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Kapitel 1


Sie waren noch immer hinter ihr her. Es war dunkel, Schatten huschten von Haus zu Haus, aber sie konnte sich jetzt nicht damit auseinandersetzen.
Sie waren ihr zu dicht auf den Fersen, bald würden sie sie eingeholt haben, und was sie dann mit ihr anstellen würden, konnte sie sich nur zu gut vorstellen.
Ellie sah sich hektisch um.
Seit Wochen oder sogar Monaten waren sie hinter ihr her, aber nun hatten sie sie gefunden.
Aber wie? Woher wussten sie, dass sie jeden Freitag nach dem Training durch den Park ging? Panik erfasste Ellie. Wohin sollte sie laufen, wenn sie ihr Zuhause bereits gefunden hatten?
Wohin sollte sie gehen, wenn sie nirgends mehr sicher war?
Ellie Atem ging schwer und war so laut, dass man ihn gar nicht überhören konnte.
Sie hätte sich verwandeln können, doch dazu war jetzt keine Zeit und außerdem würde sie auffallen wie ein weißer Punkt auf einer schwarzen Fläche, wenn sie in Tiergestalt mitten durch Greenville irrte?
Alle Glieder schmerzten ihr und es viel ihr immer schwerer einen Fuß vor den anderen zu setzen.
Wie lange würde sie noch durchhalten? Wann würde die Kraft sie endgültig verlassen?
Es war nur noch eine Frage der Zeit.
Es war zwecklos wegzulaufen. Sie würden sie doch in die Finger bekommen.
Aber noch war Ellie nicht bereit aufzugeben. Sie würde sich nicht einfach so ans Messer liefern und dabei zusehen, wie sie sie zerstörten.
Denn das war es, was die Mistkerle mit ihr vorhatten.
Ihre Sportschuhe gaben fast kein Geräusch von sich, wenn sie auf dem Asphalt auftrat, aber doch wussten ihre Verfolger, wohin sie lief.
Wurden die denn nie müde?
Nun, offensichtlich nicht.
Ellie huschte von Gasse zu Gasse und sah zu, dass sie sich in den verbergenden Schatten hielt.
Natürlich hätte Ellie sich wehren können – sie war schließlich ein Jaguar – doch gegen so viele Männer, bewaffnet mit Pistolen und Gewähren hätte sie keine Minute überlebt.
Ihr behagte es gar nicht, davonlaufen zu müssen. Vor allem vor etwas, das ihr derart grausame Dinge antun konnte, dass Ellie lieber tot war, als ihnen in die Hände zu fallen.
Ja, sie hatte daran gedacht. Zu springen. Von einem hohen Haus.
Aber wie sollte sie so schnell auf eines hinaufkommen?
Natürlich könnte sie sich zeigen. Dann wären da ja die Waffen.
Aber wer wusste denn, ob es keine Betäubungspfeile waren?
Nein, das Risiko war zu groß.
Lieber rennen bis sie tot umfiel.
Ellie bekam nur am Rande mit, dass sie nun nicht länger im Zentrum Greenvilles war.
Sie hatten den Außenbezirk erreicht, der direkt an den herrlichen grünen Wald grenzte, der für die meisten Menschen tabu war.
Niemand wagte sich in den Nebelwald hinein – absolut niemand.
Ellie wusste wieso.
Die Gestaltwandlerclans hausten dort drinnen, in dem gigantischen Wald, der über tausende Hektar maß und mehr als nur eine Gruppe einer Raubtierart beherbergte.
Ellie kam aus einem niederen, bedeutungslosen Clan, der es gewagt hatte, den schützenden Wald zu verlassen und in die Stadt zu ziehen.
Und die Folge davon war, dass die meisten gefangen genommen worden waren oder tot in einem Graben lagen.
Ellie war die einzige aus ihrem Clan, die noch am Leben war, soweit sie wusste.
Aber wie lange noch?
Jaguare hatten von Natur aus eine perfekte Ausdauer, aber mal ganz ehrlich: welches Wesen konnte schon zwei Stunden am Stück durchlaufen und dann noch vollkommen bei Kräften sein?
Abgesehen von den mutierten Kreaturen, die da hinter ihr her waren, natürlich.
Ellies Herz pumperte derart laut, dass sie glaubte die schlafenden Menschen müssten es noch hören können.
Ab und zu verließ Ellie die Straße und sprang in einer katzenähnlichen Bewegung über den Zaun.
Sie hörte, wie ihre Verfolger diese Hindernisse einfach niederrissen, hatte aber keine Zeit darauf zu achten, wie nahe sie ihr schon waren.
Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, das sie nur mühsam unterdrücken konnte.
Seit sie mit vier Jahren den schützenden Wald verlassen hatte, war sie auf der Flucht.
Sie wusste schon gar nicht mehr, wie es war längere Zeit an einem Ort zu sein.
Ellie war nur aus einem Grund wieder hier. Sie wollte zurück in den Wald, ganz egal wohin.
Sie wusste zwar, dass es kaum ein Rudel geben würde, das bereit war sie aufzunehmen, aber immerhin war es dort sicherer als in der grausamen Welt der Menschen.
„Wir bekommen sie!“ rief eine grausam verzerrte Stimme irgendwo hinter Ellie.
Tatsächlich waren sie ihr bereits ziemlich dicht auf den Fersen.
Nur ein paar Meter Vorsprung blieben ihr noch.
„Verdammt. Warum hast du mich in eine solche Lage gebracht, Mum?“ stieß Ellie mit zusammengepressten Zähnen hervor und starrte einen Moment wütend zum Himmel, auf dem die Sterne glitzerten wie Diamanten auf Samt.
Ihre Beine bewegten sich wie von selbst, trugen sie über leere Straßen, über dichte Hecken, über Teiche und Pools und Rasenmäher.
Einige Male wäre Ellie beinahe gestolpert, doch sie fand immer noch rechtzeitig das Gleichgewicht wieder.
Adrenalin rauschte ihr durch den Körper und war vermutlich dafür verantwortlich, dass Ellie weiterrannte, obwohl ihr Körper kurz vor dem Zusammenbruch stand.
Der Waldrand kam in Sicht.
Die Bäume ragten hoch in den Himmel, boten Schutz.
Schon allein durch deren Anblick wurde es Ellie leichter ums Herz.
Ihr Zuhause. Wie lange war es her...
Doch bis zum ersten Baum war es noch ein relativ weiter Weg, auf dem sich eine weite Wiese, ohne jeglichen Schutz lag.
Ellie nahem ihre ganze Kraft zusammen und legte alles in ihre Beine.
Als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her, rannte sie über die Wiese, sich wohl bewusst, dass ihr Rücken ein ungeschütztes Ziel für ihre Verfolger abgab.
Unerwartet durchzuckte ein heftiger Stromschlag Ellies Körper und ließ ihn erbeben.
Unkontrolliert zuckte sie und ihre Beine gaben unter ihr nach.
Verdammt! Würde sie jetzt je wieder fliehen können?
Was würden sie mit ihr tun? War sie verloren? War das das letzte Mal, dass sie die Natur, den Wald, den Himmel sah?
Sollte es das gewesen sein?
Ellies Muskeln zitterten und sie war zu schwach, um sich auch nur einen Millimeter bewegen zu können.
Doch sie dachte gar nicht daran aufzugeben. Eher würde sie sterben!
Ein letztes Mal atmete sie tief durch, ehe sie ihre allerletzte Kraft zusammennahm und sich in einem strahlend hellen Licht, welches ihre Angreifer blendete und ihr die Kleidung vom Leib sprengend in einen anmutigen Jaguar verwandelte.
Fell überzog sie und ließ sie mit der Umgebung praktisch verschmelzen
Die Grashalme unter ihren Pfoten fühlten sich gut an, aber das bekam sie nur am Rande mit, zu sehr konzentrierte sie sich darauf, all ihre Kräfte zu sammeln und zu konzentrieren.
Der Elektrostoß schwächte ab und Ellie fand endlich die Kraft wieder, sich auf die Beine zu stemmen.
Die Verfolger waren nach wie vor von dem gleißenden Licht abgelenkt und geblendet, und so blieb Ellie gerade noch genug Zeit um den Schutz der Bäume zu erreichen, bevor sie ein weiteres Mal auf sie schießen konnten.
In den wilden Hecken und Sträuchern wurde Ellie fast unsichtbar und es war für die genmanipulierten Kreaturen schier unmöglich Ellie zu sehen, wie sie dort oben auf einem Baum saß, ihre Krallen fest in den Stamm gekeilt.
Sie beobachtete die Leute, wie unten einen Mordslärm veranstalteten und dabei das grüne Gewächs niedertrampelten.
Das Herz pochte ihr so stark in der Brust, dass es weh tat, und dennoch beobachtete Ellie vergnügt, wie die Männer sich sichtbar unwohl fühlten und sie konnte den bitteren Geruch der Angst wahrnehmen.
Viel schneller als sie sollten kehrten sie wieder um – und verschwanden aus dem Wald.
Ellie wartete erst einige Minuten ab, um sicher zu gehen, dass es sich um keine Falle handelte, aber nachdem diese lauten Trampeltiere nicht zurück kamen, sprang sie mit einem eleganten Satz von dem breiten Ast auf den Boden, der ihren Sprung federnd auffing.
Jeder Knochen in ihrem Leib tat ihr weh, aber sie musste weiter gehen, so weit wie nur irgend möglich weg von den Menschen und ihren entsetzlichen Städten.
Geräuschlos schlich Ellie Stunde um Stunde durch den Wald, ab und zu huschte ein kleines Tierchen an ihr vorbei, oder ein Vogel flatterte von Baum zu Baum auf der Suche nach einem geeigneten Platz für ein Nest.
Insekten summten scheinbar fröhlich vor sich hin und ab und an konnte man das leise Quaken eines Frosches an einem der vielen kleinen Bächlein hören.
Ellie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal im Wald gewesen war.
Ihr Rudel war nach Australien geflogen, mitten in die heiße Wüste, weg von dem warmen Dschungel im Nebelwald. Es hatte Ellie viel zeit gekostet das Geld für die langen Flüge anzuschaffen, aber nach einem Jahr Kellnern war es ihr endlich gelungen nach Hause zu fliegen, oder zumindest in die Stadt, die ihrer Heimat am nächsten lag.
Der Nebelwald war immer der Ort gewesen, mit dem sie sich verbunden fühlte, auch wenn sie sich kaum noch erinnern konnte.
Tief in ihrem Herzen wusste sie immer, dass dort ihre Wurzeln lagen.
Und die Flucht nach Australien hatte sich gar nichts gebracht.
Ihre Feinde hatten sie auch dort ausfindig machen können.
Das Geld war gerade zur richtigen Zeit genügend gewesen, um die Flüge zu bezahlen.
Wilde Legenden rankten sich um den geheimnisumwitterten Nebelwald.
Geschichten besagten, dort lebten Werwölfe und andere gefährliche Kreaturen.
Das war natürlich alles Unsinn, aber es half den Wandlern unentdeckt zu bleiben, unsichtbar für die Menschen.
Natürlich gab es auch welche, die mutig oder dumm genug waren trotzdem hierher zu kommen.
Doch meistens wurden sie dann irgendwo weit, weit weg bewusstlos aufgefunden, nachdem man sie niedergeschlagen hatte, ehe derjenige etwas sehen hätte können.
So war es jedenfalls früher gewesen.
Lange Zeit lief Ellie einfach nur weiter in den immer dichter werdenden Wald hinein und die Sonne ließ sich bald schon am Horizont blicken.
Irgendwann hörte sie dann plötzlich ein leises Rascheln in einem Himbeerstrauch ganz in ihrer Nähe.
Augenblicklich ließ sich Ellie flach auf den Boden fallen, in Angriffsstellung, um sich sofort verteidigen zu können.
Keiner würde sie in die Finger bekommen, niemand würde sie gefangen nehmen.
Lange Zeit verharrte Ellie so, bis sie zu dem Schluss kam, dass es nur eine Schlange oder eine Echse gewesen war.
Doch weit kam sie nicht.
Nach nur 5 Metern spürte sie Blicke auf sich ruhen.
Es war keine Paranoia oder dergleichen, nein, es war real.
Knurrend und fauchend sah sich Ellie um.
Doch sie konnte weder jemanden oder etwas riechen, noch sehen.
Das hätte sie beruhigen sollen, doch das tat es nicht.
Im Gegenteil.
Jeder Muskel in ihrem Körper spannte sich instinktiv an, sie war bereit anzugreifen, was auch immer dort lauern sollte.
Diesmal ließ sich Ellie von der Stille nicht besänftigen. Sie rührte sich keinen Millimeter von der Stelle.
Wild hämmerte ihr Herz in der Brust und Angst packte sie.
Nicht schon wieder, bitte, nicht schon wieder!
Scharfe, schon lange nicht mehr benutzte Krallen bohrten sich in den Boden, wühlten die Erde auf.
Ellie fletschte die weißen, messerscharfen Zähne und stieß ein leises, bedrohliches Fauchen aus.
Wäre sie in der Lage gewesen sprechen zu können, hätte sie gerufen: „Komm, zeig dich!“
Aber das Fauchen signalisierte genau das.
Doch entweder der Verfolger war ein Mensch, oder er wollte sich nicht zeigen.
Ellie tippte auf letzteres. Kein Mensch konnte sich unbemerkt durch das Unterholz schleichen.
Doch das machte Ellie beinahe noch mehr Angst.
Sie hatte so lange schon kein anderes Raubtier mehr gesehen. Was würde passieren, wenn das andere Tier sie für einen Feind hielt?
Während sie sich diese eine Frage stellte, brauste ein Wind auf, der sämtliche Bäume beinahe zum schwanken brachte.


Es lag nicht an der Kälte der plötzlichen Brise, dass es Ellie eiskalt überlief. Nun, da der Wind ihr genau ins Gesicht blies, konnte sie einen fremdartigen Geruch wahr nehmen, der dennoch seltsam vertraut war.
Es war eine Katze, ein Raubtier, ein Leopard oder etwas Ähnliches möglicherweise. Aber wo genau er sich befand, konnte Ellie nicht feststellen, und das beunruhigte sie.
Sie war nicht schwach, das war sie auch niemals gewesen. Selbst in Australien hatte sie regelmäßig Sport getrieben und darauf geachtet, dass ihr Körper in Form lieb. Gehungert hatte sie ebenfalls nie, das wäre ihr bloß ein Nachteil gewesen.
Wäre sie nicht gejagt worden, hätte sie sich auch keinerlei Sorgen machen müssen es nicht mit dem Gegner aufnehmen zu können, doch sie war gejagt worden und mit ihren Kräften völlig am Ende.
Ihre Beine bebten unter ihr und konnten sie nur noch mit Mühe tragen, aber Ellie würde sich, wenn nötig, bis zum Tode verteidigen. Sie hoffte allerdings, dass dieser Fremde ihr verraten konnte, wie sie in den Abschnitt des Waldes kam, in dem die Jaguare lebten, in den Abschnitt, in dem ihre Familie gelebt hatte und ihr Zuhause war.
Die Ohren zurückgelegt und das Fell gesträubt drückte sich Ellie noch tiefer auf den Boden und lauschte dem Wald, ob er ihr verraten mochte, wo genau der Leopard sich befand.
Der Wind hatte wieder abgedreht, sodass ihr nicht einmal mehr die Chance blieb, ihn zu riechen.
Zögernd schlich sie ein paar Schritte nach vorne und duckte sich unter ein paar Büsche, die sie abschirmen sollten.
Vermutlich wusste der andere dennoch, wo sie sich befand, aber sie konnte nicht weiter ungeschützt mitten am Boden kauern und abwarten, dass etwas passierte.
Zögernd stieß sie ein Fauchen aus um zu signalisieren, dass sie wusste, dass jemand hier war, wusste, dass sie nicht alleine und darauf vorbereitet war.
Ellie wartete einige Augenblicke, doch als ihr niemand antwortete und nicht einmal das Rascheln von Blättern zu hören war, schlich sie sich langsam wieder aus ihrer Deckung.
Nicht etwa weil sie glaubte, wieder allein zu sein, sondern um den anderen endlich aus seiner Position zu locken.
Nun war der Geruch nach Leopard wieder deutlich zu wittern. Außerdem fand sie noch heraus, dass es ein Weibchen war, das sich ihr weiterhin näherte und sie war ziemlich sicher, dass sie alleine war.
Langsam und vorsichtig setzte Ellie einen Schritt vor den anderen und sah sich nervös in ihrer Umgebung um. Es war ungewöhnlich still geworden, sogar die Vögel hatten ihre Lockrufe eingestellt.
Ein Raubtier war auf der Jagt.
Mit einem lauten Fauchen sprang ein schemenhafter Schatten Ellie von hinten an und krallte sich fest in ihren Rückenpelz.
Scharfe Klauen bohrten sich in ihre Haut und packten sie, sodass es schier unmöglich schien den Leoparden abzuwerfen.
Panik ergriff Ellie, ihr Nacken war dem anderen schutzlos ausgeliefert.
Tatsächlich versuchte der Leopard mit seinem Maul ihren Hals zu fassen zu bekommen, doch Ellie dachte gar nicht daran einfach so aufzugeben.
Mit einem kräftigen Satz sprang sie nach vorne, grub ihre Krallen in die Erde und warf sich sogleich auf sie Seite.
Sie begrub die linke Pfote des Leoparden unter sich und drückte mit der Flanke noch ein bisschen fester zu, sodass der Gegner verzweifelt fauchte und sie Klauen fester in sie hieb.
Ellie keuchte schwer, der Lauf hatte sie völlig verausgabt und dieser Kampf jetzt trug nicht gerade dazu bei, dass sie sich besser fühlte.
Die Angst war immer noch da, klammerte sich an sie wie ein lästiges Insekt, doch sie dachte gar nicht daran zu verlieren. Sie durfte nicht verlieren.
Mit aller Kraft rappelte sie sich wieder auf und warf sich erneut auf die Seite, diesmal jedoch nicht auf den Boden, sondern gegen einen dicken Stamm.
Der Leopard stieß erneut ein bösartiges Fauchen aus, doch dieses Mal ging Ellies Taktik auf. Er sprang von ihrem Rücken und landete ein paar Meter vor ihr entfernt neben einem Busch.
Endlich konnte Ellie ihrem Gegner in die Augen sehen, und was sie sah, faszinierte und ängstigte sie zugleich.
Der Leopard war schlank und kleiner, als sie erwartet hatte. Im Gegensatz zu den Jaguaren hatte sie einen schmaleren Knochenbau, war wendiger, dafür aber weniger wuchtig.
Es war eindeutig ein weibliches Exemplar, und ihr geschecktes Fell schimmerte in der einfallenden Sonne.
Sie stand gebückt da, bereit erneut anzugreifen. Ihre Zähne waren gebleckt und rasiermesserscharf.
Ellie hatte es geschafft, sie abzuschütteln, war sich aber sicher, dass es ihr nicht noch einmal gelingen würde.
Ihr Fell sträubte sich und ihr Schwanz zuckte unruhig, während sie darauf wartete, dass Ihre Gegnerin erneut angriff.
Es verging eine Ewigkeit, oder zumindest kam es ihr so vor, in der die beiden sich unentwegt anstarrten, die Bewegungen des anderen beobachteten und warteten.
Worauf genau sie warteten, wusste Ellie nicht. Aber sie würde nicht die erste sein, die angriff, denn sie war sich sicher, dass das ihr Verderben sein könnte.
Sollte der Leopard glauben, sie hätte feindselige Absichten, würde sie sie ohne Umschweife töten.
Aber Ellie war nicht so weit gekommen, um jetzt zu sterben.
Das wollte sie nicht akzeptieren, konnte sie nicht akzeptieren.
Mit einem kräftigen Satz stieß sie sich mit ihren Hinterbeinen ab, doch anstatt auf den Leoparden zu zuspringen, rannte sie genau in die andere Richtung, in der Hoffnung, schneller zu sein als die andere.
Mit aller Kraft, die sie noch in ihren Beinen besaß, raste sie durch den Wald, wich geschickt den Bäumen und Sträuchern aus und ignorierte die Tiere, die sie durch ihren Sprint aufscheuchte.
Es war eine lächerliche Hoffnung, durch Weglaufen ihr Leben zu retten. Sie wusste ganz genau, dass sie nicht mehr lange durchhalten würde, sie war mit ihren Kräften schon fast am Ende.
Ihr Blickfeld war gesäumt mit schwarzen Punkten, was einfach kein gutes Zeichen sein konnte, und sie konnte den Atem des Leoparden hören, sie musste ihr dicht auf den Fersen sein.
Doch Ellie gab nicht auf, sie sprang über einen umgestürzten Baum, trabte durch einen kleinen Bach, aber schon sehr bald musste sie feststellen, dass sie es kaum noch schaffte sich auf den Beinen zu halten.
Die Umgebung rauschte an ihr vorbei, verschwamm allmählich und jeder Satz kostete ihr mehr Kraft und Anstrengung als der vorherige.
Ihre Beine zitterten, ihre Krallen bohrten sich verzweifelt in die Erde, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen.
Die Leopardin kam immer näher, Ellie konnte sie hören und riechen, doch selbst diese Sinne wurden deutlich schwächer, je weiter sie rannte.
Nun verlor sie auch noch an Tempo, doch erneut legte sie alles was sie hatte in ihren Lauf.
Sie wusste, dass sie kaum eine Chance auf Entkommen hatte, aber sie würde nicht einfach so aufgeben, sie musste es wenigstens versuchen.
Jetzt anhalten wäre fahrlässig und tödlich, denn sie hatte kaum noch die Kraft die Pfote anzuheben.
Ihr wurde schwarz vor Augen und Übelkeit packte sie. Am liebsten hätte sie sich übergeben, doch dazu war jetzt keine Zeit.
Ellie spürte den Schwindel, der sie befiel und alles begann sich um sie herum zu drehen, dennoch hielt sie nicht an.
Was dumm war, aber sie rannte weiter, so schnell ihre schwindenden Kräfte sie ließen.
Gerade als sie spürte, wie etwas nach ihrem Schweif schnappte, brach sie völlig erschöpft zusammen und versank in einer tiefen, erholenden Bewusstlosigkeit, mit der Gewissheit, dass sie daraus nicht mehr erwachen würde.
Ihr letzter Gedanke war: Ich wollte doch nur nach Hause.

„Wo hast du sie gefunden?“
„Nicht allzu weit vom Waldrand entfernt, sie stand auf einer Lichtung. Ich dachte, sie will uns angreifen, daher habe ich mich an sie herangeschlichen und mich versteckt.
Sie konnte mich riechen und lockte mich aus meiner Deckung.
Wir haben gekämpft und irgendwie ist es ihr gelungen mich abzuschütteln. Ich dachte, sie würde mich dieses Mal anfallen, aber stattdessen ist sie gerannt.
Gerade als ich sie eingeholt hatte, ist sie zusammengebrochen.“
Ellie runzelte die Stirn. Sie sollte tot sein, sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Leopardin sie am Leben lassen würde.
Doch ganz offensichtlich war es so, denn Ellie konnte eine männliche Stimme und eine weibliche hören, wobei es die Frau war, die Bericht erstattete.
Das musste ihre Angreiferin sein, stellte sich nur die Frage, warum sie sie nicht getötet hatte.
Außerdem stellte Ellie fest, dass sie nicht mehr im Wald war.
Es war warm und roch nach Feuer und Holz, und etwas, das sie nicht identifizieren konnte.
Schritte hallten ein paar Meter von ihr entfernt wider und soweit sie erkennen konnte, befand sie sich mit zwei Menschen im Raum.
Sie hatten sie nicht getötet, darüber sollte sie sich eigentlich freuen, aber irgendwie wollte ihr das nicht ganz gelingen, denn wenn sie noch am Leben war, hieß das, dass sie etwas von ihr wollten.
Und das behagte ihr ganz und gar nicht. Zudem konnte sie sich nicht vorstellen, was sie von ihr erwarteten zu erfahren. Sie wusste nichts, war doch gerade erst zurück in den Wald gekehrt.
Vielleicht dachten sie, sie wäre eine Angreiferin und hätte die Absicht sie zu töten, aber wenn die Leopardin diesen Verdacht wirklich gehabt hätte, daran zweifelte Ellie nicht, wäre sie jetzt nicht mehr hier. Ihr Körper würde stattdessen verwesend im Wald liegen.
„Sie ist wach“, Das war wieder der Mann.
Er hatte eine dunkle, raue Stimme und er sprach leise, aber doch klar verständlich. Er war ohne Zweifel auch ein Gestaltwandler, und Ellie vermutete, dass auch er ein Leopard war.
Nun öffnete Ellie ihre Augen und sobald sie die beiden Menschen erblickte, zog sie sich zurück. Langsam und bedächtig schlich sie rückwärts, bis sie gegen eine Wand prallte. Die Ohren angelegt machte sie sich so klein wie möglich, um so wenig Angriffsfläche zu bieten wie es nur ging.
Der Mann trat einen Schritt auf sie zu, doch bevor er ihr zu nahe kommen konnte, bleckte Ellie die Zähne und stieß ein lautes, warnendes Fauchen aus.
Er sah gut aus, das musste sie zugeben, wie sie ihn so betrachtete. Er hatte dunkles Haar, das zum zerstrubbeln einlud, und gebräunte Haut, und unter seinem schwarzen T-Shirt und der Jeans zeichneten sich deutlich Muskeln ab.
Er war groß, größer als die meisten Männer, die sie kannte, sogar von den Jaguaren, die mit ihrer Mutter damals nach Australien gegangen waren.
Tatsächlich war der genau die Sorte Mann, von der jede Frau schwärmte.
Unruhig huschte Ellies Blick weiter zu der zweiten Person in dem Raum, einer kleinen, blonden Frau mit zierlicher Gestalt, doch auch sie schien muskulös zu sein. Sie war hübsch, ihre blauen Augen blickten sie misstrauisch an und es war unübersehbar, dass sie bereit war anzugreifen, wenn es nötig sein sollte.
Unsicher drückte Ellie sich noch fester gegen die Wand, so als erhoffte sie sich davon etwas Sicherheit, was natürlich dumm war.
Eine Wand würde ihr wohl kaum gegen die beiden helfen können. Nein, damit musste sie ganz alleine fertig werden.
Sie hasste es, wie die Angst an ihr nagte und ihren Puls unangenehm beschleunigte, sodass ihr das Herz schnell und unregelmäßig in der Brust hämmerte, dass es schon fast weh tat.
„Alicia hat dich im Wald gefunden. Was hast du in unserem Gebiet verloren?“ fragte der Mann an sie gerichtet und trat noch einen weiteren Schritt auf sie zu.
Ellie hatte die Wahl. Entweder sie verkroch sich noch weiter an die Wand, oder sie trat den Leoparden gegenüber und behielt sich zumindest noch ein wenig was von ihrer Würde.
Obwohl alles in ihr drängte, sich für Nummer eins zu entscheiden, trat sie zuerst einen, dann zwei Schritte nach vorne und hob stolz ihren Kopf.
Nützen würde das wohl kaum etwas, aber die sollten bloß nicht glauben, sie würde es ihnen leicht machen.
Ihre Augen wanderten erneut zu der Frau, Alicia. Sie hatte ihre Hände fest in die Hüften gestemmt, stand aber leicht hinter dem Mann, so als erwarte sie einen Befehl von ihm.
Es war offensichtlich, dass er hier das sagen hatte, was nicht weiter überraschend war. Er hatte schon diese typische Alphatier Aura, man konnte seine Kraft und seine Intelligenz sehen. Er war dafür geboren Anführer zu sein.
Als Ellie sich weigerte sich zu verwandeln und ihm zu antworten, wurde er ungeduldig und schnalzte mit der Zunge.
„Hör mal, wir können es auf zwei Arten machen: Entweder zu verrätst mir jetzt, was ich wissen will, oder ich überlasse es Alicia es aus dir heraus zu bekommen. Sei gewarnt: Alicia wird nicht gerade feinfühlig mit dir umgehen!“
Was eigentlich nichts anderes bedeutete, als dass dieses blonde Miststück sie foltern würde.
Großartig, einfach großartig.
Dabei wollte Ellie doch einfach nur nach Hause, dorthin, wo ihre Wurzeln lagen.
Wenn sie also keine Schmerzen erdulden wollte und so schnell wie möglich weg von hier kommen wollte, musste sie sich wohl oder übel verwandeln und sich nahezu schutzlos den beiden Leoparden gegenüberstellen.
Zögerlich setzte die Verwandlung ein. Ihre Knochen begannen sich zu verformen, Fell spross aus jeder Pore und gleißend helles Licht erstrahlte um sie herum. Dieses Licht würde jeden blenden, der sie während der Verwandlung ansah. Keiner wusste genau, warum jede Verwandlung mit diesem Licht begleitet wurde, doch dieses war der Grund dafür, warum niemand genau wusste, wie es aussah, wenn man die Gestalt änderte.
Dies war eine der zahlreichen ungeklärten Fragen ihrer Spezies, das zumindest hatte ihre Mutter ihr immer erklärt.
Die ganze Prozedur dauerte nur wenige Sekunden, was ziemlich praktisch war, so konnte man sich zum Beispiel im Sprung verwandeln und schnell reagieren, wenn es sein musste.
Dieses Mal jedoch wünschte sie sich, es würde länger dauern.
Sobald das Licht um sie verschwand, schlang Ellie die Arme fest um sich und stellte sich mit dem Rücken an die Wand, sodass sie diese berührte, damit ihre Rückseite nicht ungeschützt war.
Niemals dem Feind den Rücken zukehren. Das war eine der ersten Lektionen gewesen, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte.
Ihre Mutter. Irgendwie fehlte sie ihr und sie wünschte sich, sie könnte jetzt bei ihr sein. Sie wüsste ganz genau, wohin sie gehen sollte und dann wäre sie vermutlich niemals in die Fänge der Leoparden geraten.
Denn es war offensichtlich, dass sie sich verlaufen hatte. Das alles war die Schuld der Leute, die sie verfolgt hatten. Sie hatten sie vom Weg abgedrängt. Verdammt. Sie hätte einen anderen Weg finden müssen als diese Männer durch einen Sprint im Wald loszuwerden.
Jetzt wusste sie nicht einmal mehr, ob sie überhaupt noch in der Nähe von Greenville war. Und wenn ja, dann stand immer noch die Frage offen, ob ihre Heimat weiter südlich, östlich oder westlich lag.
„Gute Entscheidung.“ sagte der Mann und reichte ihr, zu ihrer Erleichterung, eine Decke, die sie hastig um sich wickelte und um ihren Körper zurrte.
Sofort fühlte sie sich etwas wohler, nicht mehr so ungeschützt, obwohl sie wusste, dass das Blödsinn war. Eine dünne Fleecdecke würde die Leoparden wohl kaum aufhalten können sie der Länge nach aufzuschlitzen.
„Sie ist kleiner als ich gedacht hatte, und viel zu dünn“, meinte Alicia, die sie unverhohlen musterte und mit sichtbarer Abneigung die Augenbrauen hob. „Was meinst du, Cale?“
Cale. Das musste der Name des Mannes sein, der seinen Blick kurz von ihr abwandte, um Alicia in die Augen zu blicken.
Seine Schultern hoben sich und er verschränkte seine Arme vor seiner Brust.
Seine Muskeln bewegten sich bei der kleinen Bewegung unter seinem T-Shirt und zogen Ellies Blick wie magisch an.
Wie es wohl sein würde, wenn er seine starken Arme in einer warmen Umarmung um sie schlang und sie an seine Brust drückte? Wenn er seine unglaublich schönen Lippen auf ihr Haar drückte, und mit seinen großen Händen beruhigend über ihren Rücken strich?
Gänsehaut überzog Ellies Arme und wohlige Schauer jagten über ihren Rücken, als sie sich vorstellte, wie dieser Mann sie küsste.
Als sich Ellie darüber klar wurde, was sie dachte, schüttelte sie den Kopf und runzelte die Stirn.
Dieser Mann, Cale, hätte Alicia gerade befohlen, sie zu foltern. Er könnte sie jeden Augenblick töten, und ihr fiel nichts Besseres ein als ihn bewundernd zu betrachten und sich vorzustellen, wie er sie liebevoll in seine Arme nehmen würde?
Seit wann war sie so eine Träumerin, seit wann war sie so unglaublich dumm einen potenziellen Feind als anziehend zu betrachten?
Sie war Männern gegenüber immer misstrauisch gewesen, und die meisten, mit denen sie Kontakt gehabt hatte, waren Jaguare oder Menschen gewesen, keine Leoparden, die sie mit einem Biss töten konnten, in ihrer derzeitigen Lage war das durchaus denkbar.
Vielleicht lag es an der Müdigkeit und der Erschöpfung, die ihr immer noch tief in den Knochen steckte, dass sie solche dummen Gedanken hatte.
Ja, daran musste es liegen. Es war schier unmöglich, dass sie Cale dermaßen anziehend fand.
Ja, er sah gut aus, aber so gut auch wieder nicht.
Okay, vielleicht doch, aber deswegen musste sie noch lange nicht in sinnlose, kindische Schwärmerein verfallen.
„Ja, du hast Recht. Sie ist dünn, aber nicht mager.
Für einen Jaguar ist sie allerdings wirklich klein.“ Cales Stimme klang sachlich und kühl, so als würde er über das Wetter reden.
Ellie wusste nicht wieso, aber irgendwie machte dieser beiläufige Tonfall sie wütend.
„Ich kann euch hören“, entfuhr es ihr. Noch bevor sie den Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste sie, dass sie einen Fehler begangen hatte. Wie es aussah, war sie hier eine Gefangene, und sie legte sich gleich mit den beiden an? Sie hätte sie ja höflich darauf hinweisen können, stattdessen war ihre Stimme scharf gewesen und hatte verärgert geklungen, darüber war sie sich durchaus im Klaren.
Verdammt, sie musste dringend lernen, endlich mal den Mund zu halten.
Cale sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und musterte sie ein zweites Mal, und Ellie kam sich vor wie ein Insekt unter dem Mikroskop. Wie sehr sie es hasste im Mittelpunkt zu stehen. Es mochte ja Leute geben, die dafür sogar bereit waren zu töten, doch sie gehörte ganz bestimmt nicht dazu. So war sie nie gewesen, und ihre Mutter auch nicht.
Ganz anders als Anette, die junge Frau, die das Haus neben dem ihren bezogen hatte. Jede Nacht war sie mit einem anderen Mann nach Hause gekommen und schenkte ihr irgendjemand, ganz gleich wer, ob es auch nur der Postbote war, nicht genügend Aufmerksamkeit, drehte sie völlig durch.
„Der Jaguar wagt es tatsächlich etwas zu sagen, wo er doch vorhin am liebsten in die Wand gekrochen wäre und sich aufgeführt hat wie ein verängstigter Welpe.“
Ellie konnte das Knurren nicht unterdrücken, das sich seinen Weg durch ihre Kehle bahnte, angesichts seiner harten, vor Sarkasmus triefenden Worte.
Nicht nur, dass er eher über sie, als mit ihr geredet hatte, nein, er hatte auch noch recht mit dem, was er sagte. Und das ärgerte sie am allermeisten.
Sie hätte sich keinen Moment der Schwäche erlauben dürfen, sich gleich selbstbewusst, vielleicht sogar mit einem Hauch Arroganz, vor sie stellen sollen, anstatt sich derart zu demütigen und ihr somit eine Angrifffläche zu schaffen.
Aber im Nachhinein war man ja bekanntlich immer klüger.
„Der Jaguar hat einen Namen und ich bevorzuge den Vergleich Kätzchen, nicht Welpe. Ich mag keine Hunde, also verzeih mir, wenn ich mit dieser Bezeichnung nicht einverstanden bin.“
Okay. Entweder Ellie war verdammt mutig... oder furchtbar dumm.
Vermutlich eher letzteres. Verflucht. Musste sie ihn denn noch mehr reizen? Er sah doch ohnehin schon aggressiv oder zumindest schlecht gelaunt aus. War sie denn wirklich so lebensmüde?
Sie war ganz bestimmt nicht zurückgekommen um sich dann selbst in solche Schwierigkeiten zu bringen.
Aber das war ja wieder einmal typisch. So wie damals, als sie Ärger mit der Polizei gehabt hatte. Ursprünglich war sie nur als Zeugin mitgenommen worden, nicht als Verdächtige, doch ihr dummes, schnippisches Verhalten hatte sie sich dazu gemacht. Letztendlich hatte ihre Mutter sie da rausgeholt, aber bis dahin hatte sie sich verflucht, weil sie wieder einmal nicht vorher darüber nachgedacht hatte, was sie gesagt hatte.
Sie hatte den Polizisten mit voller Absicht provoziert. Was sicher nicht unbedingt geschickt war.
Aus dieser Sache gelernt hatte sie aber scheinbar nichts – denn jetzt tat sie wieder genau das gleiche.
Anstatt Cale zu bitten, sie gehen zu lassen und ihm die Sache zu erklären, legte sie sich mit ihm an. Ganz toll. Einsame Spitzenklasse.
Ellie seufzte und schloss resigniert die Augen. „Okay, wisst ihr was? Vergesst, was ich gesagt habe. Das war blöd.
Jetzt bitte ich euch einfach, mich gehen zu lassen.
Das werdet ihr doch tun, nicht wahr?“
Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber als Cale nach ihrem Arm griff, als sie sich an ihm vorbei zu Tür drängen wollte, und sie so zurückhielt, wurde ihr klar, dass ihr lächerlicher Versuch eines Abgangs auf ganzer Linie versagt hatte.
„Du bleibst schön hier. Ich habe dir nicht gesagt, dass du gehen kannst.“
Cales eisblaue Augen blitzten gefährlich und kalt auf, worauf Ellie ein eisiger Schauder über den Rücken rann und sie zurückzucken ließ.
Sein Gesicht wirkte angespannt und seine Mundwinkel waren zu einem grimmigen Lächeln verzerrt.
Mit einer scheinbar harmlosen Bewegung seines Armes, zwang er sie einen, zwei Schritte zurückzuweichen, bis sie wieder mit dem Rücken an der Wand stand.
Ellie hatte sich eigentlich nie für einen Feigling gehalten oder einen übermäßigen Angsthasen, aber jetzt zitterte sie vor Panik vor dem, was gleich mit ihr geschehen könnte.
Dieser große, gefährliche Mann könnte sie mit einem Handgriff töten, bevor sie mit der Wimper zucken konnte.
Alicia würde ihr wohl kaum helfen. Es war nicht zu übersehen, dass sie auf Cale horchte wie ein Hund. Er war wohl von höherem Rang als sie, aber bei seiner Autorität und dem Selbstbewusstsein und der Kälte in seiner Körperhaltung und seinen Augen, war das nicht weiter überraschend. Nein, es war sogar eher so, dass Ellie ihn sogar als Anführer der ganzen Kolonie hier einstufte.
Falls das hier so etwas war. Möglicherweise lebte er ja alleine mit der Blonden hier, dann war das natürlich etwas anderes, aber irgendwie hatte Ellie das Gefühl, dass das nicht so war und dass er hier das Sagen hatte.
„Was wollt ihr von mir?“ fragte Ellie mit einer Spur der Verzweiflung in ihrer Stimme. Sie wusste, wie sie aussehen musste. Geweitete Augen, zerzaustes Haar, vermutlich hatten sich dutzende Blätter und Zweige darin verfangen.
Schon einmal war sie tagelang durch einen Wald gelaufen, damals, als sie kurzfristig in Neuseeland gelebt hatten. Sie hatte sich verlaufen und war immer weiter gerannt, in der Hoffnung irgendwann wieder das Meer zu erreichen.
Der Blick danach in den Spiegel hatte ihr einen gewaltigen Schrecken eingejagt.
So allein im Wald hatte sie Angst gehabt, und das sah man ihr auch an.
Ellie wusste instinktiv, dass es jetzt nicht anderes sein würde.
Sie war ein Raubtier, sie wollte keine so starke Angst empfinden, und noch viel weniger sollte sie sie sich ansehen lassen und zeigen.
Und doch war es so. Das ärgerte sie maßlos.
„Für eine Raubkatze, die eigentlich im Anschleichen und Warten geübt sein sollte, bist du ganz schön ungeduldig.
Ich kann deine Angst riechen, Kätzchen.“
Ja, das hatte Ellie erwartet. Das konnte sie schließlich selbst auch.
Langsam wurde ihr das ganze hier zu viel, viel zu viel. Sie hatte weder die Lust, noch die Geduld hier in diesem Raum zu stehen und darauf zu warten, dass Cale entschied was er mit ihr machen würde.
Es schien ihn ja nicht einmal zu interessieren, warum sie in seinem Territorium war.
Dieser Mistkerl. Er konnte bestimmt kein guter Anführer sein, wenn er sich ein Urteil bildete, bevor er überhaupt wusste, was Sache war.
„Und schmutzig bist du auch, Schätzchen. Die Erde in deinem Gesicht steht dir nicht, glaub mir.
Aber glaub mir, der Angstgeruch, der von dir ausgeht ist eher eine Belustigung als ein Ärgernis.“
Mit einem leisen Fauchen wandte sich Ellie zu Alicia um.
Diese aber zog lediglich ihre linke Augenbraue hoch und musterte sie abschätzig. „Das ist aber die Wahrheit. Du solltest dich duschen.“
Ellie wandte sich wieder Cale zu, der sie nach wie vor musterte, als wäre sie ein Alien.
„Warum lasst ihr mich nicht gehen? Ich tue euch nichts, wenn ihr mir nichts tut. Ich bin nur auf der Durchreise.“
Doch Cale schüttelte den Kopf. „Nein, Kätzchen, wir lassen dich nicht gehen. Wir wissen nicht, weshalb du in unserem Gebiet bist und aus dieser Gegend bist du nicht, ich würde deinen Geruch erkennen. Außerdem gibt es hier in der Nähe keine Jaguare.
Verzeih, aber wir müssen vorsichtig sein in der heutigen Zeit. Wir sind misstrauisch.
Bis wir herausgefunden haben, wer du bist und woher du kommst, wirst du erst einmal hier bei uns bleiben.“
Eliie starrte Cale an. Sie musste sich verhört haben, ganz klar. Er hatte gerade eben nicht gesagt, dass er sie nicht gehen lassen würde, sie als Gefangene halten würde.
Doch seine Miene wirkte ernst und über Alicias Gesicht zog sich ein Grinsen voller Häme und Schadenfreude.
„Nein… ich kann nicht hier bleiben. Ich muss…“ Wohin? Sie musste wohin? Niemand wartete auf sie und Zuhause hatte sie auch keines mehr.
„Ich habe dich nicht gefragt, ob du bleiben willst. Du wirst bleiben. Dir bleibt keine Wahl.“
Cales Worte klangen endgültig und sein Gesicht sagte ihr, dass er jedes Wort ernst meinte.
Sie war eine Gefangene. Sie war davongelaufen, um nicht eingesperrt zu werden, umsonst wie es aussah. Zwar war es besser von gestaltwandlern als von Menschen gefangen gehalten zu werden, trotzdem hatte sich Ellie gewünscht, im Nebelwald endlich ihre Ruhe zu finden.
„Was werdet ihr jetzt mit mir machen?“
„Zuerst einmal verrätst du mir deinen Namen, dann wird Alicia dich auf dein Zimmer bringen. Ein Kerker wird nicht nötig sein, dieses Anwesen ist voller Gestaltwandler, es ist sogar für eine Maus unmöglich sich unbemerkt an ihnen vorbei zu schleichen.“
„Was meinst du damit, dass das das Anwesen voller Gestaltwandler ist? Ist das hier nicht dein Haus?“
„Es ist eine große Villa, in der Platz genug ist für ein Dutzend Gestaltwandlerpaare. Das hier ist mein Clan, wir alle leben hier. Du wirst ihnen schon noch früh genug über den Weg laufen, denn ich werde nicht von dir verlangen, dass du im Zimmer bleibst. Du darfst gehen, wohin du willst, solange du nur keinen Fuß aus dem Haus setzt.“
Ellie schloss für einen Augenblick die Augen. Wie lange würden sie sie hier behalten? Und was, wenn sie herausfanden, dass sie vor Menschen auf der Flucht war? Was würden sie dann mit ihr tun? Sie hatte die Gefahr in den Wald gebracht, doch sie hatte keine Ahnung gehabt, wo sie sonst hätte hingehen sollen.
„Folge Alicia jetzt in das Zimmer. Du fängst langsam an, mich zu langweilen.“
Am liebsten hätte Ellie ihm eine Ohrfeige verpasst, aber das wäre wohl kaum vorteilhaft gewesen. Sie hatte jetzt gewisse Freiheiten, aber sollte sie sich so etwas erlauben, würde sich das bestimmt ändern. Und in einer Gefängniszelle zu landen war etwas, das Ellie niemals erleben wollte.
Zögernd folgte sie Alicia, die sie über einen ziemlich edel und teuer aussehenden Gang einen Stock weiter nach oben. Ellie hasste hohe Gebäude, da konnte sie nicht besonders gut fliehen, aber sie schätzte, dass genau das die Absicht war.
Das Zimmer war nicht besonders groß, aber es sah gemütlich aus und ganz und gar nicht wie eine Gefängniszelle. Sie war zwar in diesem Haus eingesperrt, aber immerhin gestattete man ihr ein wenig Komfort.
Das Bett war weicher als es aussah und auch um einiges bequemer.


Seufzend schloss Ellie die Augen. Wie lange würden sie sie hier behalten? Die anderen Leoparden waren bestimmte nicht gerade begeistert, dass unter ihnen nun ein Jaguar war, von dem man weder wusste woher er kam, noch wieso genau er hier war. Aber Ellie konnte ihnen auch nicht einfach sagen, dass sie zufällig in der Gegend war, weil sie auf der Flucht vor den Menschen durch den Wald geirrt war. Sie würde ihr vermutlich nicht glauben und meinen, sie habe sie verraten oder in eine Falle gelockt und dann würden sie sie töten.
Ellie versuchte die Tränen, die ihr in den Augen brannten, zu unterdrücken. Sie würde hier nicht weinen, nicht jetzt. Die Leoparden durften sie nicht für schwach halten, sonst wäre sie gefundenes Fressen für sie.
Doch es war so schwer, denn in ihrem Herzen befand sich ein großes Loch. Sie hatte kaum Zeit gehabt um den Tod ihrer Mutter und den der ganzen Gruppe zu trauern. Kaum dass sie die Leichen in der Wohnsiedlung, in der sie gelebt hatten, gefunden hatte, war sie weggerannt, wie ein erbärmlicher Feigling. Sie hatte sich in den Straßen und Gassen versteckt, von dem gelebt, was sie hatte finden und stehlen können. Sie hatte weiterhin gekellnert und einige andere Nebenjobs ausgeführt, bis sie endlich das Geld zusammengetragen hatte, dass sie brauchte um über den Ozean fliegen zu können. An den Nebelwald konnte sie sich gar nicht mehr erinnern, doch ihre Mutter hatte ihr immer davon erzählt, wenn sie sie ins Bett gebracht hatte.
Ellie wischte sich hastig eine einzelne Träne von der Wange und schüttelte den Kopf. Später, später, wenn alle schliefen, dann würde sie sich gestatten zu weinen und ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Sie würde es niemals zugeben, denn niemals wieder würde sie so schwach sein, wie in Australien, als sie einfach verschwunden war, anstatt sich um die Toten zu kümmern, aber sie hatte Angst, ungeheure Angst.
Niemals zuvor in ihrem Leben war sie allein gewesen, immer war ihre Mutter oder ihre Freundin in ihrer Nähe gewesen und wenn nicht, dann irgendjemand anders aus der Gruppe. Außerdem war sie nie so weit weg gewesen von Australien wie jetzt, nicht, seit sie sich erinnern konnte. Sie war fremd hier, kannte nichts und niemanden und war noch dazu eine Gefangene der Leoparden, die sie sicherlich nicht ohne guten Grund hier herumlaufen ließen.
Ein eindringliches Klopfen an der Tür riss sie unwillkürlich aus den Gedanken.
„Ja?“
Ein blonder Mann betrat den Raum. Er war riesig, fast noch größer als Cale und er hatte ziemlich breite Schultern und muskulöse Beine. Er sah gut aus, auf eine etwas raue Art vielleicht, aber nichts desto trotz attraktiv.
„Wer sind Sie?“
Der Blonde lächelte angesichts ihrer Frage und Ellie wurde klar, wieso. Sie war eine Gefangene und fragte tatsächlich, wer dieser gefährlich aussehende Mann war?
Sie musste wohl wirklich lebensmüde sein und außerordentlich dumm noch dazu.
„Mein Name ist John und ich bin zweiter Anführer unserer Gruppe hier, der Stellvertreter von Cale und sein zweiter Mann. Ich bin für die Sicherheit der Leoparden hier auf dem Anwesen verantwortlich und somit für dich zuständig.“
„Findet ihr es nicht ein bisschen übertrieben gleich den Sicherheitschef auf mich anzusetzen? Ich meine, ihr seid so viele hier und ich bin geschwächt. Wie groß kann die Gefahr, die von mir ausgeht, schon sein?“
Ellie biss sich auf die Zunge, ihre Dummheit und Leichtsinnigkeit verfluchend. Mit dieser Art machte sie sich hier bestimmt keine Freunde. Ein bisschen schweigsamer und kooperativer wäre wohl angemessener, aber sie wollte es noch nicht wagen, ihr Schild fallen zu lassen.
Doch John lächelte bloß und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür. „Ich denke nicht, dass das der Grund ist, warum Cale will, dass ich dich bewache. Selbst Alicia könnte dich töten, sollte es nötig sein. Ich denke, das hat einen anderen Grund. Cale scheint ein gewisses Interesse an dir zu haben. Er will, dass du zu ihm kommst und mit ihm zu Abend isst.“
Sie sollte mit dem Anführer dieser Horde Leoparden zu Abend essen? Wo war der Haken? Er wollte doch bestimmt etwas von ihr, vielleicht meinte er aus ihr herausbekommen zu können, weshalb sie auf der Flucht gewesen war.
Doch weigern konnte sie sich wohl kaum und weiterhin so widerspenstig zu sein würde ihr wohl auch nicht weiterhelfen.
„Ja, gut bring mich zu ihm.“
John neigte den Kopf und warf ihr ein Stoffstück zu. „Zieh das an, Cale möchte es an dir sehen. Ich warte draußen, aber beeil dich.“
Ellie blickte dem großen Leoparden nach, als er sie allein ließ. Er war einer von ihnen, einer von denen, die sie gefangen hielten, aber irgendwie mochte sie ihn. Er war zumindest der erste, der sie nicht für ihre scharfe Zunge angefahren hatte.
Das Stück Stoff entpuppte sich letztendlich für ein knielanges schwarzes Kleid aus feinstem Stoff. Ellie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor einen so weichen, seidigen Stoff gesehen oder berührt zu haben.
Wie sich herausstellte, passte das Kleid perfekt, wie angegossen. Aber es sah nicht nur ziemlich hübsch aus, es war noch dazu auch bequem und fühlte sich fast an wie eine zweite Haut. Es raubte ihr kaum etwas von ihrer Bewegungsfreiheit, was nicht zuletzt an dem Schlitz links und rechts des Kleides im Bereich ihrer Oberschenkel lag.
John stand einen Meter den Flur hinauf an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, das Gesicht angespannt. Doch sobald er sie roch, blickte er sie an und richtete sich auf. Er lächelte.
„Das Kleid steht dir sehr gut, du siehst hübsch darin aus. Cale wird begeistert sein.“
Ellie wusste nicht, wie sie auf sein Kompliment reagieren sollte und wieso es sie so freute, dass Cale von ihrem Anblick begeistert sein würde.
Sie wusste sowieso nicht, was der Sinn darin war, dass sie so ein Kleid tragen sollte. Das hier war wohl kaum ein Date, sie war die Gefangene und bis das Gegenteil bewiesen war sogar der Feind. Dieser Cale wollte mit ihr spielen. Gut, das konnte er haben. Und sie würde mitspielen, wenn es das war, was er wollte.

John führte sie auf die oberste Etage des Anwesens, der vierte Stock. Doch schon während dem Durchqueren bemerkte sie, wie riesig das Gebäude war. Vielleicht konnte es nicht mit den Wolkenkratzern in den Großstädten mithalten, aber die Fläche, die diese Villa umfasste, musste gigantisch sein.
Ab und zu hörte Ellie Leute durch die Türen flüstern und in südlichen Teil des Gebäudes roch es nach Steak. Da bemerkte Ellie, wie großen Hunger sie eigentlich hatte, doch sie wagte nichts zu sagen.
„Ich bin schon einigen Gestaltwandlern begegnet, aber noch nie einem Jaguar. Ich wusste gar nicht, dass hier im Wald überhaupt noch welche leben. Es heißt, sie befinden sich weiter im Süden, aber sie müssten so tief im Urwald leben, dass ich es mir nicht wirklich vorstellen kann.“
Ellie betrachtete John. Es schien ihn wirklich zu interessieren, also beschloss sie, ihm zu antworten.
„Ich bin in Australien aufgewachsen, aber meine Familie, meine Gruppe stammt von hier, ich bin hier geboren worden.“
John legte seine Stirn in Falten. „Nun, ich schätze, als deine Gruppe den Nebelwald verließ, war ich noch ein kleiner Junge. Aber wenn du hier bist, um andere Jaguare zu suchen, wirst du sie nicht finden. Es gibt keine mehr.“
Ellie spürte Trauer und Müdigkeit in sich aufwallen. Alles, was sie getan hatte, dieser weite Weg, nur um feststellen zu müssen, dass sie der letzte Jaguar war. Die Letzte ihrer Art. Sie war allein.
„Hey, alles in Ordnung mit dir? Geht es dir nicht gut?“ Ellie blickte zu John hinauf, der sie besorgt musterte. „Bist du krank?“
Es überraschte sie, dass es ihn überhaupt interessierte, wie es ihr ging, aber das tat es offenbar. Vielleicht waren nicht alle Leoparden so kalt wie Cale und Alicia. „Nein, ich bin nicht krank. Es ist bloß… zu wissen, dass alle Jaguare den Wald verlassen haben und ich umsonst hergekommen bin… ich weiß auch nicht. Ich hatte einfach gehofft hier auf eine Jaguargruppe zu stoßen, mit der ich leben kann.“
„Wieso bist du nicht bei deiner Familie geblieben oder mit ihnen zurückgekehrt?“
Ja, das war die Preisfrage. Ellie wusste nicht, ob sie ihm die Geschichte erzählen sollte. Ihre Geschichte. Nicht, dass es etwas ändern würde. Nun, sie würden sie vermutlich hinauswerfen oder töten. Sie würde glauben, sie habe die Menschen hergelockt und wenn nicht mit Absicht, dann zumindest aus Versehen. Was schlimm genug wäre. Es wäre ein Risiko für die Gruppe. Nun, da Ellie nicht mehr wusste, wohin sie gehen sollte, wollte sie nicht sofort wieder aus dieser Villa hinausgeworfen werden. Sie musste erst überlegen, wohin sie gehen sollte, was sie machen sollte. Und hier hatte sie wenigstens ein Bett zum Schlafen.
Andererseits… „Nun, sagen wir einfach, sie leben nicht mehr. Ich bin allein.“
John nickte, sein Gesicht nicht mitleidig sondern verständnisvoll. „Das tut mir leid. Es muss hart sein, allein zu sein. Ich habe meine Eltern auch verloren, aber immerhin habe ich die Gruppe und meine Freunde noch.“
John hielt vor einer Tür, die anscheinend auf eine Terrasse hinausführte. „Cale wartete bereits auf dich. Und ich verspreche dir, ich werde mit niemandem über das reden, was du mir erzählt hast. Es ist deine Sache und deine Geschichte.“
Ellie blickte den Sicherheitschef der Leoparden dankbar an. „Danke, das weiß ich sehr zu schätzen.“
Die Terrasse war nicht überdacht und sie überragte die meisten Baumgipfel. Das Grün des regenwaldähnlichen Gewächs schien unter dem blauen Himmel fast zu leuchten und tauchte die Umgebung in ein mystisches Licht. In der Mitte auf der Terrasse, die kein Geländer hatte und völlig ungesichert war, stand ein runder Tisch, vollständig gedeckt. Er sah wunderschon aus. Ein rotes Tischtuch, dazu weiße Servietten und Weingläser neben den viereckigen Tellern.
Cale saß auf einem der zwei dunklen Stühlen und blickte zu ihr hinüber. Seine Beine, die in einer dunklen Jeans steckten, hatte er lässig von sich gestreckt und seinen linken Arm um die Stuhllehne gelegt.
„Ich will mich ja nicht selbst loben, aber ich muss sagen, dass ich einen ausgezeichneten Geschmack habe. Das Kleid steht dir sehr gut. Ellie, richtig?“
Ellie stockte der Atem angesichts seiner Arroganz. Raubkatzen waren zwar allgemein bekannt dafür, doch dieser hier übertraf alle, die sie kannte.
Ohne darauf zu warten, dass Cale ihr einen Sessel anbot, setzte sie sich einfach ihm gegenüber und betrachtete sein schönes Gesicht. Es war alles in allem sehr maskulin geschnitten mit hohen Wangenknochen und einem kantigen Kinn. Seine tiefgrünen Augen blickten sie durchdringend an und es fiel ihr schwer, den Blick von ihnen abzuwenden.
„Weshalb bin ich hier? Hat das einen bestimmten Grund? Oder machst du dir einen Spaß daraus?“
Cale lächelte sie tatsächlich an. Er sah gut aus, wenn er lächelte, sein ansonsten hartes Gesicht wirkte weicher. Ellie spürte ein warmes Kribbeln im Bauch, was sie jedoch zu ignorieren versuchte. Ja, sicher, er sah sexy aus und hatte eine ungeheure Anziehungskraft, aber er hielt sie nichts desto trotz hier fest. Da konnte er so gut aussehen wie Adonis, es würde nichts ändern an der Tatsache, dass er mehr oder weniger ihr Feind war. Zumindest versuchte sie sich das einzureden.
In Wahrheit faszinierte sie dieser Mann. Er konnte kaum älter sein als 25 und war Anführer dieses Rudels hier. Der Anführer ihrer Gruppe war über 40 gewesen, als er den Posten übernommen hatte. Man musste sich beweisen, um das Vertrauen der Gruppe zu gewinnen um so einen Posten einnehmen zu können. Es sagte viel über ihn aus, dass er in so jungen Jahren schon Anführer war.
„Du bist hier um mir Gesellschaft zu leisten und mit mir zu essen.“
„Essen? Mit dir? Welchen Grund solltest du dazu haben?“
Cale runzelte die Stirn, er wurde offensichtlich ungeduldig. Vielleicht sollte sich Ellie ein wenig zurücknehmen. Es kam ihr sicher nicht zu gute, wenn sie sich weiterhin so verhielt. Und sie hatte Hunger.
„Du bist mein Gast. Also dinierst du heute mit mir. Da du eine Weile bei uns bleiben wirst, sollten wir uns auch etwas kennen lernen. Ich habe nicht gerne Fremde in meiner Villa.“
Gast? Er bezeichnete sie als seinen Gast? Das entsprach nun wohl kaum den Tatsachen.
Doch anstatt etwas zu sagen griff Ellie nach dem bereits gefüllten Weinglas und nippte an dem roten Getränk. „Nun, dann nehme ich die Einladung an.
Was willst du über mich wissen?“
Ellie vertraute diesem Mann nicht, aber wenn sie ihm etwas von sich erzählte, würde sie vielleicht auch etwas über ihn erfahren. Sie wusste, er sollte sie nicht so faszinieren und interessieren, aber er tat es.
„Du wirst verstehen, dass ich wissen möchte, wieso du in unserem Gebiet bist und wieso du halbtot zusammengebrochen bist. Alicia meinte, du seist auf der Flucht vor etwas gewesen. Ich möchte wissen, vor was und ob es eine Gefahr für unser Rudel darstellt.“
Aha. Da kam er der Sache doch gleich näher. Es hätte Ellie klar sein müssen, dass er wissen wollte, ob sie Feinde in sein Revier gelockt hatte.
Ellie seufzte. „Ich war auf der Suche nach meinem alten zu Hause. Als ich 4 war, zog meine Familie weg. Ich dachte, dort, wo ich herkomme, gibt es noch andere Jaguare. John hat mir gesagt, dass das nicht so ist.“
Cale legte die Stirn in Falten und setzte sich aufrechter hin. Nun schien er wirklich interessiert zu sein. „Ja, ich erinnere mich. Vor nicht ganz 16 Jahren hat eine Gestaltwandlergruppe von Jaguaren den Wald für immer verlassen. Ich weiß noch, dass das damals einigen Wirbel im Wald ausgelöst hat. Noch nie zuvor hat eine ganze Gestaltwandlerart den Wald verlassen, noch nie so viele auf einmal. Das hat einigen Sorgen bereitet, dass unsere Existenz nicht allzu lange geheim bleiben könnte.
John hat recht. Es gibt keine Jaguare mehr im Wald.“
Ellie spürte, wie der Rest ihrer Hoffnung schwand. Der Grund, warum sie hier war, existierte nun nicht länger.
Weg. Wie konnten sie alle weg sein? Sie hatte immer geglaubt, ein paar wären zurückgeblieben. Offenbar hatte sie sich geirrt.
„Aber das erklärt nicht, warum du so gerannt bist. Alicia hat gemeint, du wärst gerannt, als wäre der Teufel hinter dir her. Also?“
Darauf würde sie nicht antworten. Er würde sie hinauswerfen, wenn nicht schlimmeres, und sie wusste nicht, wo sie hingehen sollte. Jetzt, wo ihre Pläne nichtig waren, brauchte sie Zeit sich etwas Neues einfallen zu lassen. Außerdem, so schlecht war es hier ja gar nicht.
„Was gibt es zu essen?“ lenkte sie ziemlich offensichtlich und ungeschickt ab. Sie hätte lügen können, sich etwas ausdenken, doch das wollte sie nicht.
Gott sei Dank beharrte Cale nicht weiter auf dem Thema sondern stieg darauf ein. „Steaks. Sie werden bald fertig sein, gedulde dich nur noch ein paar Minuten.“


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Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2011

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