mittlerweile Nachmittag und ich hatte noch nichts von ihm gehört. Mein Leben hatte eine völlig neue Wendung bekommen, doch ohne ihn sah ich mich restlos überfordert, wie es jetzt weiter gehen sollte. Ich wollte Antworten, aber die konnte mir im Augenblick nur Damien liefern und ich wusste nicht wo er steckte. Vermutlich war er damit beschäftigt, die Welt zu retten oder einfach nur umwerfend auszusehen.

Mit Schrecken fiel mir auf, dass ich weder seine Telefonnummer noch seine Adresse hatte, was bedeutete, dass mir wohl nichts anderes übrig bleiben würde, als auf ein Lebenszeichen von ihm zu warten.

Vor meinem inneren Auge rief ich mir unser erstes Zusammentreffen ins Gedächtnis und ein Schauer durchfuhr meinen Körper....

Hier saß ich und konnte an nichts anderes mehr denken, als an seine grünen Augen und sein umwerfendes Lächeln.
Hoffentlich war er clever genug, das Telefonbuch zu benutzen. Geduld war noch nie so meine Stärke gewesen und ich spürte, dass langsam der Unmut in mir aufstieg, dass ich mich derartig an einen Mann ausgeliefert hatte.
Schluss jetzt Maeve! So geht das nicht! Reiß dich gefälligst zusammen und tu etwas Sinnvolles!


Ich beschloss, ein gutes Mädchen zu sein, zog mich an und putzte die Küche, bis alle Arbeitsflächen glänzten. Anschließend wusch ich sogar freiwillig zwei Maschinen Wäsche und brachte den Müll raus, um mich abzulenken. Immer noch kein Zeichen von Damien!
Als mein Handy piepte, rutschte mir das Herz fast in die Hose. Ich rannte zum Schreibtisch und stieß mir im Eifer des Gefechts den großen Zeh am Bettrahmen. Verfluchter Mist.



Mit zitternden Fingern, öffnete ich die SMS, die ich soeben erhalten hatte. Es war Jenny, die mir das Foto einer Sektflasche mit dem Untertitel „HEUTE ABEND PARTY?“

geschickt hatte.
Unter anderen Umständen wäre ich wahrscheinlich in Begeisterungsstürme ausgebrochen, doch heute war ich bitter enttäuscht.

Andererseits hatte ich schon den ganzen Tag damit zugebracht, auf eine Nachricht von Damien zu warten, daher entschied ich kurzerhand, meinen Abend auf eigene Faust zu planen.


Ich würde noch den Rest meines Lebens Zeit haben, mich untersuchen zu lassen oder zu trainieren (was auch immer Damien darunter verstand), also antwortete ich Jenny:
Klar =) Komm einfach um 18.00 zu mir !!!

 

Punkt 18:00 klingelte es und Jenny stand, beladen mit Tragetaschen auf der Schwelle.

Ihre blonde Haarpracht steckte zu meiner Belustigung bereits in einem Dutzend bunter Lockenwickler und sie trug kaputte Leggins und ein altes Männershirt.


Wow, ich hoffe, sie ist in DEM Aufzug nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hier angerauscht!



Jenny schien ihr Aufzug nicht im Geringsten zu stören und als sie meinen fragenden Blick bemerkte, lachte sie und verkündete strahlend,dass sie beschlossen habe, sich heute Abend ausnahmsweise bei mir fertig zu machen, da ihre große Schwester schon seit Stunden das heimische Bad belagerte.

Aufgeregt stürmte sie an mir vorbei ins Bad und feuerte ihre Tragetaschen auf die Fliesen.

„Ich weiß nicht, was ich anziehen soll!“, jammerte sie und kramte aus ihrer monströsen Handtasche eine Sektflasche hervor, die sie ohne abzuwarten öffnete und einen großen Schluck tat.

„So! Jetzt geht’s mir besser!“

Lachend hielt sie mir die Flasche hin und nahm auf dem Klodeckel Platz.

Ich lehnte ab, da ich keine Ahnung hatte, wie die Pillen sich mit Alkohol vertragen würden und ich wollte es nicht darauf angekommen lassen, solange Damien nicht dabei war.

Am Liebsten hätte ich Jenny alles erzählt, doch mein gesunder Menschenverstand riet mir, dass Damien es nicht besonders erfreulich finden könnte, wenn ich gleich alles ausplauderte.

Wir machten uns über die zahlreichen Tüten her und begannen Jennys Outfit zusammen zu stellen. In weiser Voraussicht hatte sie mehrere hauchdünne Kleidchen, ein paar Miniröcke und Tops und vier paar hohe Pumps eingepackt, aus denen wir auswählen sollten. Wir entschieden uns für ein goldenes Paliettenkleid, was hervorragend zu ihrer blonden Mähne und der verbliebenen Urlaubsbräune passte.

Während Jenny (nun mit voller Lockenpracht) bereits vor dem Spiegel stand und mit anmutigen Schminkfratzen einen dramatischen Smoky-eyes-effekt in ihr Gesicht zauberte, stand ich unschlüssig in der Mitte des Bads und blickte an mir herunter.

Maeve Crow, du siehst nicht gerade ausgehtauglich aus!!!!



Jenny schien meine Unentschlossenheit auf die Nerven zu gehen, denn sie drehte sich mit vorwurfsvollem Blick zu mir um.

„Willst du dich nicht auch endlich mal fertig machen? Wenn wir zu spät kommen, ist die Schlange vorm "Oreon" wieder endlos!"

„Ich hab aber keine Ahnung, was ich anziehen soll!“, gab ich zurück und blickte ratlos auf den "mount everest" an Klamotten.

Normalerweise machte ich mir nicht so viele Gedanken über meine Kleidung und trug beim Ausgehen Jeans und irgendein Top, doch seit der Mutation hatte ich das Gefühl, als hätte ich nichts mehr im Schrank, das wirklich zu mir und meinem „neuen Ich“ passen wollte.

„Süße, wenn ich aussehen würde wie du, würde ich nackt herum laufen!“
Jenny hatte sich umgedreht und musterte mich von Kopf bis Fuß.
„Was?“
Ungläubig starrte ich sie an.

„Na hast du in den letzten Tagen mal in den Spiegel geschaut?! Du siehst aus wie frisch aus dem Urlaub.

Ich mein, über deinen Body müssen wir ja nicht mehr reden, ich würde töten für deinen Knackarsch, aber diese stahlblauen Augen... Die sind mir vorher nie so aufgefallen und was zum Teufel hast du mit deinen Haaren angestellt???!“

Bewundernd glitten ihre Finger durch meine glänzenden Locken.

„Ich weiß nicht, was du gemacht hast, aber du siehst hammermäßig aus, Schatz und du bist nicht mal geschminkt.“

Was sollte ich antworten? Ich schwieg also und sah verlegen hinunter auf meine nackten Füße.

Mit flinken Bewegungen fischte Jenny ein dunkelblaues, schulterfreies Kleid aus dem Stapel und warf es mir zu.
„Hier probier das! Es passt toll zu deinen Kulleraugen!“

Widerwillig streifte ich mir das Kleid der Marke „Nimm mich jetzt!“ über, welches ich normalerweise für viel zu aufreizend befunden hätte, da es weder oben, noch unten besonders viel Platz für Phantasie ließ und betrachtete mich im Spiegel.

„WOW!“
Jenny nickte anerkennend.
„Bleib bloß weg von mir heute Abend.... ICH brauch'  dringend nen' Kerl um de Flaute mit Jeremy zu verdauen, aber wenn du da auftauchst, kann ich gleich einpacken!“

"Übertreib nicht", erwiderte ich lachend und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Lachend malte sie sich die Lippen rot an und nickte sich selbst aufmunternd im Spiegel zu. „Et Voila!“

Sie zog mich auf den Klodeckel und baute sich vor mir auf.

"So, du Trauerkloß, das wäre doch gelacht, wenn wir aus dir keinen heißen Feger machen könnten!"

Ehe ich protestieren konnte, hatte Jenny aus ihrem vierstöckigen Beauty Case eine Auswahl getroffen, die sie fachmännisch nach Chirurgenart auf dem Boden ausbreitete. Entschlossen zupfte sie an mir herum und machte sich an meinem Gesicht zu schaffen. Ein bisschen Puder hier, ein bisschen Rouge und blassblauen Lidschatten da, zuletzt noch etwas Mascara und ich war aufgehübscht.

Jenny schob mich zum Spiegel.

"Und?"
Anerkennend betrachtete ich das Kunstwerk, das mir verführerisch aus dem Badezimmerspiegel entgegen blickte. Jenny hatte wirklich ganze Arbeit geleistet, sämtliche meiner Vorzüge heraus zu arbeiten.

„Jenny, du solltest Maskenbildnerin werden!“, lobte ich sie. Jenny schien ebenfalls sehr zufrieden mit ihrem Resultat zu sein und prostete sich selbst mit der Sektflasche zu.
Glücklich machten wir uns auf den Weg ins Wohnzimmer und drehten die Musik auf, um uns in Partylaune zu bringen.

Jenny hatte sich gerade auf der Terrasse eine Zigarette angemacht und sang (bereits angedudelt von einer halben Flasche Asti) lautstark „Tic Toc“ von Kesha mit, als das Telefon klingelte.
Ich stürmte zum Apparat, hob ab und brachte nur noch ein keuchendes „Hier bei Crow“ hervor.


„Hey ich bin’s. Was machst du?“ Ich erkannte seine Stimme sofort und meine Knie wurden weich.

„Ich ..äh…wir…....“

Weiter kam ich nicht, denn Jenny zupfte mit lautstarkem „Wohoooooo“ an meinem Haar und tänzelte sektflascheschwingend vor mir herum.

Mit einer verärgerten Handbewegung scheuchte ich sie wieder nach draußen.

„Bei dir scheint ja einiges los zu sein?!“

Damien lachte sein wundervolles Lachen.

„Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du Lust hast, heute Abend mit mir und ein paar FREUNDEN feiern zu gehen? Ich würde dich gerne mit ihnen bekannt machen.“

Die Art und Weise, wie er das Wort "Freunde" betont hatte, ließ mich darauf schließen, dass er mich seiner Mutanten-Crew höchstpersönlich vorstellen wollte und ich wusste nicht, wie mir der Gedanke gefiel.

„Sorry, da hätteste dich früher melden müssen! Ich bin schon mit Jenny verabredet, wir gehen gleich ins 'Oreon'!", antwortete ich nach einer kurzen Pause.

Erschrocken registrierte ich den vorwurfsvollen Unterton in meiner Stimme.
Pah und wenn schon…Selbst Schuld, wenn er mich den ganzen Tag warten lässt!!!!



„Wunderbar! Dann sehen wir uns um elf vorm Eingang? Ich freu mich!“

Es klackte.

Ungläubig starrte ich den Hörer an. Er hatte aufgelegt. Ich konnte nichts dagegen tun, dass die Aufregung in mir hoch stieg und wackelte auf Quarkbeinen in Richtung Terrasse.

„Wer war ‘n das?“ fragte Jenny und hielt mir eine Zigarette hin. Hektisch nahm ich einen Zug und versuchte meine Stimme so beiläufig, wie möglich klingen zu lassen.


„Aaaach, nur ein Kerl, den ich in der Bahn kennengelernt hab ... will auch kommen...das geht doch klar, oder?“

Das war noch nicht mal gelogen und Jenny schien die Antwort zu genügen, denn sie zuckte lachend die Achseln und gab mir ein schnippisches "Klar, wenn er gut aussieht!" zur Antwort.

Du hast ja keine Ahnung!!!!!!



Zwei Stunden später standen wir in der Schlage vorm "Oreon" und froren uns buchstäblich den Arsch ab.


“Ich hätte eine Jacke mitnehmen sollen“, quengelte Jenny und trat mit dem Pfennigabsatz ihres Pumps ihre Zigarette aus.
In diesem Moment erschien Damien auf der Bildfläche.

Mein Herz blieb stehen, als ich seinen Kopf in der Menge erspähte. Mit freundlichem Lächeln bahnte er sich seinen Weg durch die Schlange und stand neben uns, ehe ich das Wort M.u.t.a.n.t auch nur hatte denken können.

Im Schlepptau hatte er eine wasserstoffblonde Barbie in einem schreiend-tussigen, pinken Glitzerfummel und einen großgewachsenen Kerl mit dunkelblondem Haar, das ihm lässig in die Stirn fiel. Damien trug ein weißes Hemd und eine enge schwarze Jeans und grinste mich an.
„Hey ihr zwei!“
Er hauchte mir einen Kuss auf die Wange, den ich in Zeitlupe wahrnahm und drückte dann herzlich Jennys Hand, die mit offenstehendem Mund von einem zum anderen starrte und mir dann einen äußerst fragenden Blick zuwarf.

Damien schob seine beiden Begleiter nach vorne.
„Ach, das sind Linus und Kathy… Kathy, Linus. Das sind Maeve und ...?"

„Jenny“, hauchte Jenny und glotzte Damien an wie ein hypnotisiertes Mondkalb.

Ich schob meine verwirrte, beste Freundin kurzerhand vor mir her und versuchte, die Situation zu entspannen. Die anderen stellten sich hinter uns an.

„Du hättest mir ruhig mitteilen können, dass du in der Bahn ein Calvin Klein Model kennengelernt hast, das noch dazu so verdammt gut aussehende Freunde hat!“, keuchte sie in mein Ohr, sobald die anderen außer Hörweite waren. Ich zuckte gespielt gelangweilt mit den Achseln und versuchte zu verbergen wie aufgeregt ich war. Na das konnte ja heiter werden.

Jenny hatte Recht- die drei sahen einfach überirdisch aus!!!
Auch ich schien mich gut zu machen, denn während ich mich Stück für Stück auf den Eingang zuschob, erntete ich anerkennende Blicke von allen Seiten. Ein breitschultriger Türsteher mit Glatze und Tätowierungen musterte uns lüstern und krächzte:
„Die Eintrittskarten bitte!“

Das hatte gerade noch gefehlt! Keiner von uns hatte bedacht, dass heute möglicherweise keine Abendkasse sein würde.

Noch ehe ich etwas sagen konnte, schob sich Kathy mit strahlendem Lächeln nach vorne. Sie blinzelte ein paarmal, starrte angestrengt auf einen unbestimmten Punkt in der Ferne und fischte mit ihren rosa-manikürten Glitzernägeln fünf zerknitterte Eintrittskarten aus ihrem Ausschnitt.

Strahlend überreichte sie diese dem Türsteher und wir durften eintreten. Aus dem Augenwinkel vernahm ich ein aufgebrachtes Mädchen, das panisch in ihrer Handtasche wühlte und dann flehend den Türsteher ansah.

„Ich verstehe das wirklich nicht, eben waren sie noch da, ich schwör's!!!“, stammelte sie entschuldigend, doch der Türsteher ließ sich nicht erweichen und wies sie herzlos aus der Schlange.

Damien schob mich weiter und erntete meinen fassungslosen Blick.
Kathy jedoch zwinkerte mir gönnerhaft zu und flötete: „Problem gelöst!“

Als wir die breite Treppe zum Club hinunter stiegen, schlugen uns donnernde Bässe und heiße Luft entgegen.

"Hey Zuckerpüppchen, Lust zu tanzen?"

Linus schnappte Jenny an der Hand und zog sie hinter sich her auf die Tanzfläche, ehe diese etwas erwidern konnte.


Kathy, Damien und ich machten uns derweil auf den Weg an die Bar.

Um einen guten Eindruck zu machen beschloss ich, uns erst mal ein paar Drinks zu besorgen.

Verzweifelt versuchte ich, den Barkeeper auf mich aufmerksam zu machen und reckte mich aufreizend an der Theke zu ihm hinüber.
Dieser würdigte mich jedoch keines Blickes und füllte schwer beschäftigt ein Dutzend Gläser ohne auch nur aufzusehen.

Nach fünf Minuten drehte ich mich entschuldigend zu Kathy und Damien um und schüttelte den Kopf.
Kathy seufzte theatralisch, klimperte kurz mit den Augen und hielt schwuppdiwupp zwei Wodka Lemon und eine Cola in der Hand. Sie stürzte sich den Drink in einem Zug herunter und überreichte Damien die Cola.
Das andere Getränk hielt sie mir mit einem spöttischen Lächeln hin.
„Wie hast du das gemacht?“, stotterte ich und nahm mit zitternden Fingern das Glas aus ihrer Hand.

„Makropsychokinese, du Anfänger....Wenn ihr mich bitte entschuldigen würdet, ich habe soeben meinen heutigen Tanzpartner entdeckt!", antwortete Kathy wie selbstverständlich, zuckte mit den Achseln und ließ Damien und mich wortlos an der Theke zurück, um ebenfalls die Tanzfläche zu stürmen. Keine 5 Sekunden später hatte sie einen breitschultrigen Kerl im Arm und zwinkerte uns zu.

Wie vom Blitz getroffen starrte ich ihr hinterher. Damien schob sich zu mir rüber und prostete mir mit der Cola zu.

„Du kannst ruhig trinken, Kleines!!! Alkohol hat keine Wirkung auf die Pillen. Ich muß ja leider fahren und auf dich aufpassen!“

Wieder einmal schien er meine Zweifel gespürt zu haben und ich kippte dankbar das halbe Glas in mich hinein.

Damien zog mich so nah an sich heran, dass ich seinen Duft schnuppern konnte und presste mich an sich. Mir wurde warm.

„Huuuh.. heiß hier!", stammelte ich und fächerte mir mit der freien Hand Luft zu, während meine Ohren rot wurden.

„Wo waren wir letztes Mal stehen geblieben?"
Damien blitzte mich aus seinen Katzenaugen durchdringend an.

Kapitel 11



Ich spürte, wie sich meine Eingeweide zu einem zähen Klumpen zusammenballten und trat hastig einen Schritt zurück.

Gefahr im Anmarsch! Los Maeve...bring dich in Sicherheit!



„Nix da!“, brachte ich keuchend hervor und stürzte beherzt den Rest des Drinks in mich hinein, wobei ich das Glas schützend zwischen uns hielt.

Ärgerlich stellte ich fest, dass meine Hand dabei verdächtig zitterte. Damien nahm meine Nervosität mit hochgezogenen Augenbrauen zur Kenntnis und brach dann in schallendes Gelächter aus.

„Was, du traust mir zu, dass ich HIER über dich herfallen würde? Im Gegensatz zu dir kann ich mich zurück halten!“

Er grinste bis über beide Ohren.

Deine Großspurigkeit ist echt zum Kotzen!!! Und wahnsinnig sexy!



Ich lief rot an und presste ärgerlich die Lippen aufeinander.

Damien schnappte mir das leere Glas aus der Hand und knallte es entschlossen auf die Theke. Dann nahm er mich an die Hand und zog mich hinter sich her auf die Tanzfläche.

“Komm du Leberwurst, wir zeigen den Lackaffen hier mal, wie man richtig tanzt. Du tanzt doch, oder?“

TANZEN? Ich? Bitte nicht!!!!

"Äh.....klar, gerne."

Bemüht, nicht über meine eigenen Füße zu stolpern, ließ ich mich auf die Tanzfläche schleifen.


Sie war gerammelt voll. Neonlichter blitzten und das Donnern der Bässe pulsierte unter unseren Füßen. Damien begann sich sogleich anmutig zur Musik zu bewegen und ließ mich dabei keine Sekunde aus den Augen. Rhythmisch zuckten seine Arme im flackernden Licht.
Er tanzte wunderbar.
Was hatte ich auch erwartet? Alles an diesem Kerl war perfekt vom Scheitel seiner wild gelockten Haarpracht bis hin zur Sohle.

Obwohl ich anfangs noch etwas verhalten von einem Fuß auf den anderen trat, spürte ich bald, dass die euphorische Stimmung um mich herum auf mich überschwappte und ich wurde gelöster (was zum Teil auch am Alkohol liegen mochte).


Damien passte seine Bewegungen spielerisch an die meinen an.
Er nahm meine Hand, wirbelte mich herum, tanzte an mir hinab und drückte mich zwischendurch immer wieder fest an sich. Trotz des Lärms spürte ich, dass sein Herz erregt an meiner Brust klopfte, als er mich an sich heran zog. Die Welt um mich herum verschwand. Es war, als hätten wir nie etwas anderes getan. Es gab nur noch uns….Hallo...Erde an Maeve, vergiss das Atmen nicht!



Irgendwann deutete Damien lachend mit dem Kopf hinter mich und als ich mich umdrehte, erblickte ich Jenny, die eng umschlungen mit Linus auf der Box tanzte. Im selben Moment warf sie einen Blick in meine Richtung, strahlte mich an und formte mit den Lippen das Wort „DANKE“. Ich winkte ihr anerkennend zu und wandte mich wieder zu Damien um.

Seine Hemdsknöpfe hatten sich im Eifer des Gefechts ein Stück geöffnet und ich starrte fasziniert auf seine glänzende braune Haut und seinen muskulösen Oberkörper.

Wie soll man bei einem derartigen Anblick bei der Sache bleiben?



Irgendwann hatten wir genug vom Tanzen und zogen uns nassgeschwitzt und atemlos in einen etwas abgelegeneren Teil der Disco zurück, der mit kuscheligen Sitzecken ausgestattet war, in denen sanfte Musik aus den Boxen erklang.

Damien steuerte zielsicher auf eine freie Ecke zu, die besonders kuschelig war und ließ sich ächzend auf die Wiese aus weichen Kissen fallen.

Unsicher tat ich es ihm gleich, ließ aber vorsichtshalber ein paar Zentimeter Abstand zwischen uns. Sicher ist sicher.



„Wie geht es Dir?“

"Gut. Phantastisch. Alles Bestens", stammelte ich

"Und ehrlich?", fragte Damien und blickte mir ernst in die Augen.

„Ich weiß nicht.“
„Ich hoffe du hast keinem von deiner „Sache“ erzählt?“ Damien beäugte mich kritisch.

„Nein, ich hab es doch versprochen“, betonte ich mit Nachdruck und bügelte mit den Fingern nervös die Falten in meinem Kleid glatt.

Damien nickte erleichtert.

„Ich denke, dass wir dich mit etwas Übung ganz schnell dazu bekommen werden, dass du deine Kräfte unter Kontrolle hast und sie steuern kannst, genau wie Kathy, Linus und ich.

Schlagartig fiel mir Kathy wieder ein, die mit Unschuldsmiene eine arme Unwissende ihrer Eintrittskarten beraubt und den Barkeeper um drei Getränke ärmer gemacht hatte.

„Was ich dich noch fragen wollte… WAS in aller Welt ist Makropsychokinese?“ Ich hielt gespannt die Luft an.
Damien warf lachend den Kopf in den Nacken.

„Das bedeutet, dass Kathy Gegenstände allein durch ihre Willenskraft verformen oder bewegen kann. Du solltest die mal erleben, wenn sie sauer ist! Die schleudert ganze LKWs durch die Luft und lässt sie in tausend Teile zersplittern.“

„Wahnsinn!“, entfuhr es mir.

Meine Neugierde war nun voll entflammt.

„Es gibt also  Mutanten mit unterschiedlichen Fähigkeiten? So wie in X-men????“

Damien nickte.

"Ich hasse diesen Film, aber wenn du so willst...ja."

"Bitte erzähl mir von ihnen!", drängte ich.

“Also in Attius‘ Villa ist eigentlich immer was los. Derzeit beherbergen wir etwa 40 Mutanten, die regelmäßig bei uns auftauchen, trainieren oder sich ihre Pillen holen kommen. Da wäre zum Beispiel Zoe, die du ja schon kennst. Sie kann Erinnerungen manipulieren. Heißt im Übrigen Retro-Psychokinese.“

Damien lächelte.
Dann runzelte er die Stirn und überlegte. Schließlich holte er Luft und fuhr fort:
„Ach ja, dann haben wir da noch Sheryl, die die Pyrokinese beherrscht. Das ist die Fähigkeit, Feuer allein durch Gedanken entzünden zu können und James, den Tiermutanten. Er kann die Eigenschaften jedes Tieres annehmen, das in seiner Nähe ist….Eine tolle Fähigkeit!“
Seufzend verschränkte er die Arme hinter dem Kopf.

Das klang ja alles zu verrückt um wahr zu sein.

„Aber...ist das nicht gefährlich? Ich mein', die meisten von euch könnten einen Menschen mit einem Wimpernschlag töten… Und was ich mich schon die ganze Zeit gefragt habe: wie ist das überhaupt mit der Regierung? Weiß die von Mutanten?“

Atemlos starrte ich Damien an.

Der sog scharf die Luft ein, ergriff mich bei den Schultern und sah mich eindringlich an, ehe er flüsternd zu sprechen begann:

„Also, eins nach dem anderen…
Ja, es IST gefährlich ein Mutant zu sein! Und es ist ebenso gefährlich, sich mit Mutanten abzugeben und selber KEIN Mutant zu sein...zumindest sollte man sich hüten, einem Jungmutanten über den Weg zu laufen, der seine Pillen nicht geschluckt hat...Es kann so einiges schiefgehen, wenn man mit Superkräften herum läuft und diese gedankenlos einsetzt.

Darum hat Attius es sich auch zur Aufgabe gemacht, uns zu trainieren und auszubilden…und JA, die Regierung weiß von uns. Einige der besten Mutanten arbeiten sogar für den Geheimdienst und den Präsidenten…Natürlich absolut undercover.“

„Natürlich“, murmelte ich mit ironischem Unterton und biss mir auf die Lippe.

„Und was meinst du mit trainieren?“, bohrte ich weiter.

Damien legte mir den Arm um die Schulter und zog mich vertraulich zu sich heran. Die Nähe seines Körpers verschlug mir den Atem und ich hatte Mühe, seinen Worten zu folgen, während sein Oberschenkel mein Bein berührte.

„Wir werden dafür sorgen, dass du deine Pillen irgendwann nicht mehr brauchst, indem wir die Dosis Stück für Stück verringern und dich üben lassen. Wahrscheinlich wirst du erstmal an uns Mutanten erproben, inwieweit du andere wirklich manipulieren kannst. Und dann bekommst du natürlich eine Kampfausbildung. Wir wollen sicher gehen, dass du auch für einen Ernstfall gewappnet bist.“

„Ernstfall?“

Damien seufzte und blickte traurig in die Ferne. In seinen Augen lag eine Schwermut, die ich nicht zu deuten vermochte, doch es zerriss mir schier das Herz ihn so zu sehen.

Einen Augenblick später schien er sich wieder gesammelt zu haben. Der traurige Schatten entschwand seinem Blick und er fuhr mit ernster Stimme fort:

„Sieh‘ mal Maeve, nicht alle Mutanten sind wie wir. Es gibt auch Mutanten, denen ihre Fähigkeiten und ihre Gier nach Macht zu Kopf gestiegen sind.

Viele Jahre lang herrschte Krieg zwischen Menschen und Mutanten.Die Regierung hat uns verfolgen und einsperren lassen und erst seit einigen Jahren, haben beide Seiten ein friedliches Abkommen unterzeichnet, an dem Attius und seine Freunde maßgeblich beteiligt waren. Sie haben sich erboten, junge und unerfahrene Mutanten aufzuspüren, auszubilden und dafür zu sorgen, dass niemand von ihrer Existenz erfährt. Im Gegenzug werden wir von der Regierung geschützt und finanziell gefördert, aber dazu später mehr...Du solltest einfach nur wissen, dass nicht alle Mutanten mit diesem Abkommen einverstanden sind. Sie empfinden es als Beleidigung, sich selbst und ihre Fähigkeiten geheim zu halten.


Immer wieder kommt es zu Ausschreitungen, die WIR dann wieder ausbügeln müssen! Wir haben überall Mutanten, die sich auf das Löschen von Erinnerungen spezialisiert haben und sofort zur Stelle sind wenn es irgendwo brenzlig wurde.

Jedenfalls solltest du dich vor diesen Leuten in Acht nehmen. Ihr Ziel ist es nämlich, so viele Mutanten, wie möglich anzuwerben und deren Fähigkeiten für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Ihr Anführer, Janus, strebt danach, Attius und seinen Orden zu vernichten. Zwischen den beiden gab es irgendwann mal einen Vorfall, über den Attius jedoch nicht mit uns spricht!"

Ich riss die Augen auf und sog geräuschvoll die Luft ein. Das alles war eindeutig zu viel für meine Nerven.

Schon wieder schien Damien meine Gedanken zu lesen, denn er lächelte schief und fuhr behutsam mit den Fingern über meine Wange, ehe er weiter sprach.

"Keine Sorge! Momentan befindet sich Janus in einem Sicherheitsgefängnis der höchsten Stufe, da es Attius gelungen ist, ihn einzubuchten, aber Janus hat seine Anhänger überall im Untergrund und wir wissen aus sicherer Quelle, dass seine Leute immer noch neue unerfahrene Mutanten in vielen Teilen der Welt rekrutieren.

Eine Fähigkeit, wie deine würde Janus jedoch sicher nur allzu gerne für sich beanspruchen und wir können froh sein, dass wir dich zuerst aufgespürt haben, ehe du den anderen in die Finger geraten bist."

Er fischte eine Salzstange aus dem Snackschälchen vor sich und stopfte sie lässig in den Mund.

Mir blieb die Spucke weg.

"Wieso?", keuchte ich atemlos.

Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte:

"Unter uns Mutanten gibt es da gewisse Abstufungen. Es ist, als hätte die Natur verschiedene Mutationen hervor gebracht, die die Sicherung unserer Art bewerkstelligen. Einige verstehen sich darauf, die Außenwelt zu beeinflussen. Sie können das Wetter verändern, Dinge bewegen oder herbei schaffen usw.
Diese Mutanten haben sich schon relativ früh entwickelt und dafür gesorgt, dass sie in der freien Wildnis überleben konnten. Wenn die Nahrung knapp wurde, schafften sie Essen herbei. Wurde die Witterung zu bedrohlich, dann änderten sie das Wetter eben....Was meinst du, wieviele Unwetter da draußen in Wirklichkeit auf die Kappe von unerfahrenen, oder wütenden Mutanten gehen?

Dann gibt es da noch jene Mutanten, die unsere Art verteidigen sollen, wenn es nicht anders geht. Sie werden Soldaten genannt und haben kriegerische Fähigkeiten verschiedenster Art.
Ich dagegen gehöre zur Gattung der Wächter. Durch meine Telepathie kann ich beispielsweise andere Mutanten herbei rufen, oder sie mich, wenn Gefahr droht.

Die Hüter, zu denen auch du zählst, beeinflussen mit ihren Fähigkeiten die geistige Welt, um dafür zu sorgen, dass unsere Art geheim bleibt.
Sie sind nicht besonders stark, wenn auch wesentlich stärker, als gewöhnliche Menschen, aber sie sind für unser Volk sehr bedeutend.
Sie lesen oder manipulieren Gedanken und Gefühle, schaffen Illusionen, beherrschen die verschiedenen Formen der Tarnung, oder locken und betören andere, damit sie auf falsche Fährten geraten. Diese Mutanten sind eher selten und gehören damit einer höheren Klasse an.
Feuer machen, Krankheiten heilen, das sind Fähigkeiten, die man nicht unterschätzen sollte, aber wenn du andere manipulieren kannst, ohne dass sie es merken, dann hast du in der heutigen Gesellschaft die Macht!“
„Ich habe Macht“, flüsterte ich tonlos und begriff zum ersten Mal wirklich, was meine Fähigkeit bedeutete. Ich bekam es mit der Angst zu tun.

„Und meinst du, Janus' Leute werden mich aufsuchen?“

„Das kann schon sein, daher ist es unbedingt nötig, dass du mir absolut vertraust und niemandem von deinen Fähigkeiten erzählst. Ich werde auf dich aufpassen und wir alle werden dich beschützen. Glaub mir, ich habe schonmal eine Begegnung mit einem dunklen Mutanten gemacht und es war nicht besonders erfreulich. Wenn du dich uns anschließt, können wir dir helfen. Leider wirst du dich mit weiteren Erklärungen gedulden müssen. Ich habe schon viel zu viel gesagt und Attius sollte derjenige sein, der dich in alles einweiht, wenn du bereit dafür bist.
Aber zuvor wirst du den Eid der Mutanten leisten müssen, damit wir wissen, dass wir dir wirklich vertrauen können.“

„Und was ist das für ein Eid?“

Damien zuckte die Achseln.

"Uh, er ist ziemlich alt und sehr lang."

"Bitte, ich möchte ihn hören!", bettelte ich.

"Na schön, aber du darfst nicht lachen!"

Damien straffte die Schultern, legte feierlich eine Hand auf die Brust und begann mit geschlossenen Augen zu flüstern:

„Ich rufe Heros, den Ahnen aller Mutanten als Zeuge meines Schwurs herbei.

Ich werde den, der mich die Kunst meine Macht zu beherrschen gelehrt hat, wie einen Bruder achten und ihm helfen, wenn er in Not gerät.

Niemals werde ich meine Fähigkeiten benutzen, um anderen Lebewesen ein Leid zuzufügen.

Wohl aber sei es mir erlaubt, mein Wohl und das Wohl meiner Brüder mithilfe meiner Fähigkeiten zu verteidigen, wenn es nötig ist.
Es sei meine Aufgabe, meine Dienste den guten Taten zu verschreiben und sie nur für das Gute zu verwenden.

Alles, was ich im Orden oder auch außerhalb im Umgang mit Mutanten sehe und höre, werde ich als Geheimnis bewahren.

Wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche, so sei mir beschieden, sicher und glücklich zu sein. Wenn ich ihn aber übertrete und breche, so geschehe mir das Gegenteil.“

Er schlug die Augen auf und sah mich an.
Ich hatte einen Kloß im Hals.

„Damien…das...war...wunderschön“, flüsterte ich und spürte, dass mir tatsächlich eine Träne über die Wange kullerte. -Wie peinlich!

Damien wischte sie vorsichtig beiseite und hielt mein Kinn für ein paar Sekunden fest.

„DU bist wunderschön“, summte seine Stimme irgendwo tief in meinem Bauch, obwohl er seine Lippen nicht bewegt hatte.

Flirtete er etwa mit mir?

„Du bist auch nicht schlecht“, dachte ich grinsend zurück und bekam einen roten Kopf.
Unsere Blicke verschlangen sich in einander und mir wurde schlagartig bewusst, dass Damien mich aus irgendeinem unerfindlichen Grund ebenso toll fand, wie ich ihn.

Ehe wir uns weiter damit befassen konnten, wurden wir jedoch von Jenny unterbrochen, die sichtlich angeschlagen von der Tanzfläche auf uns zu torkelte und sich zwischen uns auf die Kissen warf.

„Sschhllllaub sch‘bin bsoffen“, nuschelte sie unter ihrer Lockenpracht hervor und hickste, wie zum Beweis kräftig.
Hinter ihr her kamen Kathy und Linus getrottet, der schuldbewusst mit den Achseln zuckte und dann Damien zugewandt raunte: „Ich kann nichts dafür, die hat EINEN Campari nach dem ANDEREN in sich rein gekippt!“

Damien lachte und sah mich fragend an: „Wollen wir Miss Campari vielleicht besser nach Hause fahren?“

Ich seufzte und nickte.
Wir verabschiedeten uns von Kathy und Linus und schleppten Jenny, die mit starkem Seegang zwischen uns her torkelte, zum Auto.

„Sssssssuuuuut mir sooo leid Mauuuus...schriiinke nieewieder!“, versprach Jenny kichernd, als wir sie auf den Rücksitz von Zoes Hummer hieften.

Mit entschuldigendem Blick stieg ich nach hinten zu ihr auf die Rückbank und bettete ihren Kopf in meinem Schoß. Nach einer Weile schnarchte sie mit offenem Mund. Liebevoll strich ich ihr übers Haar, während wir durch die Dunkelheit rollten.

Damien fuhr uns schweigend nach Hause und bedachte mich durch den Rückspiegel mit einem zärtlichen Blick.
Mein Magen hüpfte vor Freude.

Als wir vor der Haustür angelangt waren, half Damien mir wie ein wahrer Gentleman, Jenny ins Haus zu tragen. Nachdem ich mich etwa tausendmal bei ihm bedankt hatte und Jenny friedlich schlummernd mit einem Kotzeimer und Decken auf der Wohnzimmercouch untergebracht war, herrschte zwischen uns eine erwartungsvolle Stille.

Damien rettete die peinliche Situation, indem er mich angrinste und mir zum Einschlagen die Hand vor die Nase hielt.

„Morgen um drei hole ich dich für die erste Trainingsrunde ab, ok?“

Erleichtert schlug ich ein, begleitete Damien zur Haustür und schwupps befanden wir uns vor der nächsten emotionalen Tretmine. Was nun?

Unschlüssig stand ich im Türrahmen und wagte nicht, etwas zu sagen. Da standen wir im Halbdunkeln und sahen einander an. Die Luft war zum Zerreißen gespannt.

Küss mich, dachte ich. Bitte küss mich!

Ich konnte buchstäblich sehen, wie in Damiens Innerem ein lautloser Kampf tobte. Er fühlte sich ebenso von mir angezogen, wie umgekehrt doch scheinbar hatte er sich in den Kopf gesetzt, sich diesem Gefühl nicht hinzugeben. Je mehr er sich zu sträuben schien, desto mehr wollte ich ihn und trat so nah an ihn heran, dass unsere Fußspitzen einander berührten.

Damien öffnete die Lippen, wollte etwas ewidern, doch dann entwich seinem Mund ein tiefes Knurren.

"Scheiß drauf!"

Im nächsten Moment waren seine Hände an meinem Hinterkopf.

Ich fühlte wie er zitterte und sich zu zügeln versuchte. Ganz langsam näherte er sich mir und sah mich dabei unverwandt an. Ich konnte mich nicht mehr bewegen!

Sein Mund näherte sich dem meinen und mich überlief ein Schauer, als ich seine Lippen das erste Mal sanft und federleicht auf meinen spürte.

Tausende von Schauern jagten mir durch den Körper, als sich seine Lippen endlich öffneten und sich unsere Zungen das erste Mal zaghaft berührten.
Es war der wohl schönste Kuss meines Lebens und ich wollte nicht, dass er endete.
Wieder und wieder zog ich seinen Kopf zu mir heran, schmeckte den süßen Geschmack seines Mundes, saugte seinen verführerischen Atem ein und presste meine Lippen auf die seinen.
Ich krallte meine Fäuste in sein weißes Hemd und drängte mich ihm entgegen.

Wäre es nach mir gegangen, hätte er mich noch die ganze Nacht küssen dürfen, doch da hatte ich die Rechnung wohl ohne Damien gemacht, denn er löste sich mit einem entschiedenen, aber sanften Ruck aus meiner Umklammerung.
Seine Locken waren zerzaust, er keuchte und auf seinen Wangen waren niedliche, rote Flecken. Hinter seinen grünen Augen flackerte Begehren doch dann sah er mich plötzlich mit gespielt ernstem Gesicht an.
"Jetzt reicht's aber! Wir sind wirklich sowas von unprofessionell!"
Sein Blick wurde warm und liebevoll und in meinem Magen begann es zu kribbeln.

Sanft drückte er mir noch einen Kuss auf die Stirn und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
„Pass auf dich auf Schönste!“
Er drehte sich um und verließ das Haus.

Regungslos stand ich im Dunkeln und sah ihm nach, während tausend Schmetterlinge in meinem Bauch flatterten.
"Du auch!"

Oh je. Mein Körper ist der reinste Hormoncocktail!



Ich schwebte auf rosa Wattewölkchen an der schlafenden Jenny vorbei und schlich in die Küche, weil ich wusste, dass im untersten Fach des Kühlschranks noch eine ganze Schüssel Schokopudding auf mich wartete.

Schäm' dich Maeve, dir um diese Uhrzeit derartige Kalorienbomben rein zu stopfen!!!



Vorsichtig tastete ich in der Dunkelheit nach dem Küchenlichtschalter und erschrak zu Tode, als ich im gleißenden Lichtkegel der Küchenlampe die Umrisse einer Gestalt erkannte.

Kreischend machte ich einen Satz zurück.

„Zach! Heilige Scheiße, hast du mich erschreckt! Was zur Hölle tust du hier im Dunkeln? Mein Gott, ich hätte fast nen' verdammten Herzinfarkt bekommen!“

Wütend funkelte ich Zach an, der im Schlafanzug, mit verschränkten Armen, am Kühlschrank lehnte und mich aus unergründlichen Augen ansah. Sein Gesicht war leichenblass und seine Unterlippe bebte.

„Das frage ich dich!“, schnaubte er und zischte mir dann zwischen zusammengepressten Zähnen zu: „Kannst du mir mal verraten, was in dich gefahren ist? Hast du nichts Besseres zu tun, als dich von so einem Schnösel ablecken zu lassen?“

Abfällig sah er mich an.

"Außerdem habe ich euch gestern zusammen im Auto gesehen...pff...wie erklärst du dir das, wo ihr euch doch angeblich nicht kennt? Ehrlich Maeve, ich hätte dich nie für eine so schlechte Lügnerin gehalten!"

Ich traute meinen Augen und Ohren nicht! Das konnte er doch nicht ernst meinen?

„Sag' mal, beobachtest du mich etwa heimlich? Wo sind wir denn hier? Beim FBI, oder was? Ich wusste nicht, dass ich dich neuerdings um Erlaubnis fragen muss, wenn ich jemanden küssen möchte!“

Angriffslustig stemmte ich die Hände in die Hüften und baute mich vor Zach auf, der einen unsicheren Schritt zurück trat, mich aber weiterhin misstrauisch beäugte.

Brauchst mich überhaupt nicht so anzusehen! Langsam habe ich echt' genug von deinen ständigen Szenen! Ich bin doch keine 12 mehr!



Zack presste die Lippen aufeinander und wandte den Kopf ab. In seinen Augen glitzerte es verdächtig.
…WAS...OH GOTT, sind das Tränen in seinen Augen?



„Sag mal, heulst du etwa?“, fragte ich erschrocken und sah Zach ungläubig an.

Alarmiert trat ich einen Schritt auf ihn zu und suchte nach den passenden Worten, doch ich fand sie nicht, denn eine Welle gegensätzlicher Gefühle durchflutete mich.

Nicht, dass es Zach auch nur ansatzweise etwas anging, WEN ich WANN küsste, aber sein Anblick machte mir dennoch ein schlechtes Gewissen.

Zach drehte sich ein Stück weg und schüttelte den Kopf.

„Ich kenne ihn wirklich erst seit gestern“, flüsterte ich entschuldigend und fügte in beschwichtigendem Ton hinzu: "Ich hab ihn in der Bahn kennengelernt und...er ist echt in Ordnung!"

„Das muss er wohl sein, denn.....immerhin hast du ihn ja SOFORT ran gelassen!“, schnaubte Zach verächtlich.

Er drehte sich wieder zu mir um und seine Augen taxierten mich von Kopf bis Fuß.
„Was hast du überhaupt an? Du siehst aus wie eine..."

„Eine WAS?“, zischte ich außer mir.
„Pass bloß auf was du sagst!“


Wenn der mich jetzt weiter so anpflaumt, nur weil ihm irgendeine dumme Laus über die Leber gelaufen ist, dann werde ich ihm, so wahr ich hier stehe, eine runter hauen!!!



Zach starrte mit traurigen Augen an einen unsichtbaren Punkt neben mir an der Wand.

Dann zuckte er die Achseln.
„Mach was du willst!"

Seine Stimme klang plötzlich traurig. Dann schien er sich zu besinnen und funkelte mich wütend an: "Aber dein neuer Freund braucht hier gar nicht erst aufzutauchen, das kannst du ihm gerne von mir ausrichten! Wenn ich DEN hier einmal erwische, garantiere ich für nichts!“

„Das werden wir noch sehen!“, schnaubte ich.
Mit einer anmutigen 180 Grad Drehung ließ ich Zach hinter mir zurück und knallte ihm derartig die Küchentür vor der Nase zu, dass Jenny erschrocken von der Couch hochfuhr. Glücklicherweise war sie immer noch so betrunken, dass sie gleich wieder sabbernd zurück in ihr Kissen sank und weiter schnarchte.

Ich stampfte in mein Zimmer und fluchte in mich hinein.

Der hat se' ja wohl nicht alle!!!!! Von wegen... soweit kommt’s noch, dass ich mir vorschreiben lasse, wen ich küsse und wen nicht!




Hektisch zerrte ich mir mein Kleid über den Kopf und feuerte es wütend in die Ecke meines Zimmers. Meine Schuhe und meine Handtasche flogen im hohen Bogen hinterher.

Erst, nachdem ich mich in mein Bett geworfen und die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte, kam ich langsam wieder runter. Trotzdem kreisten meine Gedanken wieder und wieder um die letzten 10 Minuten.

So sehr ich auch versuchte, Zachs merkwürdiges Verhalten zu verstehen, ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich schwören können, dass er mir gerade eine Eifersuchtsszene gemacht hatte, aber diese Vorstellung war einfach ZU abwegig, als dass ich sie für möglich halten konnte.

Nein Maeve, das ist doch Irrsinn... deine mutierten Gene steigen dir langsam echt zu Kopf!!!!!!



Ich seufzte und löschte das Licht meiner Nachttischlampe. Hoffentlich würde Zach sich bald wieder einkriegen...Ich hatte genug eigene Probleme und einen zickenden besten Freund konnte ich beim besten Willen nicht gebrauchen....

Dabei hatte der Tag so toll angefangen und hätte so schön enden können, hätte Zach nicht dazwischen gefunkt. Bei der Erinnerung an Damiens Kuss, jagten mir wieder leise Schauer durch den Körper.

Ach Damien, was würde ich darum geben, jetzt in deinen Armen zu liegen.....Hey, ob ich dir auch von hier meine Gedanken zukommen lassen kann???? Einen Versuch wär's allemal wert.



Ich kniff die Augen zusammen, dachte ganz fest an ihn und flüsterte dann in die Dunkelheit:

„Wo immer du auch bist, ich wünsche dir eine gute Nacht!“


Es dauerte ein paar Sekunden, doch dann spürte ich seine Anwesenheit buchstäblich.

„Ich dir auch Süße!“, summte seine Stimme in meiner Brust und mein Herz tat einen kleinen Hüpfer.
OH MEIN GOTT!!!! Das ist ja tausendmal besser als SMS!!!!!



Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen schlief ich ein.

Kapitel 12



Ich wurde davon wach, dass Jenny und Maya mein Bett zum Beben brachten, indem sie lärmend über mir herum turnten, mit meinen dicken Daunenkissen aufeinander einschlugen und kreischten.

„Na warte du kleine Gans!“
„Pah, fang mich doch du alter Besoffski!“
„Ich warne dich Fräulein...!“


„Seid ihr bescheuert? RUNTER vom Bett!“, jammerte ich unter der Decke hervor. Schnaubend richtete ich mich auf und blinzelte verschlafen durch meine bleiernen Lider.
Wie spät ist es?


Die Sonne glitzerte schon hell und freundlich am Himmel und Jenny und Maya waren bereits angezogen.

Fassungslos starrte ich die beiden an, die sich mittlerweile auf den Fußboden getrollt hatten und nun am Boden balgten und einander kitzelten.

„Kaffee“, stöhnte ich qualvoll.

Noch ehe ich die Augen ganz aufgeschlagen hatte, war Jenny in Lichtgeschwindigkeit in die Küche geeilt und hielt mir freudestrahlend einen Becher dampfendes Kaffees unter die Nase.

„Hier, weil du mich gestern nach Hause gebracht hast!"

Ich grinste schief.

"Ist doch Ehrensache!"

Schon holte Jenny aus und begann drauflos zu plappern.

"Linus ist ja sooo süß und Damien ein richtiger Schnuckel und diese Kathyyy, also soo eine Tusse, ohh mein Gooott, die ist ja echt nicht gerade die hellste Kerze auffer Torte, was?“

Benommen starrte ich auf ihre Lippen, doch meine Ohren nahmen nur ein dumpfes "Blubb...blubb" wahr.

Jenny quatschte ungebremst, gute 15 Minuten auf mich ein, während ich die Zeit nutzte, um langsam wach zu werden. Morgens konnte man mit mir nicht viel anfangen.

Plötzlich hielt Jenny inne und riss mich aus meinem Dämmerzustand.

HUCH? Hat sie was gefragt? Scheiße ich hab nicht zugehört...jetzt bloß nichts anmerken lassen!



Jenny kauerte an meinem Fußende und blickte mich mit weit aufgerissenen Augen erwartungsvoll an.

„Huh?“, machte ich und hoffte, sie würde ihre Frage wiederholen.

„WAAAAAAANN DU IHN WIEEEEEEEDERSIEHST?“, wiederholte Jenny im Singsang und verdrehte genervt die Augen.


Ich riss die Augen auf und rang mir ein gequältes Lächeln ab.

„Ich..äh...heute! Er holt mich um drei ab!"

Um weitere Fragen zu vermeiden, wechselte ich galant das Thema:
"Junge, Junge warst du gestern voll!"

Vorwurfsvoll schüttelte ich den Kopf.
Ich schlürfte vorsichtig an meinem Kaffee und spähte zu Jenny rüber, die schmunzelnd die Achseln zuckte und mich mit den Worten:
„Halb besoffen ist eben rausgeworfenes Geld!“ im Zimmer zurück ließ.

Irgendwann streckte sie den Kopf zur Tür rein und flötete: "Tschüss Maus, ich muss los! RUF MICH AN!“

Nachdem ich aufgestanden war, geduscht und mit Maya beim Frühstück über den letzten Abend getratscht hatte, (dass ich neuerding eine Mutantin war und mit einem fremden Mutanten auf dem Flur herumknutschte, ließ ich dabei elegant aus) stand ich in meinem Zimmer und sah in den Spiegel.

Es war das erste Mal, dass ich mich offiziell mit Damien treffen würde und ich wollte unbedingt, dass mein Anblick ihm die Sprache verschlug.

Ich fuhr mit den Fingern durch mein langes, glänzendes Haar und drehte ein paar Strähnen durch die Finger. Prinzipiell gab ich kein schlechtes Bild ab.
Nichts, was man mit ein wenig Schminke und passenden Klamotten nicht hinbekommen würde.

Aber was sollte ich anziehen?
Ratlos wühlte ich in meinem Schrank und warf alles auf einen wilden Haufen.

Letztendlich entschied ich mich dann doch für eine enge Jeans, Sneakers und ein schlichtes, weißes T-Shirt. Schnell tuschte ich mir noch die Wimpern und legte etwas Erdbeer- Lipgloss von Maya auf.

Fertig! Das musste reichen. Wenn wir trainieren würden, machte es wohl kaum Sinn, mich aufzutakeln...es sei denn, ich wollte böse Mutanten mit meinen Slingpumps erschlagen.

Vorsichtig ging ich ins Wohnzimmer und hielt Ausschau nach Zach.

Ich hatte wenig Lust, ihm über den Weg zu laufen und hatte unsere Auseinandersetzung nur noch allzu gut in Erinnerung.
Glücklicherweise war er unauffindbar.
Ich warf einen schnellen Blick auf die Uhr und stellte fest, dass es mittlerweile schon fünf vor drei war.

Mit klopfendem Herzen stand ich auf der Straße und wartete auf meinen Mutanten.

Pünktlich um drei schoss Damien in einem knallroten Ferrari um die Ecke.

Mann, Mann, Mann, du springst wohl auch jeden Morgen vom Sprungbrett und ziehst ein paar Bahnen in deinem Pool voller Hunderter, was?

, dachte ich und zuckte zusammen, als Damien schallend lachte, während er aus dem Auto sprang um mir die Tür aufzuhalten.
Scheinbar hatte ich versehentlich "in seine Richtung" gedacht.

MIST, MIST, MIST!!!!



Damien nahm mich grinsend in die Arme.
„Ich kann dich hören, wenn du nicht aufpasst! Schau mich nicht so an, es ist nicht mein Wagen, der gehört Linus!“
Er beugte sich ein Stück vor, küsste mich auf die Wange und sah mich lächelnd an.

Ich schloss die Augen, lehnte meine Stirn an sein Kinn und sog den herb-süßen Geruch ein, der von ihm ausging. Sein Aftershave machte mich wahnsinnig.

Plötzlich fiel mir Zach wieder ein, der wahrscheinlich bewaffnet mit Fackeln und Mistgabeln hinter irgendeinem Busch lauerte.

„Los, lass uns fahren!“, drängelte ich und sprang ins Auto.

Als wir an der Villa ankamen standen Linus, Kathy, Zoe und Attius schon am Tor und erwarteten uns aus irgendeinem Grund.

Mein Gott, was für ein Empfangskomitee..! Was ist denn hier los?



Damien grinste und erklärte mir, dass die anderen gerne dabei sein würden, wenn ich meinen Eid leistete.

„Du willst doch noch zu uns gehören?“

Ängstlich blickte er mich an und zog die Stirn kraus.

Ich strahlte ihn an und nickte.

Klar wollte ich. Das einzig Beunruhigende war, dass es scheinbar eine ziemlich große Sache für einen Mutanten bedeutete, diesen Eid zu leisten und große Zeremonien und Trara waren eben absolut nicht nach meinem Geschmack.

Nervös zupfte ich Damien am Ärmel während wir auf die anderen zu schritten und flüsterte: "Bitte, lass uns das schnell hinter uns bringen und loslegen, okay?“

Kapitel 13



Über Damiens makellose Lippen huschte der Anflug eines Lächelns und er legte mir beruhigend einen Arm um die Schultern, während wir im gemächlichen Tempo über den knirschenden Kies stampften.

Zoe war die Erste, die sich von den anderen löste und auf mich zukam.
„Maeve, wie schön, dich zu sehen!"

Mit einem fachmännischen Gesichtsausdruck musterte sie mich von Kopf bis Fuß und sagte dann etwas leiser: „Die Zeremonie ist sehr wichtig und ich denke, wir sollten dich vielleicht vorher in etwas…Passenderes… stecken.“

Ihr Gesicht sprach Bände und ich hatte das Gefühl, dass ich mir ebensogut einen Müllsack hätte umbinden können.

Sanft, aber bestimmt löste Zoe mich aus Damiens Arm und führte mich an der Hand zu den anderen.

Unsicher sah ich an mir hinab und mich überkam plötzlich ein Hauch von Unsicherheit, ob es überhaupt IRGENDETWAS in meinem Schrank gab, das den Ansprüchen einer überirdisch schönen Mutanten Crew genügen könnte.

Attius fegte meine Zweifel beiseite,indem er mich herzlich an sich drückte und auf beide Wangen küsste.

„Hallo, da bist du ja endlich!“

Kathy, malwieder in einem pinken Minikleid, machte gelangweilt eine ebenso pinke Kaugummiblase und bedachte mich mit einem abschätzigen Blick.

Ich war mir nicht sicher, ob ich sie besonders mochte, denn alles an ihr wirkte derartig künstlich und aufgedonnert, dass ich mich schwer tat, sie nett zu finden. (Außerdem war mir die Sache mit den LKWs, die Damien erwähnt hatte, bildhaft in Erinnerung geblieben.)

Dennoch rang ich mir ein freundliches Lächeln ab und schüttelte die pink- manikürte Hand, die sie mir gnädig hinhielt, als erwarte sie einen Handkuss, oder dass ich jeden Moment ehrfürchtig vor ihr auf die Knie sinken würde.

Linus grinste mich an und gab mir einen freundlichen Klaps auf die Schulter.
„Hey Maeve, schön, dass wir dich wieder sehen.“

„So, genug der Begrüßung…wir haben zu tun!“, machte sich Zoe neben mir bemerkbar und zog mich hinter sich her in Richtung Villa.

Dankbar ließ ich mich von ihr fortziehen und versuchte, die Horde wild gewordener Ameisen in meinem Bauch zur Ruhe zu ermahnen, während wir die breiten Steinstufen zum Eingang empor stiegen.

Kein Grund zur Aufregung. Alles wird gut!



Trotzdem konnte ich nichts dagegen tun, dass sich in mir eine derartige Aufregung breit machte, wie ich sie ansonsten nur von den Premieren des Schultheaters oder besonders schwierigen Prüfungen kannte.
Zoe schloss die hölzerne Tür auf und wir betraten das Herzstück des Geländes: Attius' Villa.

Staunend sah ich mich um und traute meinen Augen nicht, denn wir befanden uns in einem großzügig geschnittenen Eingangsbereich, dessen Boden mit glänzendem Marmor bedeckt war.

Direkt gegenüber dem Eingang führte eine breite, geschwungene Treppe ins Obergeschoss.

„Also, Schätzchen HIER siehst du unser trautes Heim! Links haben wir die Küche und rechts ist eines der Gästebäder.“

Ich warf einen flüchtigen Blick durch die geöffnete Tür in die Küche: Chrom, Edelstahl und Granit, soweit das Auge reichte!

Wahnsinn…Tante Fi würde ausrasten, wenn sie das sehen könnte!


Während wir die breite Treppe zum oberen Stockwerk hinauf stiegen, kam ich aus dem Staunen kaum noch heraus.

Im Gegensatz zu den weißen und schlicht gehaltenen Möbeln des Bunkers wimmelte es hier nur so von Antiquitäten, kunstvollen Vasen und teuren Gemälden. Das ganze Haus war eine Sammlung kostbarer Raritäten aus fremden Ländern.

Ich atmete geräuschvoll ein und machte Zoe damit auf mich aufmerksam, die sogleich erklärend hinzufügte: “Attius ist viel auf Reisen und pflegt den Kontakt zu anderen Mutanten außerhalb von Amerika.
Es ist so eine Art Spleen von ihm, dass er von jedem seiner Trips irgendein kostbares Teil anschleppt, dass er dann hier aufstellt und einstauben lässt. Ich versuche schon seit Jahren ihn dazu zu bewegen, dass es genug ist, denn DREIMAL darfst du raten, WER den ganzen Plunder sauber halten muß!“

Sie lachte und deutete mit dem Kopf auf eine weitere geöffnete Tür.

„Hier ist übrigens die Bibliothek!"

Zoe öffnete eine weitere Tür und zog mich in den dahinter liegenden Raum.
„Und DAS…ist mein Reich!“, sagte sie lächelnd.

Das Wort "Reich" traf es dabei wirklich auf den Punkt.

Die Wände waren in einem hellen Sonnengelb gestrichen und vor einem Fenster mit Blick auf den Park bauschten sich lange, weiße Vorhänge sanft im Wind.

Ein riesiges, weißes Himmelbett zierte die Mitte des Raums und schnörkelige, weiße Möbel vertieften den Eindruck eines perfekten Prinzessinnenzimmers.

Eine üppige Schminkkommode, aus deren Schubladen glitzernder Schmuck und allerlei andere Utensilien hervor quollen, stand an der Wand links vom Bett.
Es gab außerdem ein wunderschönes hell-rosa Sofa, mehrere hübsche Sesselchen und einen kleinen, runden Glastisch. Alles war ordentlich aufgeräumt und nicht zu vergleichen mit dem Saustall bei mir zu Hause.

Ich konnte meine Augen kaum abwenden, während Zoe mich durch einen Torbogen am Ende des Raums führte, der doch tatsächlich in einem riesigen, begehbaren Kleiderschrank mündete.

Der Anblick der sich mir nun bot, ließ mich vor Begeisterung jauchzen! Schuhe über Schuhe, Gürtel, Taschen Schals, Hüte…Daneben Kleiderständer, die überquollen mit den tollsten Klamotten überhaupt.

„Zoe, das ist ja der Wahnsinn!“, jubelte ich euphorisch und hüpfte peinlicherweise auch noch auf der Stelle.

Vom Modefieber gepackt, schritt ich an den unzähligen Kleiderständern vorbei, blieb stehen und strich andächtig mit den Fingerspitzen über eines der hauchzarten Kleider.

„Ich habe mein Geld eben gerne da, wo ich es sehe…im Kleiderschrank!“

Zoe zwinkerte mir zu, raffte mit flinken Bewegungen einen Haufen bunter Kleider von einer der Kleiderstangen und warf sie aufs Bett.

Zu meiner Beunruhigung bemerkte ich, dass an den meisten noch Preisschilder baumelten und die Namen und Zahlen darauf brachten mich ganz schön ins Schwitzen.

Heilige Scheiße, was haben die hier mit mir vor???



Unter Zoes prüfendem Blick schlüpfte ich nacheinander in die verschiedenen Kleider und drehte mich anmutig um die eigene Achse. Zoe hockte indessen im Schneidersitz auf ihrem Prinzessinnenbett und kommentierte:

„Zu kurz….zu Oma…..zu sehr Unschuld vom Lande….zu schick…..WOW!“

Ein cremefarbenes, bodenlanges Kleid von "Gucci" hatte es ihr angetan. Es besaß eine enge Corsage und war über und über mit winzigen Blümchen und Perlen bestickt. Das Kleid passte wie angegossen und fiel elegant an mir hinab.

„Okay, das nehmen wir!“, jubelte Zoe begeistert und sprang vom Bett auf. Ehe ich mich versah, wurde ich auf die rosa Couch geschoben und Zoe machte sich daran, meine Haare zu bändigen.

„Mensch Maeve, du kannst eine solche Haarpracht doch nicht mit einem Pferdeschanz verunstalten!“

Sie bürstete mich, ziepte und ruckelte an mir rum und umkreiste mich, den Mund voller Haarnadeln, wie ein aufgescheuchtes Huhn. Nach einer Weile nickte sie zufrieden und schob mich vor den Spiegel der Kommode.

Bei meinem Anblick wäre ich fast umgefallen. Sissi wäre vor Neid erblasst! Ich sah aus wie eine Prinzessin. Umwerfend und trotzdem nicht zu aufgedonnert. Meine Haare waren am Hinterkopf zu einer kunstvollen Hochsteckfrisur frisiert, aus der nur noch ein paar einzelne Strähnen hervor schauten. Unfassbar in welcher Eile Zoe zu solch einer Glanzleistung fähig war. Ich selbst war schon bei einer einfachen Flechtfrisur gnadenlos überfordert, weshalb ich meine Haare auch meistens wie eine wilde Amazone um die Schultern flattern ließ.

„Nicht bewegen!“, mahnte Zoe und fischte, auf dem Bauch liegend, eine Kamera unter dem Bett hervor.

„So, dann schießen wir noch flott ein Bild für unsere kleine "Ahnengalerie" und dann kann’s losgehen“, murmelte Zoe und stellte das Objektiv ein.

Unsicher lächelte ich in die Kamera, die zu klackern und zu blitzen begann, als stünde ich wahrhaftig auf dem roten Teppich einer todwichtigen Gala.

„Oh, ehe ich es vergesse, die SCHUHE!“

Schon wieder stürmte Zoe davon und rumorte fluchtend in ihrem begehbaren Kleiderschrank herum.
Nach einer Weile kam sie freudestrahlend heraus und überreichte mir ein paar cremefarbene Stilettos, deren Riemchen mit winzigen, rosa Rosen verziert waren. Die Absätze waren mindestens 14 Zentimeter hoch und wirkten nicht sonderlich stabil. Wenn das mal gut ging.

Als ich fertig war, machten wir uns auf den Weg nach unten. Langsam und in Todesangst, dass ich mit den dünnen Absätzen in meinem Kleid hängen bleiben könnte und erstmal vor versammelter Mannschaft auf der Nase landete, stieg ich mit Zoe die Treppe hinab.

Am Fuße der Treppe standen Damien und viele weitere ebenfalls todschicke Mutanten und warteten.

Sie alle strahlten mich an, doch ich nahm sie nicht wirklich wahr, da ich viel zu sehr damit beschäftigt war, meine Blicke in denen von Damien zu verhaken und dabei nicht dahin zu schmelzen.
Er trug einen eleganten, schwarzen Anzug und sah wahnsinnig sexy und erwachsen aus. Seine Augen leuchteten und ich zuckte leicht zusammen, als seine Stimme plötzlich in mir zu vibrieren begann: „Du siehst wunderschön aus!“

Als ich auf der letzten Stufe angelangt war, streckte er mir seine Hand entgegen und drehte mich mit einer schwungvollen Bewegung zu den anderen Versammelten um.

„Seht her Freunde! Hier ist sie, unser neuester Zuwachs, Maeve!“

Zu allem Überfluss klatschten die anderen Mutanten in die Hände und ich wurde von allen Seiten fröhlich empfangen.
Meine Ohren glühten und ich wäre am Liebsten im Erdboden versunken, weil alle Augenpaare auf mich gerichtet waren.

Die ganze Prozession machte sich nun auf den Weg in den Garten, den ich allerdings nur beiläufig wahrnahm, da mein Herz so wild klopfte, dass ich befürchtete, jeden Moment aus den Latschen zu kippen.

Wir hielten an einem kleinen, runden Platz in dessen Mitte ein steinernes Wasserbecken eingelassen war.

Damien führte mich an das Becken heran und nahm feierlich meine Hand.
Die anderen Mutanten versammelten sich im Kreis um uns herum und es wurde still.

„Maeve Crow, bist du bereit, den Eid der Mutanten zu leisten und Teil dieser Familie zu werden?“, fragte Attius laut über die Köpfe der anderen hinweg.

Ich nickte entschieden und lächelte ihn tapfer durch die Menge an. Angestrengt würgte ich den Kloss in meinem Hals herunter.

„Dann sprich uns nach!“

Die nächsten Sekunden kamen mir vor wie ein Traum.

Mit feierlicher Stimme begannen die Mutanten gemeinsam Wort für Wort den wunderschönen Eid zu sprechen, den ich bereits von Damien kannte.

Nach jedem Absatz hielten sie inne, um mich ihre Worte wiederholen zu lassen. Meine Stimme zitterte und ich merkte, dass mir tatsächlich die Tränen in die Augen stiegen, doch ich brachte wie durch ein Wunder alles heraus, ohne zu stocken und mich zu verhaspeln.

Nachdem mein letztes Wort verklungen war, tauchte Damien seine Hand ins Wasser.

Es begann zu sprudeln, als Damiens Finger die Wasseroberfläche berührten. Er schöpfte einen kleinen Teil der sprudelnden Flüssigkeit mit der Hand ab, zeichnete damit ein unsichtbares Symbol auf meine Stirn und sprach mit feierlicher Stimme:

„Hiermit nehmen wir Dich, Maeve Crow, in unseren Orden auf….Du bist fortan Eine von uns und stehst für jetzt und für alle Zeiten unter unserem Schutz. Das unsichtbare Zeichen der Quelle wird dich auf ewig mit uns verbinden.“

Als das Ritual vollzogen war, brachen die anderen Mutanten in frenetischen Beifall und Jubelrufe aus. Von allen Seiten wurde ich herzlich in die Arme geschlossen, beglückwünscht und bestaunt.
Im Anschluss verkündete Attius, dass Damien aufgrund seiner hervorragenden Arbeit einen Rang aufgestiegen und fortan Mutant der Stufe drei sei.

Auch wenn ich mir der Bedeutung dieser Ränge noch nicht im Klaren war, freute ich mich für ihn, denn sein Gesicht strahlte vor Stolz. Wieder klatschten die anderen Mutanten Beifall und ich drückte aufgeregt Damiens Hand.

Dann erklang zu allem Überfluss auch noch von irgendwoher Musik und ehe ich mich versah, wimmelte es um mich herum von tanzenden, wunderschönen Mutanten, die anmutig ihre Kreise zogen.

Damien schloss mich behutsam in die Arme und zog mich an sich heran. Ich war so glücklich, dass ich nicht ein einziges Wort heraus brachte. Ich konnte nur staunen und strahlen.

„Möchtest du ein Stück spazieren gehen?“, fragte Damien und zog mich unter neugierigen Blicken auf einen schmalen Pfad zwischen den kunstvoll zu Figuren geschnittenen Büschen davon.

Mir war das nur recht, denn ich war viel zu überwältigt um einen tollen Eindruck zu machen und mit irgendwem eine angeregte Konversation zu betreiben. Ich hoffte inständig, dass die Mutanten mir mein Verschwinden nicht übel nehmen würden.
Besonders Zoe, da sie sich solche Mühe mit mir gegeben hatte, aber eigentlich wollte ich einfach nur verschwinden, also ließ ich mich mit einem entschuldigenden Lächeln von Damien fortziehen.

Gemeinsam schritten wir durch die atemberaubende Parkanlage und ich bestaunte zum ersten Mal aufmerksam ihre Schönheit.

Nach einer Weile erreichten wir einen kleinen See.

Auf einer Bank direkt am Ufer ließen wir uns nieder und schauten eine Zeit lang schweigend auf die glitzernde Oberfläche.

„Du bist ja so still?“, murmelte Damien und musterte mich fragend von der Seite.

„Hast du Zweifel?“

„Oh nein!“, keuchte ich atemlos und drückte zur Bestätigung fest seine Hand.

„Ich habe mich noch nie so sicher bei etwas gefühlt! Es ist nur……so viel…und so berauschend….Es hat mich einfach überwältigt!“

Damien lachte erleichtert und entblößte dabei seine blitzend-weißen Zähne.

„Ja, das kann ich mir vorstellen! Es sollte auch etwas Besonderes sein, dass du nie wieder vergisst.“

Sanft senkte er seine Lippen und hauchte mir einen Kuss auf die Hand.

„Jetzt bin ich für immer dein Schutzpatron und Lehrer!“

Seine funkelnd grünen Augen versanken in meinen, als er mich mit leicht zur Seite geneigtem Kopf betrachtete. Sein Blick war so intensiv und durchdringend, dass ich weg sehen musste um mich wieder zu sammeln.


Damien lachte ein perlendes Lachen. Ehe ich mich versah, hatte er mich an sich heran gezogen und küsste mich.

Ein Gefühl des Wohlbehagens erfasste meinen Körper und trug mich fort in eine andere Welt.

Ob alle Mutanten so wahnsinnig toll küssten?

Ich ließ es jedenfalls gerne geschehen und konnte überhaupt nicht genug davon bekommen.

Wieder und wieder ergriff ich mit beiden Händen sein Gesicht und bot ihm fordernd meine Lippen.

Als er sich atemlos von mir löste, besann ich mich eines Besseren und sprang in Sekundenschnelle auf.

Ehe Damien meine plötzliche Stimmungsschwankung begriffen hatte, war ich ihm schon durch das hohe Gras davon gestolpert.

„Pfoten weg, das ist Belästigung von Schutzbefohlenen!“, rief ich kichernd und verschwand zwischen den Büschen.

Lachend jagte er mir hinterher, holte mich ein und schlang seine Arme um mich.


"Ich hab dich!", hauchte er kaum hörbar und zog mich fest an seine Brust.

Ich war so glücklich, dass ich hätte platzen können. Begeistert vergrub ich meinen Kopf an seiner Schulter.

Plötzlich räusperte sich jemand hinter uns und als wir uns endlich voneinander lösten, stand Linus verlegen neben uns und lächelte entschuldigend.

„Sorry, aber Maeve soll jetzt mit ins Labor kommen, damit wir sie untersuchen können."

„Verflucht, muss das denn JETZT sein?“, fragte Damien ärgerlich und die weichen Züge seines Gesichts verhärteten sich für einen Augenblick.

„Sie wurde doch gerade erst vereidigt und heraus geputzt und jetzt muss sie gleich die nächste Tortur über sich ergehen lassen?“

„TORTUR?“, ängstlich wich ich einen Schritt zurück. Das klang nicht besonders verlockend.

„Attius wird morgen wieder verreisen, aber er hätte gerne noch heute die Ergebnisse des Tests um ihre Tabletten zu dosieren.Dafür lassen wir das Training heute ausfallen und der Rest des Abends gehört ganz euch!“

Linus hatte ein sichtlich schlechtes Gewissen und lächelte unsicher, während er nervös von einem Fuß auf den anderen trat.

Ich bekam Mitleid mit ihm und fasste mir ein Herz.

„Los, bringen wir es hinter uns!“

Entschlossen machte ich einen Schritt auf Linus zu, der erleichtert nickte und mich anwies ihm zu folgen. Damien blieb mir dicht auf den Fersen und starrte dabei Löcher in meinen Rücken.


„Das wir nicht mal fünf Minuten unsere Ruhe haben können. Ehrlich, es nervt mich! Wozu der Stress? Wir haben dir schon genug zugemutet…!“, ertönten seine Gedanken in meinem Kopf.

Ich drehte mich zu ihm um und konnte mir das Grinsen nicht verkneifen.

„Reg dich ab! Wir haben noch unser ganzes Leben Zeit uns zu küssen!“, dachte ich ganz fest, ehe sich der Springbrunnen bewegte und wir langsam in die Tiefe kletterten...

Kapitel 14



"Und hier haben wir das Labor!“, verkündete Linus und legte den Zeigefinger seiner rechten Hand auf eine kleine, silberne Scheibe, die neben der schweren Eisentür an der Wand angebracht war.

Stolz drehte er sich zu mir um und erklärte: „Dies ist ein eigens von mir entwickelter Genetischer-Fingerabdruck-Scanner! Todsichere Methode. Um diesen jedoch überhaupt zu aktivieren, muss man einen Code eingeben, den nur ich und Attius kennen und DEN zu knacken, schaffen nicht mal die besten Kryptographen, denn ich habe einen äußerst komplizierten Algorithmus verwendet.“

"Mmmmhhh, jaaaaaaa?" Ich verstand nichts, nickte aber anerkennend um ihn nicht zu kränken und nicht noch dämlicher zu wirken, als ich mich fühlte.

Linus drückte mit der linken Hand auf ein Tastenfeld, das unter seinen Fingern piepte.

„Nun werden die eingescannten Fingerabdruckdaten geprüft und mit den gespeicherten Daten verglichen. Nur wenn die Daten übereinstimmen, wird der Schaltbefehl zum Öffnen der Tür ausgelöst!“, fügte Linus mit stolzgeschwellter Brust hinzu.

Summend öffnete sich die Tür und wir betraten ein großes, düsteres Labor. Linus betätigte einen Schalter und hunderte von Deckenlampen begannen summend zu leuchten.

Staunend sah ich mich um und fragte mich zum etwa hundertsten Mal, wie Attius das alles eigentlich bezahlen konnte.

Das Labor verfügte gemäß meines laienhaften Auges jedenfalls über ein weitaus besseres Equipment, als das Chemielabor meiner High-School.

Da gab es zum einen die typischen Laborutensilien: lange Reihen weißer
Arbeits- und Schreibtische mit säurefesten Arbeitsplatten, Wäge- und Messtische, Regale mit allerlei Reagenzgläsern, Rundkolben und Destillationsflaschen und massenweise Schränke- darunter Abzugsschränke und einige verschließbare Hängeschränke.

„Aus pulverbeschichtetem Stahlblech -zur sicheren Aufbewahrung von Giften!“, verkündete Linus stolz, während wir weiter gingen.

Zum anderen gab es aber auch allerhand mir unbekannte Apparaturen und Gerätschaften, die mit den Computern und Messgeräten um die Wette blinkten.

Ich war sprachlos und kam aus dem Staunen kaum noch heraus, als ich die blubbernden Röhrchen und dampfenden Behälter sah.

Es klopfte von draußen und Linus bemerkte schuldbewusst, dass er Damien vor lauter Eifer tatsächlich die Tür vor der Nase zugeknallt hatte.

Schnell sprang er zum Ausgang und betätigte den Scanner erneut.
Damien, der mit finsterer Miene eintrat, verkniff sich den bissigen Kommentar, der ihm auf der Zunge zu liegen schien.

Mir wehte ein Schwall kalter Luft entgegen.

„Mensch ist das zugig!“, maulte ich und schlang fröstelnd die Arme um die Schultern.

Linus nickte eifrig und zog sich Schutzbrille, Kittel und Handschuhe an, während er erklärte:

"Es ist wichtig, dass hier immer ein Unterdruck gehalten wird, damit die Bakterien und Viren, mit denen wir hier manchmal arbeiten, nicht austreten können. Sobald die Tür geöffnet wird, entsteht ein Zug nach innen...daher der Wind."

Geschäftig warf er auch Damien eine Schutzbrille zu, die dieser achtlos auf einen der Tische fallen ließ, und wandte sich dann wieder zu mir um.

„So, dann wollen wir doch mal schauen, was es mit deiner Mutation auf sich hat…“
Er nickte mir aufmunternd zu.
„Wenn du mir bitte folgen würdest?“

Wir wanderten durch das Labor und betraten einen abgetrennten Raum, in dem es auf den ersten Blick nicht viel zu sehen gab, außer einem Schaltpult mit mehreren Knöpfen, einem großen Monitor und einer seltsamen, eiförmigen Badewanne, welche hinter einer Glaswand lag.

„Maeve, du musst dich jetzt ausziehen und in die Wanne steigen", sagte Linus fachmännisch und drückte einen großen, roten Knopf. Sogleich begann das eiförmige Ding zu leuchten und zu blinken.
Ich machte einen entschiedenen Schritt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Von wegen! Ein paar Speichelproben und dergleichen werdet ihr mir doch wohl auch entnehmen können, wenn ich angezogen bin?!?“
Unsicher trat ich noch einen weiteren Schritt zurück.

„Pah, Speichelproben! In welcher Zeit lebst du denn?“ Linus schüttete sich aus vor Lachen.

"Entschuldigung, dass ich nicht so ein Superhirn habe wie du!", grummelte ich beleidigt und warf ihm einen giftigen Blick zu.
„Wir verfügen hier über modernste Technik...Diese Wanne da ist mit einer speziellen Substanz gefüllt, welche bei Kontakt mit organischen Geweben sämtliche Informationen speichert, die diese beinhaltet und außerdem deine Strahlung aufnimmt und analysiert“, fügte Damien rasch erklärend hinzu und legte dabei wie zufällig seine Hand auf meinen Arm um mich vorwärts zu schieben.

Ich ließ mich hinter die Glaswand buchsieren und beäugte das badewannenartige Ding mit äußerster Skepsis. Es war mit einer hellblauen, dickflüssigen Substanz gefüllt, die mich irgendwie an Schlumpfwichse erinnerte. Nicht sehr vertrauenserweckend!

„DA soll ich rein steigen?“
Vorsichtig streckte ich die Hand aus, doch Linus stürmte auf mich zu und zerrte meine Hand in letzter Sekunde beiseite.

„Bist du wahnsinnig? Das ruiniert uns alle Ergebnisse! Du musst warten, bis wir deinen 'Turn' wieder in Gang gesetzt haben!“

Er überreichte mir eine rote Pille, die er umständlich aus der Tasche seines Kittels fischte.

„Damit kannst du die Unterdrückung der Mutation beenden und deine Fähigkeiten setzen wieder ein!“

„Oh nein!“, stöhnte ich, denn ich wusste, dass dies nur bedeuten konnte, dass ich in ein paar Minuten wieder mit den Nebenwirkungen meiner Mutation zu kämpfen haben würde.


„Hier sind noch ein paar der gelben Tabletten, die du bitte nimmst, sobald ich es dir sage, okay?“

Linus legte die gelben Pillen griffbereit neben die Wanne und raunte im Rausgehen:

„So, steig' jetzt bitte dort hinein und ruf uns, wenn du fertig bist!“

Linus zog Damien mit sich fort, dessen enttäuschter Gesichtsausdruck nicht zu übersehen war.
„RAUS!“, zischte ich ärgerlich und machte mit der Hand eine wedelnde Bewegung.
Seufzend ließ er sich mit fort ziehen und ich war allein.
Die Pille lag auf meiner Handfläche und leuchtete unheilvoll.
Was tat ich hier überhaupt? Ich musste verrückt sein, so leichtgläubig alles zu tun, was man mir auftrug.
Widerwillig schob ich mir die rote Pille zwischen die Lippen und schluckte.
Sie klebte an der Rückwand meines Gaumens und rutschte nur langsam meinen Hals hinunter.
Dann schälte ich mich mit äußerster Vorsicht aus Zoes 3000-Dollar-Gucci-Kleid.

„Eine Schande, dass ich dich wieder ausziehen muss!“, sagte ich wehmütig und strich über die mit Blümchen besetzte Corsage.

Umständlich nestelte ich an den Riemchen meiner Stilettos, verlor das Gleichgewicht und wäre um ein Haar in der blauen Pampe gelandet.

In letzter Sekunde balancierte ich mich wieder aus, -was auf einem Bein und dazu noch in hohen Hacken, einem Weltwunder gleichkam- und vernahm ein leises Knistern.
Wenige Augenblicke später stoben die ersten Funken aus meinen Fingern.
Seltsamerweise empfand ich ihren Anblick bereits, als etwas Vertrautes und musste grinsen.


"Na, ihr schon wieder?"



Das Grinsen verging mir schlagartig, denn die Hitze, die in Sekundenschnelle meinen Körper erfüllte, war derartig erdrückend, dass ich mir keuchend an den Hals fasste.


Uff! Nichts wie rein da!



Ich streifte hastig meinen Slip über die Knie, zog den verbliebenen Schuh aus und stieg in die Wanne hinein. Der blaue Schleim legte sich kühl um meine Haut und fühlte sich ein wenig wie Wackelpudding an. Das Gefühl war nicht unangenehm, sondern irgendwie ganz prickelnd. Erleichtert schloss ich die Augen und spürte, wie die Hitzewallungen nachließen. Linus' Apparaturen begannen zu summen und der Computer zeichnete allerhand Daten auf, die über den riesigen Monitor flimmerten.


„Bin fertig!“, rief ich hastig in Richtung Labor und Damien und Linus erschienen hinter der Glasscheibe.


Fasziniert schaute Linus auf die Daten des Monitors und jubelte: „Ist das spannend! Ich liebe es!“
Dabei hüpfte er auf und ab wie ein kleines Kind an Weihnachten.

"Freak!", rief ich lachend und verdrehte die Augen.

Das Blubbern in der Wanne wurde unterdessen immer stärker und die Leuchtkraft meiner Haut war mittlerweile zu einem gleißenden Licht angeschwollen, das den Raum erfüllte und in Damiens Augen reflektierte.

Gebannt sah er mich durch die Glasscheibe an.

Sein Blick verwirrte mich, doch mir verblieb keine Zeit darüber nachzudenken, denn im selben Moment spürte ich, dass eine enorme Menge unsichtbarer Energie aus mir austrat. Sie war nicht vergleichbar mit den bisherigen Funken, sondern wesentlich stärker. Schon erfüllte mein süßer Geruch den ganzen Raum.

Damien presste die Hände gegen die Scheibe und seine Lippen wurden weiß, weil er die Zähne so fest in ihr Fleisch grub.

Sein Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck angenommen und plötzlich wurde mir klar, was mich an seinen Augen so gestört hatte:

Seine Pupillen waren geweitet und er hatte den gleichen, unzurechenbaren Ausdruck angenommen, wie die Gesichter, der Wahnsinnigen auf der Straße, als sie durch meinen Geruch betört wurden.

Diesmal schienen meine Duftstoffe jedoch noch stärker zu sein, was wahrscheinlich daran lag, dass wir meine Mutation so lange unterdrückt hatten.

"Oh nein!", war das Einzige, was ich herausbrachte, denn was sich nun ereignete, geschah so schnell, dass mir keine Zeit mehr zum Nachdenken blieb.

Linus hämmerte verbissen auf die Tastatur seines Computers ein und versuchte verzweifelt, sich meiner steigenden Anziehungskraft zu widersetzen.

„Nur noch einen Moment, Maeve... wir haben gleich alle Daten!“, rief er und wagte dabei nicht, mich auch nur anzusehen.

Mit der freien Hand presste er sich den Ärmel seines Kittels vor den Mund um nichts zu riechen ...erfolglos!

„Linus, schalt die Anlage ab, ich kann es nicht mehr aufhalten! Es ist zu stark!“, schrie Damien und die Panik in seiner Stimme war unüberhörbar.

Langsam bekam ich es mit der Angst zu tun. War meine Anziehungskraft tatsächlich derartig stark, dass ich in Gefahr war?

„Die Glaswand fängt deine Kräfte nicht ab!!!Die Pillen, Maeve...Du musst die Pillen schlucken, schnell!“, keuchte Linus, der nun auf die Tür zukam.

Als er meinen Geruch witterte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Die Verzweiflung wich einem animalischen Ausdruck, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.

In Sekundenschnelle hatte sich Linus auf mich gestürzt und begann, mich hart und gewaltsam zu küssen. Ich war vor Schreck einige Sekunden wie erstarrt, doch dann siegte mein innerer Fluchtinstinkt und ich strampelte mit aller Kraft um mich zu befreien, während Linus, der mittlerweile völlig weggetreten war, versuchte mich aus der Wanne zu zerren.

Wo zur Hölle war Damien? Durch die Glasscheibe sah ich, wie er mit zusammengekniffenen Augen in sich hinein flüsterte.
Er rief um Hilfe.
Verzweifelt, bemühte ich mich, mich zu konzentrieren und Linus unter meine Kontrolle zu bekommen, doch die Angst versagte mir jeglichen Zugriff auf meine Kräfte. Ich war ihm ausgeliefert.

„Damien, hilf mir!“ schrie ich in wilder Panik und versuchte, die Pillen zu erreichen, die neben mir auf dem Boden lagen, doch der glitschige Schleim ließ mich immer wieder straucheln und hinfallen.

Irgendwann ließen meine körperlichen Kräfte nach und es gelang Linus, mich aus der Wanne zu ziehen und auf den Fußboden zu schleudern.

Ich hob abwehrend die Hände, doch Linus drückte mich gewaltsam zu Boden. Sein Gesicht hatte jeglichen, menschlichen Zug verloren. Es war nur noch eine lüsterne, apathische Maske, die mich in Todesangst versetzte.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, merkte ich, wie jemand Linus mit aller Gewalt von mir fort riss.

Es war Damien, der Linus so fest im Nacken gepackt hatte, dass beide in einem wilden Durcheinander über den Boden rollten.

Ich bekam eine der Pillen zu greifen und stopfte sie in den Mund, so schnell es mir mit meinen zitternden Fingern gelang.

Dann herrschte Stille...

Kapitel 15



Linus und Damien ließen schlagartig voneinander ab und ich konnte deutlich erkennen, dass sich ihre Gesichtszüge binnen Sekunden wieder normalisierten.


Was blieb, war die pure Verwirrung, die ihnen buchstäblich ins Gesicht geschrieben stand.
Stirnrunzelnd sahen sie sich um und versuchten, sich einen Reim darauf zu machen, weswegen sie gerade auf dem Boden lagen und in einander verkeilt waren. Kurz darauf entdeckten sie mich und kamen mit ziemlich ratlosen Gesichtern zu mir hinüber.
Sie hatten nicht die geringste Ahnung, was sich innerhalb der letzten Minuten abgespielt haben mochte.

Da saß ich, nackt, nur das 3000-Dollar-Kleid von Zoe an die Brust gedrückt, über und über mit blauem Schleim beschmiert…und heulte los.

Als meine emotionalen Schleusen erst einmal geöffnet waren, gab es kein Halten mehr.
Es war, als fiele die gesamte Last der letzten Tage plötzlich von mir ab.

Mein Körper begann zu beben, ich schluchzte und schniefte, während mir unaufhörlich die Tränen aus den Augen strömten und der Rotz aus der Nase lief.

Linus und Damien hockten vor mir, auf den kalten, weißen Fliesen des Labors und tauschten besorgte und gleichzeitig verzweifelte Blicke miteinander.

Keiner von beiden wusste, was geschehen war und weinende Frauen gehörten offensichtlich nicht zu den Dingen, die Mutantenmänner besser ertragen konnten, als gewöhnliche Männer.

„Maeve können wir irgendwas für dich tun?“

Verzweifelt raufte Damien sich die Haare und begann, wie ein Tiger auf und ab zu laufen.

„Was ist denn bloß passiert?“, fragte Linus völlig verstört und schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf.
Erinnerungsverlust bedeutete für sein Superhirn scheinbar eine absolute Neuheit.

Nachdem ich eine Weile geheult hatte, wurde ich langsam ruhiger und erzählte den beiden schniefend, was geschehen war.

Als ich meine Erzählungen beendet hatte, sprang Damien auf, die Hände zu Fäusten geballt. Auf seinem Gesicht lag der blanke Hass.

"WAS hast du getan?", schrie er Linus an und in seiner Stimme lag etwas sehr Bedrohliches.
Wenige Sekunden später schlug er bereits auf Linus ein, der nicht wusste, wie ihm geschah.


„Wenn du sie noch einmal anfasst, dann BRINGE ich dich UM!“, stieß Damien durch die Zähne hervor und rammte Linus mit voller Wucht seinen Ellenbogen in die Rippen.


„Hört auf!“, schrie ich immer wieder, aber die beiden waren schon in eine wilde Prügelei vertieft, ohne auch nur die geringste Notiz von mir zu nehmen.

Verzweifelt, schlang ich meine Arme um die Knie, bettete den Kopf darauf und weinte bitterlich.


Was sollte mir meine Fähigkeit in Zukunft bringen, wenn ich dadurch wohlmöglich in Lebensgefahr schwebte?

Worin lag der Vorteil, wenn man ständig Angst haben musste, vergewaltigt zu werden?
Es würde doch Jahre dauern, ehe ich meine Kräfte im Griff hätte und bis dahin waren wahrscheinlich alle um mich herum verkracht.

„WAS IST HIER LOS?“, polterte plötzlich eine Stimme über unsere Köpfe hinweg.

Schlagartig wurde es still und ich blickte mit tränenverschleierten Augen auf.

Attius stand in der Mitte des Raums und stemmte beide Hände in die Hüften.

Sein Gesichtsausdruck war eine Mischung aus Spott und Fassungslosigkeit, während seine Augen rastlos über die verstörende Szene schweiften und dann auf Linus und Damien ruhen blieben.

In diesem Moment kam mir der zwei Meter große Riese wie ein wahrhaftiger Engel vor.
Mit gemessenen Schritten trat er auf die beiden zu, die nun endlich voneinander abgelassen hatten und atemlos keuchend, mit betretenen Mienen zu seinen Füssen kauerten.

„Kann mir bitte mal irgendjemand erzählen, was hier los ist? Habt ihr nichts Besseres zu tun, als in Anwesenheit eures neuesten Zuwachs aufeinander ein zu prügeln wie die Berserker?“

Der Blick, den er den beiden zuwarf, war vernichtend und obwohl ich erleichtert war, dass endlich Ruhe herrschte, bekam ich ein schrecklich schlechtes Gewissen.

Schließlich war es nicht ihre Schuld gewesen was passiert war, sondern meine, weil ich sie mit meinem Geruch wahnsinnig gemacht hatte.

Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und räusperte mich.

Attius blickte erstaunt auf und wartete darauf, dass ich etwas sagte.

Ohne zu überlegen, stammelte ich auch schon los und erzählte ihm, was geschehen war. Attius schwieg und kniff konzentriert die Augenbrauen zusammen. Dann, irgendwann, wendete er sich verzweifelt an Linus und Damien: “Herrgott nochmal, wo ist eine Frau, wenn man sie braucht? Linus, hol‘ sofort Zoe her!“
Linus nickte und verschwand.
Zu allem Überfluss begann ich schon wieder zu heulen und beendete meinen Vortrag damit, dass ich nie wieder kommen würde und dass er nichts weiter tun müsse, als mir einen Vorrat seiner gelben Pillen zu überlassen und ich würde verschwinden, ohne ihnen weiter das Leben schwer zu machen.

Attius hörte mir weiter schweigend zu. Ein Ausdruck des Bedauerns trat in seine Augen während er sich neben mich kniete und mir unbeholfen den Kopf tätschelte.


„Mach' dir keine Vorwürfe, Maeve….Du kannst nichts dafür und außerdem war das gerade garnichts im Vergleich zu DEM, was ich bei anderen Turns schon erlebt hab!“
„Ehrlich?“, schniefte ich hinter meinen Knien hervor und sah Attius durch meinen Tränenschleier hindurch an.

„Klar, du hast wenigstens nicht das ganze Haus in Brand gesteckt, oder versehentlich die Gedächtnisse der Menschen, eines gesamten Einkaufscenters gelöscht!Was meinst du, weshalb ich so viel Geld und Energie in die Entwicklung dieser Pillen gesteckt habe?“

Gütig lächelte er mich an und deutete auf Damien.

„Damien hat uns Monate lang mit seinen Gedanken belästigt, als er noch nicht wusste wie er sie steuern konnte.“

„Oh ja!“, vernahm ich plötzlich Zoe, die herein gekommen war und mir mit einer flinken Bewegung einen großen, flauschigen Bademantel zuwarf, ehe sie fortfuhr:

„Du glaubst nicht, wie schrecklich es war, permanent die unanständigen Gedanken meines pubertierenden Bruders mit zu bekommen!“

„Was soll ich denn sagen?“, warf Damien ein und runzelte verärgert die Stirn. „Meint ihr, ich hatte Freude daran für alle Welt ein offenes Buch zu sein? Gewisse Dinge behalten Männer lieber für sich...“

Schon bei der Erinnerung daran, stieg ihm die Röte ins Gesicht.

Nun musste ich doch grinsen und ließ mich von Zoe nach oben geleiten, nachdem sie die Jungs verarztet, hinaus gescheucht und mich in den Bademantel befördert hatte.

"Du sorgst ja ganz schön für Wirbel hier!", sagte sie sanft und schlang den Arm um mich.

Allmählich ließ mein Weinen nach und ich konnte wieder klarer denken.
Ich hatte überreagiert. Gleich alles hinschmeißen zu wollen, war nicht gerade heldenhaft und scheinbar war keiner der anderen böse auf mich.

„Ich hab übrigens dein Handy genommen und deiner Tante Bescheid gesagt, dass du heute hier übernachtest!“, erklärte mir Zoe, während wir uns auf den Weg in die Villa machten.

"Wir sollten erst mal Ruhe einkehren lassen, ehe wir dich zurück schicken, denkst du nicht? Außerdem wird Damien dich wohl kaum mehr aus den Augen lassen."

Ich nickte stumm und schlich mit gesenktem Kopf hinter ihr her.

Auf dem Vorplatz der Villa standen einige Mutanten zusammen, die sich verdattert nach uns umsahen.
Bei meinem Anblick begannen sie, aufgeregt zu tuscheln.

"Keine Sorge, wir werden das nicht an die große Glocke hängen!", flüsterte Zoe und zog mich eilig an ihnen vorbei ins Haus.

Als wir an einem großen Spiegel im Flur vorbei kamen, verstand ich die Reaktionen der anderen Mutanten schlagartig.

Erschrocken betrachtete ich mein Gesicht und stellte fest, dass sich meine Schminke mittlerweile zu einer unschönen Pampe vermischt hatte, die von meinen Augen in Richtung Kinn gelaufen war. Ein roter Striemen zog sich über meine Wange, meine Augen waren rot und verquollen und Zoes kunstvolle Hochsteckfrisur glich inzwischen einem Storchennest, das die besten Zeiten längst hinter sich hatte. Für einen Mutanten machte ich wirklich einen erbärmlichen Eindruck.


Zoe buchsierte mich eilig weiter, wahrscheinlich um zu verhindern, dass ich bei meinem eigenen Anblick wieder in Tränen ausbrechen würde.

„Du nimmst jetzt erst mal ein gescheites Bad und dann wird’s dir im Handumdrehen besser gehen!“, sagte Zoe aufmunternd und schob mich vorwärts.

Ehe ich mich versah, stand ich schon pudel nudel nackig in einem der Gästebäder.

Zoe hatte mir bereits heißes Wasser eingelassen und plapperte auf mich ein, während sie bunten Badezusatz aus mehreren Flaschen in die riesige, freistehende Badewanne laufen ließ.

Sie wedelte mit der Hand darin herum und sofort türmten sich gewaltige Schaumkronen auf dem Wasser.

„Ruh' dich aus!“, flüsterte sie verständnisvoll, ehe sie mir das Bad überließ und verschwand.

Langsam schleppte ich mich in die Wanne und ließ mich dankbar in das heiße Wasser und den duftenden Schaum hinein gleiten.

Erleichtert genoss ich die prickelnde Wärme auf meiner Haut.
Herrlich! Endlich Ruhe und Frieden. Die Anspannung, die noch immer in meinen Gliedern steckte, löste sich allmählich. Regungslos lag ich da und pustete Löcher in die Schaumberge vor meiner Nase, während meine Gedanken umher schweiften und ich mich langsam mehr und mehr entspannte. Ich vermochte nicht zu schätzen, wie lange ich schon allein war, doch die Haut an meinen Fingern wurde schon ganz schrumpelig. Trotzdem konnte ich mich nicht aufraffen, aus der Wanne zu steigen. Stattdessen ließ ich mich noch ein bisschen tiefer sinken und tauchte mit dem Kopf unter die Wasseroberfläche.

Sanfte Stille empfing mich…Nichts war mehr zu hören, außer dem leisen Gluckern des Wassers.

Irgendwann, wurde mir die Luft zu knapp und ich stieß japsend und keuchend durch die Wasseroberfläche.

Zoe hockte auf dem Badewannenrand und lachte mich an, als ich auftauchte.

„So, nun ist es aber genug. Nicht, dass du uns noch ersäufst?“
Sie eilte davon und kam mit einem Stapel frischer Handtücher, Pantoffeln, Unterwäsche und einen weißen Trainingsanzug aus Nickistoff zurück, den sie lächelnd neben die Wanne legte, ehe sie wieder verschwand.
Nachdem ich mich abgetrocknet und meinen prickelnden Körper mit einer von Zoes Bodylotions eingerieben hatte, schlurfte ich aus dem Bad und irrte ratlos durch das obere Geschoss. Niemand war da. Ich fühlte mich ein Wenig verloren, doch da ich immernoch Gast in diesem Haus war, traute ich mich nicht, ohne Erlaubnis durch das Haus zu laufen. Irgendwer würde mich schon holen kommen also beschloss ich, mir die Zeit solange alleine zu vertreiben. Ich betrachtete nochmal die vielen Gegenstände, die im oberen Flur aufgestellt waren und sah in die Räume, die nicht verschlossen waren. Es handelte sich haupsächlich um Gästezimmer und Büros. Schließlich landete ich in der Bibliothek.

Beim Anblick des riesigen Saals entfuhr mir ein begeistertes “Oh mein Gott!“.

Der Geruch und das bloße Ansehen der bis unter die Decke reichenden Regale, die mit hunderten -nein tausenden – von Büchern vollgestopft waren, löste Begeisterungsstürme in mir aus.

Seitdem ich klein war, war ich der reinste Bücherwurm gewesen und träumte von meiner eigenen Bibliothek. Diese übertraf jedoch alles, was ich mir in meinen kühnsten Träumen ausgemalt hatte. Langsam wanderte ich vor den Regalen umher und bestaunte die zahlreichen Werke.
Begeistert strich ich über die ledernen Einbände und zog bald dieses, bald jenes Buch hervor, um darin zu blättern. Mit einer uralten Ausgabe von 'Grimms Märchen' kuschelte ich mich in einen großen, braunen Ledersessel vorm Fenster und vergaß bald alles um mich herum.

Ich wurde erst aus meiner Welt gerissen, als sich Linus neben mir räusperte und mich bat, ihm in das Besprechungszimmer zu folgen, weil Attius gerne über die Ergebnisse meiner Untersuchung beraten würde und es deshalb eine Versammlung gebe.

Dabei wagte er es kaum mich anzusehen und ließ die Schultern hängen.

Auf dem Weg nach unten herrschte peinliches Schweigen, bis ich Linus schließlich am Arm festhielt und ihn zum Stehenbleiben zwang.

Ich wollte nicht, dass er sich weiter Vorwürfe machte und sagte deshalb so freundlich und unbeschwert wie möglich:

"Linus, es ist schon okay! Du konntest nichts dafür. Ich bin nicht böse, ehrlich."

Linus schwieg eine Weile. Dann sah er plötzlich auf, nickte erleichtert und flüsterte:

"Es tut mir trotzdem unsagbar leid, Maeve. Ich bin einer der schlausten Mutanten auf dieser Erde und ich habe einen so fahrlässigen Fehler begangen. Das ist unverzeihlich.
Ich hätte Sicherheitsvorkehrungen treffen müssen, aber ich dachte wirklich, dass die Glaswand ausreichen würde, um deine Energie abzufangen...Wer konnte ahnen, dass sie hindurch reichen würde? Wir haben bisher nur gute Erfahrungen damit gemacht.Verdammt,es MUSS doch einen Weg geben, uns vor deinem Gestank zu schützen!"

Endlich lachte er wieder und ich konnte dem Impuls nicht widerstehen, ihn kurz an mich zu ziehen und zu drücken.

„Du wirst einen Weg finden, das weiß ich!“, flüsterte ich und tatsächlich strahlte Linus übers ganze Gesicht, als ich ihn los ließ!

„Natürlich! Ich hab sogar schon eine Idee! Aber nicht jetzt, wir sind nämlich da.“

Kapitel 16



Das Besprechungszimmer war ein langer, schmaler Raum im Erdgeschoss, in dessen Mitte ein überdimensionaler, runder Tisch und eine kleine, rollbare Tafel standen.
Etwa 30 Mutanten, darunter Attius, Kathy, Zoe und Damien, saßen um den Tisch herum und warteten bereits auf meine Ankunft. Linus führte mich zu einem freien Stuhl, holte einmal tief Luft und schrieb dann mit einem schwarzen Stift das Wort: „OXYTOCIN“ an die Tafel.
Aufgeregt begann er auf und ab zu laufen und erklärte:
„Ich habe mich ausführlich mit den Daten des Scans befasst um Maeves Fähigkeiten zu entschlüsseln und Oxytocin, meine lieben Mutanten, ist des Rätsels Lösung.“
Er machte eine kunstvolle Pause und fuhr sich aufgeregt durch das strubbelige, blonde Haar. Sofort begannen die Mutanten um mich herum miteinander zu flüstern, woraufhin Linus sich ungeduldig räusperte und weitersprach:
„Oxytocin ist ein Hormon, das im Hypothalamus -einem Teil des Zwischenhirns- produziert und in der Hypophyse, der Hirnanhangsdrüse, in den Blutkreislauf freigesetzt wird…

Normalerweise produziert ein Mensch davon nur sehr wenig, aber bei Maeve war der Ausstoß dieses Hormons während der Messungen mehr als 200-mal so stark, obwohl es auf sie selbst keinerlei Auswirkungen zu haben scheint!“

Er sah in die Runde, ehe er weiter sprach:
„Oxytocin wird in Fachkreisen auch als „Liebeshormon“ bezeichnet. Es sorgt für die starke Bindung zwischen Müttern und Kindern oder wird ausgeschüttet, wenn Menschen sich verlieben. Oxytocin verringert Gefühle wie Angst, Stress und Misstrauen. Außerdem zeigen Studien, bei denen man den Patienten ein spezielles Nasenspray verabreicht hat, dass kontrolliert abgegebenes Oxytocin das Mitgefühl steigert, Zuneigung auslöst und eine positive Wahrnehmung des Gegenübers bewirkt. Es selbst hat keinen Eigengeruch, sondern wird lediglich unterbewusst wahrgenommen, aber scheinbar ist der süßliche Geruch, der das Oxytocin begleitet, eine Nebenerscheinung der Mutation. Es gibt ja einige Mutanten, die darüber berichten, dass sich ihr Geruch nach dem Turn geändert habe. Bei Maeve scheint es eben ein wenig stärker zu sein."
Alle am Tisch musterten mich mit interessierten Blicken und ich spürte, dass ich malwieder rote Ohren bekam. Unsicher lächelte ich in die Runde.
Linus klopfte energisch mit dem Stift auf die Tafel und brachte uns dazu, ihm wieder unsere Aufmerksamkeit zu widmen.

Zoe hob die Hand und fragte: „Also kann Maeve sowohl die Zuneigung ihres Gegenübers, als auch ihre eigene Anziehungskraft manipulieren, wenn sie ihre Kräfte beherrscht?“
„Unter anderem!“, meldete sich nun Attius zu Wort und stand von seinem Platz auf, ehe er weitersprach:

„Maeve könnte durch die Stoffe, die sie ausstößt im Grunde jede beliebige Reaktion eines Menschen erreichen. Sie kann bewirken, dass andere ihr sofort vertrauen, sich zu ihr hingezogen fühlen, sie begehren oder sogar lieben.“
Ein Raunen ging durch die Menge und einige der Mutanten, begannen erneut miteinander zu tuscheln.

„Ruhe bitte!“, mahnte Linus und ergriff nun wieder das Wort.
„Was Maeve für andere Mutanten und auch für uns so interessant macht, ist die ungeheure Macht, die ihr dadurch innewohnt!“
Kathy ließ gelangweilt ihre Kaugummiblase knallen und raunte dann laut hörbar:
“Also ich krieg die Typen auch so rum!“

Dann warf sie mir einen provokanten Blick zu und drehte ihre wasserstoffblonden Haare um die Finger.
Ich streckte ihr die Zunge raus.
Dumme Gans! Nein, ich konnte sie nicht ausstehen!

Einige am Tisch lachten, verstummten allerdings sofort, als Attius in ernstem Tonfall sagte:
„Janus könnte mit Maeves Fähigkeit im Handumdrehen eine Armee unter sich aufbauen, die ihm absolut hörig und ergeben wäre, und dazu müsste er nicht einmal besondere Mühen aufbringen.

Er könnte sich seine Gräueltaten, seine Erpressungen, das Schmeicheln -alles wodurch er bisher seine Anhängerschaft vergrößert hat- sparen, denn die Mutanten würden ihm ganz freiwillig folgen. Janus würde alles versuchen um Maeve auf seine Seite zu holen und mit ihrer Hilfe seine eigenen Interessen durch zu setzen, deshalb darf er unter keinen Umständen Wind von der Sache bekommen.“

Ich konnte andere Menschen manipulieren? Sie in mich verliebt machen? Ihr Vertrauen gewinnen? Das klang ja zu toll um wahr zu sein, aber so richtig freuen konnte ich mich nicht, denn scheinbar bedeutete dies auch, dass ich mich in großer Gefahr befand.

"Aber....ich würde mich Janus nie anschließen!", entfuhr es mir.
„Solange ich mich weigere, meine Kräfte für ihn einzusetzen, kann er mit meiner Fähigkeit nicht das Geringste anfangen und außerdem ist er im Knast!“

"Von WOLLEN kann auch keine Rede sein", seufzte Attius. „Glaub mir, Janus hat seine eigenen Methoden, andere gefügig zu machen!“
Damien sprang mit geballten Fäusten von seine Platz auf und schrie: „Er wird sie aber nicht bekommen! Wir beschützen sie!“

Die anderen Mutanten murmelten zustimmend.
Es entbrannte eine hitzige Debatte, bei der ich schweigend in der Mitte saß und mit offenem Mund und roten Ohren von einem zum anderen starrte, als mir klar wurde, dass man hier über mich sprach, als wäre ich überhaupt nicht anwesend.

„Hast du irgendwelche Fragen?“, wandte sich Linus nun an mich.

Ich schüttelte den Kopf und starrte auf die Tischplatte vor meiner Nase.

„Im Augenblick nicht“, flüsterte ich.

Die Maserung des Holzes erschien mir plötzlich außerordentlich interessant.

„Also, was machen wir jetzt mit dir?“, fragte Attius mehr in die Runde, als an mich persönlich gerichtet.

„Wir können sie nicht alleine lassen, solange sie ihre Kräfte nicht beherrscht! Ich habe am eigenen Leib erfahren, wie schnell ihr etwas zustoßen könnte, wenn sie nicht vorsichtig ist“, murmelte Linus mit rotem Kopf.

„Natürlich bleibt sie hier!“, riefen einige.
„Sie muss die Pillen nehmen!“, verlangten andere.

Kathy war selbstverständlich der Meinung, dass man mich mit ruhigem Gewissen wieder weg schicken könne, was in mir den Verdacht aufkeimen ließ, dass sie mich wohlmöglich am Liebsten persönlich zu Hause abgeliefert hätte um mich möglichst schnell wieder los zu werden.

Zoe und die meisten anderen bestanden jedoch darauf, mich im Auge zu behalten und erkundigten sich, ob ich es möglich machen könne, die nächste Zeit erst mal in der Villa zu bleiben.

Ich zögerte einen Augenblick und nickte dann. Zwar tat es mir um Maya leid, da ich sie ohnehin schon seit geraumer Zeit vernachlässigt hatte, aber auf Zach konnte ich gerne eine Weile verzichten.

Ich würde Tante Fi einfach erzählen, dass ich die nächsten Tage bei Jenny übernachten wolle. Fianna war was Übernachtungen anging glücklicherweise nicht besonders streng.

„Solange die Schule nicht darunter leidet!“, war eine ihrer Standardantworten und da ich, trotz meiner stinkenden Faulheit, ausgezeichnete Noten mit nach Hause brachte, sah ich kein Problem darin, eine Weile hier zu bleiben. Auf diesem Weg konnte ich wenigstens in Damiens Nähe sein.
Ich bekam ein großes Glas der gelben Pillen überreicht, die ich solange nehmen sollte, bis ich meine Kräfte unter Kontrolle haben würde -so schärfte Attius mir ein.

Er versicherte mir jedoch, dass ich unter Aufsicht schon bald meine Kräfte erproben dürfe und wir die Dosis Stück für Stück verringern würden.

Nachdem die wichtigsten Fragen geklärt waren, wurden die restlichen Punkte der Tagesordnung besprochen.

Guillherme, ein schwarzhaariger, braungebrannter Mutant mit golden leuchtenden Augen, bat in portugiesischem Akzent um ein neues Auto, da man ihm einen Posten angeboten hatte, der außerhalb von Manhattan lag.
Im Gegenzug erbot er sich, mich im Kampfsport zu trainieren.
Attius willigte ein. Scheinbar waren teure Autos und Klamotten für seine Geldbörse nur Peanuts.

Während die letzten und weniger interessanten Punkte besprochen wurden, nutzte ich die Gelegenheit, mich umzusehen und die anderen Mutanten aus der Nähe in Augenschein zu nehmen.
Sie waren allesamt wunderschön und einige schienen sogar im selben Alter zu sein wie ich.
Ein paar der Jüngeren langweilten sich offensichtlich und machten allerhand Unsinn, sobald Attius ihnen den Rücken zukehrte.

Unter ihnen war auch Lynn, eine zierliche kleine Mutantin, mit silber-grauen Augen und aschblondem Wuschelkopf. Gerade, als ich zu ihr hinüber schielte, kniff sie die Augen zusammen und brachte einige der Gläser auf dem Tisch zum Springen, indem sie das Wasser darin gefrieren ließ.
Mit lautem Klirren sprangen die Scherben auseinander und hüpften über den Tisch.

„Tschuldigung!“, murmelte Lynn, als Attius‘ sich zu ihr umdrehte und ihr einen vernichtenden Blick zuwarf.
Ich kicherte.

Daraufhin erzeugte Kyle, ein hübscher Mutant mit roten Haaren und Sommersprossen, einen winzigen Wirbelsturm in meinem Wasserglas und zwinkerte mir zu.
Hastig legte ich meine Hände um das Glas, als Damien von der gegenüberliegenden Seite zu mir hinüber spähte.

„Kinder, reißt euch zusammen!“, summte er vorwurfsvoll in meiner Brust.
Attius beendete die Sitzung und verabschiedete sich, da er bedauerlicherweise die nächste Woche auf Geschäftsreise in Prag sein würde. Ich nahm mir vor, Damien unbedingt nach seinem Job zu fragen, sobald wir unter vier Augen waren.

Als die Besprechung endlich vorbei war, überkam mich das Bedürfnis mit Damien alleine zu sein.
Eilig schob ich den Stuhl nach hinten und stürmte hinaus in den Garten.

"Ich muss raus hier!", zischte ich ihm noch zu und rannte los.

Blindlings raste ich zwischen den Sträuchern und Bäumen davon, ohne darauf zu achten, wohin ich lief. Ich rannte bis meine Lungen schmerzten und ich Seitenstiche bekam.

Keuchend ließ ich mich ins Gras fallen und schloss die Augen.
Nach einer Weile raschelte es neben mir im Gras und ehe ich mich versah, hatte Damien mich eingeholt und schlang die Arme um mich.
"Du hast mir irgendwie gefehlt!", flüsterte er sanft in mein Haar hinein und zog mich grinsend zu sich heran.

17. Kapitel



Erleichtert lehnte ich mich an seine Brust, schloss die Augen und spürte, wie sich sein Oberkörper gleichmäßig hob und sank.

Es war unheimlich wie ruhig und stark ich mich in seiner Nähe fühlte und dass, obwohl ich ihn erst ein paar Tage kannte und sämtliche Erlebnisse der vergangenen Stunden mich eigentlich hätten verrückt machen müssen.

Da ich befürchtete, er könne mich loslassen, blieb ich regungslos sitzen und wagte nicht zu sprechen.

Damien strich langsam mit den Fingerspitzen über meinen Kopf und ich spürte, dass sich meine Nackenhärchen vor Erregung aufstellten, als seine Finger sich zärtlich in mein Haar gruben.

„Weißt du eigentlich wie glücklich ich bin?“, fragte er plötzlich und hauchte seinen warmen Atem in mein Haar.

"Du empfindest mich also nicht als lästige Klette, die man unbeaufsichtigt nicht aus dem Haus lassen darf?", krächzte ich atemlos und hob den Kopf um ihn anzusehen.


Ein versonnenes Lächeln umspielte seine Lippen, ehe er antwortete:

“Du bist ein ganz besonderer Mensch, Maeve…trotz allem was geschehen ist, bist du stark und mutig und eigensinnig…das gefällt mir! Und ich würde nichts lieber tun, als an dir zu kleben, bis ich alt und grau bin.“

Ich konnte nicht verbergen, dass seine Worte mir schmeichelten, doch gleichzeitig war es mir ein Rätsel, dass dieser atemberaubende Mann so positiv von mir dachte.

Ich fühlte mich weder stark noch mutig -eigensinnig traf es da schon eher. Waren das etwa meine Lockstoffe, die seinen Verstand benebelten? Aber das konnte nicht sein…schließlich hatte ich doch sofort die Pillen geschluckt, als…
Ein Schauer kroch meinen Rücken hinab.

Damien schien meine Gedanken erraten zu haben und sein Gesicht wurde trübsinnig.

„Es ist unverzeihlich, dass Linus und ich beinahe …“ Er stockte.

Gedankenversunken blickte er in die Ferne und sein Gesicht strahlte tiefe Traurigkeit aus.

„Es wäre das Schlimmste auf der Welt, wenn dir etwas zustoßen würde…nicht nur, weil ich dein Schutzpatron bin, sondern auch, weil ich dich…“

Mein Herz schlug so wild, dass ich Angst hatte, es würde mir jeden Moment aus der Brust springen, während ich das Gefühl hatte, dass 90 Prozent meiner Gehirnzellen bereits den Strandurlaub auf Bora Bora angetreten hatten und mit Strohhüten und Cocktails eine Polonaise um den Pool machten.

Oh Gott, Maeve! Sag was, betreib Konversation!



„Ja?“, stammelte ich atemlos.

Damien zögerte eine Weile, doch dann sah er mir fest in die Augen, holte einmal tief Luft und sagte:

„Ich hab dich wirklich furchtbar gern.“

Verlegen starrte Damien zur Seite.

Endlich sah er mich an und in seinem Blick lag etwas Fragendes.

Erde an Maeve, Erde an Maeve…einatmen… ausatmen. Kann mir mal bitte irgendwer nen‘ Eimer kaltes Wasser über den Schädel schütten? SCHNELL?



Ich konnte meine Lippen nicht bewegen, denn meine Gedanken überschlugen sich und purzelten wild durcheinander, daher grinste ich schüchtern und rupfte zu allem Überfluss auch noch ein paar Gänseblümchen aus dem Gras.


Iiiih, würg! Verdammt! Das ist ja schlimmer, als in jedem Kitschroman! Du kennst den Kerl nicht mal drei Tage. Kannst du bitte malwieder klar kommen? Haaalloooo...



Mein Magen tanzte Rumba und ich lächelte dümmlich in Richtung meines Traummannes.
Der rührte sich nicht.

"Ich mag dich auch!....Echt!", betonte ich mit Nachdruck. Mein Puls raste.

Schweigend sah Damien mich an und dann zog er ganz langsam mein Gesicht zu sich heran.

Erwartungsvoll schloss ich die Augen, doch der ersehnte Kuss blieb aus.
Wie, was? Komm her! Was soll das?



Seine Lippen wanderten über meine Augenlider, flatterten wie Schmetterlinge über meine Wangen, streiften meine Stirn, berührten meinen Haaransatz, meine Finger und mein Kinn.

ENDLICH, nach einer gefühlten Ewigkeit, legte er sie unglaublich sanft und zärtlich auf meinen Mund.

Ich konnte es immer noch nicht fassen, wie sehr mich seine Berührungen um den Verstand brachten, obwohl es natürlich nicht das erste Mal war, dass mich ein Junge berührte.

Mit 16 Jahren hatte ich auf der Klassenfahrt meine Unschuld an Eric Jackson verloren. Es war nicht der Rede wert gewesen. Ein paar lieblose Stöße auf dem Deckel des Mädchenklos und es war vorbei. Damals war ich jedoch der törichten Meinung, unglaublich verliebt zu sein.

Danach waren ein paar Liebeleien und Flirts gefolgt. Allesamt besser, als mein schreckliches erstes Mal, doch nichts, was ich bisher mit Jungs erlebt hatte, ließ sich mit den Gefühlen vergleichen, die Damien in mir auslöste, wenn er mich auf diese Weise berührte.

Ich fragte mich, ob es ihm wohl genauso ging und bei dem Gedanken daran, dass er möglicherweise schon viele Mädchen um den Verstand gebracht hatte, bohrte sich die Eifersucht wie ein brennender Dorn in mein Herz.

„Er ist ein Weiberheld!“, echote Zoes Stimme von irgendwoher aus meinem Gedächtnis und piekste in meinen Eingeweiden herum.


Nun sei nicht albern Maeve!



Dass die Mädchen auf ihn standen, war auf der Hand liegend. Er war derartig gutaussehend, dass er wahrscheinlich Jede hätte haben können, aber hatte er das ausgenutzt? Irgendwie konnte ich es mir nicht vorstellen, denn Damien war zwar frech und charismatisch, aber nicht gerade ein Casanova.

„Einen Penny für deine Gedanken!“, flüsterte Damien neben mir und riss mich aus meinen Grübeleien.

„Was hat das zu bedeuten?“, fragte er vorsichtig und fuhr mit dem Zeigefinger zärtlich über meine gerunzelte Stirn.

Zaghaft sah ich auf.

„Hattest du schon viele Mädchen?“

Nun war es raus und ich spürte, wie meine Ohren glühend heiß wurden, daher warf ich hastig meine Haare über die Schultern und bemühte mich, ihn möglichst neutral anzusehen.

Jetzt gibt er dir den Laufpass…



Damien lachte schallend und seine makellosen Zähne blitzen.

„Ein paar! Nichts Weltbewegendes.“

„Und hast du schon mit vielen Mädchen…?“

War ich übergeschnappt? Wollte ich das wirklich wissen?

„Was, ob ich mit Mädchen geschlafen habe?“, hakte Damien erstaunt nach.

Seine Frage klang ernst, doch in seinen Augen entdeckte ich einen Hauch Belustigung,ehe er antwortete:

„Weitaus weniger, als du wahrscheinlich denkst…und dann habe ich festgestellt, dass es nicht besonders viel Spaß macht, wenn keine Gefühle mit ihm Spiel sind. Für mich war irgendwann klar, dass ich damit lieber warten wollte, bis ich die Richtige finde.“

Strahlend sah er mich an.

Ding …ding…Kitschmusik und bunte Seifenblasen…Gleich verliere ich das Bewusstsein!



Bei dem Gedanken mit ihm zu schlafen, durchflutete meinen Körper eine Mischung aus unbändigem Verlangen und bodenloser Ehrfurcht, doch Damien erstickte meine Überlegungen  im Keim, indem er rasch hinzufügte:

"Was DAS angeht, werde ich vorest übrigens keinerlei Versuche unternehmen...nicht, dass ich es nicht möchte, aber wir kennen uns kaum und...das wäre viel zu schnell! Du bist mir wichtig, Maeve"

"Schade!", seufzte ich grinsend, doch im Grunde fand ich es süß, dass Damien so ein Romantiker war.

"Nein Scherz, ich finds gut!", bemühte ich mich zu sagen und grinste verlegen.

Damien nickte erleichtert und fügte hinzu: "Und außerdem, hab ich Angst, dass es es sich störend auf unser Training auswirken könnte.“

„Wieso sollte es?“, fragte ich und zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

Damiens Stimme war nunmehr ein leises Flüstern, als er weitersprach:

„Du bist einfach zu süß! Es fällt mir schon schwer genug, in deiner Gegenwart einen klaren Gedanken zu fassen.“

Er schlug die Augen nieder und seine Wangen brannten feuerrot.

„Wenn wir erst einmal damit angefangen haben, könnte es passieren, dass ich mich überhaupt nicht mehr konzentrieren kann und ich bin jetzt Mutant der Stufe drei..Mehr Rechte-mehr Pflichten."

Ich brach in schallendes Gelächter aus.

„Du meinst,ich soll dich nicht auf dumme Ideen bringen, weil meine Fähigkeiten das schon von allein bewirken werden?“

Damien schlug sich erschrocken die Hand vor den Mund.

„Gott, daran habe ich ja noch keine einzige Sekunde gedacht. Wie soll ich das bloß aushalten?“

In seinem Gesichtsausdruck lag die pure Verzweiflung und er rückte ein Stück von mir ab.

Obwohl ich wusste, dass ich es mit meinem Verhalten malwieder auf die Spitze treiben würde, konnte ich nicht anders und beugte mich mit einem verführerischen Augenaufschlag zu ihm hinüber.

Meine Finger strichen neckisch die zarten Linien seines muskulösen Oberkörpers nach, als ich den Kopf zur Seite neigte und ihm zu flüsterte:

“Ich werde jede Sekunde genießen, die ich dich betören darf!“

Damiens Augen weiteten sich erstaunt und er stöhnte vor Erregung auf.

„Oh Maeve, glaub mir, du brauchtst keinen Funken Mutantenkraft dazu.“

„Nicht?“
Ich rückte noch näher an ihn heran und ließ meinen Atem wie zufällig sein Ohr streifen.

Im nächsten Moment hatte Damien meine Taille umfasst und mich umgeworfen, sodass wir ineinander verschlungen über den Rasen rollten.Er küsste mich voller verzweifelter Leidenschaft.

So war das im Leben. Eben sprach man noch in aller Vernunft darüber, dass man sich mit den körperlichen Bedürfnissen Zeit lassen wollte und im nächsten Moment presste man sich an einen fremden Körper, der einen in den Wahnsinn trieb.

Nun glitten seine Finger langsam meinen Rücken hinab und dann -viel zu abrupt- sprang er auf und lachte nervös.

„Schluss jetzt! So wird das nie was!“

In seinen Augen lag heißer Glanz.

„Komm wieder her!“, sagte ich mit gespielt- weinerlicher Stimme und streckte meine beiden Arme aus.

Sein plötzliches Verschwinden versetzte meinem Herzen einen schmerzvollen Stich.

„Bist du brav?“

Streng blickte Damien mich an und ging mit ein paar Zentimetern Sicherheitsabstand vor mir in die Hocke.

Ich legte die Hand feierlich zum Schwur auf meine Brust.

„Brav und anständig! Die Unschuld vom Lande!“
„Na gut!“ Damien rutschte erleichtert näher und legte sich neben mich auf den Bauch.

„Erzähl' mir was von dir!“

Gespannt blickte er mich an.
„Was willst du wissen?“
„Na alles…,ich möchte wissen wer du bist, wovon du träumst, wovor du Angst hast...

"Wow, das ist aber ne ganze Menge..., können wir nicht mit etwas Leichterem anfangen?"

Er grinste.

"In Ordnung, beginnen wir mit dem oberflächlichen Kram...was ist beispielsweise dein Lieblingsessen?
Welche Musik hörst Du? Womit verbringst du sonst so deine Freizeit? Was willst du mal beruflich machen?“

„Hey, immer eins nach dem anderen!“, antwortete ich glucksend und drehte mich ebenfalls auf den Bauch, sodass wir einander zugewandt im Gras lagen.

„Also, mein Lieblingsessen? Pizza...und Schokoladenkuchen und deins?“
„Sushi!“
„Irrrgh!“ Angewidert schüttelte ich den Kopf und schrie:
„Roher Fisch? Das ist ja scheußlich!“

Damien grinste breit.

„Und welche Musik magst du gerne?“, bohrte er weiter.
„Alles durcheinander, kommt auf meine Stimmung an…und DU?“
„Klassik!“, kam es wie aus der Pistole geschossen.
Der Typ wurde mir immer unheimlicher.

"IST NICHT DEIN ERNST?!?"

Als Damien mein fassungsloses Gesicht sah, lachte er laut auf.
„Das hat wahrscheinlich damit zu tun, dass meine Eltern beide Musiker waren!“

„Was ist mit deinen Eltern?“, hakte ich neugierig nach, doch als ich Damiens Gesicht sah, hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen.

Er wirkte plötzlich traurig und verschlossen und ich ahnte, dass meine Worte einen wunden Punkt seiner Seele getroffen haben mussten.

"Tot."

Das Wort hing zwischen uns wie eine fette, dunkle Gewitterwolke und sein Gesichtsausdruck brach mir fast das Herz.

„Meine Mutter ist auch tot, also weiß ich wie es dir geht!“, flüsterte ich zaghaft und strich ihm mit der Hand über das weiche Haar.


"Magst du mit mir darüber reden?", fragte ich leise.

„Ja....schon, aber nicht jetzt....es ist zu früh....Irgendwann, wenn der Zeitpunkt richtig ist, okay?“, murmelte Damien und sein Gesicht war blass.

Ich konnte seine Reaktion nur allzu gut verstehen...auch ich sprach so gut wie nie über meine Mutter. Die Erinnerungen an sie schmerzten mich nach wie vor und ich konnte mich in dieser Sache nur Menschen anvertrauen, bei denen ich mich absolut sicher fühlte. Merkwürdigerweise gab Damien mir diese Sicherheit, doch ich würde ihn zu nichts drängen, denn ich wollte, dass auch er sich bei mir sicher fühlte. Eilig nickte ich und versuchte, die Stimmung zu retten.

„Kein Problem. Verschieben wir das Thema doch auf ein andermal…Erzähl mir doch einfach mal die wichtigsten Fakten über dich! Wie alt bist du überhaupt?“

Kläglich wurde mir bewusst, wie wenig ich eigentlich über ihn wusste und dass ich dennoch bisher keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Damiens Züge wurden weicher.

Ein paar Sekunden lag die Trauer noch auf seinem Gesicht, doch dann erhellte sich sein Blick und er antwortete, dankbar über den Themenwechsel:

„Ich bin 24.“
"Lieblingsfarbe?"
"Blau."
"Lieblingstier?"
"Hund."

Nun kam ich richtig in Fahrt.

„Welches Sternzeichen bist du?“
„Skorpion und DU, Du rasende Reporterin?“
„Ich bin Krebs!“, antwortete ich lachend.

Im Handumdrehen hatte Damien mich in eine hitzige Diskussion über das Thema Sternzeichen und Horoskope verwickelt.

Damien war der festen Überzeugung, dass Horoskope reine Geldmacherei waren, während ich zugeben musste, dass ich in jeder Zeitschrift, die mir in die Finger fiel, mein Horoskop nachlas. Ich erklärte ihm, dass das wahrscheinlich an Tante Fi lag, die uns schon von klein auf für Tarot und dergleichen begeistert hatte.

Danach unterhielten wir uns über die neusten Filme und Serien und entdeckten, dass wir in der Tat einige Gemeinsamkeiten hatten, was mich unglaublich freute. Es war überhaupt sehr lange her, dass ich mich so ungezwungen und lange mit einem Wesen des anderen Geschlechts unterhalten hatte und es tat richtig gut.


Er gab mir das Gefühl, völlig ich selbst sein zu können und selbst in der Anziehung zwischen uns lag etwas Natürliches. Wir kamen von Hölzchen auf Stöckchen, redeten über Maya, meine Schule, unsere Hobbies und ehe ich mich versah, war die Sonne am Himmel versunken und es wurde dunkel.

Irgendwann, mitten im Gespräch, knurrte mein Magen und Damien sprang erschrocken auf.

„Hast du überhaupt schon was gegessen?“

Ich verneinte und merkte plötzlich, wie ausgehungert ich war. Das ich vor lauter Damien nichteinmal ans Essen dachte, war wohl der letzte entscheidende Beweis, dass ich ihm bereits rettungslos verfallen war.

Damien nahm mich an der Hand und bestand darauf, dass wir uns unverzüglich etwas zu futtern besorgen mussten.

Ob es nun Schicksal oder Damiens Telepathie gewesen war, vermochte ich nicht zu sagen, doch als wir die Villa betraten, herrschte in der Küche bereits hektisches Treiben.

Zoe begrüßte uns freudestrahlend mit den Worten:

„Ihr kommt gerade richtig!“

Ehe Damien protestieren konnte, hatte er einen Kochlöffel in der Hand und rührte in einem großen Topf auf dem Herd.

Obwohl ich höflich anbot, mich nützlich zu machen, bestanden die anderen Mutanten darauf, dass ich heute ihr Gast sei, also setzte ich mich kurzerhand auf einen der Barhocker und ließ die Beine baumeln. Mutanten beim Kochen zuzusehen war ein schillerndes Schauspiel.

Kathy hockte mit zusammengezogenen Augenbrauen auf dem Küchenschrank und ließ allerlei Gemüse durch die Luft fliegen, während Sheryl, eine braungebrannte Mutantin mit langen blonden Dreadlocks, tatsächlich ein ganzes Spanferkel röstete, indem sie Flammen aus ihren Fingern schießen ließ.

Linus stampfte in einem weiteren Topf  gerade Kartoffeln zu Püree. Derweil machten Lynn und Kyle malwieder irgendwelchen Blödsinn und wurden schließlich von Zoe schimpfend aus der Küche gescheucht, um den Tisch zu decken.

Als das Essen fertig war, gingen wir alle gemeinsam ins Esszimmer. Damien rückte mir wieder den Stuhl zurecht und ich kicherte verlegen, als er sich zum Spaß leicht verbeugte und dann neben mir Platz nahm. Seine altmodischen Manieren waren für mich komplettes Neuland, aber ich konnte nicht leugnen, dass man sich in seiner Gegenwart unfassbar beschützt und umsorgt fühlte. Egal was er tat, er ließ keinen Zweifel daran, dass er um mein Wohl bemüht war.

Das Essen duftete köstlich und ich belud mir meinen Teller mit einer gehörigen Portion.

Die Stimmung war ausgelassen und die anderen benahmen sich ebenfalls allesamt unglaublich freundlich und höflich mir gegenüber. Mit Ausnahme von Kathy, die beim Anblick meines beladenen Tellers angewidert den Kopf schüttelte.

Aus reiner Provokation schob ich mir ein riesiges Stück Spanferkel in den Mund und kaute mit offenem Mund in ihre Richtung, woraufhin ich die Lacher auf meiner Seite hatte und einen bösen Blick von Kathy erntete.

Dumme Kuh, bloß weil DU schon beim bloßen Anblick von Essen am Liebsten eine Runde aufs Laufband springen würdest!



Nachdem wir gegessen und den Tisch abgeräumt hatten, gähnte ich herzhaft und Zoe warf mir einen mütterlichen Blick zu.

"Oh Mann, du siehst völlig geschafft aus. Wenn du magst, geh ruhig schlafen, ich hab dir mein Bett frisch bezogen und du kannst mein Zimmer haben, solange bis wir dir etwas Eigenes hergerichtet haben.Fühl dich bitte wie zu Hause."

Ich konnte nicht anders und drückte ihr einen Schmatzer auf die Wange.

"Danke Zoe, ihr seid echt alle so unfassbar süß zu mir, ich fühl mich richtig wohl hier!"

"So ist Zoe, die freut sich, wenn sie jemanden bemuttern kann", lachte Damien hinter mir und trat plötzlich enegisch auf mich zu.

"Los ins Bett mit dir!"
In Sekundenschnelle hatte er mich gepackt, über die Schulter geworfen und trug mich die Treppe hinauf, obwohl ich kreischend und quiekend mit den Fäusten auf seinen Rücken trommelte.

Vor Zoes Zimmertür ließ Damien mich sanft herunter und küsste mich auf die Nase.

„Kommst du allein zurecht?“, fragte er besorgt.

„Wenn ich nein sage, schläfst du dann bei mir?“, fragte ich hoffnungsvoll.

Damien überlegte einen Augenblick und nickte dann heftig.

„Auf jeden Fall!“

Überglücklich öffnete ich die Tür und sprang mit einem großen Satz auf das riesige Bett.

Damien schloss die Tür und kam mit langsamen Schritten auf mich zu.

Auf seinem Gesicht erschien ein schelmischer Ausdruck.

„Würde es sie extrem stören, wenn ich in Boxershorts schlafen müsste, Miss Crow?“

„Mitnichten!“, krächzte ich erregt.

Mit einer flinken Bewegung glitten seine Jeans nach unten und ebenso schnell hatte er sich sein weißes T-Shirt über den Kopf gezogen.
Beim Anblick seines braungebrannten, muskulösen Oberkörpers, vergaß ich sogar meine Müdigkeit für einen Augenblick.

Damien hatte einen Waschbrettbauch, von dem andere (mich inbegriffen) wahrscheinlich ihr Leben lang träumten.

Bewundernd wanderten meine Augen über jeden Zentimeter seiner Haut.

Seine Brust war sorgfältig rasiert, doch von seinem Bauchnabel führte ein dünner Streifen Haare abwärts und verschwand in seinen Shorts.

Ich konnte meine Augen kaum abwenden und zog mir verschämt die Decke bis zur Nasenspitze.

Da konnte ich definitiv nicht mithalten!

Damien machte sich aus meiner Scham nicht das Geringste.
In Sekundenschnelle hatte er das Licht gelöscht und schlüpfte zu mir unter die Decke. Seine Haut war warm und weich, als er von hinten an mich heran kroch. Ich schmiegte mich an ihn, so nah ich konnte.
Damien schlang mit einem wohligen Seufzer die Arme um mich und küsste mich zärtlich in den Nacken.

„Gute Nacht Kleines! Die nächsten Tage werden anstrengend, also tank soviel Schlaf wie du kannst“, murmelte er und gähnte lautstark in die Dunkelheit.

„Gute Nacht!“, flüsterte ich überglücklich und obwohl mich seine nackte Haut für einen kurzen Moment auf dumme Gedanken brachte, wurde ich schlagartig so müde, dass ich innerhalb von wenigen Minuten weggedöst war.

Kapitel 18

 


***


„NEIN!“
Mit einem erstickten Schrei fuhr Damien hoch und stieß sich den Kopf an einer der Eisenstangen, die das Dach von Zoes gigantischem Himmelbett trugen.

Schon spürte er, wie unter seinem Haarschopf eine beträchtliche Beule heran schwoll und er massierte fluchend seinen Hinterkopf, während er angespannt in die Dunkelheit lauschte und darauf wartete, dass sich seine Augen an die ihn umgebende Schwärze gewöhnten.

Es dauerte eine Weile, bis er die Orientierung wieder gewann.
Was war geschehen? Hatte er schlecht geträumt?

Obwohl er sich nicht zu erinnern vermochte, nagte in ihm ein Gefühl des Unbehagens –so bedrohlich und unabdingbar, wie die dunklen Gewitterwolken, die ein nahendes Unwetter ankündigten.

Sein Puls raste und seine Atmung ging schnell.
Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn.
Wo war Maeve?

Reflexartig tasteten seine Finger unter der Bettdecke nach ihrer warmen Haut. Er fand sie. Schlafend und friedlich. Maeve schmatzte schlaftrunken und wälzte sich auf die andere Seite des Bettes. Eine Welle der Erleichterung durchströmte seinen Körper.

Jetzt, da er sich vergewissert hatte, dass es ihr gut ging, konnte er sich wieder ganz auf seine Umgebung konzentrieren und sah sich um.
Durch die Vorhänge vor dem geöffneten Fenster drang sanftes Mondlicht, das tanzende, weiße Flecken auf Maeves Haar warf und den Rest des Zimmers in ein silbriges Licht tauchte.

Für einen normalen Menschen erschien alles ruhig und friedlich, doch Damien spürte es deutlich: Die Luft im Zimmer flirrte und vibrierte und dies konnte nur eins bedeuten: Sie waren nicht allein!

Für Damien besaß jeder Mutant eine bestimmte hörbare Frequenz, einen eigenen „Ton“, der so individuell war wie ein Fingerabdruck.

Mithilfe dieser Töne konnte Damien die Anwesenheit anderer Mutanten erspüren.
Mittlerweile nahm er die Frequenzen der ihm vertrauten Mutanten nicht mehr wahr, wenn er sich nicht darauf konzentrierte.

DIESER Ton jedoch war fremdartig: laut und unangenehm schrill, er schmerzte so sehr, dass Damien das Gefühl hatte, sein Kopf würde jede Sekunde explodieren.
Er war sich absolut sicher:
Ein fremder Mutant war ganz in der Nähe und wer auch immer dort draußen lauerte, hatte keine guten Absichten!
Lautlos ließ Damien sich aus dem Bett gleiten und verharrte für einen Moment regungslos.

Jeder Muskel seines Körpers war angespannt. Alle seine Sinne waren geschärft. Ein Luftzug erfasste die Vorhänge und seine Kopfschmerzen wurden unerträglich.

Dennoch kämpfte sich Damien voran, so gut es ging. Wie ein Panther schlich er sich Zentimeter um Zentimeter ans Fenster heran. Je näher er kam, desto lauter und schlimmer wurde das Geräusch und desto deutlicher wurde die Bedrohung, die dahinter lag!
Er hielt den Atem an und spähte durch die Vorhänge. Sein Herz blieb für einen Moment stehen.

Eine Silhouette zeichnete sich dunkel zwischen den Bäumen jenseits des hohen Eisengitters ab, welches Attius’ Grundstück zu beiden Seiten umgab.
Der Fremde war groß -sehr groß- und schmal gebaut. Er war völlig schwarz gekleidet und hatte die Hände tief in den Taschen eines langen Mantels vergraben.

Obwohl das Gesicht des Unbekannten im Schleier der Nacht verborgen lag, leuchteten seine Augen feuerrot in der schwarzen Dunkelheit.

Damiens Lippen entfuhr ein entsetztes Keuchen. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er die bedrohliche Gestalt. Dann sammelte er seine Gedanken, ballte die Hände zu Fäusten, straffte die Schultern und schickte ein bedrohliches
„V-E-R-S-C-H-W-I-N-D-E!“ in Richtung des Fremden.
Nichts geschah.

Der fremde Mutant verharrte regungslos, den Blick weiterhin unheilvoll auf Damien geheftet.
Sie starrten einander an wie zwei Raubkatzen, die im Begriff waren, jede Sekunde aufeinander loszugehen. Jeder Blick war darauf geschärft, selbst die kleinste Bewegung des Feindes zu registrieren und darauf zu reagieren. Ein Bruchteil einer Sekunde konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.

Momente später, in denen die Zeit still zu stehen schien, geschah es:

Der Fremde ließ ein unheilvollen Lachen erklingen, das jeden Zentimeter von Damiens Körper erfüllte. Es war ein Lachen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. Scheppernd und eisig kroch es durch Damiens Adern und schien seinen Brustkorb zu sprengen, als es ihn schließlich ganz erfüllte.

Als der Fremde endlich in Gedanken zu ihm sprach, schmerzten seine Worte wie Peitschenhiebe.

Er sagte nicht viel, nur einen einzigen Satz:

„Wir kriegen sie! Alle beide!“

Dann drehte er sich so ruckartig um die eigene Achse, dass sein langer Mantel ihn umwehte wie ein großer, schwarzer Fächer.
Ehe Damien auch nur blinzeln konnte, war der Fremde verschwunden.

Das stechende Pochen in seinen Schläfen und das Summen der Luft ließen augenblicklich nach… In seinen Ohren rauschte es, doch ansonsten war alles friedlich, bis auf den Satz des Fremden, der unheilvoll in Damien nachklang, als würde sein Echo tausendfach von den Innenwänden seines Körpers zurück geworfen…„Wir kriegen sie! Alle beide!“


Wer auch immer dort draußen gestanden hatte, wusste um Maeves Anwesenheit. Vorsichtig schlüpfte Damien in seine Hose und zog sich ein T-Shirt über den Kopf. Der Gedanke daran, Maeve alleine zu lassen, war unerträglich, doch er musste den anderen unverzüglich berichten, was passiert war und einen Plan schmieden.

Mit einem tiefen Seufzer hob Damien die Bettdecke ein Stück an und zog sie über Maeves Schultern. Dann schlich er auf Zehenspitzen hinaus.

Das Haus lag dunkel und friedlich da. Nur die alten Dielen knarzten, als Damien zu Linus und Zoe hinüber eilte und mit der Faust an die Tür hämmerte. Ohne abzuwarten riss er die Tür auf und stürmte ins Zimmer.

Verwirrt schreckten die beiden aus ihren Betten hoch und rissen erstaunt die Augen auf, als sie Damiens erschütterten Gesichtsausdruck bemerkten. Binnen Sekunden waren beide hellwach. Da ihnen wenig Zeit blieb, beschränkte Damien sich in seinen Ausführungen auf das Wesentliche. Maeve war in Gefahr! Mit wenigen Worten fasste er die schreckliche Begegnung zusammen und sie stürmten hinunter in den Bunker. Janosch zuckte aus seinem Stuhl hoch, als die drei hinein stürmten und die Türe geräuschvoll zu knallten. Er war tatsächlich eingeschlafen!

 

Kapitel 19



Das Licht in der Überwachungszentrale war düster und Damien und Zoe hielten gespannt den Atem an, während Linus die Aufzeichnungen der Überwachungskameras abspielte.
Janosch saß mit betretener Miene etwas abseits und schüttelte verzweifelt den Kopf. Jetzt würden sie ihn sicher feuern...

Seitdem er bei Attius arbeitete, war noch nie etwas passiert. Stundenlang auf leere Monitore zu starren war einfach ermüdend...Was war denn bloß geschehen? Er konnte nur wenige Minuten geschlafen haben. Neugierig starrte er über die Schultern der anderen auf den Bildschirm.

Zunächst blieb alles dunkel, doch dann, wie aus dem Nichts, erschien plötzlich eine Gestalt jenseits des hohen Eisengitters. Der Fremde stand regungslos da. Damien registrierte, dass er sogar noch größer war, als er ihn aus der Entfernung eingeschätzt hatte.
Sein Gesicht war blass und kantig, sein schwarzes Haar streng nach hinten gekämmt und zu einem Zopf geflochten.

Er hatte eine lange, krumme Nase und über seine linke Wange zog sich eine wulstige Narbe, doch das Furchteinflössendste an seiner Erscheinung waren eindeutig die katzenartigen Augen, die über seinen scharfen Wangenknochen unheilvoll hervorblitzten.

Zoe stöhnte erschrocken auf, als Linus mit dem Curser der Maus auf das Bild klickte und das Gesicht des Fremden übergroß auf dem Bildschirm einfror.

Eine Weile starrten sie stumm auf das Gesicht des Fremden, bis Linus sich schließlich besann und den Rest der Aufzeichnungen abspielte.

Dann der entscheidende Augenblick: Der Mutant drehte sich blitzschnell um die eigene Achse und löste sich buchstäblich in Luft auf.

Linus spulte die Aufnahme erneut zurück und stoppte das Band an der Stelle, an der man das Gesicht des Fremden am deutlichsten erkennen konnte.

Dann begann er in die Tasten des Computers zu hauen, bis schließlich in roten Lettern die Worte „Suche erfolgreich“ aufflackerten.

Er klickte auf die Datei und ein Schwarzweißbild des Unbekannten tat sich auf, neben dem allerhand Daten aufgezeichnet waren. Nach wenigen Sekunden hatte Linus die Daten abgerufen und begann aufgeregt zu flüstern:
„Ich habe das Bild mit der digitalen Verbrecherkartei der gefährlichsten Mutanten weltweit abgeglichen und Volltreffer: Dimitry S., schwarzer Mutant.

Der Kerl stammt aus Russland, ist 32 Jahre alt und hat für 8 Jahre wegen mehrerer Gewaltdelikte eingesessen. Ist seit ein paar Tagen wieder draußen- wegen guter Führung, dass ich nicht lache.“

„Wie gefährlich ist der Kerl?“, zischte Damien zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.

„Kann ich es mit ihm aufnehmen?“

„Hier steht, dass er ein Teleporter ist, das heißt unser Guter kann sich mühelos durch die Gegend befördern und die Liste seiner Straftaten ist ellenlang. Raubmord, Totschlag, Erpressung…das ganze Programm!“, keuchte Linus.

„Heilige Scheisse, das bedeutet, er kann hier jede Sekunde auftauchen?“, stöhnte Zoe und rückte ein Stück näher an Damien heran, der wie gebannt auf das Bild starrte und auf seiner Unterlippe kaute.

„Quatsch, meinst du, dann wäre er nicht schon längst hier?“, entgegnete Linus.

„Attius hat das Haus gegen Angriffe dieser Art durch ein unsichtbares Kraftfeld geschützt. Der Gute kann ja gerne versuchen sich ins Haus zu teleportieren, aber das, was dann von ihm übrig bleibt, ist nicht mehr als eine schöne Portion Hackfleisch. Es muss ihm gehörige Schmerzen bereitet haben, überhaupt so nah an uns heran zu kommen.“

„Wir müssen umgehend mit Attius sprechen!“, flüsterte Zoe und zückte ihr Handy. Damien nickte ihr zu und sie verschwand hinaus. Er konnte ihr aufgeregtes Flüstern auf dem Gang hören und zählte die Sekunden, bis sie endlich wieder herein kam.

Sie ließ sich auf den leer stehenden Drehstuhl fallen und begann ihre Locken um den Zeigefinger zu drehen, wie immer wenn sie aufgeregt oder nervös war.

„Attius versucht die Konferenz in Prag so schnell wie möglich abzusagen und zurück zu kommen!
Er hält es für das Beste, wenn wir Maeve bis dahin nichts von der ganzen Sache sagen. Wir dürfen sie nicht aus den Augen lassen, hörst du? Des Weiteren sollen wir umgehend heraus finden, von wem Dimitry noch gesprochen haben könnte…Linus, kannst du heraus finden, ob es in naher Zukunft noch weitere Turns in der Gegend geben soll? “

Linus nickte, doch sein Gesicht war nicht sehr hoffnungsvoll.

„Was verschweigst du uns?“, zischte Damien und rückte ein Stück an ihn heran. Linus hob entschuldigend die Arme.

„Hättet ihr euch mal ein bisschen früher dafür interessiert, wie ich die einzelnen Turns ermittle, dann würdet ihr wissen, dass ich das nicht so ohne Weiteres machen kann.“

Damien wurde ärgerlich. Für Schuldzuweisungen war jetzt wirklich nicht der richtige Zeitpunkt. Er konnte nicht zulassen, dass er noch einmal einen Menschen verlieren würde. Niemals.

„Also kannst du uns ohne dein Fachlatein erklären, was zu tun ist?“, fragte er barsch.
Linus seufzte.

„Seitdem die ersten Mutanten aufgetaucht sind, wurden ihre Fähigkeiten aufgezeichnet und dokumentiert. Anfangs waren es Steintafeln, später Papierrollen…dann Bücher. Über Generationen wurden sie weitergereicht und zu einer umfassenden Kartei archiviert.

Dank Attius habe ich vor ein paar Jahren Zugriff auf diese Daten erhalten und sie in mühevoller Kleinarbeit in ein Computerprogramm eingespeist. Mithilfe simpler Mathematik und den Regeln der Vererbungslehre habe ich eine Formel entwickelt, mit der sich in etwa bestimmen lässt, wann eine neue Mutation auftritt. Das Computerprogramm berechnet die Mutationen für mich und spuckt mir den Namen und die Wahrscheinlichkeiten aus, da es zu aufwendig wäre, alles im Kopf zu machen…auch wenn ich es könnte.“

Ein stolzes Grinsen huschte über sein Gesicht. Als er Damiens entnervten Gesichtsausdruck sah, verkniff er sich weitere Angebereien und fuhr eilig fort:
„Das Programm kategorisiert die Namen automatisch nach der Größe ihrer Wahrscheinlichkeit für eine Mutation….Also, Menschen, deren Eltern und Großeltern bereits Mutanten waren, werden meistens ebenfalls Mutanten…Desweiteren vereben sich bestimmte Mutationen häufiger als andere….“

„Ja, ja schon gut..!“, fuhr ihm Damien etwas unwirsch ins Wort und begann, aufgeregt auf und ab zu gehen.

„Bisher habe ich keine weiteren Mutationen zu melden. Nichts im Umkreis von tausenden Kilometern und dort wären wir ohnehin nicht mehr zuständig…da gibt es andere Orden, die diese Aufgabe übernehmen.“, flüsterte Linus.

Zoe, die in der Regel den kühleren Kopf behielt, fragte besorgt: „Wann können wir also mit einem Ergebnis rechnen?“

„Ich hab einen Pieper. Er gibt Signal, sobald der Computer einen Namen ausgespuckt hat und dann haben wir ein paar Tage, um die Person zu finden.“

Damien stöhnte auf. „Und jetzt? Was machen wir solange mit Maeve? Ich kann sie doch nicht hier einsperren?“

In diesem Moment schaltete sich Zoe wieder ein und Damien bemerkte erstaunt, dass sie sich über irgendetwas zu freuen schien. Sie drehte den Stuhl um und ließ sich so darauf Fallen, dass ihre Arme über die Lehne baumelten und verkündete:
„Leider muss Attius in der nächsten Woche nach Nevada reisen, um an der weltweit größten Mutantenversammlung teilzunehmen. Er ist Mitglied des Ältestenrates und daher unabkömmlich. Da er uns aber nicht alleine lassen will…“
Sie machte eine kunstvolle Pause, ehe sie jubelte: “…dürfen wir mit! Du, Maeve, Linus, Kathy und ich!“
Linus war sofort Feuer und Flamme: „Oh Gott, wie geil ist das denn? Da dürfen Jungmutanten doch überhaupt nicht teilnehmen! Ist ja Wahnsinn!“

Begeistert sprang er auf und packte Damien bei den Schultern.

„Wir sind nirgendwo sonst auf der Welt so sicher, wie wenn wir von den stärksten Mutanten der Welt umgeben sind! Es kann

ihr nichts passieren Damien!“

Damien war sich da nicht allzu sicher, doch er musste zugeben, dass er etwas beruhigter war. Nun wollte er nur noch in ihrer Nähe sein, also verabschiedete er sich eilig, um nach Maeve zu sehen. Ihr durfte nichts geschehen! Unter keinen Umständen.

 


***

 

Kapitel 20



„Los, wehr‘ Dich!“, näselte Damien herausfordernd und drückte mich zu Boden.
Obwohl wir diese Übung bereits dutzende Male vollführt hatten, überkam mich immer noch ein Anflug von Panik, wenn er mich in dieser Körperstellung gefangen hielt.
Sein gesamtes Gewicht lastete auf meiner Brust, während er über mir kauerte und mich zum Aufgeben zwingen wollte, indem er mir die Spitzen seiner Füße unsanft in die Seiten hieb und mir mit den Oberschenkeln die Luft abschnürte.

Auf seiner Nase prangte eine übergroße, silbrig glänzende Wäscheklammer, die Linus zum Schutz gegen meine Fähigkeiten angefertigt hatte.

Im Grunde unterschied sie sich nicht sonderlich von einer herkömmlichen Wäscheklammer, außer dass sie wesentlich größer und breiter war und ihre Enden mit kleinen Samtkissen versehen waren, damit sie nicht zu sehr an der Nase schmerzten.

Mit den funkelnden Augen und der Wäscheklammer auf der Nase erinnerte mich Damien an ein wild gewordenes Nashorn und ich musste -trotz der kompromittierenden Lage in der ich mich befand- laut los prusten. Damien strafte meinen Übermut mit einem energischen Stoß in die Rippen.

Ich hatte es bisher erfolgreich geschafft, Tante Fi und die anderen mit immer neuen Ausreden hinzuhalten, was meine Abwesenheit betraf.

Da Zach und ich immer noch schweigend um einander herum schlichen, sobald wir einander begegneten, packte ich kurzerhand eine große Reisetasche und quartierte mich in Zoes Zimmer ein.

Jenny und Maya löcherten mich zwar permanent, wo ich ständig steckte, doch im Ausreden erfinden war ich ungeschlagen, obwohl mir natürlich bewusst war, dass ich über kurz oder lang eine neue Taktik an den Tag legen musste.
Bis es jedoch soweit war, hatte ich mich wie besessen ins Training gestürzt, welches -wie gesagt- aus drei Komponenten bestand: 1. Kampfsport, 2. Umgang mit meinen Kräften und 3. Mutantenkunde.

In den ersten Tagen war ich von Guilherme da Silva, dem schwarzhaarigen Mutanten mit den golden leuchtenden Augen, in die wichtigsten Techniken der „mixed martial arts“, kurz: "MMA" eingeführt worden.

Anders als viele Kung Fu oder Karate Richtungen, beschränkte MMA sich lediglich auf Techniken, die auch tatsächlich im Kampf einsetzbar waren, weshalb sich die meisten Mutanten in Attius‘ Clan dieser Kampfkunst verschrieben hatten.

Guillherme war brasilianischer Abstammung und entsprang einer Mutantenfamilie, welche sich schon seit mehreren Generationen mit Kampfkünsten befasste. Seine Vorfahren zählten, wie er stets stolz verkündete, zu den Begründern der Vale-Tudo-Wettkämpfe in Brasilien.

Als ich Damien und Guillherme das erste Mal gegeneinander hatte kämpfen sehen, war ich zwischen Begeisterung und Entsetzen hin und her gerissen gewesen, denn der Kampfstil war wirklich brutal.

Zoe, die der kleinen Vorführung ebenfalls beigewohnt hatte, hatte mir hinter vorgehaltener Hand erklärt, dass in MMA- bzw. Vale-Tudo -Kämpfen neben Schlag- und Tritttechniken auch Knie- und oft auch Ellenbogentechniken bis hin zu Kopfstößen erlaubt waren.

Jeden Tag war ich nach der Schule mehrere Stunden in die große Trainingshalle im Bunker gegangen um zu trainieren. Jetzt wo ich die wichtigsten Fertigkeiten zumindest in der Theorie beherrschte, war es an Damien mich im Nahkampf zu erproben.

Gerade lag ich zum etwa 20. Mal an diesem Tag auf der Matte und versuchte mich aus Damiens Griff zu befreien. Gegen die anderen machte ich eine geradezu lächerliche Figur, obwohl ich mich in den letzten Wochen schon sehr verbessert hatte.

Guillherme stand am Rande des Feldes und feuerte mich an, indem er wild fuchtelnd auf und ab schritt und mir verschiedene Anweisungen zurief. Noch wollte ich mich nicht geschlagen geben, denn Guilherme hatte mir eingeschärft, dass ein Kampf am Boden noch lange nicht verloren war, selbst wenn der Gegner bereits über einem kniete.
Meine einzige Chance, den Kampf zu gewinnen bestand darin, Damien durch Hebel- oder Würgetechniken zum Aufgeben zu zwingen.

„Autsch, pass doch auf, du erdrückst mich ja!“, keuchte ich.

Verzweifelt trommelte ich mit den Fäusten auf seinen Rücken und missachtete dabei sämtliche Unterweisungen, die ich in den letzten Tagen erhalten hatte.

Ich vernahm ein Glucksen hinter mir.

Es war Kathy, die vor lauter Lachen neben dem Ring zusammen gebrochen war und dabei einen Stapel mit Schlagstöcken umgeworfen hatte.

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu und streckte ihr die Zunge raus.

Kathy hatte sich mittlerweile aufgerappelt. Sie zwinkerte kurz und wie von Geisterhand hoben sich die Schlagstöcke, die soeben noch am Boden gelegen hatten, und tanzten in einem sanften Kreis über ihrem Kopf.
Kathy fixierte mich mit zusammengekniffenen Augenbrauen und die Stöcke über ihrem Kopf drehten sich langsam in meine Richtung. In dieser Position verharrten sie in der Luft.

Im selben Moment folgte Damien meinem Blick und als wäre nichts geschehen, lagen die Stöcke plötzlich an ihrem alten Platz und Kathy strahlte ihn unschuldig an.

So eine Heuchlerin! Kaum hatte Damien den Blick wieder abgewendet, fixierte sie mich mit stählernem Blick.

Ich schärfte mir selbst ein, ihr besser keine Gelegenheit dazu zu geben, mich mit irgendwelchen Gegenständen zu bewerfen und fragte mich, weshalb sie mich so dermaßen auf dem Kicker hatte.

Dann besann ich mich wieder auf den Unterricht und schaffte es, mich blitzschnell unter Damien hervor zu winden und mich auf ihn zu werfen.

Guillherme klatschte begeistert.
„Braaaaaavoo, marvilhoso! Genug für heute, zieht euch um.“

Damien strahlte mich anerkennend an und gab mir einen Klaps auf die Schulter.

„Gut gemacht!“

Mit stolzgeschwellter Brust marschierte ich an Kathy vorbei, als wir uns auf den Weg nach oben machten. Damien warf sich lässig sein flauschiges Handtuch über die Schultern und geleitete mich hinaus.

„Gibt es eigentlich einen Grund dafür, dass ich keinen Schritt machen kann, ohne von dir eskortiert zu werden?“, fragte ich lachend und knuffte ihm in die Seite.

Damien schwieg und grinste mich dann an: “Meine Gebieterin, ich bin geboren um dir zu dienen! Bitte zwinge mich nicht, von deinem Antlitz zu weichen!“

Lachend kletterten wir die Stufen ins Freie hinauf.

„Was hat Kathy eigentlich für ein Problem mit mir?“, wollte ich wissen.
Damien schwieg eine Weile, doch sein Gesicht löste in mir eine dunkle Vorahnung aus.

Ob er etwa...?



„Bitte sag nicht, dass da mal was zwischen euch war?“, keuchte ich alarmiert.

Umsonst, denn Damien nickte und lächelte entschuldigend.

Mir wurde schlecht.
Ausgerechnet die?

„Pfui, wie kannst du dich nur mit so einer oberflächlichen Tussi abgeben? Die ist doch hohl wie Toastbrot!“, schrie ich und verzog angeekelt das Gesicht.

Die Eifersucht brodelte in mir wie ein Vulkan. Es war schlimm genug, mir vorzustellen, dass Damien vor mir überhaupt mit anderen Mädchen herum gemacht hatte, aber dass ich sie dann auch noch täglich vor der Nase haben musste?
Und ausgerechnet Kathy, diese aufgedonnerte Dumpfbacke!


Wütend trabte ich Damien davon und versuchte mich zu beruhigen.

Ich wollte nicht diese Art von Freundin sein, die wegen irgendwelchen Exfreundinnen Theater machten. Mein Kopf sagte mir, dass alles was in Damiens Vergangenheit lag, nichts mit unserer Beziehung zu tun hatte, doch mein Herz brannte vor Eifersucht.

Damien holte mich ein und schlang seinen Arm um mich.

„Würdest du bitte mal wieder runter kommen?“

Das hatte ich nicht im Geringsten vor und daher schwieg ich verbissen.

Damien machte einen erneuten Anlauf mich zu beschwichtigen:

„Mensch Maeve, es waren nur ein paar harmlose Dates! Kathy stand von Anfang an auf mich und hat nichts unversucht gelassen, um sich an mich heran zu machen…Irgendwann habe ich nachgegeben, ich war einsam und einer der Jüngsten hier...Es hat einfach gut getan, jemand zum Reden zu haben... Wir waren ein paarmal aus, haben geknutscht und dann habe ich die Sache beendet, weil ich es einfach nicht mit ihr ausgehalten habe.
Kathy ist eine gute Seele, aber sie ist neurotisch, selbstverliebt und unberechenbar...
Das ging mir irgendwann zu weit. Ich habe gemerkt, dass meine Gefühle für sie rein freundschaftlich waren und ich mich nur nach etwas gesehnt habe, dass sie mir nicht geben konnte."

Ich schwieg noch immer, doch meine Wut verflog allmählich und wich einem Gefühl von Scham.

Damien fügte besänftigend hinzu:
"Ehrlich, da ist nichts zwischen uns...absolut nichts! Ich hab Schluß gemacht und seitdem redet sie kaum noch mit mir…Wir gehen respektvoll miteinander um und tollerieren einander, da Linus unser gemeinsamer Freund ist, aber ich glaube, sie hasst mich insgeheim.
Zoe sagt mir auch immer wieder, dass Kathy die Sache bis heute nicht richtig verdaut hat.“

„Richtig so!“, nickte ich zufrieden.

„Die soll bloß ihre Flossen von dir lassen, sonst rede ich ihr ein, dass sie in Mr. Peterson verliebt ist!“

Damien lachte.

„Wer?“

„Ach nichts, schon gut! Tut mir leid, dass ich so ausgetickt bin!“

Das meinte ich ernst. Es änderte zwar nichts an der Tatsache, dass Kathy eine dumme Kuh war, aber zumindest wusste ich jetzt, weshalb ich ihr so ein Dorn im Auge war. Sollte sie noch etwas für Damien empfinden, dann war es sicher nicht leicht für sie, ihn mit mir zu sehen.
„Entschuldige dich bloß nicht für dein Temperament! Das liebe ich doch so an dir!“

Er zog mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Nasenspitze.

„Und, freust du dich schon auf Nevada?“

„Und wie, aber vorher würde ich mich gerne nochmal mit Jenny treffen. Ich hab sie seit Tagen nicht mehr richtig gesehn!“, entgegnete ich und öffnete die Tür zur Villa.

Damien warf mir einen entsetzten Blick zu und ich prustete los:

„Also ehrlich, so langsam übertreibst du aber! Du wirst es doch wohl mal ein paar Stunden ohne mich aushalten?“
Allmählich ging es mir etwas auf die Nerven, dass Damien mich auf Schritt und Tritt belagerte. Er war mein Freund und nicht meine private Palastwache.


Damien seufzte und nickte.

„Aber nur, wenn es sein muss!“

Ich schlang die Arme um seinen Hals, gab ihm einen Kuss und stürmte hinauf, um mich umzuziehen. Gut, dass Damien nicht wusste, dass ich Jenny schon längst zugesagt hatte und wir uns in einer Stunde in der Eisdiele treffen würden.

Kapitel 21




Das Eiscafé war bis auf den letzten Platz gefüllt und ich streckte wohlig die Beine aus, um noch ein wenig Sonne zu tanken. Ganz in der Nähe plätscherte ein Springbrunnen und es war einer dieser Tage, an denen ich mich bis in die letzte Körperzelle lebendig fühlte. Oh wie ich den Sommer liebte.

Alfonso, der Hilfskellner, warf uns feurige Blicke zu, die Jenny schmachtend erwiderte.
Sie trug eine überdimensionale rote Sonnenbrille und ihren Kopf zierte ein gewaltiger Schlapphut.In diesem Aufzug sah sie aus wie die Contessa persönlich.

Gerade zwinkerte sie Alfonso zu und schlürfte geräuschvoll an ihrem Milchshake.

Ich prustete los und Jenny verzog beleidigt die Mundwinkel.

Ihr Schmollen hatte sich glücklicherweise innerhalb weniger Sekunden wieder gelegt und sie begann, mich über die neusten Geschehnisse auszuquetschen.

„Also, spucks' aus, du und Damien, ihr seid jetzt zusammen?„

„Sozusagen!“, murmelte ich und streckte mein Gesicht ein Stück der Sonne entgegen.

„Und wie ist er im Bett?“
So war Jenny.
Fackelte nie besonders lange, wenn es um schlüpfrige Sexdetails ging.

„Keine Ahnung. Wir haben noch nichts gehabt!“

„Wie bitte? Du lügst doch! Teilst jede Nacht das Bett mit diesem Kerl und es gab nicht mehr als heiße Blicke und ein bisschen Rumgeknutsche?“

Als ich mit stolzgeschwellter Brust verkündete, dass Damien und ich beschlossen hatten, vorerst nicht miteinander zu schlafen, japste sie atemlos und sperrte den Mund soweit auf, dass sie mich in diesem Moment verdächtig an eine Boa Constrictor erinnerte, die den Unterkiefer ausgerenkt hatte, um ihre Beute zu verschlingen.

„Ist doch nicht dein Ernst? Wow, ist das romantisch!“

Sie seufzte und zündete sich theatralisch eine Zigarette an. Fasziniert starrte ich auf die kunstvollen Rauchkringel, die sie durch den Mund ausstieß.

"Und was ist mit Linus und dir?", forschte ich vorsichtig nach. Damien hatte mir erzählt, dass die beiden in letzter Zeit häufig miteinander telefonierten.
Jenny zuckte die Achseln und seufzte.
"Keine Ahnung, Schätzchen. Er sieht unfassbar gut aus und als wir feiern waren, da hat er mit mir getanzt und heftig geflirtet!"
"Als ob du davon noch was wüsstest!", warf ich lachend ein.
"Na hör mal, ich leide nicht unter Amnesie! Ich war nur leicht...angebrütet!"

Wir kicherten wie zwei Fünfjährige.

"Und ist es was Ernstes zwischen euch?", bohrte ich weiter und nahm einen großen Schluck meines frisch gepressten Orangensafts.

Jenny zuckte die Achseln.

"Weiß ich nicht! An manchen Tagen meldet er sich mehrmals und dann höre ich wieder ewig nichts von ihm...es ist, als wäre er einfach untergetaucht. Wie soll man da wissen wo man drann ist?"

„Keine Bange, Linus hat einfach sehr viel zu tun mit seinen ominösen Forschungen“, sagte ich beschwichtigend.


"Meinst du wirklich?", fragte sie zweifelnd und maltretierte ihren Strohalm nervös mit den Fingern.

"Ganz bestimmt."

Ich nickte aufmunternd in ihre Richtung.

Das Linus die meiste Zeit schwer beschäftigt war, stimmte ja sogar, auch wenn ich natürlich nicht erzählen durfte, dass Linus ganz nebenbei ein Mutant mit Superhirn war und seine Haupttätigkeit darin bestand, irgendwelchen geheimen Mutantenkram zu erforschen.

Glücklicherweise fragte Jenny nicht weiter nach, sondern wechselte das Thema.

"Ist dir in letzter Zeit etwas an Maya aufgefallen?", fragte sie unvermittelt.

Erstaunt zog ich die Augenbrauen hoch.
"Nein! Wieso?"
Jenny zog ihre Brille aus und wiegte sie gedankenverloren auf der Handfläche.

"Ich weiß nicht, sie kommt mir irgendwie verändert vor...Hab sie ein paarmal mit diesem komischen Typen zusammen gesehen. Bist du sicher, dass bei ihr alles in Ordnung ist?"

Ich grübelte und versuchte verzweifelt, mich an mein letztes Treffen mit Maya zu erinnern.

Ich hatte ein paar Sachen von zu Hause geholt und sie nur kurz in der Küche gesehen. Sie war ziemlich in ihr Handy vertieft gewesen, aber ansonsten war mir nichts aufgefallen.

Zugegebenermaßen hatte ich mit Maya schon länger nicht mehr richtig gesprochen und das schlechte Gewissen nagte in mir, während ich mir dieser Tatsache kläglich bewusst wurde.

Bloß weil ich eine frischverliebte Mutantin war, gab mir das noch lange nicht das Recht, sie aus meinem Leben zu verbannen. Ich musste sie unbedingt besuchen, sobald ich wieder aus Nevada zurück war.

Jenny riss mich aus meinen Gedanken, indem sie verschwörerisch eine Hand auf meinen Unterarm legte und mir zuraunte:

"Also wenn du mich fragst, der Typ mit dem sie da neuerdings rumzieht ist nicht ganz koscher. Jedes Mal, wenn ich in Mayas Nähe komme, habe ich das Gefühl, dass er mich so schnell wie möglich loswerden will. Ach, vielleicht spinn' ich auch."

"Wie sieht der Typ denn aus?", fragte ich vorsichtig.

Möglicherweise wusste ich ja, um wen es sich handelte.

Jenny überlegte kurz.
"Gut... sehr gut. Braungebrannt, schwarze Haare, Muskeln. Ein richtiger  Loverboy!"

Auf diese Beschreibung traf keiner zu, den ich kannte.

"Ich werd den Kerl mal unter die Lupe nehmen!", versprach ich Jenny und grinste.

Jenny war immer ein wenig dramatisch und im Grunde freute ich mich für Maya, dass sie scheinbar einen Freund hatte. Es erleichterte mir die Situation zu wissen, dass sie nicht einsam war, solange ich so selten zu Hause war.

Wir plauderten noch eine Weile über dies und das und ich berichtete Jenny von meinem Wochenendtrip nach Nevada.
Natürlich konnte ich nicht erzählen, dass wir an einem wichtigen Mutantenkongress teilnehmen würden, daher beantwortete ich Jennys erstaunte Frage, was wir da täten, einfach mit einer kleinen Notlüge.

„Wir besuchen Verwandte von Damien und verbringen eine Nacht in Las Vegas!“

Im Lügen war ich mittlerweile sehr geschickt, auch wenn ich mich dafür hasste!

„Hört hört, sie wird schon in die Familie aufgenommen!“, Jenny lachte und hakte sich bei mir unter, als wir die Eisdiele verließen und zum Auto schlenderten.

Nach ein paar Metern bemerkte ich, dass wir verfolgt wurden...

Kapitel 22



Nach mehrmaligem Umdrehen war ich mir sicher, dass unser Verfolger nicht beabsichtigte, uns aus den Augen zu lassen. Ich zog Jenny eilig um die Ecke und drückte sie zu ihrem Erstaunen hinter eine Litfaßsäule. Ehe sie etwas sagen konnte, hatte ich ihr eine Hand auf den Mund gelegt und wartete mit angehaltenem Atem.

Unser Verfolger ließ nicht lange auf sich warten und kam eilig um die Ecke gebogen. Es handelte sich um einen kleinen Jungen, der höchstens 11 Jahre alt sein mochte. Sein Gesicht war über und über mit Sommersprossen bedeckt und seine vorstehenden Schneidezähne erinnerten mich an einen jungen Biber.
Als er uns nicht mehr entdecken konnte, blieb er unschlüssig stehen und zog die Stirn in Falten. Ich sprang hinter der Säule hervor und versperrte ihm den Weg.

„Stehengeblieben!“

Der Kleine riss erstaunt die Augen auf und machte Anstalten, davon zu rennen, aber ich hatte ihm schon den Weg versperrt und an den Schultern gepackt.

„Warum verfolgst du uns? Spucks‘ lieber freiwillig aus, du Kröte, oder ich muss dich zwingen!“

 Er kniff die Lippen zusammen und starrte mich feindselig an. Ich seufzte.

„Bitte sehr, dann muss ich wohl zu anderen Mitteln greifen.“

Mit einer flinken Bewegung stopfte ich mir die gelbe Pille in den Mund, die ich in meiner Hosentasche versteckt hatte und wartete, bis ich das leichte Kribbeln in den Beinen spürte.
So eindringlich wie möglich sah ich ihn an und flüsterte:“Du wirst mir jetzt sofort sagen, was du willst und wer dich hierher geschickt hat!“

Ich spürte, wie der Widerstand des Fremden unter meinen Händen wie Wachs dahinschmolz. Seine Pupillen weiteten sich und während er sich zunächst noch sichtbar gegen das Eindringen meiner Kräfte in seinen Körper widersetze,fingen seine Lippen bereits an mir zu gehorchen und er begann mit monotoner Stimme zu flüstern: „Ich darf sie nicht aus den Augen lassen, Herrin! Ich muss jeden ihrer Schritte überwachen und sofort Bericht erstatten.“

„WER schickt dich?“, rief ich nochmals aufgebracht und schüttelte ihn an den Schultern. In den Augen des Kleinen lag schiere Verzweiflung, doch so sehr er sich auch bemühte zu schweigen, es gelang ihm nicht.

„Damien, Herrin. Damien lässt sie überwachen.“
„Was?“, erschrocken wich ich zurück und ließ die Schultern hängen. Die Worte des Kleinen schmerzten mich wie dumpfe Schläge in der Magengegend.

Damien? Das konnte nicht sein. Wieso sollte er mich überwachen? Traute er mir nach allem was war etwa immer noch nicht über den Weg? Glaubte er wirklich, ich würde irgendwelche Dummheiten anstellen, sobald er mich für eine Stunde aus den Augen ließ?

Ich war außer mir vor Wut und Enttäuschung, doch ich musste mich zusammenreißen.
Ich sammelte meine letzten Konzentrationsreserven und sah den Jungen eindringlich an: „Du verschwindest auf der Stelle und wirst in Zukunft nie wieder wagen, mir hinterher zu spionieren, ist das klar?“

Der Fremde nickte. „Ich heiße übrigens Magnus. Ich stehe ihnen zu Diensten!“
Fast hätte ich hysterisch losgeprustet. In Anbetracht der Tatsache, dass mir Magnus gerade mal bis zum Bauchnabel reichte, erschien mir ein Name, der auf Deutsch „groß“ bedeutete, geradezu lächerlich unpassend.
„Verschwinde!“, fauchte ich ihn an und ließ ihn los. So schnell er konnte, stürmte Magnus davon und überließ mich meinen verzweifelten Gedanken.
„Ohhhh, Herrin! Dürfte ich ihnen vielleicht den Hintern abwischen, oder mit einem Palmblatt frische Luft zu fächeln? Mich dünkt, es ist ein wenig heiß!“

Jenny schüttete sich aus vor Lachen und wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln, während sie hinter der Säule hervor stolperte. Die hatte ich ja völlig ausgeblendet! Auch das noch.
Ohne mich zu beachten fuhr sie fort: “Damien spioniert dir also nach? Ich sag nur ein Wort: WAHNSINNIG! Dem würde ich was erzählen….was denkt er denn, dass er….. „
„HALT DEN MUND!“, fuhr ich ihr ins Wort und Jenny zuckte erschrocken zusammen und presste die Lippen aufeinander. Sie hatte die Augen weit aufgerissen und schien etwas fragen zu wollen, doch ihre Lippen waren versiegelt.

Richtig so. Ich nickte zufrieden und lächelte. Das kam mir gerade recht.
Vor Wut schnaubend zog ich sie hinter mir her zum Auto und bemerkte vor lauter Aufgebrachtheit kaum, dass die Menschenmenge durch die ich mir meinen Weg bahnte wie von unsichtbarer Hand zur Seite gedrängt wurde und vor uns eine Schneise auftat, durch die ich ungehindert hindurch treten konnte.

Meine Gedanken überschlugen sich. Dem würde ich was erzählen, dass er es wagte mir eine private Palastwache an den Hintern zu klemmen!
Ich riss die Autotür auf und sprang auf den Beifahrersitz.
„Los, fahr mich zu Damien!“
Jenny setzte sich neben mich auf den Fahrersitz und rollte verzweifelt mit den Augen. „Was denn? Los‘ sprich schon!“

Jenny holte erleichtert Luft und sprudelte los:
“Erstens, kenne ich den verdammten Weg nicht und zweitens: Wie in aller Welt hast du das gemacht? Ich schwörs dir, ich wollte tausend Sachen sagen, aber meine Lippen waren wie zugenäht!"

Ich seufzte tief und meinte dann etwas ruhiger:
"Ich kann es dir auch nicht richtig erklären, ich glaube, ich kann einfach sehr überzeugend sein, wenn ich will! Bitte, fahr mich jetzt einfach zu Damien. Ich muss auf der Stelle mit ihm reden, okay?“
Mit zitternden Fingern tippte ich die Adresse in das Navigationssystem und schloss die Augen.
Ich spürte, dass Jenny mir von der Seite einen langen, prüfenden Blick zuwarf, doch dann startete der Motor und wir fuhren los.

Nach einer Weile öffnete ich die Augen und schielte zu ihr hinüber.
Sie kaute schweigend auf ihrer Unterlippe und starrte geradeaus.
„Hey, tut mir leid!“, murmelte ich und sah sie entschuldigend an.
„Ich wünschte, ich könnte dir alles erklären, aber ich darf nicht, okay? Du musst mir einfach für eine Weile vertrauen und BITTE, sprich mit niemandem darüber,ja?„
Jenny schwieg noch immer.
„Jenny, du bist meine beste Freundin. Bitte vertrau mir. Es tut weh genug, dass es Damien nicht tut.“
Mir schossen die Tränen in die Augen und ich wischte sie mit dem Handrücken fort.
„Verfluchte Scheiße!“
Jenny tätschelte mir das Knie und lächelte plötzlich.
„Oh Mann, du magst ihn wirklich gern, was?“

Ich nickte und zog schniefend die Nase hoch.
„Ja, das tue ich, aber ich kapiere nicht, weshalb er denkt, mir nicht vertrauen zu können...das ist doch Irrsinn irgendeinen armen kleinen Kerl auf mich anzusetzen, der mich beobachten soll....“
Den Rest der Fahrt schwiegen wir und als wir endlich vor dem großen Eisentor ankamen und ich Jennys fragenden Blick sah, kam mir eine Idee.

„Möchtest du vielleicht reinkommen?“, fragte ich so unbeschwert wie möglich.

"Linus ist sicher auch da.“

Jenny nickte begeistert, trat auf die Bremse und bog in die Einfahrt ein. Ich spürte das schlechte Gewissen in mir nagen. War ich übergeschnappt?
Dennoch, es musste sein.

Wir fuhren auf das Grundstück, parkten den Wagen und ich zog Jenny hinter mir her, die mit offenem Mund auf den Springbrunnen und die geparkten Autos starrte.
„Himmelarschundzwirn, was für eine Protzvilla!“, entfuhr es ihr, während sie sich beinahe den Hals verdrehte.

Ich beachtete sie nicht weiter, sondern beschleunigte meine Schritte.
Eilig stolperte ich durch die Tür und schleifte sie ins obere Geschoss. Vor der ersten Zimmertür blieb ich stehen und klopfte.
„Herrein!?“

Zoe lag bäuchlings auf dem Bett und blätterte in einem Buch, als wir hereinstürmten. Sie hob eine Braue und legte das Buch zur Seite. "Nanu? Was ist denn hier los?"

Ich fackelte nicht lange und kam zum Wesentlichen.

„Zoe, diese „Sache“ die du kannst, also…du musst sie jetzt tun.“, ich nickte mit dem Kopf unauffällig in Richtung Jenny und fügte erklärend hinzu: „Es gab einen kleinen ....äh....Zwischenfall.“

Zoe schien zu begreifen und erhob sich langsam von ihrem Bett. Einen kurzen Augenblick schien sie zu zögern, doch dann nickte sie unmerklich und trat federnd auf Jenny zu.

Noch ehe diese begriffen hatte, was passiert war, hatte Zoe ihr die Hand auf die Stirn gelegt und flüsterte: „Was immer du gesehen hast, du wirst dich nicht mehr daran erinnern. Du weißt nur noch, dass dir plötzlich schlecht geworden ist.“
Jenny verdrehte stöhnend die Augen und fiel rücklings aufs Bett.

Ich stieß einen erstickten Schrei aus.
„Zoe, was hast du mit ihr gemacht?“

Zoe lächelte entschuldigend und zuckte die Achseln.
"Das ist normal. Wenn sie aufwacht, wird sie sich an nichts erinnern. Was ist denn überhaupt passiert?", erkundigte sie sich und ihre grünen Augen blitzten neugierig.

Schon wieder schossen mir die Tränen in die Augen, als ich ihr von Magnus berichtete.
Zoe sah mich stumm an und schien nicht besonders überrascht, was in mir den Verdacht aufkeimen ließ, dass sie mehr wusste, als sie vorgab.

Das war zuviel! Mir riss es den Boden unter den Füssen weg und ich ließ mich stumm neben Jenny aufs Bett sinken.

„Du hast es gewusst? Was soll der Scheiß? Wieso vertraut ihr mir denn bloß nicht mehr? Was hab ich getan? Ich würde mich Janus nicht anschließen, das hab ich doch geschworen.", flüsterte ich.
Nun war es an Zoe zu seufzen und mir tröstend über den Kopf zu streicheln.

„Maeve, kein Mensch misstraut dir! Wir machen uns einfach nur Sorgen. Rede mit Damien.Ich misch' mich da nicht ein, und wenn Damien es für richtig erachtet, dann wird er dir alles erklären."

Ich sprang auf und ballte die Fäuste in der Tasche.
„Und ob er das wird!“
Laut knallte die Türe hinter mir zu, als ich davon stürmte.

Kapitel 22




Damien und Linus saßen gerade im Wohnzimmer vor einem riesigen Flatscreen und spielten eine Runde „Gran Turismo“, als ich angerauscht kam und mit in die Hüften gestemmten Fäusten verkündete: „Mitkommen! Wir müssen reden!“
„Oh, oh…das riecht nach Ärger!“, murmelte Linus leise und warf Damien einen bedeutungsvollen Blick zu.

Damien legte den Controller beiseite, erhob sich zögerlich und folgte mir, während ich den Kopf in den Nacken warf und erhobenen Hauptes in den Garten marschierte.

Als wir draußen ankamen drehte ich mich ruckartig um. Ohne Umschweife legte ich los:
„Wieso lässt du mich beschatten?“
Damien zuckte merklich zusammen, doch anstatt zu antworten, sah er zu Boden und schob mit der Fußspitze ein paar Kieselsteine hin und her.

„Hallo? Rede mit mir!“

Damien hatte scheinbar immernoch nicht die Absicht mir zu antworten, sondern wich meinem Blick aus und starrte weiter auf seine Füße.

Langsam aber sicher riss mir der Geduldsfaden! Ich merkte, dass die Wut in mir zu kochen begann, als hätte man soeben in meiner Brust einen Feuerball entzündet, der sich nun langsam einen Weg nach oben in Richtung Kopf bahnte, um sich in einer unberechenbaren Schimpftirade zu entladen, doch ich konnte mich nicht mehr beherrschen und schon sprudelte es aus mir heraus.

„Mir reicht‘s! Ich hab langsam die Nase voll. Seitdem ich hierhergekommen bin, habe ich sang- und klanglos alles über mich ergehen lassen, wozu ihr mich verdonnert habt:

Ich trainiere wie blöde, habe diesen bescheuerten Eid geleistet, lasse mich von euch untersuchen, schlucke ominöse Pillen, von denen ich nicht mal genau weiß, wie sie überhaupt wirken, und vernachlässige meine Freunde und meine Familie schon seit Tagen. Nie habe ich in Frage gestellt, dass ich euch vertrauen kann und der Dank dafür ist, dass du mich hier wie eine Gefangene festhältst und mich beschatten lässt, wenn ich für fünf Minuten das Haus verlasse? Und wenn ich nichts weiter verlange, als eine Erklärung, dann ist das zu viel verlangt?“

„Maeve, ich…“, Damien wollte etwas erwidern, doch ich war noch lange nicht fertig mit meiner Ansprache.
„Nein, jetzt rede ich! Ich drehe langsam durch, Damien! Ständig werde ich wie ein rohes Ei behandelt und ich habe das Gefühl, dass ich nach all der Zeit trotzdem rein garnichts über euch weiß! Allmählich zweifle ich daran, ob es diesen mysteriösen Janus überhaupt gibt und das alles nicht nur eine blöde Masche ist, um mich für euch einzuspannen. Wer sagt mir, dass ihr nicht in Wirklichkeit die Bösen seid?“

Mir schossen schon wieder die Tränen in die Augen, doch das war mir völlig egal. Damien schwieg immer noch, doch ich konnte in seinen Augen sehen, wie seine Gedanken sich überschlugen. Dann seufzte er tief und schüttelte unmerklich den Kopf.

„Das denkst du wirklich?“
In seinen Augen lag unendliche Traurigkeit und Enttäuschung und irgendwo tief in mir wusste ich, dass ich ihn mit meinen Worten sehr verletzt hatte, doch ich war einfach zu aufgebracht und wütend um mich zu entschuldigen.

Nein! Es gibt keinen Grund sich zu entschuldigen! Solange du mir nicht sagst, was hier los ist und ich diesen Janus nicht mit eigenen Augen gesehen habe, glaube ich dir gar nichts mehr!



Damien zuckte merklich zusammen und mir wurde klar, dass ich malwieder nicht aufgepasst und direkt zu ihm „hin“ gedacht hatte.
„Maeve, ich habe Anordnung dir nichts zu sagen und ehrlich gesagt halte ich es für das Beste! Die Tatsache, dass ich dich habe b-e-g-l-e-i-t-e-n- lassen (er dehnte das Wort absichtlich und schaute mich strafend an), war nur zu deiner eigenen Sicherheit! Wenn du das nicht verstehen willst, dann tut es mir leid, aber ich denke nicht daran, dich aus den Augen zu lassen! Und außerdem, wie kannst du es wagen, mich derartig an den Pranger zu stellen, du hast überhaupt keine Ahnung!“

Eine Mischung aus Verzweiflung und Trotz schwang in seiner Stimme mit und als er die Arme vor der Brust verschränkte und mich wütend anfunkelte, platzte mir erneut der Kragen.

Meine Stimme wurde schrill, wenn ich mich aufregte.
„Fein, dann tut es MIR leid, dass ich DIR nichts mehr zu sagen habe, solange du darauf bestehst, mich aus allem raus zu halten! Ich werde schon alleine herausfinden, was hier los ist…und WEHE, du wagst es nochmal, mir hinterher zu spionieren. Ich werde dich …“

Weiter kam ich nicht, denn Damien war einen Schritt auf mich zugetreten und packte mich sanft am Arm. Ich wusste, dass er versuchen wollte, die Wogen zu glätten, doch ich dachte nicht im Traum daran, mich zu beruhigen.

Ohne zu überlegen blickte ich ihm fest in die Augen und konzentrierte mich auf das leichte Kribbeln in meinen Beinen.

Ich spürte die Energie der Mutation in mir heranwachsen und legte alle Kraft in meine Stimme, während ich ihn weiter unverwandt ansah.

Kleine Funken stoben aus meinen Fingern, als ich meine Hände an seinen Kopf legte und sprach: „Halt dich die nächsten Tage von mir fern! Du siehst keine Veranlassung darin mich zu beschützen und du wirst erst wieder mit mir reden, wenn ich es dir gestatte!“

Damiens Gesicht wechselte innerhalb weniger Sekunden den Ausdruck von abgrundtiefem Verwundern über Verzweiflung, bis hin zu Trotz und schließlich, nach einem kurzen Aufflackern des Widerstands, weiteten sich seine Pupillen und sein Gesichtsausdruck wurde gleichmütig.

Er stand unter meinem Bann.
„Wie du befiehlst!“

Er ließ mich los und trottete mit hängenden Schultern davon.
Ich holte tief Luft und versuchte mich einigermaßen zu sammeln.

Was ist nur in mich gefahren?

, dachte ich bestürzt.
Damien würde mir nie verzeihen, dass ich meine Kräfte gegen ihn eingesetzt hatte und wäre es umgekehrt gewesen, hätte ich kein Wort mehr mit ihm gesprochen.
Andererseits war ich wütend und enttäuscht und wenn man mich derartig auf die Palme brachte, hatte ich mich eben nicht im Griff.
Ich seufzte.

Zumindest würde er mich für ein paar Tage in Frieden lassen und wenn ich schon nicht hier weg konnte, so wusste ich wenigstens, dass ich mir auf unschöne Weise eine Möglichkeit verschafft hatte, heraus zu finden was eigentlich los war.

Hervorragend

, dachte ich mit einem Anflug von Trotz.

Ich machte mich auf den Weg ins Haus um nach Jenny zu sehen. Als ich Zoes Zimmer betrat, saß Jenny auf dem Bett und hielt sich den Kopf.
„Maeve, Jenny ist wieder aufgewacht! Ich hab ihr schon erzählt, dass sie im Café umgekippt ist und du sie her gebracht hast!“
Zoe gab mir mit einem bedeutungsschweren Blick zu verstehen, dass ich es besser bei dieser Story belassen sollte.
Jenny war noch sichtlich angeschlagen und murmelte vor sich hin.
„Ich kapier‘ das nicht. Ich bin noch nie umgefallen…hab auch garnichts gemerkt…wie lange war ich denn weggetreten?“
Ich fühlte mich hundeelend sie zu belügen, doch mir war auch klar, dass ich einen schweren Verstoß gegen den Eid begehen würde,sollte ich petzen, also schwieg ich und schlang stattdessen meine Arme um sie.

„Ach Jenny…!“
„Hey, du zerquetschst mich! Sag‘ mal, hast du etwa geheult? Was ist denn los? Es ist doch niemand gestorben.“
Schon war sie wieder die Alte und schlängelte sich lachend aus meiner Umklammerung.

„Los, zeig mir das Haus!“

Sie sprang auf und trat zur Tür.
Ich warf Zoe einen fragenden Blick zu doch sie war schon wieder in ihr Buch vertieft, also nahm ich Jenny bei der Hand und führte sie durch das Obergeschoss.
Während wir durch die Galerie schlenderten, prahlte ich vor Jenny mit den wenigen Informationsfetzen, die ich von Attius über seine Reisen und die ausgestellten Gegenstände behalten hatte.

Zugegebenermaßen erfüllte es mich mit Stolz, als ich sah wie begeistert Jenny sich umschaute und mit den Händen über die kostbaren Vasen und Skulpturen fuhr.
Auch wenn es natürlich nicht mein Haus war, konnte ich nicht abstreiten, dass ich mich irgendwie geehrt fühlte, weil ich hier sein durfte.

Nachdem ich Jenny alle Zimmer, die Bibliothek, den Fitnessraum und das Badezimmer vorgeführt hatte, machten wir uns auf den Weg hinunter ins Erdgeschoss.
Auf dem Treppenabsatz stießen wir mit Kathy zusammen, die die Lippen zusammenkniff und uns ansah, als hätte sie soeben in eine saure Zitrone gebissen. Ihr Gesicht zierte eine Quarkmaske, auf der zu allem Überfluss auch noch Gurkenscheiben klebten.

Jenny machte kichernd einen ausfallenden Schritt zur Seite und senkte demütig den Kopf.
„Eure Hoheit.“
Ich prustete los und sprang ebenfalls zur Seite, als Kathy erhobenen Hauptes an uns vorbei rauschte und mir einen tödlichen Blick zuwarf.

Aus dem Augenwinkel sah ich, dass eine chinesische Vase unheilvoll auf dem Regal an der Wand zu schaukeln begann, aber ich konnte sie im letzten Moment unauffällig auffangen und an ihre alte Position retten.
Jenny hatte zum Glück nicht bemerkt, dass die Vase scheinbar ein Eigenleben zu entwickeln begonnen hatte.

„Vorsicht, die ist Ming-Dynastie!“, brüllte ich vorwurfsvoll hinter Kathy her und zog Jenny eilig die letzte Treppenstufe hinunter.

Linus kam uns ein wenig verstrubbelt aus dem Wohnzimmer entgegen und drückte Jenny einen überraschten Kuss auf die Wange.

„Hey, was machst du denn hier?“

Jenny strahlte und pustete ihre Locken aus der Stirn, ehe sie stolz verkündete: „Ich bin umgekippt und Maeve hat mich hergebracht. So kriege ich wenigstens mal einen Einblick ins Mystery Castle persönlich! DU lädst mich ja nicht ein!“

Linus zog seinen Bademantel enger vor der Brust zusammen und murmelte nervös:

"Wow, also das ist doch..."

"Toll, nicht wahr?", unterbrach Jenny den eindeutig überforderten Linus, der von dem Spontanbesuch nicht allzu begeistert schien, weil er immer wieder verlegen auf seine blauen Häschenpantoffeln schielte und aussah, als würde er am liebsten im Erdboden versinken.

Jenny raffte von alledem malwieder nichts und strahlte mit der Sonne und dem ganzen Universum um die Wette.

Sie hakte sich bei Linus ein und zog ihn davon.

„SO, ich hab grad beschlossen, dass du den Rest der Führung übernimmst!
Linus fuhr sich aufgeregt durch die Surfermähne und kickte seine Häschenpantoffeln unauffällig in die Ecke. Erleichtert nickte er.

„Aber gern doch!“

Ich tat indessen, als hätte ich von den Pantoffeln nichts bemerkt und musterte eingehend die rotgeblümte Velourstapete.

Schon fand ich mich allein im Treppenhaus wieder und sah mich unschlüssig um.

Damien war irgendwo, Zoe las in ihrem Zimmer, Sheryl, Kyle und die anderen spielten im Garten Baseball und Attius würde erst wieder in Nevada mit uns zusammen treffen.
Zumindest hatte heute Morgen ein Fax am Kühlschrank geklebt, mit der Info, dass er uns heute Abend dort erwarten würde.

Ich konnte also entweder packen, oder die Gelegenheit nutzen und mich unbemerkt umsehen.
Die Entscheidung war schnell getroffen. Ich schlüpfte zur Haustür hinaus und schlich auf Zehenspitzen zum Brunnen.

Meine Finger zitterten, als ich auf den Knopf an der Innenseite des Marmors drückte und der Brunnen lautlos zur Seite glitt. Lautlos hüpfte ich die silbernen Stufen hinunter und schloss die Öffnung von innen.

Noch bevor ich in das Tunnelnetz hinein tauchte, rief ich mir in Erinnerung, was ich im Alter von 11 Jahren bei den Pfadfindern gelernt hatte.
Regel Nummer 34: Um sich auf unbekanntem Terrain zurecht zu finden, ist es hilfreich, sich bestimmte Bezugspunkte zu merken, anhand derer man später den Rückweg wieder finden kann.

Na Bravo, dabei hat ein Toastbrot wahrscheinlich mehr Orientierungssinn als ich und hier unten sieht jeder Gang wie der andere aus: Weiße Flure, silberne Türen und Skulpturen aus Marmor.



Vorsichtshalber entschied ich mich dem Gang zunächst etwa 50 Meter geradeaus zu folgen.

An einem hässlichen Wasserspeier bog ich das erste Mal links ab, da ich mir sicher war, dass ich ihn ohne Probleme wieder erkennen würde.

Beliebig rüttelte ich an einigen Türklinken, aber die meisten waren verschlossen. Was hatte ich auch erwartet? Linus verriegelte sein Labor mit einem genetischen Scanner, obwohl es in einem Geheimversteck unter einem Springbrunnen verborgen lag!

Es war äußerst unwahrscheinlich, dass er mir seine dunkelsten Geheimnisse nun auf dem Silbertablett servierte-sofern es denn welche gab.

Wonach zur Hölle suchte ich überhaupt? Um ehrlich zu sein, das wusste ich selber nicht.
Wahrscheinlich hoffte ich auf irgendein Zeichen, oder eine Erleuchtung, die mir helfen würde, Damien und sein verrücktes Verhalten zu verstehen, oder zumindest an irgendeine andere nützliche Information zu kommen, die mir mehr über die Mutanten verraten würde.

An dieser Stelle musste ich mir selber eingestehen, dass ich im Grunde bloß unsagbar neugierig war und mir Damiens Verhalten in gewisser Weise gerade recht kam, um meinen Regelverstoß vor mir selbst zu rechtfertigen.

Nach mehrmaligem Rütteln fand ich endlich eine Türe, die sich öffnen ließ.

Der Raum dahinter wirkte nicht besonders abenteuerlich: Zwei Schreibtische an den Wänden, Regale mit Büchern und ziemlich viele Aktenordner in Kisten und zu Stapeln zusammen gepackt.
Enttäuscht sah ich mich um, griff wahllos nach ein paar Ordnern und blätterte darin. Jahreszahlen, Prozentwerte und merkwürdige Abkürzungen, mit denen ich nichts anfangen konnte, waren in seitenlange Tabellen eingetragen.

Enttäuscht legte ich die Ordner zurück an Ort und Stelle und schlich auf Zehenspitzen zu einem der beiden Schreibtische. Möglicherweise würde ich dort eher fündig werden- Schließlich wurden in CIA-Filmen die geheimen Unterlagen meistens in einer verschlossenen Schreibtischschublade mit Geheimfach verborgen.

Ich kam mir vor wie Jason Bourne, als ich mit zitternden Fingern am eisernen Griff der Schreibtischschublade zog.

Zu meiner Freude ließ sie sich mühelos öffnen, doch das Ergebnis war umso ernüchternder: die typischen, langweiligen Büroartikel, die man wohl in jeder beliebigen Schublade dieser Welt gefunden hätte: Kugelschreiber, Bleistifte-ordentlich gespitzt-Klarsichthüllen und ein silbern eingefasster Fotorahmen.
Vorsichtig strich ich über das Glas des Bilderrahmens und entfernte den Staub, der sich darauf gesammelt hatte.

Das Bild zeigte Attius, als er noch sehr, sehr jung gewesen sein musste, vielleicht Anfang 20.
Im Arm hielt er einen kleinen, pausbäckigen Jungen mit schwarzem Haar und strahlend blauen Augen. Beide lächelten in die Kamera und Attius wirkte unglaublich stolz.
Seltsam. Wer war das fremde Kind? Sein Sohn?

Zugegebenermaßen hatte ich seinem Privatleben bisher nicht besonders viel Beachtung geschenkt, da er ohnehin ständig auf Reisen war.
Behutsam legte ich den Rahmen zurück in die Schublade, als ich plötzlich ein kleines ledernes Notizbuch erspähte, welches weit hinten in der Schublade verborgen lag. Ich zog es vorsichtig heraus. Mit einem kurzen Blick vergewisserte ich mich, dass es bis auf die letzte Seite handbeschrieben war und überflog ein paar Zeilen.

5. Januar 2008
Linus und ich haben es endlich geschafft, den Wirkstoff zur Unterdrückung der Mutation fertig zu stellen. Das Patent und ein Meeting bei einem führenden Pharmakonzern habe ich schon in der Tasche! Wenn alles klappt, dann werden wir Ende der Woche einen Deal über mehrere Milliarden unterzeichnen und ich kann endllich diese Mutation aufhalten........



Ich schnaufte. Nun wurde mir auch klar, womit Attius so reich geworden war. Das ich nicht früher darauf gekommen war! Ich klatschte mir an die Stirn.

Schnell schob ich das Notizbuch unter mein T-Shirt und beschloss, bei Gelegenheit darin weiter zu lesen. Ich schloss die Schublade und machte mich weiter auf die Suche. Vorsichtig schlich ich zum zweiten Schreibtisch heran, doch hier hatte ich weniger Glück, denn die Schublade war verschlossen.

Dafür stand darauf ein Computer, dessen Bildschirm sogar noch flackerte.
Ich jauchzte innerlich auf!

Über einen schwarzen Hintergrund flimmerten Zahlen, die mich verdächtig an den Film Matrix erinnerten und ebenso nichtssagend wie verwirrend waren.
Zaghaft ergriff ich die Maus und versuchte durch Klicken, das Programm zu verlassen, doch es gelang mir nicht. Die Daten flimmerten unaufhörlich weiter.

Plötzlich erschloss sich mir eine gewisse Regelmäßigkeit hinter den Zeichen. Es waren Namen und dahinter Jahreszahlen, Prozentzahlen, irgendwelche Abkürzungen und merkwürdige, englische Begriffe.

Das Ganze ging unglaublich schnell vonstatten, da Schrift, Farbe und Größe der Buchstaben ständig wechselten.
Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an die Reizüberflutung gewöhnten und ich ein paar der Daten aufschnappen konnte: Darius Blueberg 04.07.1966 mutation rate:45%/ mutation pattern: unknown////Sophie Pahl 05.10.1954/mutation rate: 87% /mutation pattern: F/ und so weiter.
Allmählich bekam ich das Gefühl, dass meine Augen anfingen zu schielen, deswegen wollte ich mich schon wieder abwenden, aber just in diesem Moment sah ich etwas, das meinen Blick fesselte: Maeve Crow 08.07.2012 mutation rate:99%/mutation pattern:A.

Ich blinzelte verwirrt, doch die Daten waren schon wieder verschwunden und stattdessen ratterten wieder unbekannte Namen und Zahlen vor mir herab. Das Ganze hatte sich binnen Sekunden abgespielt und doch war ich mir sicher! Mein Kopf schmerzte allmählich, also beeilte ich mich, den Blick von dem hypnotischen Geflacker abzuwenden.

Fieberhaft grübelte ich, was die Daten zu bedeuten haben mochten und dann hatte ich einen Geistesblitz!
Der 08.07. war mein Geburtsdatum und am 08.07. diesen Jahres hatte ich zum ersten Mal einen Turn gehabt. Wahrscheinlich war dies ein Programm, mit dem Linus meine Mutation heraus gefunden hatte.
Auch wenn mir die Begriffe nichts sagten, hatten sie auf jeden Fall irgendetwas mit Menschen und ihren Mutationen zu tun!


Selbstzufrieden nickte ich und beschloss, die anderen Türen dieses Ganges ins Visier zu nehmen.
Ich schlüpfte eilig hinaus und rüttelte gerade an der nächstbesten Türklinke, als ich plötzlich eine unangenehm vertraute Stimme hinter mir wahrnahm.

„Na, suchst du was Bestimmtes?“ Ich fuhr herum und erstarrte. Ein boshaftes Grinsen breitete sich über Kathys Gesicht aus, als sie langsam näher an mich heran trat und mich neugierig beäugte.
Verflucht! Wo kommt DIE denn her?



Meinen Lippen entwich ein genervtes Stöhnen während mein Kopf verzweifelt sämtliche Schubladen meines Gehirns umstülpte und nach einer Ausrede suchte.

Hier unten war ich völlig auf mich allein gestellt.
Tun konnte sie mir nichts, das verbot der Eid, aber sie würde NIE im Leben dichthalten, dass sie mich beim Herumschnüffeln erwischt hatte und wenn dies passierte, war ich geliefert!
Ich konnte versuchen, sie in meinen Bann zu bringen, aber was sollte ich tun, wenn mir das nicht gelang?

Sie würde mich sicher vor Wut durch die Luft fliegen lassen!

Etwas dieser Art schien sie sich im selben Moment auszumalen, denn sie kam mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck näher und streckte die Hand aus.
Panisch hob ich die Arme und schrie: „Du wirst mich sofort vorbei la…“, doch Kathy war zu schnell.
Ein Bilderrahmen kam mit atemberaubender Geschwindigkeit heran gesaust und krachte neben mir an die Wand.

Ich schaffte es gerade noch, mich mit einem beherzten Seitwärtssprung aus der Gefahrenzone zu bringen.
Verzweifelt suchte ich nach einem Ausweg und hatte plötzlich die rettende Idee: Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst -verbünde dich mit ihm!

Es gab nur eine Möglichkeit, Kathy von meinem Regelverstoß abzulenken:ich musste ihr ein weitaus interessanteres Drama bieten, als die Tatsache, dass ich unerlaubt im Bunker war.

Also holte ich tief Luft und warf ihr einen flehenden Blick zu, den Kathy damit quittierte, das eine Engelsskulptur heran gesegelt kam und zwei Zentimeter vor meinem Füßen auf den Boden krachte.

„Bitte hör‘ auf damit, ich sag dir ja was los ist!“, quiekte ich und hob verzweifelt die Hände.
Kathy fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Unterlippe und wägte ab, inwieweit man mir vertrauen konnte. Schließlich siegte ihre Neugierde und sie nickte.

"Also raus damit, was hast du hier unten zu schaffen?"

Ich warf ihr einen Hundeblick zu und betete innerlich, dass sie mir die Story abkaufen möge.

„Damien und ich haben uns gezofft! Ich wollte in den Botanischen Garten, um ein wenig abzuschalten, aber ich finde das verdammte Ding nicht wieder!“

Kathy bemühte sich nicht einmal, ihre Schadenfreude über unseren vermeintlichen Streit zu verbergen und grinste breit.

„Ach ja? Zoff...soso.. Kann ich irgendwie helfen?“ Ihre Stimme war ein sanftes Plätschern.
Diese Schlange!


Natürlich wusste Kathy nichts davon, dass Damien mir von ihrer kleinen "Vorgeschichte" erzählt hatte, also hatte ich beschlossen, diesen Trumpf gegen sie auszuspielen.

Ich quetschte mir ein paar Tränen aus den Augen und ließ meine Stimme in einer schauspielerischen Glanzleistung brüchig und matt klingen, während ich mit gesenktem Blick flüsterte:

„Damien hat mich abserviert!Ich glaube ich war nur eine nette Zwischenmahlzeit, wenn du verstehst was ich meine?! Er meinte, wir wären nicht auf derselben Wellenlänge und er hätte nur nach etwas gesucht, dass ich ihm nicht geben konnte. Wenn du es mir nicht glaubst, dann sieh' nur selbst, wenn wir wieder oben sind. Er redet keinen Ton mehr mit mir!“

Das saß! Kathys Miene erhellte sich, aber sie schien sich im selben Augenblick wieder zu sammeln, seufzte mitleidig und säuselte mit einem gespielt-mütterlichen Augenaufschlag:

„Du Ärmste! Männer sind wirklich Schweine! Na komm, ich bring dich zum botanischen Garten. HIER bist du jedenfalls total falsch!“

Wahnsinn! Wenn sie lächelte, sah Kathy beinahe nett aus. Dennoch hatte ich nicht die geringste Lust, mit ihr zwischen den Schlingpflanzen herum zu flanieren und mir ihr Männergequatsche anzuhören, also legte ich theatralisch seufzend eine Hand an die Stirn und hauchte: “Nein, ist schon okay. Ich fühle mich nicht besonders gut. Bring mich doch einfach nach oben,ja?“

„Natürlich. Verstehe“, nickte Kathy und ihre Stimme hatte diesen typisch therapeutischen „du–kannst-immer-mit-mir reden-Unterton“ angenommen.

Nun trat sie auch noch mit weit aufgerissenen Augen an mich heran und legte eine Hand auf meinen Unterarm.

„Kommst du denn klar?“
Ich wusste nicht, ob ich innerlich kotzen oder losprusten sollte, deshalb presste ich die Lippen aufeinander und sah ausweichend zu Boden.

Schon wurde ich an der Hand gepackt und Kathy trippelte mit mir nach oben, während sie unermüdlich auf mich einschwatzte, was Männer doch für böse, böse Geschöpfe wären.

Als wir auf dem Vorplatz der Villa unter dem Brunnen heraus kletterten, standen die anderen bereits mit gepackten Koffern vor dem Haus und staunten Bauklötze während Jenny malwieder ihr Boa-Constrictor-Gesicht machte, als sie Kathy und mich Hand in Hand über den Kies schlendern sah.

Dass Kathy und ich einander ungefähr so gerne mochten, wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt, war ein offenes Geheimnis und plötzlich hielten wir Händchen? Das war selbst für Jenny zuviel.

Einzig und allein Damiens Miene blieb gleichgültig und es machte den Anschein, als sehe er geradewegs durch mich hindurch, was Kathy nicht entgangen war.

Diese Schlampe! Ich könnte sie erwürgen!



„Wo wart ihr bloß?“, schimpfte Zoe „Wir wollen in einer halben Stunde los! Jenny, wir müssen dich leider bitten zu gehen!“

"Null Problemo", kicherte Jenny, umarmte Linus überschwenglich und steuerte dann auf mich zu.

„Viel Spaß Schatz und bis nächste Woche!“, trällerte sie, während sie mich an sich drückte und auf beide Wangen küsste. Beim zweiten Kuss verweilte sie dicht neben meinem Ohr und flüsterte: „Ich muss das nicht verstehen, ne? Ruf mich gefälligst an, sobald du Zeit hast!“

Ich nickte entschuldigend und Jenny verließ winkend den Platz.
Vor der Überwachungskamera des Eisentors warf sie sich kichernd und zwinkernd in Pose, bis Janosch ihr endlich aufmachte und mich von meiner Schmach erlöste.
Die anderen lachten zwar, doch ich schämte mich in Grund und Boden. Ständig mußte sie übers Maß hinaus schießen.

Kathy lächelte scheinheilig.
„Jenny ist wirklich ganz reizend!“

Die plötzliche „Best-Friends-Nummer“ kaufte ich ihr jedenfalls kein Stück ab.
Für wie blöd hielt die mich?

Sobald ich sie aus den Augen ließe, würde Kathy versuchen, wieder bei Damien zu landen und alles Gesagte gegen mich verwenden, da war ich mir sicher, doch bis dahin blieb mir leider nichts anderes übrig, als mich ahnungslos zu geben, also tat ich es ihr gleich und strahlte zurück, bis ich Krämpfe in den Backen bekam.

"Ja, nicht wahr?"

Schon wollte Kathy wieder ansetzen und mich in ein weiteres tödlich langweiliges Gespräch verwickeln, doch dieses Mal war ich schneller.

„Scheiße, ich hab noch nicht gepackt!“, rief ich, schlug mir demonstrativ die Hand an die die Stirn und wollte mich eilig an Kathy vorbei ins Haus schieben, doch Kathy packte mich am Arm.

„Hey, wozu hast du mich?“

Schon blinzelte sie konzentriert und ehe ich mich versah, kam mein Koffer durch den Kamin der Villa geflogen und dahinter schwebten tatsächlich alle meine Sachen heran.
Socken, Hosen und Pullis segelten in einer niedlichen Parade auf mich zu und landeten sanft auf einem Haufen zu meinen Füßen.

„Siehst du? Jetzt musst du den Kram nur noch einpacken!“

Ihr Blick fiel mitleidig auf eine ausgeleierte, geblümte Unterhose, die natürlich an oberster Stelle und für jeden sichtbar hatte landen müssen.

Verdammter Mist!


So schnell ich konnte, stopfte ich das Biest in den Koffer.
Ehe einer der anderen etwas sagen konnte, wendete ich mich an Zoe und wechselte das Thema.

„Ähem, was ich mich schon die ganze Zeit gefragt habe: Wie wollen wir es eigentlich bis heute Abend nach Nevada schaffen?
Wir müssen durch mindestens acht Staaten, bis wir da sind!Das schaffen wir doch niemals bis heute Abend!“

Zoe zückte wortlos eine silberne Fernbedienung und hielt sie gedrückt in Richtung Parkplatz. Wie aus dem Nichts öffnete sich plötzlich ein Quatat mitten im Kiesbett und eine unterirdische Garage wurde nach oben befördert. Darin stand ein Fahrzeug, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen hatte.

Linus, der mit Damien auf der Treppe der Villa saß, formte mit den Händen einen Trichter und rief:“TATAAAA wir reisen im Mutantomobil!“

„Mutantowas?“, fragte ich irritiert und beäugte das seltsame Ding skeptisch von allen Seiten.

Zoe lachte. „Das Flugzeug heißt nicht wirklich so, aber es ist eine Spezialanfertigung, die wir so getauft haben, weil sie einfach total abgefahren ist! Sieh‘ selbst!“

Zoe öffnete die Einstiegsluke und ich kletterte hinter ihr her in das Mutantomobil hinein.

Das Mutantomobil war eine Mischung aus Auto, Flugzeug und Wohnwagen und malwieder der beste Beweis dafür, dass Attius keine Kosten und Mühen scheute, wenn es um die Sicherheit seiner Schäfchen ging.

Von außen sah es fast wie ein etwas verformter Düsenjet aus, doch innen war es geräumig und mit allem ausgestattet, was man für eine Reise brauchte: Eine Küchenecke, ein Klo, Schlafnischen, die in die Innenwände eingelassen waren und einen kleinen Tisch.
Das Flugzeug hatte kein Cockpit, sondern lediglich einen Computer, in den man das Ziel eintippen musste.

Danach flog das Mutantomobil automatisch und der Clou an der Sache bestand in der außergewöhnlichen Beschaffenheit seiner Oberfläche, welche sich aufgrund einer hoch komplizierten Tarnmembran wie ein Chamäleon seiner Umgebung anpasste und es somit unsichtbar für Menschenaugen machte, wie mir Linus stolz verkündete.

Linus überreichte jedem von uns eine ziemlich unsexy aussehende, grüne Fliegerhose, die verhindern sollte, dass uns das Blut zu sehr in die unteren Gliedmaßen schießen würde, sobald wir los flogen. Brav schlüpfte ich in das Luftmatratzen-ähnliche Teil und kicherte, als ich die anderen sah.
Dennoch- Attius' Vorraussicht überraschte mich malwieder. Allein die Tatsache, dass er eine Flugerlaubnis für das Ding bekommen hatte, war erstaunlich und bestimmt sehr kostspielig gewesen, doch ich war es mittlerweile gewohnt, solche Dinge hinzunehmen, ohne sie viel zu hinterfragen.

Attius wusste schon, was er tat, da hatte ich absolutes Vertrauen, also hievte ich mit einem aufgeregten Kribbeln im Bauch meinen Koffer in die Ladeluke und machte es mir in einer Schlafnische so gemütlich, wie es unter Anbetracht der Tatsache möglich war, dass ich mich aus Sicherheitsgründen festschnallen und einen Helm tragen musste.

Die anderen folgten mir ins Mutantomobil und schnallten sich ebenfalls an.
Linus tippte das Reiseziel in den Bordcomputer: Las Vegas/Nevada und einige Koordinaten und ehe ich mich versah, schlossen sich die Luken und wir schossen in den Himmel hinauf.

Bevor mir der Druck auf den Ohren zu viel wurde, sah ich noch, dass Kathy sich lächelnd auf den freien Platz neben Damien quetschte.
Ich musterte sie wütend. Das Verlangen triefte ihr geradezu aus jeder Pore und Damien schien sich auch noch zu freuen, dass sich Kathy plötzlich wieder versöhnlich zeigte.

Unfassbar, wie naiv Männer sein konnten! Schön, sollte er doch! Ich war beleidigt, obwohl mir natürlich klar war, dass ich im Grunde selbst dran schuld war.

Anstatt Dich zu freuen, dass ein so wunderbarer Kerl Interesse an dir hat, anstatt dich beschützen zu lassen und ihm zu vertrauen, hast du dir das alles selbst eingebrockt und jetzt musst du die Suppe auslöffeln, Maeve!



Wütend zog ich die Vorhänge meiner Nische zusammen und machte mich auf die Suche nach meinen Reisekaugummis und Attius' Notitzbuch.

Der Druck auf meinen Ohren ließ nach und das Pfeifen der Düsen wich einem wohligen Rumpeln.
Ich vermochte nicht einzuschätzen, mit welcher Geschwindigkeit wir vorankamen, bis ich einen Blick aus dem Fenster warf und die Wolken in rasender Geschwindigkeit vorbei gleiten sah.
  Bei diesem Tempo wären wir in spätestens einer halben Stunde am Ziel.

Ich zückte das Notizbuch heraus, welches immer noch in meinem Hosenbund unter dem T-Shirt klemmte und mir langsam einen unangenehmen Abdruck im Rücken verpasste.

Das Buch war bis auf die letzte Seite beschrieben. Hier und da waren Zeichnungen eingefügt oder verschiedene Zeitungsartikel ausgeschnitten und fein säuberlich eingeklebt worden.
Einer von ihnen erweckte sofort meine Aufmerksamkeit. Es zeigte das Foto eines kleinen Jungen, der einen Verband um den Kopf trug und schüchtern in die Kamera lächelte. Selbst unter einhundert Augenpaaren hätte ich dieses wieder erkannt!
Mit zitternden Fingern faltete ich die verblichenen Seiten auseinander und begann zu lesen. Bei der Überschrift stockte mir der Atem:

11- jähriger Junge verliert Eltern bei Autounfall

 


Am Nachmittag des 14. 06. 1999 kam es auf der Brooklynbridge zu einem schweren Autounfall, bei dem ein Junge auf tragische Weise seine Eltern verlor.

Wie die Polizei mitteilte, war die Fahrerin eines Mercedes aus noch völlig ungeklärter Ursache in den Gegenverkehr gerast. Ungebremst prallte der Wagen mit einem Cadillac zusammen, in dem sich das berühmte Musikerpaar William und Jeanette Smith und ihr Sohn befanden, die gerade auf der Rückfahrt von einem Ausflug waren.

Die beiden Eltern erlagen noch am Unfallort ihren schweren inneren Verletzungen. Das Kind wurde mit dem Rettungshubschrauber ins anliegende Bellevue Hospital Center geflogen und befindet sich auf dem Weg der Besserung.

Die Polizei ermittelt nun, wie es zu dem tragischen Unfall gekommen ist. Die Fahrerin des Mercedes musste aus dem zerbeulten Autowrack geschnitten werden und verstarb noch am Unfallort.
Sie hinterlässt zwei kleine Töchter im Alter von eins und fünf Jahren. Der Pressesprecher der Polizei kann bisweilen keine genaueren Angaben über den Tathergang machen.

Eine Welle der Übelkeit ergriff mich und ich stopfte das Buch eilig unter mein Kopfkissen. Der Schmerz, der mich überwältigte, nahm mir den Atem.
Damien hatte seine Eltern also ebenfalls bei einem Autounfall verloren? Plötzlich überfiel mich ein ungutes Gefühl. Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Es war, als würde das Blut in meinen Adern plötzlich gefrieren. Bestimmt irrte ich mich! Ich MUSSTE mich einfach irren!Oder doch nicht?

Meine Mum war am selben Tag auf der Brooklynbridge ums Leben gekommen. Das konnte doch nur ein schrecklicher Zufall sein!!! Ob meine Mum verantwortlich für den Tod von Damiens Eltern war? Hatte das Schicksal uns tatsächlich auf solch tragische Weise miteinander verbunden? Und vor allem: WUSSTE Damien davon?
Eine Flut von Erinnerungen stürmte auf mich ein und die Bilder eines lange verdrängten und furchtbaren Erlebnisses tauchten vor meinem inneren Auge auf:

Ich wartete vor dem Kindergartentor auf meine Mutter, weil sie wie jeden Mittwoch mit mir gemeinsam zum Einkaufen fahren wollte. Zunächst wunderte ich mich nicht, dass Mum bereits eine halbe Stunde überfällig war, da sie, seit Dad verschwunden war, ständig Überstunden machte und im Grunde rund um die Uhr in der Redaktion war, doch als Tante Fi statt ihrer aus dem Auto stieg und mich mit roten verweinten Augen schluchzend in die Arme schloss, da ahnte ich, dass etwas Schreckliches geschehen war.

Fianna war völlig außer sich und berichtete mir unter Tränen, das Mum auf dem Heimweg von der Arbeit mit dem Auto in den Gegenverkehr geraten war und dabei frontal in ein anderes Auto geknallt war. Die Polizei hatte sie informiert, da ihre Nummer für Notfälle in Mums Portemonnaie gesteckt hatte. Ich konnte es nicht fassen.

Meine wunderschöne, stets lachende, liebevolle Mutter war tot. Weg. Ich würde sie niemals wiedersehen.


Tante Fi nahm Maya und mich bei sich auf und bemühte sich wirklich nach Leibeskräften, mich aufzupäppeln. Maya war noch zu klein, um die Geschehnisse zu begreifen, doch für mich war diese Zeit eine Höllenfahrt.
Ich hatte Alpträume, weinte wochenlang und schließlich hörte ich sogar für ein paar Monate völlig auf zu sprechen.
Ich konnte das alles nicht wirklich fassen und der Kummer über den schrecklichen Verlust hatte mir buchstäblich die Sprache verschlagen.

Zach versuchte sein Bestes, um mich ins Leben zurück zu holen. Stundenlang saß er an meinem Bett, las mir vor, oder streichelte schweigend meine Hand, während ich vor mich hin starrte oder leise weinte.

Auch Fianna war völlig verzweifelt, doch sie hatte ihre ganz eigenen Methoden, um mir meinen Verarbeitungsprozess zu erleichtern. Jeden Sonntag schleifte sie mich auf den Friedhof, zündete Kerzen an, legte Blumen ans Grab, oder spielte mir Mum’s Lieblingsmusik vor, während sie mich im Arm hielt.
Sie erzählte mir von all den Dingen, die sie mit Mum erlebt hatte und ich erfuhr Dinge, die ich selbst nicht einmal gewusst hatte. Mum hatte ein aufregendes Leben geführt. Mit 20 hatte sie ihr Studium geschmissen und war nach Argentinien durchgebrannt, wo sie auch meinen Vater kennengelernt hatte.

Die beiden waren in einem alten Bus quer durch die Kontinente gereist und hatten viele Abenteuer erlebt.
Die sonntäglichen Besuche wurden zu einer Familientradition und je mehr Tage ins Land gingen, desto mehr verloren sie ihren dunklen Beigeschmack, bis sie schließlich eher einem fröhlichen Beisammensein, als einer Trauerfeier glichen.

Fianna war davon überzeugt, dass jede Seele nur einen bestimmten, für sie vorgesehenen Zeitraum, auf der Erde verweilen dürfe und dass es einen Sinn gehabt hatte, dass Mum so früh von uns gegangen war.

Mir erschloss sich dieser Sinn nicht, doch ihre Worte spendeten mir Trost und gaben mir Kraft.
Als Fianna uns etwa vier Jahre später fragte, ob sie uns adoptieren dürfe, willigte ich sofort ein.
Ich liebte sie grenzenlos und hätte mir niemand besseren vorstellen können, bei dem ich aufwachsen wollte.

Langsam aber sicher erholte ich mich und konnte das Geschehene akzeptieren, doch jetzt, als ich den Zeitungsartikel in den Händen hielt, überkam mich erneut eine Welle der Traurigkeit.

Gleichzeitig erfüllte mich furchtbare Angst, weil ich mich irgendwo schuldig fühlte, dass Damien wegen meiner Mutter seine beiden Eltern verloren hatte.

Wie sollte ich ihm das beibringen?
Und Zoe? Würde ich ihr je wieder in die Augen sehen können?
Verzweifelt stopfte ich das Buch unters Kopfkissen und beschloss, Damien auf der Stelle von meinem Bann zu befreien und mit ihm zu reden.

Dazu kam es jedoch nicht, denn ich wurde mit einem unsanften Ruck nach vorne geschleudert und mit einem Blick aus dem Fenster stellte ich fest, dass wir in der Wüste Nevadas gelandet waren.
Meine Vergangenheitsbewältigung musste warten!

Als ich vorsichtig die Vorhänge beiseite schob, waren Zoe, Linus und Damien bereits abgegurtet und packten freudestrahlend ihre Sachen zusammen. Kathy hatte die unschöne Fliegerhose bereits gegen ein weißes Kleidchen eingetauscht und schminkte sich soeben die Lippen. War die immer schon so braun?

Missmutig betrachtete ich ihre langen, gebräunten Beine, doch Kathy machte es mir schwer zu schmollen, denn sie trabte sogleich winkend auf mich zu und deutete nach draußen. „Hach, was für ein Wetterchen!“
„Mmmpf“, grunzte ich und versuchte ihren Arm abzuschütteln.


Kathy überging meinen Korb dezent und schob mich durch die Einstiegsluke.
Wir hievten unser Gepäck hinaus und Linus betätigte die Fernbedienung.

Die Oberfläche des Gefährts begann zu flimmern und zu pulsieren und passte sich mehr und mehr dem Hitergrund an, bis es absolut unsichtbar und vollkommen mit der Umgebung verschmolzen war.
Uns umgab nichts mehr, als Sand, Ödnis und die entfernten Lichter von Las Vegas.

„Und jetzt?“, fragte ich in die Runde.
Der Gedanke, schwer bepackt durch die Wüste zu stapfen entlockte mir wenig Begeisterungsstürme.

„Jetzt werden wir ins Hotel gefahren!“, verkündete Zoe strahlend und deutete mit dem Kopf hinter mich.

Als ich mich umdrehte, erblickte ich eine lange Limousine, die aus dem Nichts heran gebraust war und mit einer Vollbremsung neben uns anhielt, wobei mir eine gehörige Ladung Sand ins Gesicht gefegt wurde. Blinzelnd erspähte ich Attius, der galant aus dem Wagen gesprungen kam und uns nacheinander in die Arme schloss.

Er raunte Damien und Zoe irgendetwas ins Ohr, das ich leider nicht verstehen konnte und die beiden nickten verschwörerisch. Dann trat er auf mich zu und drückte mich an seine Brust.

„Herzlich Willkommen in Las Vegas!
Lasst uns losfahren, ich habe eine Suite im Caesars Palace für uns gebucht. Dort können wir uns eben frisch machen und dann werden wir uns auf den Weg ins berühmte Bellagio Casino machen, wo heute Abend der Mutantenkongress tagen wird. Es gibt eine tolle Show und interessante Vorträge!“

Trotz meiner reichlich angekratzten Laune, erfasste mich eine unbändige Vorfreude. Ich, Maeve Crow, in Las Vegas. Eine Suite im Caesars, das war einfach nur der absolute Wahnsinn und dann auch noch an einem geheimen Mutantenkongress teil zu nehmen…ich konnte es kaum erwarten!

Attius gab mir mit einer unmerklichen Kopfbewegung zu verstehen, dass ich doch zu ihm nach vorne auf den Beifahrersitz klettern sollte, also nahm ich ein wenig erstaunt neben ihm Platz, während ich aus dem Augenwinkel Kathy und Damien nebeneinander einsteigen sah, und meine inneren Organe wie ein Bleiklumpen in meiner Bauchhöhle lagen.

Da die Scheibe zum hinteren Teil der Limousine verdunkelt und hochgefahren war, konnte ich nicht sehen, was dort gerade vor sich ging, aber es benötigte nicht viel Phantasie, um mir auszumalen, wie Kathy gerade alles daran setzte, wieder bei Damien zu landen.
Ich schnaubte.
„Alles in Ordnung mit dir?“
Attius väterliche Stimme holte mich zurück in die Wirklichkeit und ich zuckte leicht zusammen, als ich seinen prüfenden und unendlich weisen Blick auf mir ruhen sah.

Es machte keinen Sinn ihm etwas vorzuspielen….Er hatte mich schon durchschaut, noch ehe ich zu sprechen anfangen konnte, also seufzte ich und zuckte die Achseln.

Anstatt mich einem Verhör zu unterziehen, schienen seine Hände lediglich ein wenig fester ums Lenkrad zu greifen, während er den Blick wieder auf die staubige Ödnis vor uns lenkte und mich gewähren ließ. Während er schweigend fuhr, nutze ich die Gelegenheit ihn zu mustern.

Er war ohne Zweifel unwahrscheinlich attraktiv.

Die Wangenknochen kantig, die Lippen schmal, die Nase lang und gerade wie bei einer römischen Skulptur. Seine Oberarme schienen unter dem beigen, lässigen Leinenhemd wahnsinnig muskulös und seine Haut blitzte tief gebräunt unter dem hellen Stoff hervor.

Es war diese Art von Bräune, welche nur Wind und Wetter in die Haut zu gerben vermochten. Gerade so, als hätte er die letzten Wochen nicht in einem Privatjet die Welt bereist und geheime Kongresse hinter modernen Glasfassaden abgehalten, sondern viele Stunden unter freiem Himmel verbracht.
Seine Wimpern waren hellblond und unglaublich lang und sein blondes Haar hatte er mal wieder kurz geschoren.
Ein besser aussehender Paul Walker,  durchfuhr es mich.

Tante Fi wäre mit Sicherheit sofort unsterblich in ihn verliebt, kam mir plötzlich in den Sinn und ich kicherte leise.

Wie alt er wohl sein mochte? Dem Aussehen nach zu urteilen vielleicht Mitte Dreißig, doch die Art wie er sich gab und seine Ausstrahlung ließen ihn wesentlich reifer wirken.
Woran lag das?
Wurde man automatisch schneller erwachsen, wenn man eine so große Verantwortung übernahm, wie sein Mutantenclan?

Auch Damien wirkte auf mich bedeutend erwachsener, als ich es war.
Ich betrachtete Attius eine stumme Weile und dann wurde mir schlagartig klar, dass es seine Augen waren. Dies waren nicht die Augen eines jungen Mannes. Es waren Augen, die schon viel gesehen hatten. Liebe, Leid, Veränderung und Verlust.

Er hatte diesen prüfenden, wachsamen Blick, den man sonst nur bei sehr alten Menschen kannte. Augen, denen nichts entgeht und die gleichzeitig selbst voller Geheimnisse steckten.

Ich wusste absolut nichts über ihn und dennoch hatte er mein uneingeschränktes Vertrauen.
Ich beschloss, die Autofahrt zu nutzen, um vielleicht einige meiner quälendsten Fragen zu beantworten, doch noch ehe ich etwas sagen konnte, schnitt Attius mir das Wort ab.

„Er weiß, dass es deine Mutter war, die damals mit seinen Eltern zusammen geprallt ist, Maeve.“

Attius blickte mich durchdringend an.

Ich holte tief Luft und rutschte unruhig auf meinem Sitz hin und her. Woher wusste Attius, dass ich in seinem Notizbuch gelesen hatte? Natürlich!!!! Wahrscheinlich war der gesamte Bereich videoüberwacht und man hatte ihn bereits informiert. Mir wurde mulmig, doch Attius ging nicht weiter auf diese Tatsache ein, sondern sagte stattdessen:

„Du bist schon lange der Sinn seines Lebens, Maeve. Er lebt, atmet, denkt und fühlt jede Sekunde seines Lebens allein für dich. Seit Jahren.“

„Woher wusste er es?“

Ich hielt den Atem an.

Attius seufzte schwer und zuckte dann resigniert die Achseln, als wäre ihm im selben Augenblick klar georden, dass ich die Wahrheit früher oder später ohnehin heraus finden würde.

Er war bei der Beerdigung deiner Mutter, Maeve.
Ein kleiner Junge, unauffällig zwischen den Trauergästen und dort hat er dich zum ersten Mal gesehen….

Seit dem Tag hat er nichts anderes mehr getan, als über dich zu reden, sich um dich zu sorgen und sich zu fragen, was passieren würde, wenn er dich wiedersähe.“
Er nahm den Blick von der Straße und sah mich unglaublich ernst an.

"Warum??? Er muss doch unglaublich böse auf meine Mum gewesen sein? Wieso war er dort???", flüsterte ich fassungslos.

"Damien ist von dem Gedanken besessen, dass deine Mum nicht ohne Grund in die Gegenfahrbahn geraten ist.
Immer wieder hat er mir gesagt, dass er im Moment des Aufpralls in ihre Augen gesehen und ihre Gedanken gehört habe.

"BESCHÜTZE MEINE TOCHTER!", das soll sie ihm gesagt haben und außerdem hat er steif und fest behauptet, dass er dort im Wagen deiner Mutter jemanden gespürt hat.

Irgendwas sei hinter ihr her gewesen, so versicherte er mir immer wieder und war von dieser Idee nicht abzubringen. Sein Turn hat eigentlich erst mit 14 begonnen, deswegen gibt es keine logische Erklärung für das, was Damien damals gesehen hat, aber möglicherweise gibt es auch Mutanten, die schon als Kleinkinder Fähigkeiten besitzen.

Es gibt Überlieferungen, die davon berichten, aber bisher habe ich noch keinen Mutanten getroffen, dessen Kräfte noch vor dem Turn aufgetreten sind und die Untersuchungen waren nicht eindeutig.“

Das Blut in meinen Adern gefror und meine Nackenhaare sträubten sich vor Entsetzen.

„Damien glaubt also, es war Mord?„ ,keuchte ich.

Attius nickte. „Er glaubt es nicht nur, er ist felsenfest davon überzeugt, aber seit diesem Tag zählte für ihn nur, dass du in Sicherheit bist."
Ich bekam ein schrecklich dumpfes Gefühl in der Brust.
„Möglicherweise war er der Meinung, dass ihr durch einen Wink des Schicksals für immer miteinander verbunden wärt und dass er mit deiner Hilfe und der daraus resultierenden Verantwortung für dich den Schmerz vielleicht besser würde ertragen können. Zoe und ich haben uns den Mund fusselig geredet, aber er war nicht von seiner Besessenheit abzubringen, dich zu beschützen und eines Tages dein Freund zu werden. Er hat darauf bestanden, dass einer von uns immer in deiner Nähe bleibt und dich bewacht und das haben wir getan...wir konnten ihm diesen Wunsch nicht abschlagen, nach all dem Leid, das ihm wiederfahren ist.
Natürlich hatte er zunächst keine Ahnung, dass du auch eines Tages eine von uns sein würdest und auch wenn ich es geahnt habe, habe ich ihm nichts davon gesagt, doch als Linus ihm deinen Namen sagte, da fühlte er sich in all seinen Annahmen bestätigt. Es war, als hätte Gott persönlich ihn zu dir geführt und du musst zugeben, dass es schon eine Menge merkwürdiger Zufälle sind, oder?"

„Aber wieso hat Damien mir nicht von Anfang an die Wahrheit erzählt?“

„Er hatte Angst, du würdest dir vielleicht Vorwürfe machen und dich von ihm zurückziehen. Ihr kennt euch noch nicht besonders lange und vielleicht war er auch einfach überfordert. Er ist völlig verrückt nach dir, gleichzeitig soll er dich ausbilden und beschützen. Er weiß nicht, wie und ob du den Tod deiner Mutter bisher verkraftet hast und was er mit einem solchen Gespräch in dir auslösen würde. Er macht sich immer noch Vorwürfe. Und außerdem hatte er meine Anordnung, dass du die Wahrheit nur stückweise erfahren solltest. Hätten wir dich gleich am ersten Tag mit allen diesen Informationen konfrontiert...wer weiß, wie du reagiert hättest...“
„Und was denkst du? Denkst du auch, dass meine Mutter verfolgt wurde?“

Attius Blick durchbohrte mich und seine Lippen wurden schmal. Er schien einen Augenblich zu überlegen, ob ich bereit für diese äußerst wichtige Information wäre und nickte dann.
„Ja Maeve. Ich halte es zumindest für möglich.  Ich weiß nicht, wieviel du bisher über die Entwicklung und Verbreitung von Mutationen behalten hast, aber du solltest wissen, dass viele Mutationen erblich bedingt sind und dass deine Mutter ebenfalls eine Mutantin war und auch ihre Fähigkeiten waren besonders, aber das tut jetzt nichts zur Sache... Deine Mutter muss ziemlich sicher gewesen sein, dass auch du eine Mutantin werden würdest, aber sie hatte ihre Gründe, dies vor euch geheim zu halten, glaub mir.„

„Hast du sie etwa gekannt?“, fragte ich alarmiert und mein Herz klopfte mir bis zum Hals.
„Ich habe sie sogar einmal sehr geliebt...“, murmelte Attius ohne aufzublicken.


„Was???? ABER DAS KANN NICHT SEIN- DU BIST…..“
„Zu jung?“
Attius lächelte.
„Das Erste, was du über die Mutanten gelernt haben solltest ist, dass das, was wir nach außen zu sein scheinen noch lange nicht der Wahrheit entsprechen muss. Hast du dich nie gefragt, welche Fähigkeit ich besitze?" Beschämt senkte ich die Augen. Das hatte ich tatsächlich nicht. Ich war viel zu sehr mit mir selbst und meinen persönlichen Dramen beschäftigt gewesen, als das ich mich damit hätte befassen wollen, doch nun brannte ich vor Neugierde.

Attius beugte sich ein wenig vor und begann mit der rechten Hand das Handschuhfach zu durchforsten. Als er gefunden hatte, wonach er suchte, hielt er mir mit verschwörerischer Miene ein Taschenmesser unter die Nase.

"Klapp es auf!" Befahl er mir und hielt mir den rechten Arm hin. "Und jetzt mach einen tiefen Schnitt in meinen Unterarm!"

Er lächelte mir aufmunternd zu. War der übergeschnappt? Ich hielt das Messer mit der Faust umschlossen und zitterte dabei wie verrückt.

"Attius, ich kann das nicht!", stammelte ich und warf ihm einen flehenden Blick zu.

Attius seufzte, ließ für einen winzigen Augenblick das Lenkrad los und ehe ich mich versah, hatte er meine Hand gepackt und mit einer raschen Bewegung die Klinge des Messers über seinen Arm gezogen.

Keuchend ließ ich das Messer fallen und starrte auf das feine, rote Rinsaal, das augenblicklich aus dem Schnitt hervor quoll.

Mir wurde übel, doch dann traute ich meinen Augen nicht: Das Blut versiegte und der Schnitt schloss sich wie von Geisterhand innerhalb weniger Sekunden und hinterließ nichts, als makellose Haut.

"Siehst Du? Alles halb so wild!" Attius lachte laut und trat aufs Gaspedal. Ich würgte den Klos in meinem Hals herunter und starrte benommen auf die Stelle, an der vor wenigen Augenblicken noch Blut gewesen war.

"Attius, wie zum Teufel hast du das angestellt?"

"Das habe nicht ich getan, sondern meine Mutation. Meine Zellen regenerieren sich seit der Mutation unglaublich schnell. Es ist nahezu unmöglich, sie aufzuhalten. Du könntest meinen Kopf mit einem Zug überrollen...das sähe zwar nicht schön aus, aber ich wäre binnen Sekunden wieder der Alte."

"Wahnsinn, dann bist du sozusagen unbesiegbar?" Ich stopfte das Messer zurück ins Handschuhfach und sah ihn mit aufgerissenen Augen an.

Attius grinste. "Wenn du es so willst, ja. Ich werde nicht krank, ich kann meine Wunden selber heilen und, um nochmal zum Anfang des Gespräches zurück zu kehren, da sich meine Zellen gewissermaßen ständig erneuern, altere ich seit der Mutation auch nicht mehr. Ein Segen und ein Fluch zugleich...Das war auch einer der Gründe, weshalb ich unbedingt eine Möglichkeit finden wollte, Menschen von ihrer Mutation zu befreien...Ich finde, jeder sollte die Wahl haben, ob er diese Bürde auf sich nehmen möchte...und ich wollte die Möglichkeit haben, irgendwann...zu gehen....." Er senkte den Blick und wirkte plötzlich sehr nachdenklich.

"Wie alt bist du denn, wenn ich fragen darf?" Ich betrachtete ihn aufmerksam von der Seite.

"Biologisch Anfang dreissig, und in Wirklichkeit....", er lachte, "Nun, sagen wir....eine ganze Ecke älter."

Wow, unfassbar. Dieser atemberaubende Adonis war in Wirklichkeit vielleicht ein Tattergreis. Schwer vorstellbar, aber durchaus im Bereich des Möglichen, bei allem, was ich in den letzten Wochen gesehen und gehört hatte.

"Deine Mum und ich haben uns auf dem College kennengelernt. Wir waren ein Paar, ehe sie durchgebrannt ist und deinen Vater kennengelernt hat... Sie gleicht dir im Übrigen unheimlich."

Er betrachtete mich so eindringlich, dass mir mulmig wurde und ich schnell meine Haare über die Schultern schob, um ihm auszuweichen.

"Und du sagst, sie war ebenfalls eine Mutantin?", stammelte ich.

Wie konnte es sein, dass wir all die Jahre nichts davon mitbekommen hatten? Und wieso hatte sie sterben müssen? Hatten ihre Kräfte nicht ausgreicht, sie vor dem Unfall zu beschützen? Oder waren ihre Kräfte etwa Schuld daran?

Ich konnte nichts dagegen tun, dass mir die Tränen in die Augen schossen und starrte blinzelnd aus dem Fenster. Die Lichter der entfernten Stadt verschwammen vor meinen Augen.

Attius reichte mir ein Taschentuch und warf mit einen teilnahmsvollen Blick zu.

"Es tut mir leid, Maeve, ich wollte dich nicht so aufwühlen. Du musst ja völlig durcheinander sein, bei all den vielen Informationen." Er seufzte und lächelte wehmütig. "Und es wird nicht einfacher werden, soviel sei gewiss. Wie wäre es, wenn du zunächst einmal mit Damien sprichst? Ich werde dir die Geschichte deiner Mutter dann bei Gelegenheit zu Ende ezählen, zumindest das, was du noch wissen solltest. Ich denke aber, dass die Gegenwart gerade wichtiger ist, als die Vergangenheit...Es dürfte Damien sehr enttäuscht haben, dass du so wenig Vertrauen in ihn und seine Entscheidungen hast."

Seine stahlblauen Augen durchleuchteten mich, tasteten auf dem Grund meiner Seele und schienen genau zu wissen, was ich mit Damien angestellt hatte.

Er brauchte nicht einmal etwas zu sagen und schon zuckte ich schuldbewusst zusammen und senkte den Blick.

Ich musste Damien unverzüglich von meinem Bann befreien.

"Ich verurteile dich für dein Verhalten nicht...es ist nur natürlich, dass du in deine neuen Möglichkeiten erst hineinwachsen musst und glaube mir, wir alle machen Fehler und tendieren manchmal dazu, uns von unserer Kraft verleiten zu lassen, uns das Leben einfacher zu machen. Du solltest dennoch versuchen, deine Kräfte sparsamer einzusetzen, Maeve. Es zeugt nicht gerade von Stärke, wenn man eine solche Fähigkeit nur für seine persönlichen Vorteile einsetzt.

Ich lasse meine Schüler nicht umsonst schwören, dass sie niemand anderem schaden werden...Dazu haben wir weder das Recht, noch ist dies unsere Bestimmung! Wir sind von der Natur begünstigt, das ja, und diesen Vorteil sollten wir nutzen um Gutes zu tun, aber eine Lektion, die ich in den vielen Jahren meines Lebens gelernt habe, ist folgende: Ein wahrer Held ist der, der gütig ist, der verzeiht, der an die Liebe glaubt und dessen Handlungen in Liebe geschehen...Dies ist für einen Mutanten die zugleich einfachste und schwerste Lektion.

Man braucht keine Superkräfte, um heldenhaft zu sein...Und immer sind die größten Herausforderungen, die es zu überwinden gilt, die Schwächen deines eigenen Geistes...Du kannst die höchste Macht besitzen: Geld, Einfluss, Autorität, Kraft....wenn deine Seele schwach ist, du nicht vertrauen kannst, nicht verzeihen oder lieben kannst, wirst du nie Frieden finden... Eine Mutter die tagtäglich arbeitet und schuftet, um ihre Familie zu ernähren und dabei ihre eigenen Bedürfnisse hinten anstellt, ist für mich heldenhafter, als ein Mutant, der die Naturgewalten beherrscht...Ein Mensch der alles verloren hat und dennoch dankbar und demütig dem Leben gegenüber steht, das ihm geschenkt wurde, ist weiser, als der größte Lehrmeister...

Wir sind noch lange keine Helden, bloß weil wir Kräfte besitzen...Wir haben lediglich die Möglichkeit, mit unseren Fähigkeiten noch mehr Gutes zu tun und das, sollte unsere oberste Prijorität sein."

Obwohl seine Augen lächelten und er die Stimme nicht einmal erhoben hatte, hallten seine Worte noch lange in mir nach und ich fasste innerlich den Entschluss, dass ich meine Kräfte nicht wieder auf so ekelhafte Weise einsetzen wollte. Das schwor ich mir.

"Um nochmal auf eben zurück zu kommen, du hast jetzt gesehen, dass nicht immer alles ist, wie es zu sein scheint. Bewahre diese Erkenntnis tief in dir. Sie wird dir noch von Nutzen sein!"

Während das Blut im Angesicht des soeben über mir entladenen Informationsberges in meinen Ohren rauschte wie die Niagarafälle, trat Attius auf die Bremse und wir hielten vor einem Seiteneingang des berühmten Caesar’s Palace an.  Sogleich wurden beidseitig die Türen aufgerissen und ein dreimal ums Gesicht grinsender  Portier in einer knallbunten Uniform hielt mir die Hand zum Aussteigen hin. Ich angelte danach wie eine Ertrinkende und ließ mich hinaus befördern.

Attius ergriff mit ernster Miene meine Hand und hinderte mich einen kurzen Augenblick am Aussteigen.

„Wir reden ein andermal weiter Maeve, in Ordnung? Aber bitte denke nochmal über das nach was ich dir gesagt habe!“ 

Ich nickte mit zusammengepressten Lippen und verließ mit wackeligen Knien den schützenden  Kokon  der Limousine.

Ein Haufen Angestellter in kunterbunten Trachten umschwärmte uns sogleich und schnappte sich unser Gepäck.

Wir folgten dem Schwarm und traten auf dem roten Teppich in Richtung Eingang, an dem ein kleiner Schalter und zwei massige Türsteher positioniert waren, die uns musterten. Scheinbar war Attius hier eine bekannte Größe, denn als die beiden Bulldoggen ihn erspähten, salutierten sie und traten zur Seite.

Eine vollbusige Rothaarige, rauschte auf uns zu und küsste Attius zur Begrüßung überschwänglich  auf beide Wangen.

„Hallo Darling, wir haben dich schon sehnsüchtig erwartet!“, sprach sie mit rauchiger Stimme,  wiegte kokett die Hüften und gab Attius doch tatsächlich einen Klaps auf den Po.

Die unbekannte Schönheit  trug ein langes, grünes Abendkleid, was ihre weiblichen Kurven gekonnt in Szene setzte. Das lange, rote Haar glänzte seidig und fiel ihr um die Hüften, dazu riesengroße Katzenaugen mit langen Wimpern.

Wahnsinn, Arielle die Meerjungfrau ist zur Sexbombe mutiert! , durchfuhr es mich, während ich verärgert feststellen musste, dass Linus und Damien neben mir mit offenen Mündern  zu Salzsäulen erstarrt waren.

„Selbst Attius wirkte in ihrer Gegenwart  wie verwandelt und grinste wie ein kleiner Schuljunge, während in seinen Augen verträumter Glanz lag!“

Dann besann er sich scheinbar eines Besseren, räusperte sich und antwortete mit fast fester Stimme:

„Hallo Des´, wie schön, dich zu sehen. Bringst du die Kinder bitte  auf ihre Zimmer? Ich brauche jetzt erst mal einen Scotch in der Lobby. Ich muss meine Stimmbänder für den heutigen Vortrag  ölen und du darfst mir später gerne Gesellschaft leisten.“

Kinder????

Er zwinkerte spitzbübisch und steckte Linus im Weggehen ein goldenes  Programmheft in die Brusttasche.

„Da steht alles Wichtige drin. Fühlt euch wie zu Hause. Ich lasse euch Kleider und Snacks auf die Zimmer bringen und ihr werdet abgeholt, wenn das Programm beginnt.“

Mit diesen Worten überließ er uns „DES“, die sich uns strahlend  als Desdemona vorstellte  und marschierte davon. 

Kathy schien in Desdemona  sogleich ihr absolutes Rollenvorbild gefunden zu haben, trippelte auf sie zu  und begann  in alter Manier  umständlich und nervtötend auf sie ein zu schwafeln (Herrgott, hält die eigentlich nie die Schnauze?): „Desdemona? Wie unglaublich einfallsreich! Etwa wie in …Othello?“

Moment? Was? Kathy und Weltliteratur? Die las doch allenfalls die Überschriften in der  In Touch! Und dann Shakespeare? Ich traute meinen Ohren nicht!

Des lächelte mütterlich und tätschelte ihr mitleidig den Arm.

„Ganz recht, Liebes! Meine Eltern waren Shakespeareliebhaber.“

Kathy seufzte verträumt. Ohhhh, welch Zufall, das bin ich auch. Ich habe alle seine Filme auf DVD!“

Ich prustete los und Des warf mir einen neugierigen Blick zu.

„Und du, Fliegerhose? Was ist dein Lieblingsfilm?“ Ihre rauchige Stimme war wie Musik in meinen Ohren, während ihre glimmenden Katzenaugen mein Outfit taxierten.

Und wenn schon, ich hatte heute schon so viele ungeheuerliche Nachrichten um die Ohren geschleudert bekommen, da ließ ich mich von einer Schönheit wie Desdemona GANZ BESTIMMT nicht einschüchtern!

„Mein Lieblingsfilm? Der neue Blockbuster von Tolstoi! natürlich.“ Ich prustete und wischte mir eine Lachträne aus dem Augenwinkel.

Desdemona grinste und zwinkerte mir unmerklich zu.

Ich mochte sie auf Anhieb.

 

„Amuse-gueule?“, riss mich jemand aus meinen Gedanken.

„Amüsewas?“ 

Erstaunt blickte ich auf und starrte in die geschminkten Augen von einem der dreimal um den Kopf grinsenden Kellner, der soeben schnurstracks auf mich zu gesegelt war und mir mit seinen weißen Seidenhandschuhen ein Tablett mit Häppchen unter die Nase hielt.

Ich angelte mir zwei Mini-quiches und lächelte verwirrt, doch ehe ich mich auch bedanken konnte,segelte der Gute wieder von dannen, ohne dass seine Füße den Boden zu berühren schienen und umschwärmte eine weitere Mutantin mit seinem Tablett.

Desdemona  geleitete uns zielsicher über mehrere Stockwerke und durch verschiedene Entrees  an den Portiers vorbei zu unseren Zimmern. Enttäuscht entnahm ich den goldenen Namensschildern, dass ich mir anscheinend mit Zoe und nicht, wie erhofft,  mit Damien ein Zimmer teilte.  Also wieder keine Gelegenheit für ein Vieraugengespräch! Das war doch wirklich zum Mäusemelken!

Unsere Suite  lag im Zehnen Stock mit Blick auf einen riesigen, wunderschönen  Springbrunnen.  Ich konnte meinen Augen nicht trauen, als ich das Interiör der Suite unter die Lupe nahm. Ein riesiges Badezimmer mit Badewanne, über der an der Wand tatsächlich ein hoch moderner Flachbildschirm befestigt war, auf dem bereits Gossp Girl flimmerte, ein runder Whirlpool, in den mindestens acht Personen hinein passten und einem separat abgetrennten Duschraum, der neben einem Wasserfall-Duschkopf über verschieden farbige Glaswände verfügte, auf die man mit einer Fernbedienung verschiedene Kulissen projizieren konnte.  Tausende Fläschchen mit Parfums, Duschgels und teuren Cremes warteten darauf,  von uns getestet zu werden. Vom Bad aus, kam man in ein Ankleidezimmer, in dem eine große Kleiderstange mit Abendkleidern auf uns wartete. Es gab ferner ein sehr großzügig geschnittenes Wohnzimmer. Ebenfalls mit Fernseher und goldenen Ledersofas ausgestattet und auch hier hatte man sich scheinbar die größte Mühe gegeben, keinen unserer Wünsche unerfüllt zu lassen. Vasen mit frischen Blumen, Schälchen mit Schokolade und Chips, gekühlte Getränke in der Minibar und ein riesiger Tisch voller Zeitschriften, Gesichtsmasken, Nagellacken und Schminke erwartete uns. Ich fühlte mich wie im 7. Himmel.

Der Masterbedroom toppte jedoch alle meine Erwartungen. Er verfügte über ein riesiges, rundes Wasserbett mit  Massagefunktion, welches in der Mitte des Zimmers  stand und sich im Raum frei bewegen ließ, wenn man einen Knopf an der Wand betätigte. Ich kicherte und navigierte das Bett vor die riesige Glasfront, von der aus man einen traumhaften Blick über Las Vegas hatte. Natürlich gab es auch in diesem Zimmer einen überdimensionalen Fernseher an der Wand und während ich noch gedankenversunken aus dem Fenster starrte, kam Zoe ins Zimmer herein und ergriff meine Hand.

"Wir werden in zwei Stunden abgeholt und ins Casino gebracht. Komm wieder rüber ins Wohnzimmer, Attius hat uns einen Designer aufs Zimmer bestellt, der uns beim ankleiden helfen wird."

Das ist das Paradies!!!

 

Etwa drei Stunden später schob ich mich in einem knallengen, roten Abendkleid  durch Parfümwolken, Zigarrenqualm  und aufdringliches Aftershave. An meinem Arm hing Zoe wie eine Ertrinkende.

Entgegen aller Vorsätze hatten wir die anderen bereits nach drei Schritten durch den völlig überfüllten Eingangsbereich in der Menge verloren und waren nun komplett auf uns gestellt.

Zoe hatte malwieder ihr Bestes gegeben und uns für die Gala zurechtgemacht. Sie selbst trug ein schulterfreies Kleid aus dunkelblauer Chiffonseide und sah einfach atemberaubend aus, während sie schüchtern neben mir her schritt.

„Oh Mann, guck dir mal diese ganzen Schönheiten an!“, raunte sie.

Auch wenn ich es nur ungern zugeben mochte, aber Zoe hatte recht. Hier triefte es geradezu vor Schönheit:  Makellose, braune Körper, weiße Zahnreihen, strahlende Augen, glänzendes Haar  wohin man auch sah. Mich überkam ein leichter Schauer, als mir bewusst wurde, dass wir von lauter Mutanten umgeben waren und hinter jedem der wunderschönen Gesichter eine potentielle Killermaschine lauern konnte, die uns ohne zu zögern in Flammen aufgehen lassen konnte.

Im gleichen Moment hielt ein weiterer Kellner mit  gezupften Augenbrauen und hochgeföhntem Toupet uns ein Tablett  mit Gläsern hin.

„Schampüs Schätzschön?“, frage er mit übertriebenem französischem Akzent und entblößte dabei mindestens  66 Porzelanbeisserchen.

„Wer? Ich  Schätzschön, oder sie Schätzschön?“ , fragte ich kichernd.

Zoe griff beherzt  zu und kippte dankbar zwei Champagner in sich hinein. Auch ich entschied mich kurzerhand für etwas Blubberwasser.

Mit einem leichten Schwips ließ sich das Ganze gleich viel besser ertragen.

Und ich hatte Recht! Eine halbe Stunde und jeweils fünf Champagner später tänzelten wir selbstbewusst und kichernd mit roten Bäckchen durch die Menschen- Verzeihung -Mutantenmenge.

 


***



Bitte dran bleiben, bald geht es weiter =)!
Über Herzchen und Kommentare freue ich mich immer! Liebste Grüße, eure Jada

Impressum

Texte: Der folgende Roman beinhaltet mein persönliches geistiges Eigentum! Alle Rechte bezüglich der Inhalte dieses Romans liegen bei mir. Cover:designed by L.B.
Tag der Veröffentlichung: 25.10.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Jules und Line weil sie mich stets zum Schreiben motiviert haben. Danke für Eure Freundschaft!

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