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Spuren im Eis


Prolog


Er träumte jede Nach von ihr.
Immer wenn er die Augen schloss, sah er sie vor sich. Das kleine, 16- jährige Mädchen.
Ihre honigblonden Haare waren zu zwei unordentlichen Zöpfen geflochten und fielen ihr locker über die schmalen Schultern.
Das Mädchen war sehr schlank, fast schon zu dünn.
Aber ihr Lächeln haute ihn jedes mal wieder beinahe um.
So offen, so fröhlich und so schön.
Sie lächelte für ihn, nur für ihn.
Doch dann begann sie jede Nacht wieder zu laufen, weg von ihm in die Dunkelheit.
Er schrie ihr hinterher, wollte nach ihr greifen, sie halten, bei sich.
Doch er konnte nicht. Egal wie viel und wie laut er schrie, wie schnell er auch rannte, er konnte sie nicht einholen.
Er hörte ihre Stimme.
Sie flüsterte irgendwelche Worte, die klangen wie „Hilfe“ und „Rette mich!“.
Er wollte ihr helfen, aber er konnte nicht.
Das machte ihn fast verrückt, und zerriss beinahe sein Herz.
Er wollte sie nicht verlieren, sie durfte nicht gehen.
Doch dann war sie fort, verschwunden, und es war wieder still wie eh und je und er war wieder allein.
Jede Nacht schreckte er aus dem Schlaf, und wenn er sich umsah, waren da nur er und seine Frau.
Aber nicht das Mädchen, von dem er jede Nacht träumte. Sie war fort.
Wahrscheinlich für immer.


Die eisige Kälte schlug ihr entgegen, als die Türen des Busses hinter ihr zuglitten und das gelbe Gefährt sie am Straßenrand allein zurückließ.
Die hohen Tannen warfen lange Schatten auf den Schnee, sodass er bläulich glitzerte im Tageslicht.
Die Sonne wollte sich an diesem Tag nicht zeigen.
Robin reckte das Gesicht in den kühlen Wind und schloss einen Moment die Augen.
Ein freudiges Kribbeln in der Magengegend zeugte davon, wie froh sie war, wieder in ihrer Heimat zu sein.
Doch jeder Muskel in Robins Körper war angespannt und ihre Ohren wachsam.
Die Härchen auf ihren Armen waren aufgerichtet und spürten jeden Luftzug, jeden Lufthauch.
Noch einmal atmete sie tief ein, dann jedoch öffnete sie wieder die Augen und schob sich eine honigblonde Strähne hinter die Ohren.
Ein schmaler, fast unsichtbarer Pfad führte durch das Unterholz mitten in den Nebelwald hinein.
Der Nebelwald – Heimat zahlreicher Legenden und Geheimnisse.
Die Leute glaubten an Werwölfe und Geister, die in dem Wald spuken sollten, doch Robin wusste es besser.
Es waren Märchen, aber die Leute schluckten das, was ihnen aufgetischt wurde nur zu gerne.
Folglich war die Anzahl jener Leute, die es wagten den Wald zu betreten, sehr gering.
Diese Legenden waren durchaus kein Zufall.
Die Bewohner des Nebelwaldes hatten sie ins Leben gerufen und verbreitet, um zu verhindern, dass die Menschen ihr streng gehütetes Geheimnis entdecken.
Behutsam sah Robin sich noch einmal um, um sicher zu gehen, dass keiner sie sah, als sie in dem dichten Nadelwald verschwand.
Die wenigen Vögel, die im Winter hier blieben, sangen fröhliche Lieder und flatterten mit ihren grauen oder braunen Flügeln über die hohen Baumkronen hinweg.
Es war schon Jahre her, seit Robin das letzte Mal hier gewesen war.
4 Jahre.
Es war genau 4 Jahre her, seit Robin aus ebendiesem Wald entführt worden und in ein Labor in einer fernen Stadt verschleppt worden war.
Bei den Erinnerungen an das, was man ihr angetan hatte, überzog Robin ein eiskalter Schauder und ihr wurde schlecht. Die Finger begannen zu zittern und in ihren Augen sammelten sich Tränen.
Nein! Sagte sie sich streng. Schluss! Das ist vorbei! Du bist entkommen, sie können dir nichts mehr tun. Du bist frei!
Doch trotz alldem ließ das Gefühl der Angst und die Erinnerungen an die Schmerzen sie nicht los.
Trotzig stapfte Robin noch tiefer in den Schnee. Ihr war bewusst, dass sie als Waldbewohner es besser wissen sollte.
Menschen waren hier nicht gerne gesehen und wurden schon bevor sie die Gelegenheit hatten auch nur eines der Dörfer zu erreichen, aus dem Wald gejagt.
Aber Robin würde sich nicht vertreiben lassen.
Nein, nicht noch einmal würde sie in die Welt dort draußen zurückkehren.
Das hier war ihre Heimat, hier war ihre Familie… Oder?
Trotz der Erleichterung wieder im Wald zu sein, konnte sie nicht umhin festzustellen, dass sie nicht mehr die Gleiche war, nicht mehr die kleine schnuckelige Roby.
Roby war in dem Labor gestorben.
Der Schnee in diesem Jahr lag höher als in dem Winter vor 4 Jahren. Und er war weißer.
Vielleicht aber war das auch nur Einbildung.
Es war zu lange her, seit Robin das letzte Mal das weiße Pulver gesehen hatte.
Prüfend hob Robin die Nase in die Luft und sog den Geruch des Waldes tief ein.
Die Nadeln der Tannen und Fichten verströmten einen angenehmen Duft. Irgendwo im Unterholz hatte ein Dachs seinen Bau, seinen stechenden Geruch konnte man nicht verwechseln.
Ein Fuchs zerlegte eine Maus, irgendwo ein paar Meter links vom Pfad, und ein schöner weißer Hase hockte neben einer gewaltigen Wurzel.
Und sie roch Wölfe.
Die Spuren waren nicht mehr ganz frisch, aber unverwechselbar die eines großen Wolfes.
Sofort spannte sich Robin innerlich an. Es war wie ein Reflex, beinahe unbewußt.
Robin war erst eine halbe Stunde unterwegs, als der Geruch nach Wolf deutlicher und frischer wurde.
Nachdenklich hielt Robin inne.
Sie könnte jetzt einfach weitergehen, doch dann würden die Wölfe sie finden und verjagen. So stark war sie nicht, als dass sie sich gegen so viele Wölfe ankommen konnte.
Robin runzelte die Stirn und entschied sich kurzerhand für etwas, das sie geschworen hatte nicht mehr zu tun, ehe sie wieder zu Hause war.
Erneut sah Robin sich in ihrer Umgebung um, und erst als sie ganz sicher war, dass niemand in der Nähe war, abgesehen von einem großen schwarzen Eichhörnchen, schlüpfte sie kurzerhand aus dem viel zu dünnen Kleid und den Pumps, die sie einer Frau in einem Schuhgeschäft gestohlen hatte.
Es war kalt in dem ärmelfreien Kleid, aber wenigstens hielt die Strumpfhose ihre Beine einigermaßen warm.
Der Busfahrer hatte sie auch danach gefragt.

„Meine Liebe, aber sie holen sich doch ganz bestimmt den Tod!“ hatte er gerufen, als sie eingestiegen war.
Robin hatte sich neben eine ältere Dame gesetzt, die sie ebenfalls besorgt gemustert hatte.
„Nein, es geht schon. Wirklich. Kein Problem,“ hatte sie geantwortet und zum Teil stimmte das ja auch. Sie war resistenter gegen Kälte als die anderen Menschen, nur dass sie das niemals zugeben würde.
„Nun, wenn Sie meinen,“ Doch es war dem Mann anzusehen, dass er ihr nicht geglaubt hatte.
„Wo wollen Sie hin?“
„Ich würde gerne am Waldrand, aussteigen, dort, wo der große Bach in den Fluss mündet,“ hatte Robin geantwortet.
„Aber Kind, wissen Sie denn nicht, was in dem Wald lauert? Ein so junges Mädchen wie Sie sollte nicht allein in diesen Wald gehen. Niemand sollte dorthin gehen,“ hatte die Frau aufgebraust, doch Robin hatte lediglich den Kopf geschüttelt und gesagt: „Ich weiß genau, was ich tue,“
Als Robin völlig nackt in Schnee stand und sich die Arme rieb, beschloß sie, dass sie sich dringend neue Kleidung besorgen musste.
Angespannt drückte sie die Augen zusammen und konzentrierte sich auf das strahlende Licht in ihrem Inneren, das sie seit 4 Jahren verborgen und versteckt hatte.
Die Angst vor diesem Teil ihres Wesens, war ständig da, und Robin konnte nicht einmal sagen, warum das so war.
Es war ein teil von ihr, warum sollte sie ihn fürchten?
Vielleicht weil er Schuld an deiner Entführung war, flüsterte eine innere Stimme ihr zu.
Robin schüttelte sich wie ein nasser Hund und versuchte die Gedanken davon loszureißen.
Sie sagte sich, dass es keinen Grund gab Angst zu haben.
Und dann, endlich, umgab Robin ein gleißendes Licht, so hell wie der Schein der Sonne, und drang durch ihre Haut.
Robin spürte, wie sich ihre Knochen schmerzhaft verschoben und brachen, nur um anders aneinander zu wachsen.
Haare sprossen wie Nadeln aus ihrer Haut und hinterließen einen brennenden Schmerz.
Früher hatte es nie so weh getan, und es war viel schneller gegangen.
Doch nach 4 Jahren hatte ihr Körper vergessen, wie es sich anfühlte sich zu verwandeln.
Und die Angst verlangsamte den Vorgang.
Nach 10 langen, qualvollen Minuten war Robin verschwunden, und dort, wo sie gestanden hatte, lag nun ein hechelnder, schneeweißer Wolf auf dem Boden.

„Was meinst du, Jay?
Rote oder weiße Rosen?“
Jay sah seine hübsche Verlobte an. Die Hände in die Hüften gestemmt stand sie vor ihm und sah ihn abwartend an.
Ihre grauen Augen funkelten, wenn sie von der bevorstehenden Hochzeit sprach, aber irgendwie schaffte Jay es nicht ganz, sich so zu freuen wie sie.
„Such du es dir aus, mein Schatz.
Ich bin sicher, beides sähe ganz gut aus,“ meinte er lächelnd.
Ines schnaubte. „Ach komm, Jay.
Tu wenigstens so als würden dich die Blumen interessieren!“ meinte sie gespielt beleidigt.
Jay streckte die Hände nach seiner Verlobten aus und legte sie auf die ihren.
„Ines, mir ist es wirklich egal.
Die Rosen sind mir egal, denn nichts wird so schön sein wie du!“
Ja, Ines war wunderschön, zuvorkommend, höflich, sie kümmerte sich um einen. Einfach die perfekte Frau.
Nach Robys Verschwinden war er ein Wrack gewesen, hatte nichts mehr gegessen und sich nur noch verkrochen.
Irgendwann hatten seine Eltern schließlich eingegriffen und ihn zurück ins Leben geholt.
Dann hatte er Ines kennen und lieben gelernt.
Er liebte sie, hatte ihr unter dem Vollmond einen Antrag gemacht und ihn auch so gemeint.
Aber ein Teil seines Herzens würde für immer Roby gehören.
Auch wenn sie ihn verlassen hatte.
Ines Gesicht überzog eine leichte Röte und beschämt sah sie weg.
„Das ist lieb von dir, Schatz,“ meinte sie lächelnd.
„Ich meine es ernst, Ines.
Du wirst alle anderen in den Schatten stellen,“
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Nimm die roten Rosen, sie betonen dein wunderschönes Gesicht,“
Ines seufzte gespielt genervt auf, konnte sich aber ein geschmeicheltes Lächeln nicht verkeifen.
„Du bist unverbesserlich,“ meinte sie tadelnd und tastete auf dem Küchentisch nach einem Kuli.
„Also rote Rosen,“ murmelte sie während sie konzentriert Notizen in ihr kleines Büchlein schrieb, das sie eigens für die Hochzeitsvorbereitungen gekauft hatte.
„Ich rufe Mary an, und sage ihr, wie wir uns entschieden haben.
Ach ja, und am Nachmittag muss ich zu Christian gehen und das Tischgedeck aussuchen,“
Jay nickte nur und beobachtete Ines, wie sie nachdenklich in ihrem Büchlein blätterte.
Ihr schien gar nicht aufzufallen, dass sich ihr dunkelbraunes Haar aus dem Knoten in ihrem Nacken löste, so vertieft war sie in ihr Tun.
So, wie sie mit gerunzelter Stirn da stand, sah sie unglaublich süß aus.
„Ich geh noch Mal die Grenzen ab.
Wir haben in letzter Zeit häufiger Probleme mit den Menschen gehabt als sonst,“ erklärte Jay und stemmte sich aus seinem Stuhl.
„Okay,“ meinte Ines und küßte ihn flüchtig auf die Lippen.
Als Jay keine Anstalten machte sich in Bewegung zu versetzen, gab Ines ihm einen Klaps auf dem Hintern und scheuchte ihn vor sich her.
„Na los, geh schon!“
Jay lächelte und küßte sie ein letztes Mal, ehe Ines die Tür direkt vor seiner Nase zuschlug.
Kopfschüttelnd stapfte Jay den schmalen Weg, der vom Haus wegführte, entlang in den Wald hinein.
Das Dorf lag auf einem kleinen Hügel, einer Lichtung, umgrenzt vom Nebelwald.
Keiner wusste genau, wie das Dorf wirklich hieß. Das war eines der Geheimnisse der Ältesten, die nur den wenigsten Leuten anvertraut wurde.
Unter den Bewohnern war das Lichtungsdorf inmitten des wunderschönen Waldes unter dem Namen Hazeglade bekannt.
Das Dorf war sehr großflächig angelegt, nur die Dorfmitte, bestehend aus 10 oder 13 Häusern, bildete ein Zentrum.
Die restlichen Häuser lagen verstreut über die gesamte Lichtung und einige waren sogar im Wald gebaut worden.
So auch das von Jay.
Das Dorfzentrum bestand aus einem Wirtshaus, dem Haus des Heilers, eines kleinen Lebensmittelladens, einer Schmiede und den Häusern der Dorfältesten und des Rudelführers.
Ines Haus lag am Rande des Waldes, in Sichtweite mehrerer anderer Häuser und Jay hatte vor einem Monat beschlossen, zu ihr zu ziehen.
Doch es hatte es nur getan, als die Erinnerungen an Roby überhand genommen hatten.
Seit er bei Ines lebte, waren die Träume seltener geworden, doch sie waren immer noch da.
Und jedes Mal, wenn er ihn träumte, zerrissen ihre Schreie ihm das Herz.
Jay schüttelte verärgert den Kopf.
So ein Blödsinn. Sie hatte ihn verlassen ohne ein Wort zu sagen, war einfach verschwunden, hatte alles zurückgelassen.
Er konnte ihr nicht so viel bedeutet haben, wenn sie es einfach so über sich gebracht hatte zu gehen.
Jay machte sich nicht die Mühe bei seinem Holzhaus vorbeizuschauen, sondern machte sich direkt auf den Weg zu der Nordgrenze.
Nachdenklich stapfte Jay umher und überlegte einen Moment, ob er sich nicht verwandeln sollte, nur um der Realität einen Moment zu entkommen, entschied sich dann aber dagegen.
Es war besser, wenn er ein Mensch blieb, denn schließlich musste er noch einige Dinge für die Hochzeit planen, die bereits in 2 Monaten stattfinden sollte.
Ines war schon ganz Feuer und Flamme und auch seine Eltern waren außer sich vor Vorfreude.
Dass Jay gerade einmal 21 war, schien sie wenig zu kümmern.
Ein rascheln links neben ihm ließ Jay erschrocken zusammenzucken.
Aufmerksam und behutsam blickte er sich um, darauf bedacht keine Geräusche zu erzeugen.
Schnuppernd wandte er sich zu dem Busch um, aus dem das Geräusch gedrungen war.
Es roch nach… Wolf.
Aber nach einem Wolf, den Jay nicht kannte.
Etwas an dem Geruch war anders… metallisch, falsch…
So als ob der Wolf nicht aus dem Wald stammte oder etwas in sich trug, das nicht so sein sollte.
Man konnte den Geruch nach Mensch wahrnehmen, wirklich wahrnehmen.
Eisen, Säure und einige andere Dinge waren auch noch darunter.
Und etwas, das er nicht identifizieren konnte.
Nein, dieser Wolf kam nicht von hier, auch wenn etwas an dem Duft ihn an etwas erinnerte, etwas aus seiner Vergangenheit.
Der Wolf war nicht gerade groß und er trug etwas in seinem Maul.
Ein hauchdünnes, hellblaues Sommerkleid, das deutliche Spuren vom Wald trug.
Welcher Gestaltwandler rannte zu dieser Zeit mit einem dünnen Sommerkleid herum?
Jay schüttelte sich und machte sich klar, was seine Aufgabe war.
Dieser Wolf, oder vielmehr Wölfin, gehörte nicht in dieses Dorf. Ohne die Erlaubnis eines Rudelmitglieds durfte kein Fremder auch nur in die Nähe eines der Häuser kommen.
„Verwandle dich,“ verlangte Jay und baute sich breitbeinig und bei seiner vollen Größe auf.
Es war eindeutig als Befehl gemeint.
Noch eine dieser Regeln. Man musste mit den Eindringlingen reden um herauszufinden, was sie dazu bewog in ein fremdes Reich einzudringen.
Das galt zumindest für Gestaltwandler, denn die Menschen wurden ohne Erklärung verjagt.
Gespannt wartete Jay, dass der Wolf tat, was er sagte.

Robin erstarrte, als sie den großen, dunkelhaarigen Mann vor sich stehen sah.
Seine dunkle Jeans betonte die muskulösen Beine und auch seinen Bizeps konnte man nicht übersehen.
Doch das war alles kein Grund, warum Robin mit heftig klopfenden Herzen da stand und sich nicht vom Fleck bewegte.
Es war die Tatsache, dass sie den Mann kannte, der sich vor ihr aufgebaut hatte und befahl, sie solle sich verwandeln.
Es war Jay, ihr kleiner süßer Jay.
Ihre erste und einzige Liebe.
Ihn so erwachsen zu sehen, versetzte Robin in einen gewaltigen Schock.
Wie oft hatte sie sich gefragt, was aus ihm geworden war, nachdem sie verschwunden war? Wie oft hatte sie ihn in ihren Träumen gesehen.
Natürlich hatte sie gewusst, dass sie ihn sehen würde, wenn sie nach Hause zurückkam.
Aber trotzdem stand sie unter Schock.
Robin wusste nicht, wie er ihr plötzliches Wiederauftauchen ausnehmen würde, wie er reagieren würde.
Und genau davor hatte sie Angst.
Mit bebendem Atem breitete sich gleißendes Licht aus ihrer Haut aus und blendete Jay mit seinem Strahlen.
Auch dieses Mal war die Wandlung schmerzhaft und langsam. Robin konnte ein gequältes aufkeuchen nicht unterdrücken und auch dieses Mal lag Robin keuchend im Schnee.
Zittern vor Kälte und Erschöpfung richtete sie sich auf und schlüpfte ohne Jay Beachtung zu schenken in das blaue Kleid.
Sie wusste, dass sie so etwas wie Schamgefühl empfinden sollte, doch es war ja nicht so, als ob Jay sie noch nie nackt gesehen hätte.
Als Robin aufblickte sah sie, dass Jay konzentriert gen Himmel sah.
Mit einem Räuspern bedeutete sie ihm, dass sie fertig war und nun wieder zu ihr sehen konnte.
Langsam, fast zaghaft, so als glaubte er ihr nicht.
Er wusste gar nicht, wie sehr er Robin damit verletzte.
Wusste er denn nicht, wen er vor sich hatte? Hatte er sie denn nicht gerochen? Wusste er denn wirklich nicht mehr, wie sie aussah, auch als Wolf?
Robin zitterte immer noch, als sie einen unsicheren Schritt auf Jay zumachte.
Die Zeit schien still zu stehen, und auch der Wald war seltsam lautlos, als sie ihm in die dunklen Augen sah.
Sekunden vergingen, aber Jay schien nicht zu bemerken, wer genau ihm da gegenüberstand.
Schließlich erhob er mit hochgezogenen Augenbrauen die Stimme: „Wer sind Sie und was suchen Sie hier in unserem Revier?“
Seine Stimme klang sogar noch besser als früher, als sie noch jünger waren. Ja, klar, Robin hatte seine Stimme damals schon über alles geliebt, und auch die letzten 4 Jahre waren sie das letzte gewesen, das sie vor dem Einschlafen gehört hatte, aber es war kein Vergleich zu jetzt.
Alles Kindliche war aus Jay verschwunden – nun war er voll und ganz Mann und Robin bezweifelte nicht eine Sekunde dass er einen sehr hohen Rang im Rudel hatte.
„Ich bin auf dem Weg nach Hause,“ antwortete Robin überraschend ruhig.
Warum sagte sie ihm nicht einfach, wer sie war?
Traute sie sich nicht? War es das?
Oder der Schmerz, dass er sie nicht erkannte, nicht wusste, wen er da vor sich hatte?
Hatte sie ihm denn so wenig bedeutet, dass er sie nicht erkannte?
Ja, es waren 4 Jahre vergangen und Robin war sich durchaus bewusst, wie sehr sie sich in den Jahren verändert hatte, nicht nur körperlich, aber wenn er in ihre Augen sah, ihre Wolfsgestalt und ihre Stimme hörte, kamen da keinerlei Erinnerungen hoch?
Oder wollte er es nur nicht wahrhaben?
„Das hier ist das einzige Dorf in der Nähe. Sie haben sich verlaufen,“ brummte Jay.
Robin spürte, wie er sie von oben bis unten musterte, alles in sich aufnahm und sie analysierte, als wäre sie eine potentielle Gefahr für das Dorf.
„Ich weiß, dass es in dieser Gegend nur Hazeglade gibt.
Da will ich hin, und ich weiß dass es direkt hinter dir liegt.
Ich weiß, dass das Wirtshaus zum silbernen Mond heißt, dass die Dorfälteste Rosalie ist und dass die Mühle am anderen Ende der Lichtung steht.
Nein, ich habe mich nicht verirrt,“ antwortete Robin scheinbar gelassen.
Sie musste sich ein Lächeln verkneifen, als Jay sie mit verdutzter Miene anstarrte.
Robin war auch klar, warum.
Niemand, der das Dorf nie betreten hatte, konnte diese Dinge wissen.
Und es gab wenige Wölfe, die es je verließen.
„Nun, Sie wollen also nach Hazeglade?
Sagen Sie, wer sind Sie?“ fragte er und musterte sie erneut.
Als würde das ihm dabei helfen! Er hatte sie bis jetzt nicht erkannt, da würde sich jetzt wohl kaum noch etwas ändern.
„Erkennst du mich wirklich nicht?“ fragte Robin und ihre Unsicherheit ließ sich diesmal nicht verbergen.
Als Jay mit den Schultern zuckte und den Kopf verneinend schüttelte, fuhr sie mir zittriger Stimme fort: „Hast du denn alles vergessen? Mich vergessen?“
Sofort traten Tränen in ihre Augen, doch Robin versuchte sie mit aller Kraft niederzuringen.
Stattdessen rieb sie sich de nackten Arme, welche von Gänsehaut überzogen waren.
Nun war selbst ihr kalt geworden und Robin sehnte sich nach einer Tasse Tee und einem warmen Kamin.
Mit einem Schlag änderte sich Jays Gesichtsausdruck und Unglauben und Schock zeichneten sich auf seinem Gesicht ab.
Seine wunderschönen Augen weiteten sich als er erkannte, wer sie war und sein Mund öffnete und schloss sich mehrmals fassungslos, als wolle er etwas sagen, wüsste aber nicht genau, was.
Schließlich trat er einen Schritt auf sie zu und fragte leise, nicht mehr als ein Hauchen: „Roby?“
Doch sie schüttelte den Kopf.
„Robin,“
Nie wieder wollte sie Roby genannt werden.
Die Erinnerungen, die bei der Erwähnung dieses Namens hochkamen, waren einfach zu schrecklich.
„Du… bist es wirklich?“
Noch immer starrte er sie an, als würde er einen Geist sehen.
Robin fühlte sich auf einmal kraftlos und wollte nur noch nach Hause.
Es hatte sie zutiefst erschüttert, dass Jay sie nicht erkannt hatte und die Flucht hatte sie mehr erschöpft als sie angenommen hatte.
„Ja, wie sie leibt und lebt,“ antwortete sie schlicht und rieb sich über das Gesicht.
„Hör zu Jay, ich weiß ja dass das alles schockierend und überraschend ist, ich hätte auch nicht geglaubt dass ich je wieder zurückkommen würde, aber ich bin müde und würde jetzt gerne nach Hause gehen.
Es ist kalt und ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen.
Wenn du also nicht dagegen hast, geh bitte aus dem Weg,“
Als Jay keine Anstalten machte sich vom Fleck zu rühren und Robin spürte, wie unterdrückte Gefühle an die Oberfläche wollten, begann sie noch heftiger zu zittern.
Ihr Herz schlug bei Jays Anblick doppelt so schnell wie normal und sie wusste, dass sie ihn noch immer liebte, ihn immer geliebt hatte.
„Bitte Jay, ich will einfach nur nach Hause,“
Es hätte wütend klingen sollen oder vielleicht auch drängend, aber stattdessen kam es ihr wie ein Schluchzen über die Lippen und eine einzelne Träne kullerte ihr über die Wange.
„Verdammt,“ fluchte sie und wischte hastig den salzigen Tropfen weg.
Sie wollte doch nicht weinen – konnte doch nicht weinen! Nicht jetzt! Überhaupt nicht mehr!
Das hatte sie sich doch geschworen! Was war nur los mit ihr?
Jay starrte sie entsetzt an, immer noch ungläubig, aber jetzt mischte sich die Erkenntnis dazu, wie schlecht es um sie stand.
Er ließ seinen Blick langsam über ihren Körper gleiten und Robin fühlte sich, als betrachtete sie der Käufer vor seiner Entscheidung, ob sie das Geld wert war.
Robin wusste, was er sehen würde.
Eine magere, kleine Frau, verschmutzt von oben bis unten in einem zerrissenen Kleid und mit Gänsehaut überzogen.
Robin schloss die Augen. Sie zitterte unkontrolliert und konnte einfach nicht damit aufhören, auch wenn sie es noch so sehr versuchte. Ihre Beine fühlten sich in der Kälte an wie Gummi, und es fiel ihr von Sekunde zu Sekunde schwerer sich aufrecht zu halten.
Die Jahre in Gefangenschaft und die lange Reise hatten sie ihrer ganzen Kraft beraubt. Auch die Wölfin konnte ihr jetzt nicht helfen und ihr Wärme geben – auch sie war zutiefst erschöpft.
„Was ist mit dir passiert?“ hauchte Jay und packte sie an den Armen. Leicht schüttelte er sie, als Robins Blick ihr entglitt und in die Ferne schweifte.
Sie konnte sich kaum noch konzentrieren und spürte die Ohnmacht bereits am Rande ihres Bewusstseins.
„Ich… kann nicht…“ Robins Stimme versagte und sie musste den Kopf schütteln, um bei Bewusstsein zu bleiben.
Jay schien auch zu bemerken, wie schlecht es um sie stand, denn er packte kurzerhand ihre Hand und zog sie hinter sich her.
„Ich bringe dich zuerst zu Ines. Ihr Haus liegt hier gleich in der Nähe und sie wird sich so lange um dich kümmern, bis deine Eltern die Nachricht erhalten haben,“


Jay war zutiefst erschrocken. Was machte Robin hier? Noch dazu in dem Zustand?
Als sie ihn und das Dorf vor 4 Jahren verlassen hatte, hatte er gedacht sie nie wieder zu sehen. Dass sie jetzt so vor ihm stand, so abgemagert dass man jede einzelne ihrer Rippen durch das viel zu dünne Kleid sehen konnte, versetzte ihn in einen Schock.
Sie brauchte dringend Nahrung und etwas Warmes zum Anziehen.
Ines hatte bestimmt etwas, das sie ihr borgen konnte und seine Verlobte würde sich sicherlich um sie kümmern.
Jay warf einen Blick über seine Schulter.
Robin hinkte mit zerzaustem Haar und halb geschlossenen Augen hinter ihm her, jegliches Feuer war aus ihren Augen verschwunden. Sie bewegte sich wie ferngesteuert, wie eine Puppe, als hätte sie keine Kraft mehr.
Er konnte spüren, wie nah sie einer Ohnmacht war.
Gerade als Jay sich wieder nach vorne wandte um sich auf den Weg zu konzentrieren, brach Robin zusammen und sackte leblos zu Boden.
Ihr Gesicht war fast so weiß wie der Schnee, auf dem sie lag und ihre Lippen hatten einen bläulichen Schimmer angenommen.
Selbst jetzt zitterte sie noch wie Espenlaub und hinter ihren geschlossenen Augenlidern flatterten ihre Augen.
Fluchend beugte sich Jay hinunter zu ihr und hob sie behutsam auf seine Arme.
Wie früher passte sie perfekt hinein, als gehöre sie hierhin.
Jay schüttelte den Kopf und verdrängte diesen Gedanken rasch wieder. Das mit Robin und ihm war aus. Basta.
Trotzdem konnte er nicht umhin festzustellen wie zerbrechlich und leicht sie sich anfühlte. Viel zu leicht für einen Wolf. Jay hatte Angst sie zu zerbrechen, wenn er zu fest drückte.
Mit großen Schritten eilte Jay auf das Haus zu, das in seinem Blickfeld erschien.
Rauch quoll aus dem Schornstein. Es sah noch genauso aus, wie er es verlassen hatte.
Mit einer Hand hämmerte er wie verrückt gegen die Holztüre, so fest, dass sie fast aus den Angeln flog.
Jay hörte drinnen geschäftiges Treiben, gefolgt von Schritten, die sich auf die Tür zu bewegten.
Einen Moment später wurde die Tür geöffnet und Ines seufzte: „Jay, warum zerstörst du mein Haus?“
Doch da fiel ihr Blick auch schon auf die bewusstlose Frau in Jays Armen.
„Oh mein Gott,“ keuchte sie und schlug sich entsetzt die Hände vor den Mund.
„Bring sie rein, bevor sie uns noch erfriert!“
Jay stapfte an seiner Verlobten vorbei ins Haus und bewegte sich entschlossen auf das Wohnzimmer zu, wo er Robin vorsichtig und behutsam auf das helle Schafsfell, welches vor dem Kamin lag, legte.
Im Haus war es warm, aber nicht warm genug für sie, beschloss Jay und merkte erleichtert, dass Ines das Feuer bereits anfachte und zum brennen brachte.
„Was ist mit ihr passiert? Wo hast du sie gefunden?
Mein Gott, ein Wunder dass die Kleine in dem Zustand überhaupt noch lebt,“ meinte Ines mit vor Grauen geweiteten Augen.
„Sie riecht nach Wolf. Also ist sie eine von uns.“
Einen Moment später keuchte sie überrascht auf, als sie einen weiteren prüfenden Blick über die junge Frau gleiten ließ.
„Mein Gott… das ist Robin!“
Beschämt darüber, dass Ines das bemerkt hatte, wofür er viel zu lange gebraucht hatte, senkte Jay den Kopf und nickte vage.
Seine Verlobte brauchte keine Bestätigung von ihm. Sie kannte Robin so lange wie er, die beiden waren ebenfalls zusammen aufgewachsen und hatten oft Unfug getrieben.
„Ich hole ihr sofort etwas warmes Zum Anziehen und dann koche ich Suppe,“ sagte Ines bestimmt und sprang förmlich aus dem Raum, nur um kaum eine Minute später wieder zu erscheinen, mit einem dicken Pelzmantel und einem dunkelblauen Kleid.
Jay kniete noch immer bewegungslos neben seiner einstigen Freundin, nicht fähig den Blick von ihr abzuwenden.
Sie sah schrecklich aus. Er konnte sich noch gut an das hübsche, fröhliche Mädchen von damals erinnern.
Seine Roby.
Warum wollte sie nicht, dass er sie so nannte? Früher hatte sie es geliebt, keiner durfte sie je bei ihrem vollen Namen ansprechen, sonst explodierte sie wie ein Vulkan.
Jetzt, wie sie so da lag, halb verhungert und fast erfroren wirkte sie so verletzlich. Narben bedeckten ihre nackten Beine und Arme, manche schienen gerade erst vor kurzem verheilt zu sein, andere waren schon ein paar Jahre alt.
Wo auch immer wie die letzten 4 Jahre verbracht hatte, es hatte ihr nicht gut getan. Im Gegenteil. Es hatte sie zerstört.
Wo war sie gewesen? Was hatte sie getan, wo war sie hineingeraten, dass sie zu solchen Verletzungen kam?
Ines kniete sich neben ihre Freundin und strich ihr die feuchten, zerzausten Haare aus dem Gesicht.
„Wo hast du sie gefunden?“ fragte sie und blickte Jay sorgenvoll an.
„Am Dorfrand im Wald, als ich die Grenzen nach Menschen absuchen wollte.
Da bin ich dem weißen Wolf über den Weg gelaufen,“
Er machte eine kurze Pause, ehe er sich fluchend durch die Haare fuhr und sich dann mit der Handfläche das Gesicht wischte.
„Ich habe sie nicht erkannt. Als sie da vor mir stand, als Wolf und dann als Mensch, ich habe sie nicht erkannt!“
Jay machte sich fürchterliche Vorwürfe und hasste sich selbst dafür, dass er so ein ignorantes Schwein war, das nicht bemerkte dass seine einstige Freundin, sein damaliges Ein und Alles vor ihm stand.
Genauso gut hätte es eine fremde Wölfin sein können. Wie konnte er nur? Ines hatte es sofort bemerkt, und er?
„Es ist Jahre her. Du dachtest nicht, dass sie jemals zurückkommen würde. Ich wusste es immer, aber du warst der festen Überzeugung, dass du sie nie wieder sehen würdest.“ beruhigte Ines ihren Mann und streichelte dabei sanft seinen Arm.
Jay schüttelte jedoch nur stumm den Kopf.
Ja, er hatte nicht mit ihrem Erscheinen gerechnet und es war ihm nicht einmal der Gedanke gekommen, sie könnte es sein.
Aber Himmel, er hatte sie geliebt, und dann erkannte er sie nicht einmal. Dabei waren 4 Jahre nun wirklich nicht eine so lange Zeit.
„Mach du doch bitte die Suppe.
Ich weiß, du warst mit ihr zusammen, früher, aber ich will nicht, dass du sie umziehst ohne dass sie dir die Erlaubnis erteilt.
Wer weiß was in den 4 Jahren passiert ist? Ist sie verheiratet? Ich bin mir nicht sicher, ob es ihr recht wäre, wenn du sie nackt siehst,“
Jay nickte, wusste, dass Ines recht hatte und bewunderte sie dafür, dass sie nicht aus Eifersucht sprach sondern aus Respekt der Privatsphäre ihrer Freundin gegenüber.
Natürlich hätte sie lügen und das nur als Vorwand sagen können, doch mittlerweile kannte Jay seine Verlobte schon sehr genau und wusste, wann sie die Wahrheit sagte und wann sie etwas ernst und aufrichtig meinte.
Außerdem konnten die Augen eines Wolfes nicht lügen. Auch wenn Worte es konnten, in den Augen lag immer die Wahrheit.
Die er auch jetzt sah, in Ines braunen Augen.
Jay stemmte sich auf die Beine und stapfte aus dem Wohnzimmer.
Bevor er den Raum verließ, warf er noch einen raschen Blick über seine Schulter zu Robin, die immer noch regungslos auf dem weichen Schafspelz lag.

Als Robin erwachte, stieg plötzlich die alt vertraute Panik in ihr hoch. Was würde er heute mit ihr machen, wie würde er ihr heute weh tun?
Doch plötzlich spürte sie etwas weiches, warmes, das sie einhüllte und sie wärmte.
Ihr war nicht länger kalt und sie lag auch nicht auf dem dreckigen, nassen Steinboden.
Langsam hob Robin ihre Augenlider und blinzelte überrascht und verwirrt, als sie die hölzerne Decke über sich sah.
Sie war eindeutig nicht mehr in ihrer Zelle – und auch sonst nirgendwo in seinem Bunker.
Als dann ihre Erinnerungen zurückkehrten, wurde Robin klar, dass sie sich in ihrer Heimat befand, ihrem Geburtsdorf.
Jay hatte sie gefunden. Hatte er sie hierher gebracht?
Wenn ja, wo war sie? Zu Hause?
Nein, es roch anders. Keine Spur ihrer Mutter oder ihres Vaters, auch nicht der leiseste Hauch eines ihrer Brüder hing in der Luft.
Also gut… dann musste sie in einem der anderen Häuser sein.
Wie lange hatte sie wohl geschlafen? Wussten ihre Eltern überhaupt, dass sie wieder da war?
Stöhnend versuchte Robin sich aufzusetzen, doch sie war zu schwach, ihr Körper hatte nicht genug Kraft um die zu halten.
Seufzend sank sie wieder zurück… auf den Boden?
Sie lag auf einem Pelz. Wenn ihre Nase sie richtig informierte, Schaf.
Neben ihrem Kopf knisterte das Feuer eines Kamins und in der Luft hing ein Hauch von Suppe. Dazu noch Jay und die einer Frau, die sie zwar kannte, im Moment allerdings nicht recht einordnen konnte.
Sie war wohl eindeutig zu lange weg gewesen.
Doch Jays Geruch würde sie nie vergessen können.
Schritte bewegten sich auf sie zu. Es waren leichte Schritte, keine Schweren wie die ihres Entführers. Und es schien eine Frau zu sein.
„Roby! Du bist ja wach!“
Bei dem Klang ihres Nicknamens zuckte sie unwillkürlich zusammen und fauchte: „Ich will nie wieder diesen Namen hören!“
Eine Weile war nichts zu hören. Die Frau schien stehen geblieben zu sein und Robin hatte die leise Ahnung, dass sie sie ansah.
„Wie geht es dir, Robin?“ fragte sie nach ein paar langen Sekunden und ließ sich neben sie niedersinken.
Die Frau war jung, ungefähr so alt wie Robin.
Und sie war sehr, sehr hübsch. Schöne braune Haare, die sie zu einem Zopf zusammengebunden hatte. Braune, warme Augen.
Augen, die sie sehr gut kannte.
„Ines,“ hauchte Robin überrascht und froh ihre alte Freundin zu sehen.
„Du erinnerst dich an mich,“ strahlte die Brünette, doch sofort wurde sie wieder ernst.
„Wie geht es dir? Du bist halb verhungert und fast erfroren hier aufgetaucht. Du warst halbtot. Was ist denn bloß passiert?“
Robin schloss kurz die Augen. Sie hatte gewusst, dass die Leute das fragen würden, wenn sie wieder in Hazeglade auftauchte.
Das allerdings bedeutete nicht, dass sie darüber reden möchte.
„Mir geht es angenehm gut. Ich meine, es ist warm, das ist so ungewohnt. Aber ich habe immer noch Hunger,“
Wölfe hatten eine sehr direkte Art und redeten selten um den heißen Brei herum.
„Jay ist gerade in der Küche und macht dir eine Suppe.
Weißt du was du mir für einen Schrecken eingejagt hast, als ich dich da vor dem Kamin liegen sah?“ fragte Ines und versuchte sich mit einem Lächeln, was ihr jedoch nicht ganz gelang.
Sie machte sich immer noch Sorgen, bemerkte Robin.
Natürlich war das keine Überraschung für sie. Sie wusste sehr gut, in welch erbärmlich schlechten Zustand sie sich befand.
Man konnte jeden einzelnen Knochen durch ihre Haut sehen, die einen violetten, transparenten Schimmer hatte.
Von der ungesunden Gesichtsfarbe einmal abgesehen musste sie eine starke Unterkühlung gehabt haben, schließlich war nicht einmal ein Wolf so stark, dass er eine so lange Zeit im Sommerkleid im Winter ohne Konsequenzen aushalten konnte.
Dazu kam noch der Schreck, Jay wieder zu sehen. Er hatte sie nicht erkannt.
In Robin regte sich ein Verdacht, der ihr Herz vor Verzweiflung und Schmerz zusammenziehen ließ.
Sie hatte immer geglaubt, er würde sie lieben, doch jetzt kamen ihr plötzlich ernsthafte Zweifel, ob er dies je getan hatte.
Konsequent vertrieb Robin diesen Gedanken. Es spielte jetzt sowieso keine Rolle mehr. Was vorbei war, war vorbei.
Und jetzt musste sie sich erst einmal darauf konzentrieren, sich wieder zu erholen.
Was aus ihr und Jay werden würde… tja, das stand wohl in den Sternen.
„Das tut mir leid. Mir war nicht klar, in welch schlechtem Zustand ich war.
Ich wollte euch nicht auf die Nerven fallen. Sobald es mir wieder besser geht, werde ich dich in Ruhe lassen,“
Jetzt wusste Robin wenigstens, warum die Leute in der Stadt und im Bus sie so komisch angesehen hatte. Man sah es auf dem Laufsteg oder in alten Kriegsfilmen. Abgemagerte Skelette. Aber niemand erwartete das selbst und mit eigenen Augen auf der Straße zu sehen.
Ines jedoch schüttelte den Kopf. „Du kannst so lange bleiben, wie du willst.
Vielleicht wäre es sogar besser, wenn du bleiben würdest.
Mein Haus liegt relativ am Rand, aber du kennst doch das Rudel.
Wenn es erst einmal weiß, dass du hier bist, werden sie dich nicht in Ruhe lassen,“
Robin nickte ihrer Freundin dankbar zu. „Das weiß ich sehr zu schätzen.
Aber ich möchte, dass es meine Familie erfährt. Sie hat lange genug gelitten,“
Ines Miene spannte sich an und sie wich Robins Blick aus.
„Weißt du… es war nicht leicht für sie, nachdem du… weg warst.
Ähm… Ich denke nicht, dass es gut für sie wäre, wenn sie dich so sehen. Deine Mutter würde das nur schwer verkraften,“
Robin blickte nachdenklich ins das prasselnde Feuer. Oft hatte sie daran gedacht, wie es für ihre Familie gewesen sein musste, als sie auf einmal nicht mehr da war.
Hatten sie geglaubt, sie sei weggegangen oder hatten sie angenommen, dass sie tot war?
Was auch immer sie sich zusammengereimt hatten, beides musste entsetzlich gewesen sein.
„Sehe ich wirklich so schlimm aus?“ fragte Robin.
Ines knetete ihre Hände und blickte ihrer Freundin ins Gesicht.
„Ganz ehrlich?
Du siehst furchtbar aus. Noch schlimmer als diese Hungerhaken in den Modemagazinen. Du bist nur noch Haut und Knochen und man kann deine Adern durch die Haut schimmern sehen.
Du bist aschfahl. So sollte deine Familie dich nicht sehen müssen.
Ich weiß nicht, ob sie es verkraften würden,“
Robin dankte Ines für ihre Ehrlichkeit. Und sie musste sich eingestehen, dass Ines recht hatte. Sie fühlte sich schwach und erschöpft, und trotz der Wärme war noch diese Kälte in ihr, die nichts mit der Temperatur zu tun hatte.
Vielleicht war es wirklich besser sich erst zu erholen, bevor sie sich ihrer Familie stellte.
Robin nickte. „Du hast recht. ich weiß, dass ich aussehe wie krankhaft magersüchtig, aber mir war nicht klar, dass es so schlimm ist.
Ich werde deinen Rat beherzigen und bei dir bleiben, bis ich wieder ansehnlich bin. Davon abgesehen sollte ich mich vielleicht auf das Treffen vorbereiten,“
Ines wirkte erleichtert, und atmete geräuschvoll aus.
„Das ist eine gute Entscheidung,“
Ines zögerte kurz, bevor sie langsam und vorsichtig fortfuhr: „Wie konnte das nur passieren? Ich meine, für das hier musste Monate lang nichts oder fast nichts gegessen hast!“
Robin wandte den Blick ab.
Ines war ihre Freundin, sie wollte sie nicht belügen.
Aber Robin war nicht bereit darüber zu reden, geschweige denn dass Ines das wissen sollte… noch nicht.
Vielleicht auch nie. Es war nicht leicht zu verdauen und Ines war viel zu emotional und sensibel um die Erzählung einfach wegstecken zu können.
Robin wusste, dass das nicht spurlos an ihr vorbeigehen würde. Und jemand wie Ines hätte die letzten 4 Jahre auch kaum überstanden, dachte Robin und es entsprach der Wahrheit.
„Es… Es tut mir leid.
Aber ich kann dir das nicht erzählen. Frag mich bitte nicht danach und zwing mich nicht es dir zu erzählen.“ wich Robin der Frage ihrer Freundin aus.
Seufzend fuhr sie sich durch die Haare und richtete den Blick auf das prasselnde Feuer. Irgendwann würde sie erzählen müssen, was passiert war. Vor allem, weil sie nicht bereit war zu lügen.
Sie würde weder Ines, noch ihre Familie belügen können. Das hatte sie noch nie gekonnt, Gott allein weiß warum.
Ines runzelte die Stirn, nickte aber. „Ich verstehe. Bitte verzeih mir, ich war nur neugierig,“
Robin hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil sie wusste, wie sehr ihre Antwort Ines beunruhigte. Nicht darüber reden wollen war gleichbedeutend wie dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste, und sie wusste das.
Vielleicht war es nicht gut, dass sie das angedeutet hatte, aber wie hätte sie diese Tatsache bestreiten können?
Eine Weile schweigen beide. Es war ein betretenes, angespanntes Schweigen, keiner wusste, was er sagen sollte.
Als sich ihnen dann Schritte näherten, blickte Ines auf und seufzte erleichtert.
„Jay, da bist du ja endlich.
Robin braucht dringend etwas zu essen, ihr ist sicher immer noch ganz kalt,“
Wie ein elektrischer Stromstoß fuhr die Energie durch Robins Körper und trieb ihr Herz an, schneller zu schlagen.
Verdammt, das war erbärmlich. Sie hatte bloß seinen Namen gehört und bekam Herzflattern.
Robin hatte die düstere Ahnung, dass sich das wohl nie ändern würde.
„Hier ist die Suppe,“ brummte Jay und stellte die Schüssel alles andere als sanft und vorsichtig neben ihr auf den Boden.
Robin sah ihre Jugendliebe an, doch er wich ihrem Blick aus. Es verletzte sie, auch wenn sie es ihm nicht einmal verübeln konnte.
Was musste er gedacht haben, damals, als sie einfach nicht mehr da war? Was mussten sie alle gedacht haben?
Dass sie freiwillig gegangen war, sie verlassen hatte.
Jay würde vermutlich nie wieder ein Wort mit ihr reden, nicht wenn es nicht sein musste. Und sie würde ihm keinen Vorwurf machen, aber die Wahrheit erzählen kam auch nicht in Frage.
„Jay! Sei doch nicht so unhöflich! Setz dich gefälligst zu uns und hilf mir unsere Kleine hier aufzupäppeln,“
Robin beachtete die beiden gar nicht, als sie nach der Suppe griff und vorsichtig versuchte die klare, würzige Flüssigkeit ihre raue, wunde Kehle herunter zu bekommen.
Robin grauste, obwohl die Brühe keinen schlechten Geschmack hatte und mit Abstand das Beste war, das sie seit Jahren zu sich genommen hatte.
Sie sollte es herunter schlingen, doch das tat sie nicht, konnte es nicht.
Aber wie sollte sie sich jemals wieder erholen, wenn sie nicht essen konnte? Zu lange hatte sie nichts gegessen, zu lange war ihr Magen schon leer gewesen.
Jetzt war sie dem Hungertod nahe und brachte es kaum fertig, eine einfache Suppe zu sich zu nehmen.
Eine Woge der Verzweiflung überkam sie, schwemmte über sie hinweg und riss sie fast mit sich. Bedeutete das, dass sie zum Sterben verurteilt war? War sie zu spät entkommen?
Eine sanfte Berührung an ihrem linken Arm riss sie aus dem Strudel, der sie zu verschlingen drohte.
„Robin? Geht es dir nicht gut? Schmeckt die die Suppe nicht?“
Ines Stimme war voller Besorgnis und erst jetzt bemerkte Robin, wie sehr ihre Hände zitterten.
Sie schüttelte den Kopf, vielleicht ein wenig zu heftig, denn ein erneuter Schwindelanfall überkam sie.
„Nein, mit geht es… gut…“ log Robin nicht gerade glaubwürdig. Ines musste sehen, dass es ihr nicht gut ging. Wahrscheinlich war es aber auch eine rein retorische Frage gewesen.
„Mein Gott, Robin. Ich sehe doch, dass du kaum einen Löffel Suppe schlucken kannst. Das ist ja auch kein Wunder. Wenn du so lange gehungert hast, wie ich vermute…“
An Jay gewandt sagte sie: „Hilf mir doch! Sag mir, was wir tun können!“
Sie klang verzweifelt und das wiederum trieb Robin die Tränen in die Augen. Ines sorgte sich so um sie, obwohl sie sich so lange nicht gesehen hatten.
Das hatte sie nicht verdient.
„Ich muss mich einfach nur etwas erholen,“ beschwichtigte Robin die beiden, ohne Jay einen Blick zu zuwerfen.
Ines jedoch schüttelte nur den Kopf. „Nein, das glaube ich nicht. Du musst seit Wochen keine Nahrung mehr zu dir genommen haben.
Aber wenn du nicht willst…
Ich werde dich jetzt nicht länger damit nerven, einverstanden?“
Mit diesen Worten erhob sie sich und schüttelte noch einmal den Kopf, als wolle sie nicht verstehen, wie Robin das nur so auf die leichte Schulter nehmen konnte.
„Kommst du, Jay?“ fragte sie.
Robin starrte weiter beharrlich in die tanzenden Flammen. Sie wollte Jay ansehen, aber sie wusste, was sie in seinem Blick sehen würde: Mitleid und Verachtung dafür, dass sie ihn verlassen hatte.
Nach einigen stillen Sekunden raschelte Stoff, als auch Jay sich erhob.
Und dann geschah es. Robin wandte den beiden unwillkürlich und bevor sie in der Lage war es zu unterdrücken, den Blick zu – und musste mit ansehen, wie Jay und Ines sich küssten, wie nur ein Liebespaar es tat.


Das hätte nie passieren dürfen. Es war nahezu unmöglich gewesen, das Haus zu verlassen, und dennoch hatte sie es geschafft.
Nein, das konnte er nicht einfach so auf sich beruhen lassen.
Er hatte sie nicht ohne Grund all die Jahre bei sich und am Leben behalten. Er musste sie wieder zurückholen, er brauchte sie noch.
Noch war er nicht fertig, noch hatte er sein Ziel nicht erreicht.
Es war geradezu leichtsinnig gewesen sie unbewacht zu lassen, aber das würde ihm nicht noch einmal passieren.
Wütend schlich er durch die Straßen, die Hände tief in seinem Mantel vergraben. Autos rasten an ihm vorbei, Menschen kreuzten seine Wege, ohne ihn zu beachten.
Es regnete, wie so häufig in diesem Teil des Landes. Doch auch der Regen kümmerte ihn nicht. Diese kleine Schlampe glaubte wohl, sie wäre jetzt frei und in Sicherheit. Nun, sollte sie eben in dem Glauben bleiben.
Wenn sie sich in Sicherheit wog, würde es leichter sein, sie wieder in seine Gewalt zu bringen. Ihre zarten, vor Angst zittrigen Schreie und ihre salzigen Tränen. Ja, in der Tat, sie war unvergesslich. Keine hatte so große Augen wie sie, wenn sie ihn ansah, voller Angst und Hass und der Ungewissheit, was er mit ihr tun würde.
Oftmals hatte er sie einfach nur besucht, um den Abscheu in ihrem Gesicht zu lesen, oder ihren wunderschönen Körper, ehe er sich dann zurückgezogen und Erleichterung verschafft hatte.
Ja, er hatte sie gequält, geschlagen und gefoltert, aber er hatte sich gehütet sich an ihr zu vergreifen.
Denn in diesem Zustand war er verwundbar. Sie brauchte dann nur ihre Krallen auszufahren. Wenn sie ein Mensch gewesen wäre, bräuchte er sich darüber keine Gedanken zu machen, aber mit ihren Krallen konnte sie jedes Seil, ja, sogar jedes Eisen durchtrennen. Gott weiß, wieso. Doch es war so, er hatte es mit eigenen Augen gesehen.
Sie hätte ihn in Stücke reißen können, trotz ihres geschwächten Zustandes. Er hatte sich immer gehütet, ihr nicht zu nahe zu kommen und Gott, wie sehr hatte ihn das gequält. Am liebsten hätte er sie genommen, wie oft hatte er davon geträumt? Wie oft war er nachts aufgewacht und hatte sie vor Augen gehabt?
Ja, in der Tat, er hatte sie nur beobachten und schlagen können, doch wenigstens war sie bei ihm gewesen!
Wie sehr es ihn entsetzt hatte, feststellen zu müssen, dass sie nicht mehr da war!
Aber er würde sie finden und dann würde er dafür sorgen, dass sie ihm nie wieder entkommen würde.
Es würde seine Zeit dauern. Er durfte nicht unvorsichtig sein und musste alles gut durchdenken. Fehler konnte er sich keine erlauben, er durfte nicht entdeckt werden.
Aber wenn es so weit war, wenn er vorbereitet war, würde er kommen. Kommen um sie zu holen.
Und er wusste auch schon, wo er suchen musste…

Robin war nicht im Stande den Blick abzuwenden. Jay schloss seine starken Arme um Ines, wie er es früher immer bei ihr getan hatte. Die Erinnerung an seine Zärtlichkeiten, sein Lächeln, hatten sie davor bewahrt wahnsinnig zu werden.
Doch jetzt…
Hatte sie wirklich geglaubt Jay hätte 4 Jahre auf sie gewartet? Er hatte doch sicherlich gedacht, sie wäre freiwillig gegangen. Und Ines… Ihr konnte sie auch keinen Vorwurf machen.
Aber, bei Gott, deswegen tat es nicht weniger weh.
Gegen ihren Willen spürte Robin die Tränen, die sich in ihren Augen sammelten, doch sie drängte sie entschlossen zurück.
Verflucht. Sie würde jetzt ganz bestimmt nicht in Tränen ausbrechen!
Es war doch klar gewesen, dass Jay eine Freundin haben musste! Und es war reiner Zufall, dass es ausgerechnet ihre Freundin Ines war. Das Dorf war ja auch nicht allzu groß, da war die Chance dass so etwas passierte doch wahnsinnig hoch…
Aber, zum Teufel, mussten die beiden hier, vor ihren Augen, miteinander knutschen? Konnten sie es nicht am Gang tun, oder sich ein Zimmer nehmen, wenn sie es so nötig hatten?
Fanden sie es toll, wenn sie ihnen zusehen musste, wie sie sich küssten? Quälten sie sie mit Absicht?
Robin schüttelte den Kopf. Das war Unsinn und das wusste sie auch. Dennoch… Die Gedanken ließen sich einfach nicht vertreiben, waren tief in ihrem Gehirn verankert und sie konnte nicht verhindern, dass sie Ines in diesem Moment abgrundtief hasste.
Die Eifersucht brannte wie Säure in ihrem Magen und ihr wurde übel – nicht nur wegen dem Essen, dass sie nicht zu sich nehmen konnte.
Angewidert von sich selbst für diese Gedanken und Gefühle und zutiefst beschämt darüber, dass sie die beiden so unverhohlen anstarrte, wandte sie den Kopf ab um ihre Augen erneut auf die Flammen zu lenken, die langsam immer kleiner wurden, je weniger Holz noch übrig war.
Sie war müde. Noch immer oder schon wieder, das spielte keine Rolle. Und dann war da noch dieser nagende Hunger, der sie fast in den Wahnsinn trieb, sich aber nicht stillen ließ.
Ihr wurde schwindelig, aber sie wusste nicht, welche Ursache das hatte. Die aufwühlenden Gefühle, der Schock über den Kuss oder ihren körperlichen und seelischen Zustand.
Alles drehte sich vor ihren Augen, aber sie schloss nur kurz die Augen und drängte die herannahende Ohnmacht zurück und zwang sich, die Augenlider wieder zu heben und den Blick zu Ines und Jay zurückzulenken.
Wie erwartet hatten sie mittlerweile voneinander abgelassen. Und sahen Robin fast schuldbewusst an.
Diese zwang sich fast krampfhaft zu einem Lächeln, das ihr, wie durch ein Wunder, sogar halbwegs gelang, aber wohl ziemlich künstlich aussah, und sagte mit freundlicher Stimme: „Ich wusste nicht, dass ihr ein Paar seit. Das freut mich für euch. Herzlichen Glückwunsch.“
Wie ihr diese Worte über die Lippen kamen, kam Robin wie ein Wunder vor, aber Ines schien es ihr abzukaufen, denn ein breites Lächeln breitete sich auf ihrem hübschen Gesicht aus.
„Danke.
Und, stell dir einmal vor, wir sind verlobt!“
Verlobt.
Verlobt?
Hatte sie da gerade richtig gehört? Jay und Ines. Sie würden heiraten?
„Wann?“ Bevor sie sich zurückhalten konnte, war ihr die Frage über die Lippen gekommen.
Sie wusste, dass es unfreundlich und fordernd klang. Aber es war schon zu spät um es zurückzunehmen.
Jay runzelte die Stirn, sagte aber nichts.
Ines Lächeln schrumpfte, verschwand aber nicht ganz.
„Was wann?
Wir haben uns letzte Woche verlobt. Jay hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.“
Unsicher warf sie Jay einen kurzen Blick zu.
Robin zwang sich erneut zu einem Lächeln, was wohl eher eine Fratze war, aber es schien seinen Zweck erfüllen.
„Nein, nein. Ich meinte, wann die Hochzeit stattfindet. Schließlich will ich dann wieder auf den Beinen sein!“ beschwichtigte sie ihre Freundin.
Gott, wie sollte sie diesen Tag überstehen? Wie sollte sie den beiden zusehen, wie sie sich in die Augen sahen und einander ewige Liebe schworen, vor Gott und der Welt?
Das konnte sie nicht. Aber ihr würde wohl kaum eine Wahl bleiben.
Sofort entspannten sich Ines Gesichtszüge wieder und sie schenkte Robin ein freundliches Lächeln.
„In einem Monat. Keine Sorge, bis dahin haben wir dich wieder aufgepäppelt!“ versprach sie und ihre Augen begannen wieder zu leuchten.
Sie liebte Jay wirklich, durchfuhr es Robin. Er machte sie glücklich. Wie konnte sie sich anmaßen ihr das Glück verwehren zu wollen?
Und dennoch tat sie es. Sie wollte die beiden nicht zusammen sehen, wollte das Glitzern in Ines Augen nicht sehen, wenn sie Jay ansah.
Das war selbstsüchtig und sie wusste das, aber sie konnte nichts dagegen machen.
Jay schwieg noch immer, sah sie immer noch unverwandt an. Seine ausdruckslose Miene verriet nichts von seinen Gefühlen oder davon, was er dachte.
„Natürlich wirst du eine meiner Brautjungfern sein. Und du wirst ein wunderschönes Kleid tragen. Durch deine Rückkehr wird dieser Tag einfach perfekt werden!“ meinte Ines hellauf begeistert.
Sofort traten Robin die Augen wieder in die Augen.
Verdammt, sie hatte immer davon geträumt eines Tages Jay zu heiraten. Und jetzt? Jetzt war sie die Trauzeugin, während ihre Freundin den Mann, den sie liebte, heiratete.
Auf einmal hielt Robin es nicht länger mit den beiden in einem Raum aus.
Ihr Herz blutete und die Erschöpfung drohte sie erneut zu übermannen.
„Wenn ihr mich…“
Weiter kam sie nicht, denn dann wurde ihr alles Schwarz vor Augen und sie glitt erneut in eine tiefe Ohnmacht, in der es weder Schmerz, noch Trauer gab.


„Wenn ihr mich…“
Plötzlich verdrehten sich Robins Augen und sie sackte kraftlos nach hinten.
Zuzusehen, wie die letzte Kraft Robins Körper verließ, versetzte Jay einen Stich.
Er hatte sie während des ganzen Gespräches beobachtet um irgendein Anzeichen zu finden, dass er ihr nicht egal war, dass es ihr nicht gleichgültig war, dass er eine andere heiratete.
Doch ihre Miene war nicht zu durchdringen gewesen. Ihre Augen waren glasig und wässrig gewesen, immer noch von ihrer Krankheit. Ihr Lächeln hatte ein wenig gezwungen gewirkt, doch angesichts ihrer Schwäche war das auch kein Wunder.
Jay schüttelte den Kopf.
Jetzt gab es dringendere Probleme.
Robins Ohnmacht hatte einen Grund. Sie war am Verhungern und würde nicht mehr lange leben, wenn sie nicht bald etwas zu sich nahm. Was sie allerdings nicht konnte.
Vorsichtig hob Jay sie hoch und trug sie, gefolgt von Ines, in das Gästezimmer.
Das Bett war weicher als das Fell am Boden. Außerdem musste er jetzt andere Mittel aufziehen um sie zu retten.
„Wenn wir sie bei unserer Hochzeit dabei haben wollen, müssen wir etwas unternehmen!“
Ines nickte und gab ihm somit ihre stille Zustimmung. Auch sie wollte ihre Freundin nicht sterben sehen müssen.
Entschlossen kniff Jay die Lippen zusammen.
„Gut.
Hör zu, ich habe eine Idee…“


Robin öffnete zögernd die Augen. Sie war schon wieder in Ohnmacht gefallen. Verdammt.
Sie hasste es, so schwach zu sein. Aber wenigstens hatte sie die Bewusstlosigkeit davor bewahrt, noch länger über die Verlobung von Jay und Ines nachzudenken.
Aber jetzt war sie wieder wach und ihre Gedanken kehrten unwillkürlich darauf zurück.
Und mit ihnen der Schmerz.
Robin lag nicht mehr auf dem Boden vor dem Kamin, sondern auf einem weichen Bett, wie sie feststellte.
Die Wände waren aus Holz, genauso wie das Wohnzimmer von Ines Haus. Die Bettwäsche war weiß, aber außer dem Bett befand sich in dem kleinen Zimmer nur ein Schrank aus dunklem Holz.
Wo war sie? Wie war sie hierher gekommen?
Stöhnend setzte sie sich auf und fuhr sich durch die Haare.
Himmel, ihr ging es viel besser. Anscheinend hatte der Schlaf ihr gut getan. Auch der Hunger schien verflogen zu sein. Wie war das möglich? Wie konnte sie nach einer kleinen Ohnmacht wieder so… wiederhergestellt sein?
Sie hatte keine Schmerzen mehr, keinen Hunger und sie war auch gar nicht mehr müde.
Mit gerunzelter Stirn zog Robin die Bettdecke zurück und warf einen kurzen Blick auf ihren Körper.
Sie trug immer noch das Kleid, das Ines ihr geliehen hatte. Nur, dass sich darunter ihre Rippen nicht mehr so sehr abhoben, wie noch vor kurzem. Vorsichtige tastete sie ihren Bauch ab und ihre Hüftknochen, doch so ausgezehrt war sie nicht mehr.
Gott, das konnte doch gar nicht sein. Sie war doch sicherlich nur ein paar Minuten oder eventuell ein, zwei Stunden nicht bei Bewusstsein gewesen. Auch wenn Wölfe schneller heilten als normale Menschen, das war selbst bei ihnen unmöglich.
„Himmel nich mal. Träume ich oder bin ich jetzt schon komplett verrückt?“ murmelte sie zu sich selbst.
Kopfschüttelnd sah sie sich noch einmal im Raum um. Da fiel ihr Blick auf einen medizinischen Tropf, wie er in Krankenhäusern verwendet wurde. Darin schwamm eine orange Flüssigkeit, die langsam, fast tröpfelnd, in einen Schlauch lief… der direkt in ihren Unterarm führte.
War sie in einem Spital? Irgendjemand hatte ihr einen Zugang gelegt und sie in dieses Zimmer gebracht, aber es roch nicht nach Krankenhaus und aussehen tat es auch nicht danach.
Robin schloss für einen Moment die Augen und erwartete fast dass sie auf dem Boden vor dem Kamin aufwachen würde, doch als sie die Augen wieder öffnete, befand sie sich immer noch in dem fremden Zimmer.
Schnuppernd zog sie die Luft ein und stellte erleichtert fest, dass keine Spur ihrer Familie im Zimmer war.
Dafür jedoch roch sie jemand anders.
Ines und… Jay.
Hatten die beiden sie hierher gebracht? Wenn ja, wo waren sie jetzt? Ihr Geruch war noch ganz frisch und es sah so aus, als hätte besonders Jay viel Zeit hier drinnen verbracht.
Aber warum?
Robin zerbrach sich den Kopf über die möglichen Gründe für ihre derzeitige Situation, als die Tür geöffnet wurde und Lachen zu ihr drang.
„Oh Jay, du weißt, dass du nicht tanzen kannst!“
Ines helle Stimme verstummte plötzlich, als sie Robin in ihrem Bett sitzen sah. Wach.
„Oh mein Gott, wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!“
Widerstandslos ließ sich Robin von Ines umarmen, doch ihr Blick ruhte unterdessen auf Jay, der an den Türrahmen gelehnt dastand und sie mit ausdrucksloser Miene ansah.
Gott, was würde Robin dafür geben, zu wissen, was er dachte.
Endlich löste Ines sich von ihr und betrachtete sie erleichtert.
„Du hast fast eine Woche geschlafen, ich habe schon befürchtet, du würdest gar nicht mehr aufwachen!“
Eine Woche?
„Eine Woche?“ wiederholte Robin entsetzt. Oh mein Gott. Sie hatte eine Woche geschlafen?
„Das kann nicht sein. Ich…“
Aber es war so, das spürte Robin tief in sich. Anders ließ sich ihr verbesserter Zustand nicht erklären.
Ines nickte bloß. „Doch, ich fürchte schon.
Aber mach dir keine Gedanken. Jetzt bist du ja wach.“
Keine Gedanken machen? Als ob das so einfach ginge!
Doch Robin wollte jetzt nicht darüber reden, und zwang sich zu einem hoffentlich glaubhaften Lächeln.
„Wir haben dich mit flüssiger Nahrung versorgt und wie man sieht, hat es gewirkt,“ rief Ines jetzt aufgeregt.
Tatsächlich fühlte sich Robin schon viel wohler, aber bis sie wieder ein halbwegs normales Gewicht hatte, würde es noch ein langer Weg sein.
Aber sie würde es schaffen. Sie würde ihm nicht diesen Triumph geben und langsam untergehen. Er hatte ihr 4 kostbare Jahre ihres Lebens genommen, er würde ihr nicht auch noch ihre Würde nehmen.
Fest entschlossen blickte sie Ines an und sagte mit fester Stimme: „Das war eine gute Idee, aber ich brauche es jetzt nicht mehr,“
Ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie die Nadel einfach aus der Haut und warf sie zu Boden. Sie hatte nicht gefragt, woher sie das ganze Zeug hatten, und das würde sie auch nicht. Sie brauchte es nicht zu wissen, sie ahnte schon, dass es gestohlen war.
„Ihr habt meine Familie nicht informiert.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.
Ines schüttelte den Kopf und warf einen raschen, unsicheren Blick zu Jay, ehe sie wieder Robin ansah.
„Nein, weißt du, du wolltest es nicht. Und wir waren auch der Meinung, dass es besser wäre, wenn sie nichts davon wüssten.“
Dankbar nickte Robin ihr zu, fest entschlossen Jay einstweilen zu ignorieren. Sie hatte nicht vergessen, dass er mit Ines verlobt war und sie brachte es nicht über sich, ihm ins Gesicht zu schauen und ehrliche Freude für die beiden zu empfinden.
„Könntest du mir etwas Frisches zum Anziehen borgen? Lange will ich meiner Familie meine Rückkehr nicht mehr vorbehalten,“ meinte Robin und stand auf.
Tatsächlich war sie noch etwas wackelig auf den Beinen, aber sie gaben nicht unter ihr nach und die Müdigkeit schoss ihr nicht mehr wie Säure durch die Glieder.
Doch sie machte sich keine Illusionen. Sie hatte zugenommen, das schon. Sie war nicht mehr in einem lebensbedrohlichen Zustand, aber das bedeutete noch lange nicht, dass sie nicht mehr aussah wie ein Skelett, das mit Haut überzogen war.
„Gut, natürlich hole ich dir etwas Passendes raus. Aber vorher nimmst du erst einmal ein Bad.
Gott weiß, wann du dich das letzte Mal gewaschen hast.“
Robin wusste, dass das nicht als Beleidigung gemeint war. Sie sagte es auch nicht wegen dem Geruch nach Erde und Fäulnis, der an ihr haftete, sondern wegen dem getrockneten Schlamm, der ihr Gesicht und ihre Haare überzog.
So konnte sie sich ihrer Mutter nicht präsentieren.
Robin nickte und folgte Ines aus dem Zimmer. Wie sie feststellte, war sie immer noch in deren Haus. Ines erklärte ihr, dass sie das Gästezimmer für sie bereitet hatten, damit sie ungestört und unentdeckt blieb.
Dankbar beteuerte Robin ihrer Freundin, wie viel ihr das bedeutete.
„Das Wasser ist bereits eingelassen. Shampoo und Duschgel sind auch bereit gestellt,“
Mit diesen Worten ließ Ines sie allein und schloss die Badezimmertür hinter sich. Zur Sicherheit drehte Robin den Schlüssel einmal um, damit auch wirklich niemand herein kommen konnte.
Das Badezimmer war nicht sehr groß oder luxuriös. Die Wände und der Boden waren aus weißen Marmorfließen, die Wanne hingegen glich eher einem Whirlpool. Es gab keine Dusche, dafür hätte es keinen Platz gegeben.
Auf einer Platte neben der Wanne, die an der Wand befestigt war, standen verschiedene Badesalze und Shampoos.
In der Wanne selbst war bereits Wasser eingelassen, das so warm war, dass Dampf daraus aufstieg.
Ein Klopfen ließ Robin herumfahren.
„Ich bin es, Ines. Ich habe hier ein paar Sachen für dich!“
Robin sperrte die Tür auf und nahm die Kleidung entgegen, die Ines ihr reichte, ehe sie sich wieder ins Badezimmer zurückzog.
Die Luft hier war warm und schwül, und sofort entspannten einige ihrer Muskeln sich ein wenig. Rasch streifte sie sich die Kleider vom Leib und stieg in das wartende Becken.
Das warme Wasser umschmeichelte ihre Haut und wärmte sie, ihre Muskeln entspannten fast augenblicklich und eine tiefe Zufriedenheit erfüllte Robin.
Gott, wie sehr hatte sie es vermisst, so etwas tun zu können? All die kleinen Dinge in ihrem Leben, die ihr immer so unbedeutend erschienen waren, standen jetzt in einem vollkommen anderen Licht.
Sie hatte immer alles so selbstverständlich genommen, aber jetzt nahm sie ihr erstes Bad seit 4 Jahren. Ihr stiegen Tränen in die Augen. Wie oft hatte sie in diesem Keller gelegen und geglaubt, so etwas nie wieder fühlen zu können, nie wieder Wasser auf ihrer Haut, Regen in ihrem Gesicht spüren zu können?
Zu oft, oh Gott, zu oft.
Fast schon hatte sie die Hoffnung aufgegeben, aber nun lag sie hier und war am Leben.
Sie wusste nicht, wie lange sie da drinnen gelegen hatte, doch als sie endlich heraus stieg, fühlte sie sich so gut wie schon lange nicht mehr.
Körperlich gesehen zumindest.
Ihr Herz blutete immer noch angesichts der Verlobung ihrer großen Liebe.
Ines hatte ihr dunkle Jeans und ein weites T-Shirt gegeben, die ihre Figur gut verdeckten. Als sie fertig war und sich die Haare gebürstet hatte, trat sie aus dem Badezimmer heraus und schenkte Ines ein schwaches Lächeln.
„Ich danke dir.“ Zögernd fügte sie hinzu: „Euch beiden,“
Ines schüttelte den Kopf. „Das war doch selbstverständlich! Wir sind deine Freunde.
Aber ich glaube, du solltest noch etwas warten, bis du zu deinen Eltern gehst. Deine Haare sind nass, das würde ihnen auffallen. Außerdem ist es 2 Uhr morgens.“
Robin musste sich eingestehen, dass es vermutlich wirklich das Beste war, noch eine Weile hier zu bleiben, zumindest bis zum Morgengrauen.
Auch wenn alles in ihr drängte, so weit wie möglich von Jay wegzukommen. Sie konnte es kaum ertragen neben ihm zu stehen und sich vorstellen zu müssen, wie Ines und er sich küssten und sich ewige Liebe schworen.
Es tat so weh, sie wollte nur noch weg von hier, bis ihre Tränendrüsen nachgaben und sie auch noch in Tränen ausbrach.
4 Jahre hatten nichts an ihren Gefühlen verändert. An seinen offensichtlich schon.
Es war dumm und egoistisch, aber seit sie das mit der Verlobung erfahren hasste Robin Ines aus ganzem Herzen.
Sie wollte es nicht und sie wusste, dass Ines es nicht verdiente. Sie hatte sich um sie gekümmert und ihr das Leben gerettet und womit dankte sie es ihr? Mit Hass und Eifersucht.
Robin konnte sich gerade selbst nicht gerade gut leiden, aber dennoch… das Gefühl wollte einfach nicht verschwinden.
Was bin ich bloß für ein Charakterschwein? dachte sie und wäre am liebsten im Boden verschwunden.
Robin nickte und folgte den beiden in die Küche. Auch diese war aus Holz, wie der gesamte Rest des Hauses wohl. Ines drückte sie auf einen der vier Stühle und stellte ein Glas Milch direkt vor ihre Nase.
„Trink das. Dein Mund muss ja ganz ausgetrocknet sein!“
Das war er auch. Dankbar schluckte Robin die weiße Flüssigkeit, die sie als Kind auch immer so gern getrunken hatte.
Ihre Mutter hatte ihr jeden Tag zum Frühstück ein Glas Milch bereitstellen müssen und wenn einmal keine zu Hause war, hatte sie sich geweigert das Haus zu verlassen.
Also hatte ihre Mutter zu den Nachbarn gehen müssen um sich Milch zu holen, erst dann war Robin ansprechbar gewesen.
Bekam sie einmal keine Milch, war sie den ganzen Tag beleidigt und sprach kein Wort mit niemanden.
Außer mit Jay, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf.
Das stimmte. Bevor sie mit ihm zusammen gekommen war, waren die beide unzertrennliche beste Freunde gewesen. Sie hatten alles miteinander gemacht, sie waren schon seit sie noch ganz klein waren eine verschworene Mannschaft gewesen.
Robin hatte nie ohne Jay etwas gemacht und für die Bewohner des kleinen Dorfes war es keine Überraschung gewesen, als die beiden dann zusammengekommen waren.
Robin vermisste die alten Zeiten, die Unbeschwertheit zwischen ihnen beiden.
Jay hatte noch kaum ein Wort mit ihr gewechselt, seit sie wieder hier war.
Sie wusste, dass sie wahrscheinlich nie wieder mit Jay zusammen sein würde. Und es tat weh, oh Gott, es tat so weh.
Aber noch mehr weh tat die Tatsache, dass es nicht so aussah, als würden sie wieder Freunde werden.
Robin konnte sich nicht vorstellen, nie wieder neben ihm im Heu zu sitzen und herumzualbern oder ihm ihre Sorgen anzuvertrauen.
Ja, ihre Entführung hatte alles geändert. Nichts war mehr so, wie früher und es würde auch nie wieder so sein.
Ines würde Jay heiraten, nicht sie. Wie oft hatte Robin davon geträumt. mit Jay am Traualtar zu stehen?
Nun war alles vorbei und sie war aufgewacht.
Dieser Mistkerl hatte sie nicht einfach nur entführt und ihr die Hölle auf Erden bereitet, nein, er hatte ihr ihr ganzes Leben genommen, ihre Zukunft. Er hatte alles zerstört, was ihr je etwas bedeutet hatte.
Selbst in Ines Augen sah sie vorrangig Mitleid. Ob sie noch Freunde waren, schien nicht einmal sie zu wissen und Robin sah ihr an, dass sie sie nicht gerne in Jays Nähe wusste, trotz ihrer Worte.
Robin leerte das Glas und aß dann noch eine Scheibe trockenes Brot. Ines und Jay beobachteten sie schweigend, keiner sagte ein Wort.
Robin starrte auf die Tischplatte, die wirklich wunderschöne Schnörkel im Holz hatte, aber so uninteressant war wie das Wetter am anderen Ende der Welt.
Die Befangenheit breitete sich aus. Als sie noch bewusstlos und schwach war, war es einfacher gewesen für Ines, schätzte Robin.
Sie brauchte Hilfe, und sie hatte sie ihr gegeben. Aber jetzt war sie wieder auf den Beinen und alles war anders.
Robin wusste, dass den beiden Fragen auf der Zunge brannten, aber sie war froh, dass keiner der beiden sie aussprach.
Sie hätte ihnen keine ehrliche Antwort geben können, denn sie war entschlossen, den Schrecken nicht noch einmal zu durchleben.
Die Zeit zog sich hin wie Kaugummi. Es war schrecklich still in der Küche und dieses Schweigen zerrte an Robins Nerven.
Himmel, was sollte sie sagen? es behagte ihr nicht, noch einmal das Thema Hochzeit anzuschneiden, aber etwas anderes fiel ihr einfach nicht ein.
Klar, sie könnte fragen was sie beruflich machten und was sich in den letzten Jahren verändert hatte, aber irgendwie wollte sie nicht darüber nachdenken müssen, was sie alles verpasst hatte.
Also saß sie da ohne dass ein Wort ihre Lippen verließ.
Auch Ines, die doch eigentlich immer etwas zu sagen hatte, schon als Kind keine Minute ohne reden ausgehalten hatte, machte keinen Mucks.
Und Jay… tja, Jay schwieg ebenfalls wie ein Grab. Aber er hatte ja seit ihrer Rückkehr ohnehin kaum ein Wort gesagt, also war das nicht weiter überraschend.
Irgendwann schmiegte sich Ines in seine Arme und lehnte sich mit dem Rücken an seine Brust.
Eine so vertraute Geste, dass Robin erneut gegen die Tränen ankämpfen und den Blick abwenden musste, weil es ihr das Herz aus der Brust riss.
Mit zittrigen Fingern strich sie sich das mittlerweile schon fast vollständig getrocknete Haar zurück und schob es hinter die Ohren, damit es ihr nicht ständig ins Gesicht fiel.
Ihr war gar nicht aufgefallen, wie viel es in den letzten Jahren gewachsen war. Früher hatte es gerade über die Schultern gereicht, während es jetzt taillenlang war.
Ihr gefiel es irgendwie, es zeigte, dass sie nicht mehr die Selbe war wie früher. Nicht mehr die kleine, süße, unschuldige Roby, sondern die erwachsene Robin.
Dieser Mistkerl hatte sie Roby genannt. Sie wollte nie wieder diesen Namen hören müssen.
„Es wird hell!“ verkündete Ines nach einer Weile, vermutlich ein paar Stunden, erleichtert.
Auch Robin war erleichtert, endlich aus dem Haus und dem Liebespaar entfliehen zu können.
Sie erhob sich und musste fest stellen, dass sie wohl doch noch nicht wieder vollkommen bei Kräften war, denn sie wankte ein wenig und musste sich halt suchend an der Küchentheke festhalten.
„Geht es?“ fragte Ines, diesmal jedoch nicht mehr so viel Besorgnis in der Stimme.
„Willst mich wohl endlich los werden, oder?“ entfuhr es Robin, ehe sie sich zurückhalten konnte. Dieser plötzliche Ausbruch von Aggression war ihr neu. So hatte sie noch nie reagiert, auch früher nicht. Erschrocken musste sie erkennen, dass die Gefangenschaft wohl doch mehr geändert und Schaden angerichtet hatte als sie angenommen hatte.
Robin hatte früher jeden Ärger und jede Ungeduld hinuntergeschluckt, aber jetzt… Die Zeit musste zeigen, ob das ein Ausrutscher und eine Ausnahme war und bloß auf die Nervosität bald ihrer Familie gegenüberzustehen zuzuschreiben war oder ob ER daran Schuld hatte.
Ines starrte sie erschrocken an. „Nein… ich… es tut mir leid… so habe ich das nicht gemeint…“
Jay runzelte die Stirn und sah Robin das erste Mal direkt an. „Natürlich wollen wir dich nicht loswerden.“ meinte er schlicht, aber ohne Gefühlsregung.
Robin zuckte jedoch bloß mit den Schultern und ging direkt zur Haustür. „Danke für… alles,“ murmelte sie und huschte aus dem Haus.
Draußen war es relativ kalt. Der Wind blies zwischen den Bäumen hindurch und hinterließ ein helles Pfeifen.
Der Schnee war noch nicht zurückgegangen, eher im Gegenteil. Es schien in der Woche, in der sie praktisch im Koma gelegen hatte, geschneit zu haben.
Robin atmete einmal tief durch und schloss für einen Moment die Augen. Die frische Luft tat so gut, wie der Wind ihr durch die Haare blies und ihre Haut liebkoste.
Sofort beruhigten sich ihre angespannten Nerven und die Nervosität ging zurück. Ja, bald würde sie ihrer Familie gegenübertreten und sich erklären müssen. Und sie würde sie anlügen.
Aber es war das Beste so. Für alle Beteiligten.
Doch für diesen Moment konnte sie das vergessen, konnte alles vergessen.
Es gab nur noch sie und den Wind.
„Wie lange willst du da noch rum stehen? Bis du zum Schneemann wirst?“
Jays Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Abrupt riss sie die Augen auf und starrte ihn an. Er stand zwei, vielleicht drei Meter von ihr entfernt an die Mauer gelehnt da und sah sie mit hoch gezogenen Augenbrauen an.
„Was machst du hier?“ fuhr Robin ihn an. Er war nach Ines jetzt der absolut letzte, den sie sehen wollte.
Konnte sie nicht eine Minute allein sein und den Schmerz vergessen?
„Ich begleite dich. Ich wollte sowieso bei Martine vorbeisehen.“
Klasse, einfach Klasse.
Robin zuckte mit den Schultern und meinte: „Tu was du nicht lassen kannst.“
Sie gingen nicht den direkten Weg über die Lichtung. Robin wollte zuerst mit ihren Eltern reden und nicht gleich alle Dorfbewohner auf sich aufmerksam machen.
Stattdessen gingen sie zurück in den Wald und umrundeten die Lichtung zwischen den Bäume versteckt.
Jay schwieg die Hälfte des Weges und auch Robin sagte nichts um das Schweigen zu durchbrechen.
Es war schließlich Jay, der als erstes das Wort erhob.
„Ich hätte nicht gedacht, dass du jemals wieder hierher zurückkommst.“ Er klang ganz sachlich, was Robin über die Maßen ärgerte.
„Nicht? Tja, wie du siehst bist du doch nicht so allwissend wie du denkst. Aber du warst ja nie der Hellste im Pferdestall.“
Was war bloß in sie gefahren? Ihr Tonfall war spitz und abweisend. So war sie nie gewesen so… zickig, kalt und… gemein.
Jay runzelte die Stirn und das erste Mal seit sie wieder hier war, sah sie eine Gefühlsregung in seinem Gesicht. Es war eine Mischung zwischen Entsetzen und Unglauben.
„Mein Gott, Roby, was ist nur aus dir geworden?“ meinte er kopfschüttelnd.
Seine Stimme war leise, aber ein Wort hallte für Robin laut wie ein Pistolenschuss wider. Es war alles, was sie hören konnte, alles, an das sie denken konnte.
Komm her Roby. Komm, oder soll ich dich holen? Kriech vor mir, bettle mich an, vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, tue ich dir dann heute nicht weh.
Seine eiskalte Stimme hallte in ihrem Kopf wider, als würde er neben ihr stehen. Wie vom Donner gerührt blieb Robin stehen und find an zu zittern.
„NENN… MICH….NIE…. WIEDER… SO!“ rief sie laut, aber so kalt als wäre sie aus Eis. Die Luft um sie herum klirrte vor Kälte, ihre Augen blitzten und waren zu engen Schlitzen zusammengepresst.
Jay machte einen Schritt auf sie zu. Seine Stirn hatte tiefe Furchen und seinen Augen lag brennendes Entsetzen.
„Es tut mir leid…. Ich wusste nicht, dass das ein Problem für dich ist,“ meinte er beschwichtigend, doch Robin hatte sich bereits abgewandt.
Oh Gott, war das wirklich gerade sie gewesen? Nie, niemals, hatte sie jemanden so angefahren wie gerade eben und am allerwenigsten Jay.
Verwirrt blinzelte sie und kämpfe gegen die Tränen an, die ihr plötzlich in den Augen brannten. Hatte ER das aus ihr gemacht? Was sie wegen IHM so geworden, so kalt?
„Robin? Antworte mir,“ verlangte Jay nun und trat noch näher an sie heran, sodass sie seine Wärme spüren konnte.
„Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, aber ich kann nichts dagegen machen. Es ist fast wie ein Zwang, eine Kurzschlussreaktion.“ murmelte Robin und wischte sich hastig über die Augen, ehe sie sich umwandte und Jay ansah.
Er stand kaum einen halben Meter von ihr entfernt und musterte sie eingehend. Er sagte kein Wort, stand einfach nur das und sah sie an.
Irgendwie machte das Robin nervös und sie kaute auf ihrer Unterlippe herum.
„Mir ist gleich aufgefallen, dass du nicht mehr das Mädchen von früher bist. Du hast dich verändert. Äußerlich und wie ich gerade bemerkt habe, wohl auch innerlich.“
Es war eine kühle, schlichte Feststellung. Robin erwiderte nichts, sie hatte das Gefühl, als redete er nicht mit ihr sondern eher mit sich selbst.
Robin seufzte und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht.
„Ich weiß was du fragen willst und was vermutlich das ganze Dorf fragen wird. Wo war ich? Warum… bin ich gegangen? Was ist mit mir passiert und warum bin ich wieder hier?
Aber ich kann… kann nicht darüber reden… will nicht darüber… nachdenken.
Du hast vollkommen recht, das was mir pa…. das was ich diese 4 Jahre… erlebt habe… es hat mich verändert.
Ich möchte… ich kann nicht sagen, dass mir das gefällt, oder dass ich erfreut darüber bin. Und es hat auch… einen Grund.
Aber bitte, tu mir einen Gefallen und zwinge mich nicht darüber zu reden.
Denn das kann ich nicht und ich weiß nicht, ob ich es je können werde.“
Robin schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Zittrig ließ sie die Hände sinken und wartete auf eine Reaktion Seitens Jays.
Seine braunen Augen sahen sie aufmerksam an, als erwartete er die Antwort auf ihrem Gesicht zu sehen, doch alles was er darauf finden konnte, war Flehen um Verständnis.
Eine Weile standen sie schweigend da und sahen sich nur an. Keiner bewegte sich oder wandte den Blick ab.
„Na gut. Ich werde dich nicht danach fragen.
Aber ich werde es früher oder später erfahren. Ich will und werde dich nicht drängen, keine Angst.
Aber du bist mir die Wahrheit schuldig und denk jetzt nicht, nur weil ich dich jetzt in Ruhe lasse, dass das Ganze auf sich belassen ist.
Ich werde dich fragen und du wirst mir eine Antwort geben!“ meinte Jay schließlich mit fester Stimme. Bevor Robin etwas dazu sagen konnte, setzte er sich wieder in Bewegung und ihr blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen.
Er hatte recht. Gott, er hatte so recht.
Er hatte ein Recht darauf, zu wissen was passiert war. Jay würde es früher oder später erfahren und instinktiv wusste sie, dass er es aus ihr herausbekommen würde, ganz egal was er dafür tun musste.
Das machte Robin Angst, andererseits hatte sie immer gewusst, tief in ihrem Inneren, dass sie nicht nach Hause zurückkehren konnte, ohne sich ihm zu erklären.
Den Rest des Weges schwiegen sie, Robin hätte nicht gewusst, was sie sagen sollte. Ja war wütend aus mehr als nur einem Grund, und er war zu recht wütend.
Aber Robin wusste nicht, wie sie mit seinem Zorn umgehen sollte, wusste nicht, wie sie ihn beruhigen sollte.
Über Ines wollte sie jetzt lieber nicht reden, das brachte sie nur unnötig auf und hinterließ einen beißenden Beigeschmack im Mund.
Eifersucht. Gott, schon früher war sie sehr besitzergreifend gewesen, was Jay betraf.
Endlich kamen sie bei der alten Mühle an. Das Rad stand still, aber das Wasser plätscherte fröhlich im Bach. Zu Hause.
Das Haus war alt und aus massivem Holz, aber dennoch war es schön, auf seine eigene Art und Weise.
„Danke, dass du mich her gebracht hast,“ verabschiedete sich Robin und wandte sich von Jay ab. Sie konnte ihm nicht länger in die Augen sehen, ohne diesen schrecklichen Schmerz in ihrer Brust zu spüren.
„Soll ich noch mit hineinkommen?“ fragte er und trat näher.
Robin war versucht ja zu sagen, nur um länger in seiner Nähe sein zu können. Aber schließlich schüttelte sie den Kopf.
„Nein, das muss ich alleine tun,“
Sie spürte sein Nicken mehr, als dass sie es sah.
Mit einem tiefen Durchatmen trat sie nach vorne und klopfte an die Tür. Am Rande bekam sie mit, wie Jay sich entfernte und schließlich im Wald verschwand.
Eine Weile war es still und Robin begann sich schon zu fragen, ob überhaupt jemand hier war, als sie Schritte näher kommen hörte.
Angespannt hielt sie den Atem an und wartete, bis die Tür aufgerissen wurde und ein großgewachsener, blonder Mann vor ihr stand.
Er hatte dieselben blauen Augen wie sie, und war fast 30 Zentimeter größer. Seine Arm und Beinmuskulatur war so kräftig wie die von Jay.
Und sein Gesicht war ihr so vertraut wie ihr eigenes.
Bei dem Anblick ihres Bruders kamen Robin unwillkürlich die Tränen.
„Kenny,“ hauchte sie. Eine einzelne Träne löste sich und rann ihre Wange hinunter.
„Ich glaub mich trifft der Schlag… Da leckt mich doch der…Das kann doch nicht… du bist doch nicht… Robin?“ stammelte Kenny ungläubig, als hielte er es für unmöglich seinen Augen zu trauen.
„Doch, ich bin es… ich bin zurück.“ flüsterte sie und wartete angespannt ab, was er tun würde.
Die Tür vor ihrer Nase zuknallen?
Gott, Kenny hatte sie immer verehrt, er war ihr Lieblingsbruder gewesen und als 2 Jahre älterer Junge hatte er immer auf sie aufgepasst und die Leute um sie herum mit Argusaugen beobachtet. Wenn er wüsste, was man ihr angetan hatte… es würde ihn umbringen.
Aber wenn sie ihn anlügen musste, zerstörte es einen Teil ihres Selbst.
„Robin?“ fragte er noch einmal und schüttelte den Kopf.
Bedächtig hob er seine Hand und berührte ihren Arm und runzelte überrascht die Stirn, als er bemerkte, dass sie wirklich da war, aus Fleisch und Blut.
Dann ging alles sehr schnell. Im einen Moment stand er noch da und sah sie komisch an, im nächsten lag sie in seinen Armen.
„Mein Gott Robin, du bist zurück… du lebst…“ Kenny wiederholte die Worte wie ein Mantra, während er sie fest an sich drückte und ihr die Luft aus den Lungen presste.
Robin wehrte sich nicht. Es war so gut, endlich einmal wieder im Arm gehalten zu werden, Körperwärme eines vertrauten Menschen zu spüren, dass ihr die Tränen kamen.
Sie merkte, dass sie nicht die einzige war, die weinte. An ihrem Hals spürte sie etwas Kaltes und feuchtes, Kennys Tränen.
Oh Gott, wie oft war sie in dem Verlies gelegen und hatte geglaubt, Kenny nie wieder wegen seiner Beschützerinstinkte aufzuziehen?
Scheinbar nach einer Ewigkeit löste er sich von ihr und trat einen Schritt zurück.
„Komm rein, es ist kalt draußen,“ meinte er nur und ließ sie an sich vorbei in die Mühle.
Es war warm im Haus, fast schon zu warm, aber Torren mochte es war, geradezu heiß. Robin dachte wieder einmal, dass er wo anders besser hingepasst hätte, irgendwo im Süden des Waldes und sie hatte das Gefühl, dass er dort auch eines Tages leben würde.
Wie alt war Torren jetzt? 17? 18?
Ob er wohl auch hier war?
„Mom und Dad schlafen noch. Weißt du, es ist nicht leicht für sie. Mom war sehr krank…“ Als Kenny ihren entsetzten Gesichtsausdruck sah hob er beschwichtigend die Hand.
„Ihr geht es wieder gut, keine Sorge.
Aber dein Verschwinden… es war für uns alle nicht leicht. Wir sind zurecht gekommen, weil wir das mussten. Aber das heißt nicht, dass es leicht war,“
Robin rieb sich mit dem Handrücken über die feuchten Wangen um die Reste ihrer vergossenen Tränen wegzuwischen.
„Das tut mir leid, so unglaublich leid. Ich würde es euch so gerne erklären, aber das kann ich nicht… Ich kann es nicht…“
Kenny drehte sich halb zu ihr um, und musterte sie aufmerksam.
Erst als sie in der Küche angelangt waren, die immer noch genau gleich aussah mit ihren hellbraunen Holzmöbeln und dem alten Herd, der mehr Ärger bereitete als dass er funktionierte und der Kühlschrank mit der Holzverkleidung, die ihn aussehen ließ wie einen Schrank, erhob Kenny wieder das Wort.
„Du musst es mir nicht sagen, wenn du nichts willst. Du musst es unseren Eltern nicht sagen. Aber irgendwem musst du es sagen. Ich glaube nicht, dass du einfach abgehauen bist, wie andere es tun. Ich habe gesehen, wie sehr du Jay geliebt hast und ich habe das nicht gut geheißen, dass er damals schon der Mittelpunkt deines Lebens war.
Du wärst nicht gegangen ohne es ihm zu sagen, zum Teufel du wärst überhaupt nicht ohne ihm gegangen.
Und ich glaube nicht, dass du mir, Mom und Dad so etwas angetan hättest und auch nicht Torren, du weißt, wie sehr er dich verehrt.“
Er machte eine kurze Pause und drückte Robin auf einen der massiven Küchenstühle, ehe er sich gegen die Arbeitsplatte lehnte und fortfuhr: „Du musst es mir nicht sagen. Du kannst mich anlügen, es mir verheimlichen, ich werde dir nicht böse sein. Aber ich bitte dich darum, mir zu vertrauen. Ich bin für dich da, und ich will, dass du dich mir anvertraust, ich will dir helfen.
Aber das geht nur, wenn du mir die Wahrheit sagst,“


Torren schlich durch den Wald und reckte seine Schnauze in die Luft um die Gerüche einzusaugen. Es war kalt, selbst in seiner Wolfsgestalt konnte er das fest stellen. Wie sehr er den Winter verabscheute. Schon als kleiner Junge hatte er das getan, daran hatte sich im Laufe der Jahre nichts geändert.
Er wusste nicht genau, was er am Winter nicht mochte. Vielleicht den Schnee. Vielleicht die Kälte. Robins Verschwinden vor 4 Jahren zu ebendieser Jahreszeit hatte daran auch nicht gerade etwas dazu beigetragen, dass es besser wurde.
Nein, seitdem hasste er den Winter mehr als irgendetwas anderes auf der Welt. Das ekelige weiße Pulver unter seinen Pfoten oder Füßen, die Nässe und die Kälte, die sein Fell durchdrangen. Torren schüttelte sich und sein Fell sträubte sich. Wenn er diese täglichen Ausflüge in den Wald nicht so sehr brauchen würde, um seine Fassung und Kontrolle zu erhalten, würde er sich den ganzen Winter über am liebsten im Haus aufhalten, wo es warm war.
Nachts träumte Torren davon von hier wegzugehen, vielleicht in den Süden des Nebelwaldes, weit weg von Hazeglade. In den Regenwald dort, oder in die Küstenregionen oder Savannen. Überall, egal wo, nur war es warm.
Schon oft hatte er gedacht, wie falsch er hier war, wie fehl am Platz.
Er war im falschen Dorf geboren worden, denn sein herz schlug nicht für diesen Teil des Waldes, hatte es nie getan.
Das einzige, was ihn hier hielt, waren seine Eltern. Seit Robins Verschwinden waren sie am Ende. Ohne Kenny und ihn würden sie verkümmern. Das konnte Torren nicht tun, er konnte und wollte sich diese Schuld nicht aufladen. Also blieb er.
Torren sandte ein wütendes Geheul gen Himmel.
Robin. Wäre sie noch hier, könnte er gehen, abhauen, sich einen Ort suchen, an dem er leben wollte.
Wäre sie nicht einfach verschwunden wäre er an seinem 18. Geburtstag schon weg gewesen. Vor einem halbe Jahr hätte er schon verschwinden können, so vieles wäre ihm erspart geblieben. Er hätte seine schönere Jugend gehabt, hätte Eltern gehabt, wie sie vorher waren, voller Lebensfreude und Güte. Doch seit dem Tag, an dem Robin…. abgehauen war, war alles anders. Gott, seine Eltern bekamen rein gar nichts mehr mit, sie schien das Leben ihrer Söhne nicht zu interessieren. Den ganzen Tag hockten sie im Haus und weinten, oder blickten einander stumm an.
Herrgott noch mal, wenn sie tot wäre, hätte Torren seine Eltern verstanden. Doch das war sie nicht. Sie war gegangen und er konnte ihr das nicht zum Vorwurf machen, plante er doch genau das selbst auch zu tun.
Es war jämmerlich, dass seine Eltern das nicht verkraften konnten. ja, sicher, Torren war auch wütend auf seine Schwester. Sie war gegangen ohne Lebewohl zu sagen. Doch er hatte weiter gemacht, so gut er konnte mit Eltern, die eine Last waren, Eltern, die er zum Essen, Duschen und Schlafen zwingen musste, weil sie sonst gestorben wären, Eltern, die den ganzen tag vor Haus saßen und auf die Rückkehr ihrer einzigen Tochter warteten?
Wie oft hatte er ihnen gesagt, dass sie nie wieder zurückkommen würde, dass sie endlich weiterleben und sich um ihn kümmern sollten?
Zu oft. Gott, Torren konnte sich gar nicht mehr daran erinnern.
Dann hatten seine Eltern ihn nur angesehen und geschwiegen. Wie wütend ihn das gemacht hatte! Am liebsten hätte er gegen etwas getreten. Stattdessen war er schweigend aus dem Zimmer gestürmt und in den Wald gelaufen.
Er war damals erst 14 Jahre alt gewesen. Er hatte seine Eltern gebraucht, doch sie waren nie für ihn da gewesen, nachdem Robin verschwunden war.
Torren hatte seine Schwester auch geliebt, er hatte sie regelrecht verehrt, und nach ihrem Weggang umso mehr, weil sie das getan hatte, was er sein ganzes Leben schon wollte.
Er hasste sie nicht dafür, aber er erwartete auch nicht, dass sie eines Tages wieder kam. Er hoffte es, ja, sein selbstsüchtiger Teil hoffte es, aber er wünschte ihr, dass sie dort, wo sie jetzt war, glücklich war.
Torren schüttelte seinen beigen Kopf und rannte noch tiefer in den Wald hinein.
Die Ältesten sagten ihm immer, wer wäre so wütend, er müsse damit aufhören. Das war leichter gesagt als getan.
Ja, Torren war wütend, aber nicht auf Robin und auch nicht auf Kenny, denn der war der einzige aus seiner Familie, der überhaupt wusste, dass es ihn auch noch gab.
Torren war wütend, aus vielen Gründen. Er war einsam, auch wenn Kenny sich große Mühe gab. Er war wütend auf seine Eltern, die kaum mit ihr sprachen und gar nicht bemerkten, dass es ihn noch gab.
Er war wütend auf alles und jeden, auf die Welt und dieses gottverdammte Dorf. Es mochte ja sein, dass die anderen gerne hier lebten. Er tat es nicht, er war unglücklich was wiederum seine Wut um einiges verstärkte.
Die Ältesten konnten leicht reden, er solle nicht immer so wütend sein. Die konnten in ihren scheiß Hütten sitzen, die das Dorfzentrum bildeten und hatten keine Probleme außer dem Dorfklatsch und Tratsch. Sie waren nicht allein, hatten nicht die letzten vier Jahre von den eigenen Eltern ignoriert leben müssen.
Torren schnaubte und beschleunigte seine Schritte, bis die Bäume nur noch schemenhaft an ihm vorbei flogen.
Seine Pfoten wirbelten den Schnee auf, bis er in alle Richtungen davonflog. Er rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her, als renne er um sein Leben, ums Überleben.
Der Wind zischte hart und kalt an ihm vorbei, blies sein Fell nach hinten und brachte seine Augen zum tränen.
Aber das war ihm egal. In dem Moment gab es nur noch ihn und den Wald und für einen Moment konnte er sich vorstellen, er wäre im südlichen Regenwald und spüre die Schwüle drückend auf seinem Fell.
Es war bereits dunkel, als Torren zum Dorf zurückkehrte. Es war still, die Ältesten hatten sich bereits schlafen gelegt und die Kinder waren ebenfalls sicher in ihren Betten.
Nur noch die jugendlichen und jungen Erwachsenen Wölfe waren noch wach, doch die meisten befanden sich ebenfalls in ihren warmen, bequemen Hütten.
Torren hätte nach Hause gehen können, vielleicht auch zu Jay und Ines, die in den letzten Jahren auch sehr nett zu ihm gewesen waren.
Doch das hatte er nicht im Sinn.
Leise schlich er um die Lichtung herum, auf den Hügel zu und hinauf zum Wirtshaus des Dorfes.
Im Schankhaus brannte noch hell das Licht und laute Stimmen drangen aus den geschlossenen Fenstern.
Torren wusste genau, was er sehen würde, wenn er hineingehen würde: männliche Wölfe, die sich mit ihren Freunden trafen um zu reden und eine gute Runde Poker zu spielen, über ihre Frauen zu reden oder um Neuigkeiten auszutauschen.
Andere würden an der Bar sitzen, und hoffen dass eine Wölfin kommen und sie aus ihren Singleleben rausholen würde.
Frauen, die an der Bar standen und sich austauschten, über die Kinder, oder über Männer tratschten.
Ja, im Schankhaus wurde jeden Abend gesprochen und geflirtet. Es war jeden Abend voll und wenn man in Hazeglade Spaß haben wollte, musste man dort hingehen.
Doch Torren hatte nicht vor das Schankhaus durch den Vordereingang zu betreten. Deswegen war er nicht hier, um sich die Kante zu geben und mit anderen Männern eine Runde Black Jack zu spielen.
Der Hintereingang lag verborgen zwischen einem alten Geräteschuppen und einer kleinen Tanne, dem einzigen Baum auf dem Hügel.
Torren sah sich noch einmal um, ob keiner ihn bemerkte, dann machte er Männchen und kratzte exakt dreimal an der alten Holztür.
Es verging kaum eine Minute, bis sich die Türe mit einem leisen Knarren öffnete.
Im Rahmen stand eine junge Frau, ebenfalls 18, mit langen, braunen Haaren und einem herzförmigen Gesicht.
Als sie den Wolf im Schnee stehen sah, lächelte sie und sagte: „Hallo, Torren,“

„Also gut, ich werde es dir erzählen.
Aber versprich mir, dass du es sonst niemanden sagt. Schwöre es!“
Robins Stimme war eindringlich und leise. Ihre Hände zitterten, doch das ließ sie Kenny nicht sehen. In einander verschränkt schob sie sie unter die Tischplatte, wo sie vor Kennys wachsamen Augen verborgen blieben.
Kenny antwortete nicht, er nickte bloß und ließ Robin dabei keine Sekunde aus den Augen.
Robin holte einmal tief Luft und presste ihre Hände fester aneinander, bevor sie begann zu erklären. „An jenem Tag war ich spazieren. Ich hatte mich gerade mit Ja gestritten und wollte ein wenig allein sein, also bin ich so tief in den Wald hineingegangen, dass mich keiner finden würde, wenn er nicht nach mir suchte.“
Robin hielt inne und trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das Kenny ihr hingestellt hatte, um sich zu fassen.
Kenny wartete geduldig, bis sie fortfuhr. Er verstand, dass sie Zeit brauchte, was auch immer folgen würde.
Er sagte nichts, ließ ihr Zeit, bis sie von sich aus weiter sprach.
Nach einer Weile und einem zweiten Glas Wasser fuhr sie fort.
„Ich dachte mir nichts dabei. Vielleicht hätte es etwas genützt, wenn ich ein Wolf gewesen wäre… aber das war ich nicht. Ich war von dem Streit noch so wütend, dass ich mich kaum konzentrieren konnte.
Also habe ich ihn auch nicht kommen hören,“
Wieder machte Robin eine Pause. Ihre Hände waren kalt und feucht, als sie an jenen Nachmittag zurückdachte.
Jay und sie hatten sich gestritten, weil Torren wieder einmal Mist gebaut hatte und Robin sich verantwortlich fühlte. Jay war der Meinung gewesen, dass das nicht ihre Schuld und auch nicht ihr Problem waren, sie solle sich nicht immer wie seine Mutter aufführen, denn das war sie nicht. Sie dürfe sich nicht wegen allem die Schuld geben, was ihr kleiner Bruder tat. Ihre Eltern müssen sich darum kümmern, dafür waren sie ja da. Sie solle sich nicht immer solche Vorwürfe machen und sich selbst nicht so fertig machen.
Robin war daraufhin wütend geworden und hatte ihn angeschrien, dass er ihr Bruder sei und sie sich um ihn kümmern musste, woraufhin Jay sagte, Torren wäre alt genug, außerdem war da ja noch Kenny, der sich um ihn kümmern konnte, wenn ihre Eltern es nicht taten. Robin hätte ihn doch eigentlich in den letzten 4 Jahren mehr oder weniger selbst aufgezogen, da müsse sie doch nicht auch noch jedes Mal springen, wenn er Unsinn mache. Sie sei viel zu überfürsorglich, schließlich hatten sie mit 14 auch jede Menge Mist gebaut. Das war auch noch gar nicht so lange her, sie war noch viel zu jung um sich wegen so etwas schon so fertig zu machen.
Danach war Robin einfach abgehauen und in den Wald gelaufen.
Später war ihr klar geworden, dass Jay recht gehabt hatte. Sie hatte sich wegen jedem noch so kleinen Aussetzer von Torren wie eine Wahnsinnige aufgeführt, in dem Willen ihn zu beschützen. Dass er das gar nicht mehr brauchte und sie sich damit nur selbst belastete, hatte sie dabei gar nicht bedacht.
Torren war es vermutlich nie aufgefallen, wie sehr sie sich wirklich um ihn kümmerte und sich hinter seinem Rücken um seine Probleme kümmerte, den Schaden behob und die Leute beschwichtigte.
Jetzt wusste Robin, dass das auch gut so war. Denn sie war sich sicher, dass Torren sich das nicht gefallen lassen hätte. Er war schon immer ein Freigeist gewesen, was sicher nicht zuletzt daran lag, dass ihre Eltern sich nie richtig um ihn gekümmert hatten, sie waren mit zwei Kindern schon ausgelastet und die Arbeit in der Mühle hatte sie mehr als nur beansprucht.
Torren hatte darunter leiden müssen.
Es war nicht fair, aber nicht zu ändern gewesen.
„Ich wünschte, ich hätte mich nicht mit Jay gestritten. Er hatte ja recht. Torren brauchte meine Hilfe nicht mehr, er konnte seine Fehler selbst wieder glätten, das musste nicht mehr ich hinter seinem Rücken tun.“ murmelte Robin wie zu sich selbst.
Dann schien sie sich wieder zu fassen und räusperte sich.
Den Blick hielte sie fest auf die Tischplatte gerichtet, als sie weitererzählte. „Er stand auf einmal vor mir. Er war groß und sah gut aus. Ich fragte, was er hier so tief im Wald mache, dass es für Menschen verboten sei, hierher zu kommen, ob er das denn nicht wisse.“
Robin schüttelte den Kopf und lachte bitter auf. „Tja, ich hätte wegrennen sollen und ihn nicht zurück zum Waldrand begleiten.
Er sagte, er hätte sie verlaufen, also half ich ihm,“
„Wer ist er? Wer ist dieser Mann?“
Kennys Stimme ließ Robin hoch schrecken. Sie hatte ganz vergessen, dass sie nicht allein war, dass sie Kenny die Geschichte erzählte.
„Der Mann, der mich entführte,“ war Robins einzige Antwort.
Kenny starrte seine Schwester ungläubig und mit unverhohlenem Entsetzen an. Entführt? In all den Jahren war er nie auf den Gedanken gekommen, dass sie nicht freiwillig gegangen war, stellte Kenny entsetzt fest.
Er hatte das Schlechteste von seiner Schwester gedacht! Wie mies war das denn?
Schuldgefühle so schwer wie eine Tonne drückten auf sein Herz.
Kenny schüttelte den Kopf und zwang sich zu konzentrieren. Robin hatte ihm gerade gesagt, dass ein Mann sie aus dem Wald entführt hatte. Sie brauchte ihn jetzt, er durfte ihr seine Schuldgefühle nicht zeigen, sie durfte nicht wissen, dass er gedacht hatte, sie wäre freiwillig gegangen.
Er räusperte sich und bedeutete ihr, mit einer Handbewegung, weiter zu machen.
Robin nickte und wischte sich mit einer zittrigen Hand über das Gesicht. „Er brachte mich weg von hier, in einem schwarzen Lieferwagen. Wohin, weiß ich nicht. Ich schlief ein, oder wurde bewusstlos, das weiß ich nicht mehr so genau. Es war eine sehr lange Fahrt.
Als ich erwachte, befand ich mich in einer dunkeln Zelle, ohne Fenster, nur eine schmale Gittertür zeigte mir, dass ich nicht eingemauert war.“
Tränen quollen über und liefen nass und kalt ihre Wangen hinab.
Robin konnte das Zittern nicht mehr länger unterdrücken. Ihr ganzer Körper bebte und um nicht laut aufzuschluchzen biss sie sich auf die Lippe, bis Blut hervorquoll.
Kenny trat einen Schritt vor und legte eine schwere Hand tröstend auf Robins Schulter. „Du bist hier sicher. Du bist frei,“ murmelte er beruhigend um sie nicht zu erschrecken oder noch mehr zu verängstigen.
Robin versuchte zu lächeln, was ihr allerdings nicht gelingen wollte. „Das weiß ich. Danke, Kenny,“
Zögernd stellte er die Frage, vor deren Antwort er sich am meisten fürchtete. „Was hat er mit dir gemacht in den 4 Jahren?“
Robin blickte zu ihm hoch, die Augen riesengroß und grauenerfüllt, als sie an das dachte, was sie hatte durchmachen müssen.
In ihrer Kindheit und Jugend hatte sie alle Sorten von Kriminalromanen gelesen und viele TV Serien und gute Filme gesehen, manche grausig und gruselig, andere eher spannend. Die Spanne reichte weit, ihre Interessen waren vielseitig.
Von Entführung, Diebstahl, Überfall und Mord hatte sie alles gespannt mitverfolgt, auch in den Nachrichten der Menschen.
Es hatte sie fasziniert, doch jetzt machte sie der Gedanke an so etwas nur noch krank. Sie hatte das selbst miterleben müssen.
Man dachte immer, dass das einem nicht passieren kann. Entführung, Folter, Todschlag. Man hörte es in den Nachrichten, aber man dachte nicht daran, dass das genauso Menschen waren wie man selbst.
So etwas geschah in Filmen, so etwas konnte einem nicht erreichen.
Es wurde einem vorgegaukelt, dass die Polizei alles richten konnte. Aber das konnte sie nicht. Keiner hatte nach ihr gesucht, keiner war auch nur auf die Idee gekommen dass der Mann eine Frau in seinem Keller festhalten könnte.
So war es doch immer. Die Menschen waren taub und blind, wollten die hässlichen Dinge nicht sehen.
Nach einem solchen Verbrechen beteuerten sie immer, er oder sie wäre doch ein so guter, netter Mensch gewesen, das können sie sich gar nicht vorstellen.
Und doch wurden Verbrechen direkt unter ihrer Nase begangen, ohne dass jemand etwas dagegen tat.
Sie haben nicht nach mir gesucht, wurde Robin mit einem Mal klar. Wie ein Blitz fuhr der Gedanke durch sie hindurch und sie realisierte, dass nicht einmal ihre Familie annahm, ihr könne etwas zugestoßen sein. Selbst sie glaubten, sie wäre gegangen.
Dieser… Verrat tat weh, so weh, dass Robin einen Moment keine Luft mehr bekam. Dass Ja das annahm, brach ihr schon das Herz.
Dass auch ihre Familie das glaubte, zerstörte sie noch mehr.
Doch sie riss sich zusammen. Jetzt war sie hier und es spielte keine Rolle, was sie geglaubt hatten. Denn bald würden sie mit ihrer Lüge konfrontiert werden, dass genau das passiert war. Dass sie gegangen war. Vielleicht war das besser so, dass sie das ohnehin schon annahmen.
„Robin?“
Robin hob den Kopf und begegnete Kennys Blick. Sogar er hatte es geglaubt. Trotzdem erzählte sie weiter und verschwendete keine Zeit daran wütend auf ihn zu sein.
„Ich weiß nicht genau, was er von mir wollte. Dass ich mich in einen Wolf verwandelte oder dass ich ihm den Standpunkt des Dorfes verriet. Im Grunde spielt es keine Rolle. Ich habe ihm beides nicht gegeben,“
„Das ist sehr tapfer, Robin. ich bin stolz auf dich, aber ich hatte von dir auch nichts anderes erwartet. Niemand kann Robin brechen!“
Stolz schwang in seiner Stimme mit und vielleicht war es dieses kleine Detail, das Robin half weiter zu erzählen. „Er folterte mich, schlug mich, schrie mich an. Er tat vieles, aber alles half nichts. Ihn törnte es an, was er tat, aber zu nahe ist er mir aus irgendeinem Grund nicht gekommen, und darüber bin ich sehr froh.“
Kenny stieß ein ersticktes Keuchen aus, als er Robins kalte Worte hörte. Folter. Gott, was hatte man seiner kleinen Schwester nur angetan? Er wollte dieses Schwein in der Luft zerreißen wie ein Blatt Papier.
„Wie bist du entkommen?“ fragte Kenny endlich, als er die Fassung wieder gewonnen hatte.
Robin sah ihn mit einem Mal ruhig und ausdruckslos an. Dann sagte sie: „Ich weiß es nicht,“

„Komm rein,“ die brünette Frau trat einen Schritt zur Seite und ließ den beigen Wolf hinein. Sorgsam warf sie noch einen letzten Blick in die Nacht hinaus um sicher zu gehen, dass keiner sie sah, ehe sie die Tür wieder schloss.
Von dem Wolf verfolgt ging sie die Treppen hoch in den ersten Stock, leise, schleichend. Aus dem Schankhaus drang grölendes Lachen der betrunkenen Männer und die hellen Stimmen der Frauen, die ebenfalls ihren Spaß zu haben schienen.
Ihr Zimmer lag am Ende des Flurs, die Tür war lediglich angelehnt.
Erst als die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen und der Schlüssel umgedreht war, atmete sie laut aus und ließ sich erleichtert gegen die Tür sinken.
„Schön dich zu sehen, Torren,“ meinte sie lächelnd und strich sanft über das helle Fell des großen, männlichen Wolfes.
Torren grunzte zustimmend und tapste ans andere Ende des Zimmers. Es war vollkommen dunkel, sie wagte es nicht Licht zu machen, aus Angst, ihre Mutter könnte es sehen und hochkommen um mit ihr zu reden.
Also begnügte sie sich mit dem herein scheinenden Mondlicht, das alles in silbriges Licht tauchte und den hölzernen Möbeln einen mystischen Glanz verliehen.
„Du kannst dich jetzt verwandeln,“ meinte sie und setzte sich auf das weiche Bett, dessen Laken ganz kühl waren, so wie sie es am liebsten mochte.
Oft hatte sie unter Tags das Fenster geöffnet, damit das Zimmer für die Nacht frisch und gelüftet war, auch wenn sie eigentlich lieber in wohliger Wärme, oder gar Hitze geschlafen hätte. Manchmal träumte sie davon, gar keine Decke zu brauchen.
Torren machte eine ruckartige Bewegung mit seinem großen Kopf, womit er seine Zustimmung und sein Einverständnis bekundete, dann verwandelte er sich.
Nach kaum einer halben Minute stand ein großgewachsener junger Mann vor ihr, mit hellblonden Haaren, nur eine Spur dunkler als die seiner Schwester, aber heller als die seines Bruders, vor ihr. Seine Augen waren braun, nicht blau wie die der anderen aus seiner Familie, was ihn noch mehr ausgrenzte.
Doch sie liebte diese Augen. Liebte das Gesicht, in dem sie saßen, scharfkantig mit einer aristokratischen Nase. Härte und Stärke zeichneten sein Kinn, das sie am liebsten küssen würde.
Ja, sie liebte alles an ihm, doch das würde er niemals erfahren.
Denn die Chancen, dass er sie auch liebte, waren gering. Sie war die Tochter der Schankfrau, im Gegensatz zu den anderen Mädchen des Dorfes war sie keine Schönheit, auch wenn sie nicht hässlich war.
Sie könnte es nicht ertragen, wenn Torren sie ablehnen würde. Es würde ihr das Herz brechen. Sie litt lieber stumm und behielt ihn als ihren besten und einzigen Freund. Auch wenn es sie innerlich geradezu zerriss.
„Schön dich zu sehen, Lauren,“ meinte Toren und schlüpfte rasch in die ausgewaschene Jeans, die sie immer für seine Besuche bereit hielt.
„Ja,“ antwortete Lauren einfach und lächelte ihn an. Den ganzen Tag hatte sie sich schon auf dieses Treffen gefreut, hatte sich eingeredet, sie täte dies aus Langeweile. Doch in Wahrheit hatte sie sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren können, hatte ständig nach draußen gesehen und an ihn gedacht, wie er wild durch den Wald lief oder mit dem Messer trainierte.
Ihre Mutter hatte ihr verboten, sich mit ihm zu treffen, verboten, ihn überhaupt zu sprechen. Doch das war etwas, das sie nicht tun konnte.
Torren hatte viel Unsinn gemacht, sich oft in Schwierigkeiten gebracht, aber er war nicht schlecht oder böse, und auch nicht kriminell. Nur schienen die Erwachsenen das immer öfter zu vergessen.
Lauren beobachtete Torren, wie er starr aus dem Fenster starrte. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass ihn etwas quälte. Er sah müde aus, vermutlich hatte er vergangene Nacht nicht allzu viel geschlafen.
„Was ist los?“ fragte sie leise und legte vorsichtig eine Hand auf seinen Arm.
Langsam wandte er ihr sein Gesicht zu, seine Augen blickten sie traurig an, einsam und verloren.
Lauren zog sich das Herz bei diesem Anblick zusammen. Es tat ihr weh, ihn immer so traurig zu sehen. Das tat er leider viel zu oft.
Torren seufzte. Lauren war die einzige, die ihn das je fragte und sie war die einzige, der er es sagte. Er vertraute ihr, wie keinem anderen in diesem gottverlassenen Dorf. Sie war die einzige, die ihn überhaupt bemerkte, sich um ihn sorgte und der es nicht egal war, wie es ihm ging.
Er wusste selbst nicht mehr so genau, wie sie sich angefreundet hatten, es war einfach passiert.
Ihre Mutter war alles andere als begeistert über diese Freundschaft, also kam er jede Nacht heimlich in Laurens Zimmer.
Bisher war er noch nie erwischt worden.
„Heute war ich kurz davor das Dorf für immer hinter mich zu lassen. Fast hätte ich es getan, wäre weggelaufen.
Ich bin noch hier,“
Lauren musterte ihn eine Weile schweigend. Er sah so unendlich traurig aus und sie wusste, dass er nicht hierher gehörte, es nie getan hatte.
„Warum hast du es nicht getan?“ fragte sie leise.
„Ich konnte es nicht tun. Mutter, Vater, Kenny… Sie brauchen mich, auch wenn sie mich gar nicht sehen. Weißt du, wie das Haus aussehen würde, wenn ich mich nicht darum kümmern würde? Sie wissen es nicht. Vermutlich würden sie nicht einmal bemerken, wenn ich weg wäre, aber dennoch kann ich sie nicht alleine lassen,“
Lauren nickte. Sie verstand ihn, besser als er ahnte. Ihre Mutter sah sie zwar, doch für sie war sie immer noch das kleine Mädchen, das beschützt und behütet werden musste, das so zerbrechlich war wie ein rohes Ei.
„Deine Familie hat dich nicht verdient,“
Ein schwaches Lächeln huschte über Torrens Gesicht, doch er wurde gleich wieder ernst. „Ja, danke dass du das sagst. Aber es ist nicht wahr,“
Lauren schüttelte energisch den Kopf. „Sie haben dich nicht verdient. Sie sehen es nur nicht, aber in Wahrheit sind sie auf dich angewiesen. Seit Robin weg ist, tun deine Eltern doch gar nichts mehr, du hältst die Mühle in Stand. Nich sie und auch nicht Kenny, der hat selbst genug zu tun mit seiner Familie.“
Lauren wusste, dass sie recht hatte. Er konnte es nicht sehen, sie schon.
„Eines Tages wirst du das ganze hier hinter dir lassen. Ich weiß es.“
Laurens Stimme klang so fest und überzeugend, dass Torren ihr schlichtweg glaubte.
Sanft legte sie ihre Arme um seinen festen, muskulösen Körper und umarmte ihn. Tröstend strich sie ihm über das weiche Haar, das sie so liebte und drückte sein Gesicht gegen ihre Schulter. Eine Weile saßen sie einfach nur schweigend da. Lauren schloss die Augen und genoss Torrens Körperwärme und Nähe.
Doch schließlich löste sie sich widerstrebend wieder von ihm und strich sich ihre Jeans glatt.
„Sei nicht so traurig. Eines Tages wirst du im Süden sein,“


Kapitel 6


„Mom und Dad werden gleich herunterkommen, sie sind gerade erwacht. Mach dich darauf gefasst, dass sie dich erdrücken. Seit du weg warst, waren sie lebendige Leichen. Ich weiß nicht einmal mehr, wie ihre Stimmen klingen,“ warnte Kenny seine Schwester, als lautes Poltern von oben nach unten drang.
Robin nickte und zwang sich zu einem Lächeln. Ihr gefiel es nicht, aber sie würde ihre Eltern anlügen und ihnen das Herz brechen.
Kenny hatte ihr erzählt, welche Zombies ihre Eltern in den letzten vier Jahren gewesen waren und machte sich unwillkürlich Sorgen um Torren. Er war damals noch nicht alt genug um ohne die Sorge seiner Eltern zu leben. Doch so wie Kenny das erzählt hatte, war er wohl in den letzten 4 Jahren ganz auf sich allein gestellt gewesen.
Robin zwang sich zu einem Lächeln und ließ den Blick unauffällig über ihren Körper schweifen, um sicher zu sein, dass nichts von ihrem körperlichen Zustand zu sehen war.
Da hörte sie auch schon die Schritte ihrer Eltern auf der Treppe, als sie herunterpolterten. Sie redeten nicht, nichts außer den Tritten kündigte ihr Kommen an und das schockierte Robin mehr, als sie zugeben wollte.


Sie hatte Angst, was aus ihnen geworden sein mochte, wie sie aussehen würden und ob sie sie verstehen würden, wenn sie ihnen die Lüge auftischte.
Doch der Anblick der beiden entsetzte sie mehr, als sie sich hatte vorstellen können.
Sie waren aschfahl, ihre Gesichter wirkten eingefallen und alt, so unglaublich alt. Ihr Haar war mittlerweile vollständig ergraut und das Leuchten war aus ihren Augen verschwunden, sie waren jetzt leer und… seelenlos, als hätten sie vor langer Zeit schon aufgegeben weiter zu leben.
Tonnenschwere Schuldgefühle drückten sich auf Robins Herz und nahmen ihr den Atem. Wäre sie nicht weg gewesen, wären ihre Eltern nicht… zu Zombies geworden.
Als die beiden jedoch sie sahen, erstarrten sie in ihrer Bewegung. Ihre trüben Augen wurden riesig, die Münder öffneten und schlossen sich wieder, ohne dass ein Laut ihre Kehle verließ.
Eine halbe Ewigkeit war die Zeit wie angehalten, keiner rührte sich oder sagte etwas. Dann, nach dutzenden Minuten, breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht ihrer Mutter aus. Marianns Augen begannen zu tränen, dann fing sie hemmungslos an zu schluchzen.
„Robin! Meine Robin!“
Und dann fiel sie Robin um den Hals – und hielt sie nach so langer Zeit endlich einmal wieder in den Armen.

Sie saßen stundenlang in der Küche und redeten, Robin tischte schweren Herzens ihren Eltern die Lüge auf, und James und Mariann begannen nach so langer Zeit wieder zu reden. Robin würde den Blick nie vergessen können, wie sie sie ansahen, als sie ihnen sagte dass sie freiwillig gegangen war, aber die Wahrheit kam nicht wirklich in Frage.
Sie würde lügen, wenn sie sagen würde dass sie sich wohl fühlte und ihre Eltern nicht vermisst hatte, aber es war so. Sie fühlte sich unwohl und sie hatte ihre Eltern vermisst, aber James war immer noch so kalt und beherrscht, und er würde auch nie wieder der Alte werden.
Außerdem erschöpfte es Robin, eine Lüge nach der anderen zu erfinden und für jede Frage eine Antwort zu finden.
Nach drei Stunden fielen Robin die Augen langsam zu und hastig verabschiedete sich nach oben, in ihre altes Zimmer.
Tatsächlich sah es immer noch genauso aus wie vor 4 Jahren, das Bett war noch nicht gemacht, ihre T-Shirts lagen am Boden verstreut, als wäre sie nie weg gewesen.
Es brach Robin das Herz, zu sehen, dass ihre Eltern nicht einmal das über sich gebracht hatten.
Obwohl ihr Tränen in den Augen brannten, zwang sie sich zur Ruhe.
Erst räumte sie das Zimmer sorgfältig auf und befreite es von dem zentimeterdicken Staubschichten, erst als sie fertig erlaubte sie sich auf die weiche Matratze zu sinken und zu genießen, endlich wieder zu Hause zu sein.


„Ich denke, ich sollte nach Hause gehen, Lauren. Ich weiß, dass du morgen wieder deiner Mutter helfen musst und dazu musst du ausgeschlafen sein.“
Lauren sah zu ihm hoch und zwang sich zu einem Lächeln. Sie wollte nicht, dass er jetzt ging, aber er hatte Recht. Sie sollte wirklich schlafen.
„Na gut, geh, aber wir sehen uns morgen wieder, oder?“ fragte sie.
Nun lächelte Torren sein unwiderstehliches Lächeln und nahm sie fest in seine Arme.
„Natürlich sehen wir uns morgen.
Gott, ich wüsste ja nicht, was ich ohne dich täte,“
Damit gab sich Lauren erst einmal zufrieden. Wenn er sagte, dass er wiederkommen würde, dann tat er das auch.
Lauren wollte ihn nicht loslassen, aber sie musste es. Es fiel ihr schwer den Schritt zurück zu machen, aber irgendwie gelang es ihr doch.
„Ich wünschte, du würdest nicht gehen.
Ich will dich in dem Zustand nicht alleine lassen, ich meine, dir geht es so schlecht. Aber ich kann dich ja nicht zwingen zu bleiben.“ Den letzten Satz sagte sie so leise, dass er sie kaum verstand, aber das, was sie sagte, berührte sein Herz auf eine Art, die ihn erschreckte. Das sollte es nicht tun, tat es aber.
„Das kann ich doch nicht. Wenn deine Mutter mich hier findet wird sie mich lynchen!“ meinte er bedauernd. Er sah Lauren nachdenklich an. Sie war sehr zart und klein für eine Wölfin. Und wie sie so da stand, im Mondschein und mit nichts als einem dünnen Nachthemd bekleidet, wirkte sie unglaublich zerbrechlich.
„Das würde sie wohl tun.
Dann komm ich eben mit dir,“
Laurens Stimme klang unsicher, so als habe sie Angst, dass er sie zurückweisen und vielleicht sogar anschreien würde. Das tat ihre Mutter ja auch mit ihr, wenn sie etwas Falsches sagte oder tat.
Das machte Torren wütend, und dass sie Angst hatte, er könnte dasselbe tun. Er würde sie nie anschreien und sie auch nie rüde zu Recht oder gar abweisen.
„Du hast hier ein Bett und du wirst Ärger bekommen, wenn du einfach mit mir gehst. Aber ich möchte nicht allein sein. Das ist egoistisch von mir, aber wenn du willst, kannst du mit mir kommen.“
Torren wusste, dass Lauren gehofft hatte, dass er das sagte. Sie hatte Angst, dass er nicht wollte, dass sie mitkam.
Er wusste, dass er nicht von ihr verlangen konnte ihr Haus zu verlassen für ihn, aber er wollte wirklich nicht allein sein und irgendwie hatte er das Gefühl, dass es ihr genauso ging.
Sofort erhellte sich ihr Gesicht und ein Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Dann werde ich es tun.“
Torren erwiderte ihr Lächeln und öffnete leise die Tür.
„Na dann los,“ meinte er und huschte den Gang entlang und die Treppen hinunter, leise und flink, damit die Wirtin ihn nicht hörte.
Torren wartete draußen auf Lauren und atmete erleichtert auf, als sie die Tür hinter sich schloss.
Sie hätten sich verwandeln können, doch das wäre viel zu umständlich gewesen, schließlich lag die Mühle ja auch nicht allzu weit entfernt von hier.
So rannten sie als Menschen über die verschneite Lichtung zum Waldrand und dann dort entlang, bis das alte Gebäude in Sicht kam.
Sie waren nur noch wenige Meter entfernt, als Torren bemerkte, dass das Licht in Robins altem Zimmer brannte. Und das in der Küche.
Vielleicht war Kenny zu Besuch… und auf die irrsinnige Idee gekommen und gerade jetzt Robins Zimmer auszuräumen.
Obwohl Torren nicht so recht an diese Erklärung glauben wollte, fiel ihm dennoch keine bessere Erklärung ein.
„Glaubst du, es stört jemanden, wenn ich mit dir ins Haus komme? Ich meine, ich kann auch jederzeit zurück gehen, wenn es ein Problem gibt,“ meinte Lauren leise dicht neben ihn, doch er winkte ab und schüttelte den Kopf.
„Mir ist egal was wer sagt. Ich will dass du mit rein kommst, also kannst du das auch. Du musst nicht zurück.“
Lauren lächelte schwach und ergriff die Hand, die Torren ihr hinstreckte. Sie fühlte sich warm an und gab ihr Kraft, denn ob sie es sich eingestehen wollte oder nicht, sie fürchtete sich davor, seiner Familie gegenüber zu treten. Was mochten sie von ihr halten? Würden sie sie an ihre Mutter verraten? Auf wessen Seite würde Torren im Notfall stehen?
Aber jetzt, wo er ihre Hand sanft drückte und sie hinter sich herzog, wobei er immer schützend vor ihr ging, wusste sie, dass er sie verteidigen würde, falls es nötig war.
Torren wusste nicht, wer es war der zu dieser Stunde noch wach sein sollte, aber irgendwie hatte er das Gefühl, dass es etwas bedeutete, dass etwas passiert war, aber ob erfreulich oder nicht vermochte er nicht zu sagen.
Dennoch atmete er tief durch, ehe er die Tür öffnete und mit Lauren das Haus betrat.
Im Winter war es für gewöhnlich ziemlich kalt, wenn Torren den Ofen nicht einheizte damit er und seine Eltern nicht eines Nachts erfroren.
Jetzt aber war es überraschend warm und er wusste mit absoluter Gewissheit, dass er kein Feuer gemacht hatte ehe er vor Stunden das Haus verlassen hatte. Und er hatte auch das Licht ausgemacht, alle Kerzen ausgeblasen und ganz bestimmt hatte er keine Suppe gekocht. Aber es roch nach Suppe, nach Mutters Gemüsesuppe, die sie früher immer gemacht hatte wenn einer von ihnen krank gewesen war.
Außerdem drangen Stimmen aus der Küche auf den Gang hinaus, eine davon war unmissverständlich weiblich und sie gehörte einer älteren Frau.
Aber das konnte doch unmöglich seine Mutter sein. Seine Mutter, die seit Jahren kein Wort mehr gesprochen hatte.
Torren zuckte zusammen, als Lauren die Tür hinter sich mit einem leisen Klack schloss. Sie sah ihn mit großen Augen an und er konnte die Verunsicherung in ihren Augen sehen. Er wusste auch, dass er daran zum Teil schuld war, sein Köper war angespannt und er zuckte bei dem kleinsten Geräusch zusammen.
Behutsam schlang er die Arme um Lauren und drückte sie sanft an sich um sie zu beruhigen. Der Körperkontakt und die Wärme halfen auch ihm sich wieder zu fassen.
Warum schaffte sie es als einzige, ihn wieder ruhig zu stimmen wenn er aufgebracht und wütend war? Warum gerade sie? Es dürfte niemanden geben, der dazu in der Lage war, dafür war er viel zu stur und explosiv und manche mochten es emozial nennen.
Torren sah auf ihren Kopf hinab, der an seiner Brust ruhte. Ihr Gesicht hatte sie an seiner Brust vergraben.
Mein Gott, sie war mit ihm hergekommen obwohl sie es nicht durfte, obwohl ihre Mutter ihr eine Strafe androhte, sollte sie das Haus abends noch verlassen. Sie hatte Angst, Angst dass seine Familie sie wegschicken, verpetzen oder nicht mögen könnte, und doch war sie hier, wegen ihm.
Es rührte ihn, dass sie das für ihn tat, etwas tief in ihm regte sich und bewirkte, dass er sie noch fester an sich presste, ehe er sie freigab und einen Schritt zurücktrat.
„Lass uns nachsehen, wer da noch wach ist,“ schlug Torren vor und ging den Gang entlang, jedoch auffallen langsam, so als zögere er es hinaus.
Doch Lauren sagte nichts, folgte ihm einfach.
Der Anblick, der sich Torren bot als er die Küche betrat, ließ ihn abrupt inne halten und die Augen vor Überraschung weit aufreißen.
Um den runden Küchentisch aus dunklem Fichtenholz saßen drei Leute. Kenny war einer von ihnen, aber das war nicht verwunderlich, nein, er war es sogar gewesen, mit dem Torren gerechnet hatte.
„Mom… Dad… was macht ihr hier?“ fragte er vollkommen verblüfft und vergaß dadurch alle Höflichkeit und sagte nicht einmal Hallo.
Dieses Bild… Seine Mutter und sein Vater lebendiger als in den letzten Jahren, saßen mit Kenn um den Tisch herum… bei einem Abendessen, dessen Duft die ganze Küche ausfüllte.
Nein, dieses Bild würde Torren nie vergessen können, denn es füllte ihn mit Wut und Hoffnung gepaart mit Freude gleichzeitig.
Er wusste nur nicht, welches dieser Gefühle die anderen dominierte.
„Torren, dich hatten wir gar nicht erwartet,“ Seine Mutter sprach.
Torren musste sich zusammen reißen um nicht wie ein dummer Junge mit offenem Mund da zu stehen und sich lächerlich zu machen. Stattdessen riss er sich zusammen und bannte alle Gefühle aus seiner Stimme, als er schließlich sprach. „Ich lebe hier. Ich schlafe und esse hier. Warum sollte ich nicht hier sein?“
Vielleicht klang es kalt, aber das war ihm in diesem Moment egal. Dafür hatte er jetzt einfach keinen Kopf.
Es fühlte sich ein wenig wie Verrat an, dass seine Eltern mit Kenny am Tisch saßen, während sie überrascht waren, ihn hier zu sehen. So, als wünschten sie ihn nicht hier.
„Ja, aber es ist doch schon so spät, du solltest doch schon im Bett sein.“ Wie sein Vater das so sagte… als sei er immer noch der 14 jährige Junge von damals.
„Ich bin 18. Ich müsste gar nicht mehr hier leben und als ich das letzte Mal die Nacht über weg war, hat euch das doch auch nicht interessiert,“
Seine Wut gemischt mit der Verwunderung ließen ihn gemein werden, aber er befand, dass sie das schon vertragen konnten, schließlich hatte er lange gelitten ohne Eltern. Davon abgesehen war es die schlichte Wahrheit. Wenn sie damit nicht leben konnten, war das nicht sein Problem.
Perplex und überrascht ruhten Marianns und James Blicke auf ihrem Sohn, der breitbeinig in der Tür und schützend vor Lauren stand.
Kenny schien als einziger die Sprache nicht verloren zu haben, und er versuchte auch gar nicht, seine Verärgerung zu verbergen.
„Was ist nur in dich gefahren? Das sind unsere Eltern, so kannst du nicht mit ihnen reden! Sei doch froh dass es ihnen gut geht?
Und weißt du, du hast ja noch nicht einmal gefragt, was der Grund dafür ist!“
Torren hielt dem harten Blick seines Bruders stand und wandte die Augen keine Sekunde ab. Nein, er hatte nicht gefragt und vielleicht war das wirklich keine schlechte Idee. Und ja, er sollte sich eigentlich freuen, aber das Gefühl ausgeschlossen zu sein, tat weh und ließ ihn innerlich unruhig werden.
So gewollt wie Robin und Kenny war er ohnehin nie gewesen. Warum sollte sich das nach so vielen Jahren auf einmal ändern?
Hier wurde ein Fest gefeiert. Schön. Nur leider war er nicht eingeladen, wie es aussah.
Konnte man ihm dann wirklich zum Vorwurf machen, dass er schnappig wurde?
Die Einzige in der Familie, die ihn je gut behandelt hatte, war weg und würde wahrscheinlich nicht wieder kommen.
Manche würden sagen, er habe ein eher gestörtes Verhältnis zu seiner Familie. Wer weiß, vielleicht stimmte das ja auch.
„Na gut, dann frag ich jetzt.
Warum sind Mom und Dad auf einmal aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht? Hat das Wetter umgeschlagen, oder war es weil ich nicht da war?“
Den letzten Teil des Satzes hätte er vielleicht nicht laut aussprechen sollen, aber er war heraus ehe er sich zurückhalten konnte.
Es war ein Fehler gewesen so viel von seinen Gefühlen preis zu geben, er wollte nicht vor diesen Leuten, die Schuld waren an seiner Existenz, schwach erscheinen und er wollte ihnen auch nicht sagen, dass sie versagt hatten, denn nichts desto trotz waren sie seine Eltern.
„Torren, das reicht! Hör auf so einen Blödsinn zu reden!
Du weißt ganz genau, dass das nicht der Grund ist!“
Kenny atmete einmal tief durch, wie es schien um sich zu beruhigen und sein Stimmvolumen wieder auf angemessene Lautstärke zu senken, ehe er fortfuhr und direkt die Bombe platzen ließ.
„Robin ist wieder da. Torren, sie ist zurück gekehrt.“


Irgendwie wollte es Robin nicht gelingen einzuschlafen. Immer wieder wälzte sie sich in ihrem Bett herum und kuschelte sich fester in die warme Decke, doch ihre Augen wollten nicht geschlossen bleiben.
Zu viel ging ihr in Gedanken herum, zu viel war geschehen.
Zum einen waren da ihre Eltern, die Zombies und lebenden Toten. Was hatte ihre Entführung nur mit ihnen gemacht? War letztendlich sie daran schuld, was aus ihnen geworden war in den letzten Jahren?
Nun, wäre sie nicht in den Wald gegangen, allein, bloß um die Natur zu genießen und ein wenig nach zu denken, wären sie immer noch die Alten und alles wäre gut.
Aber vielleicht wäre es trotzdem passiert, vielleicht hätte ER sie doch gefunden und sie sich geschnappt.
Das konnte Robin nicht mit Sicherheit sagen, aber letztendlich spielte es keine Rolle mehr. Es war geschehen und die Zeit zurückdrehen lag nun leider nicht in ihrer Macht, auch wenn es durchaus sehr praktisch wäre.
Es gäbe so viele Dinge, die sie ändern würde.
Und dann war da noch Jay, der ihre Gedanken heimsuchte und darin herumgeisterte. Immer wieder tauchten die Bilder vor ihrem geistigen Auge auf, wie er seine Arme um Ines gelegt hatte, wie er sie seine Verlobte nannte und die Hochzeit mit ihr plante.
Seufzend setzte Robin sich wieder auf. Nein, wo würde das nichts werden.
An Jay zu denken war bestimmt keine gute Idee, vor allem wenn sie einen ruhigen, traumlosen Schlaf benötigte und nicht an Erinnerungen festhielt, die eindeutig Vergangenheit waren.
„Oh mein Gott.
Robin,“
Torrens Stimme erschreckte Robin und sie wirbelte mit heftig pochendem Herzen herum.
Er war seit dem letzten Mal ordentlich gewachsen und nun ein ganzes Stück größer als sie. Seine Haare waren strubbelig, so als hätte er sich mehrmals mit den Händen durchgefahren.
Er sah gut aus, besser noch als Kenny. Er hatte ein hübsches Gesicht, aber das hatte er schon immer gehabt. Torren war erwachsen geworden, er war jetzt 18 Jahre alt, und sie hatte seine wichtigste Phase in seinem Leben verpasst.
Wie er sie ansah, mit riesigen Augen, in denen Unglauben und Schock standen und etwas, das sie nur als Vorwurf deuten konnte.
Eine Weile standen sie einander nur gegenüber, keiner rührte sich. Robin wollte Torren den ersten Schritt machen lassen, wusste sie doch, wie sehr sie ihn verletzt hatte mit ihrem Verschwinden.
„Wo warst du?“ Torren stellte die Frage mit beherrschter Stimme, aber Robin kannte ihn gut genug um zu wissen, wie verletzt er war.
„Nicht dort, wo ich hätte sein sollen.“
„Was du nicht sagst.“
Erneutes Schweigen breitete sich aus und Robin trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Äußerlich und auch innerlich mochte Torren gewachsen sein, aber das änderte nichts daran, dass er immer noch jemanden brauchte, der für ihn da war, der ihm zuhörte und mit ihm lachte.
Früher war das immer sie gewesen.
„Es tut mir leid. Ich hätte für dich da sein sollen, gerade in dieser schwierigen Zeit, genannt Pubertät.“
Torren lachte höhnisch auf. „Ja, das hättest du.
Robin, ich hätte dich gebraucht! Ich habe dich vermisst, du hast mir nicht einmal lebe wohl gesagt, bist einfach abgehauen! Dann war ich allein und einsam! Mom und Dad waren Zombies, die kein Wort mit mir geredet haben und Kenny, Kenny hatte genug mit sich selbst zu tun! Ich war allein, ich war so lange allein und keiner war für mich da, und alles nur weil du nicht da warst! Weil du gegangen bist und mich allein gelassen hast!“
Tränen traten in Robins Augen, jetzt wo sie das Ausmaß ihres Verschwindens völlig erfasst hatte und sehen musste, wie sehr ihr kleiner Bruder gelitten hatte und wie sehr sie ihn enttäuscht hatte. Torren war allein gewesen, dabei hätte er vielleicht Rat gebraucht.
Wut auf ihre Eltern und auf Kenny stieg langsam in ihr hoch. Ja, sie war verschwunden, und ja, das musste hart für die drei gewesen sein, aber das bedeutete nicht, dass sie unter der Trauer und der Sorge Torren einfach vergessen konnten!
Bei Gott, Torren war doch ihr Sohn und Bruder! Er gehörte doch auch zur Familie? Warum hatten sie das nicht gesehen?
„Oh Gott Torren, es tut mir so leid. So unendlich leid.
Ich wollte dich nicht im Stich lassen, du bist doch mein kleiner Bruder. Bitte glaube mir, wenn ich sage dass ich dich nicht allein lassen wollte!“
Die Tränen quollen über und rannen nun ihr Gesicht hinab, tropften auf ihr Nachthemd und auf ihre bloßen Füße.
Langsam ging sie auf Torren zu, der ihr zwar nicht entgegen kam, aber auch nicht zurückwich. „Warum, Robin? Warum?“
Auch Torren weinte, weinte um die letzten 4 Jahre, weinte aus Freude seine Schwester wieder zu sehen, weinte aus Enttäuschung.
Und dann schlossen sich Robins Arme um Torrens starken Körper und drückten ihn in eine feste Umarmung.
Früher hatte sie ihn oft gehalten, wenn es ihm schlecht ging oder wenn sie es war, die Trost brauchte. Er war jünger als sie, zwei Jahre, aber dennoch hatte er sich auch um sie gekümmert. Wenn sie Ärger mit Jay hatte, hatte sie es ihren Freundinnen erzählt, aber zuerst war sie immer zu Torren gegangen.
Später war es schwer zu sagen, wer von beiden sich als erstes wieder löste. Schniefend strich sich Robin die Tränen von ihrer Wange und lächelte zittrig.
„Du hast mir so gefehlt!“
„Ich habe dich auch vermisst, große Schwester.“
Torren räusperte sich und kratzte sich am rechten Arm, während sein Blick aus dem Fenster zu der kleinen Gestalt, die ein paar Meter vom Haus entfernt stand glitt.
„Es ist schön, dass du wieder da bist. Tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe, aber ich musste… was los werden.“
Robin schüttelte den Kopf und lächelte zittrig. „Ist schon gut, ich verstehe es ja. Und ich kann es dir nicht vorwerfen, denn du hattest recht. Ich hätte da sein müssen.“
Torren warf ihr einen Blick zu, der besagte dass sie in dem Punkt recht hatte, doch er erwähnte es mit keinem Wort. Stattdessen musterte er seine Schwester und Robin wusste, was er sehen würde. Eine dünne, zu dünne, Frau, deren Haar einst ins rötliche gegangen war und nun rein blond war, und deren Sommersprossen fast alle verschwunden waren.
Er war gewachsen und sie hatte sich auch verändert. Manche mochten vier Jahre eine Kleinigkeit nennen, für andere war es wie ein Jahrhundert.
„Ich muss jetzt gehen. Ich denke, ich werde morgen noch einmal vorbeikommen, dann können wir reden.
Es ist spät, schlaf du ein bisschen, denn nichts für ungut, aber du siehst einfach furchtbar aus.“
„Warum bleibst du nicht ein bisschen,“ schlug Robin vor. „Du kannst hier schlafen, und es stört mich nicht noch ein, zwei Stunden wach zu bleiben. Ich kann sowieso nicht einschlafen.“
Torren lächelte, das erste Mal seit er herausgefunden hatte, dass seine Schwester noch lebte, schüttelte aber verneinend den Kopf.
„Tut mir leid. Ich würde vielleicht sogar ja sagen, aber Lauren wartet draußen auf mich. Ich habe ihr versprochen, dass ich für sie da bin.“
Robin runzelte die Augenbrauen und sah Torren fragend an. Lauren, irgendwoher kannte sie diesen Namen, hatte ihn schon einmal gehört, aber sie war sich sicher, dass es nicht Torren gewesen war, der ihn erwähnt hatte.
Vielleicht war es ihr Vater gewesen, oder Jay, aber ganz bestimmt nicht Torren.
Torren schien ihren Blick zu bemerken, denn er erklärte ihr: „Lauren ist die Tochter der Wirtin und sie ist meine beste Freundin.“ Nach kurzem Zögern fügte er noch hinzu: „Sie ist die einzige, die für mich da war, die einzige, die Zeit für mich hatte und mich bemerkt hat. Die einzige, der ich wichtig war.“
Bei dem letzten Satz hatte Robin Mühe zu hören, was er gesagt hatte, aber es versetzte ihr einen Stich im Herzen, das ganze Leid herauszuhören.
„Das klingt ja, als wäre Lauren ein tolles Mädchen. Du musst sie mir einmal vorstellen und ich denke, dann muss ich ihr danken, dass sie sich um dich gekümmert hat.“
Stolz reckte Torren das Kinn. „Ja, sie ist toll. Du wirst sie mögen, ganz bestimmt.
Leider hält ihre Mutter mich für keinen guten Umgang für sie, deswegen müssen wir uns heimlich treffen. Das ist blöd, denn sie ist meine beste Freundin. Ich tue ihr ja nichts und will ganz bestimmt nicht, dass ihr etwas passiert. Ich bin 18, ich kann auf sie aufpassen.“
Robin musste lachen, angesichts seines trotzigen Tonfalls. Ja, so war er schon immer gewesen, unglaublich stolz und trotzig, wenn es sein musste. Er konnte sich schnell aufregen, beruhigte sich aber dementsprechend rasch auch wieder. Und sein Beschützerinstinkt war legendär. Wie ein wild gewordener Pitbull verteidigte er, was ihm gehörte oder was er mochte.
Als er noch klein war, hatte ein Junge den Ball seines Freundes nehmen wollen, und dem Kleinen dabei aufs Gesicht geschlagen. Da war Torren sofort aufgesprungen und hatte den anderen Jungen vertrieben und seinen Freund so vor noch mehr Prügel beschützt.
Er würde es vielleicht nicht zugeben, aber sein Kern war so weich wie Butter.
„Ich weiß, dass du das kannst.
Ihre Mutter ist also die Wirtin? Eine sehr… ungewöhnliche Frau. Stur, ein wenig exzentrisch und ich denke, ihr ist egal was richtig oder falsch ist, solange es nach ihrem Kopf geht. Ich erinnere mich an sie, wenn auch ein wenig wage. Viel hatte ich ja nie mit ihr zu tun,“ meinte Robin nachdenklich.
„Du hast sie ziemlich gut beschrieben. Sie mag mich nicht und sie mag nicht, dass ich ihre Tochter mag und mit ihr herumhänge. Na ja, sie versucht Lauren zu kontrollieren und ihr Befehle und Verbote zu erteilen, aber sie ist auch fast erwachsen. Sie kann selbst entscheiden, aber irgendwie will ihre Mutter das nicht sehen.
Wie auch immer, ich freue mich, dass du wieder da bist, und dass du noch lebst, ehrlich, und ich wiederhole mich wenn ich sage, dass ich gerne bleiben würde, aber Lauren wartet unten auf mich und es ist kalt und dunkel.
Wir sehen uns, vielleicht sogar morgen schon,“
Robin nickte und umarmte Torren noch einmal, bevor er wie ein Verrückter die Treppen hinunterstürmte und in die Nacht hinausrannte, als wäre der Teufel hinter ihm her.
Er sagte, sie wäre seine beste Freundin. Nun, das mochte ja stimmen, und vielleicht war es am Anfang auch nur das gewesen, aber Robin hatte es an seiner Stimme erkannt, und an dem Leuchten seiner Augen, sowie an der Weise, wie er sie herumwirbelte dort unten im Schnee zeigten. Er war in sie verliebt, vielleicht sogar mehr als das. Er würde es noch früh genug erkennen, wenn er es noch nicht wusste.
Robin befand, dass ihr Bruder sich gut gemacht hatte in den letzten vier Jahren und dass er auch bei seinem Mädchen eine tolle Wahl getroffen hatte, auch wenn er das noch nicht wusste.
Kopfschüttelnd wandte sich Robin von dem Fenster ab und ließ den Blick noch einmal durch den Raum, ihr Zimmer, wandern.
Es war das Zimmer eines Teenagers, eines jungen Mädchens, das nicht viel von der Welt kannte und leichtgläubig, vielleicht sogar ein wenig naiv gewesen war. Sie erinnerte sich, dass auf dem Fensterbrett immer frische Blumen gestanden hatten und das Bild von Jay und ihr stand immer noch in seinem silbernen Rahmen auf dem Nachttisch neben dem schmalen Bett.
Früher war es der perfekte Raum für sie gewesen, doch jetzt nicht mehr. Diese Unschuld von damals, hatte sie am Tag ihrer Entführung verloren. Die Folter, die Gefangenschaft. Sie hatte dem Bösen ins Auge geblickt und es hätte sie beinahe getötet.
Seufzend setzte sie sich auf ihr Bett und nahm den Bilderrahmen in die Hand.
Es zeigte sie und Jay im Wald, vor einer besonders dicken Tanne, deren Äste ungewöhnlich verknotet waren. Früher waren sie oft dort gewesen, um zu lachen oder einfach nur um zu reden. Jay hatte seinen Arm um sie gelegt, sein Gesicht zeigte ein entspanntes Lächeln, das sie immer so anziehend gefunden hatte. In das sie sich verliebt hatte.
Seine Haare waren ein wenig länger als sie jetzt waren und er hatte mehr Muskeln angebaut. Sie selbst hatte sich auch verändert, mehr als sie geahnt hatte.
Früher war sie schlank gewesen, aber jetzt war sie dünn. Sie war ein wenig gewachsen, aber nicht allzu viel, vielleicht ein paar Zentimeter.
Ihre Haare hatten früher diesen orangen Stich gehabt und ihr Gesicht diese unzähligen Sommersprossen.
Jetzt waren ihre Haare rein und strahlend blond und ihr Gesicht frei von jeglicher Sommersprosse.
Ein Wunder, dass Ja sie überhaupt erkannt hatte und ihre Eltern und Kenny, denn sie hätte das ganz bestimmt nicht getan.
Traurig legte Robin den Rahmen mit dem Bild nach unten wieder hin. Sie wollte jetzt nicht an ihre Vergangenheit denken und ganz bestimmt wollte sie nicht an ihre gemeinsame Zeit mit Ja denken, den Mann, den sie immer schon für ihre große Liebe gehalten hatte. Sie wäre auch bereit, mit ihm abzuschließen, schließlich war sie jetzt erwachsen und sah die Dinge ganz realistisch.
Doch das würde wohl nicht so einfach werden, denn selbst 4 Jahre der Trennung hatten nichts daran geändert, dass Robin ihn noch immer liebte. Sie konnte sich einreden, dass es anders sei, aber das wäre umsonst. Sie würde sich nur selbst etwas vor machen, und dazu hatte sie weder die Kraft noch das Verlangen.
Er liebte sie nicht mehr, würde bald Ines zur Frau nehmen und mit ihr eine Familie gründen. Damit musste sie leben, ihre Gefühle mussten hinten anstehen.

Torren wusste genau, wohin er mit Lauren gehen würde, wenn sie denn noch Lust hatte heute zu schlafen. Er kannte den Weg gut, schließlich hatte er hier mit Robin früher öfter gespielt als er zählen konnte.
Der Zielort war eine alte Scheune, irgendwo im Wald, fünf Minuten von dem eigentlich Dorf und den restlichen Waldhäusern entfernt. Soweit Torren wusste, war sie vor 50 Jahren erbaut worden um darin Stroh und Heu zu lagern für die Rinder, die der alte Mirko gezüchtet hatte. Es war seine Scheune gewesen, aber nach seinem Tod hatte sie keiner mehr gebraucht, man hatte die Rinder geschlachtet und im Wirtshaus zum Verzehr angeboten. Die meisten Leute hier jagten ihre Beute lieber selbst, oder kauften sie Im Wirtshaus oder bei Margret, der Verbindungsfrau zu anderen Dörfern im Nebelwald. Sie war so etwas wie die Botschafterin des Dorfes und war für Tauschgeschäfte verantwortlich.
Torren wusste nicht viel darüber, es interessierte ihn einfach nicht, aber er vermutete, dass das Schaf und Ziegenfleisch, das seine Eltern die letzten 4 Jahre gegessen hatten, das er aus dem Wirtshaus besorgt hatte, aus einem dieser Dörfer stammte. Es musste wohl Leute geben, die Tiere züchteten. Vermutlich bekamen sie dafür einen Haufen Geld und das Ganze war es wert.
Heute wussten nur noch wenige Leute von dieser Scheune, sie war zu weit außerhalb für die kleinen Kinder und die alten Frauen und Männer und die, die hier jagten oder laufen gingen, war sie zu verwuchert und uninteressant.
Tatsächlich war sie von Weitem zwischen all den Bäumen und unter dem ganzen Efeu schwer zu erkennen. So war sie auch konstruiert worden, und gerade das gefiel Torren.
Keiner nutzte diese Scheune noch, keiner betrat sie, denn es gab hier in diesem Dorf nicht gerade viele Leute, die auf Abenteuer oder ein kleines Versteckspiel abfuhren.
„Ich wusste gar nicht, dass die noch existiert. Ich meine, meine Mutter hat mir einmal davon erzählt, aber abgesehen davon…“ meinte Lauren überrascht, als Torren die Tür aufstieß und sie in das dunkle Innere führte.
Der angenehme Geruch nach Heu und Stroh schlug ihnen entgegen und es war überraschend warm und trocken.
„Hier findet uns keiner, das ist sozusagen mein geheimer Ort. Wenn du willst, bleiben wir über Nacht hier.
Ich kann dich auch zurück bringen, wenn es das ist, was du willst.“
„Nein, es gefällt mir hier.
Ich denke, ich bleibe. Aber nur, wenn du das auch tust.“
„Worauf du dich verlassen kannst.“


Kapitel 8

Am nächsten Morgen als Robin erwachte, wusste sie nicht mehr wann sie eigentlich eingeschlafen war, aber es war definitiv noch vor der Morgendämmerung gewesen. Ihr erster Gedanke war, dass es schön war wieder zu Hause zu sein, der zweite, dass das Zimmer, so wie es jetzt aussah, nicht bleiben konnte.
Eigentlich hätte sie sowieso lieber ein eigenes Haus, aber das würde noch warten müssen, zumindest eine Weile.
Bis dahin würde sie ihr Zimmer völlig neu gestalten, denn das hier war die alte Robin, nicht die neue, die aus ihrer eigenen Asche emporgestiegen und dem Teufel persönlich entkommen war. Dieser Raum erdrückte sie förmlich. Nein, das alte Zeug musste raus, und zwar am besten so schnell wie möglich.
Robin beschloss mit dem Kleiderschrank anzufangen. Die Anziehsachen entsprachen nicht mehr ihrem Stil, davon abgesehen würden sie ihr alle gar nicht mehr passen. Die Hosen würden ihr zu weit und zu kurz sein, dasselbe galt für T-Shirts, Pullis und Kleider. Außerdem wollte sie einen Neuanfang, und die Mode von damals war alles andere als neu.
Später würde sie zum Schneider oder in die kleine Boutique im Dorfkern, falls diese denn noch existierte, und sich dort dann neue Sachen holen. Es wurde ohnehin Zeit, dass die Bevölkerung von ihrer Rückkehr erfuhr, auch wenn Robin das lieber noch eine Weile herausgezögert hätte. Es würden viele unangenehme Fragen auf sie zukommen, und das ganze Dorf würde dann ihre Lügen glauben und sie als eine dumme Schlampe sehen, die alle, die sie liebten, verlassen hatte. Das war Verrat, würden sie sagen, und hinter ihrem Rücken würde geredet werden, aber damit würde sie wohl leben müssen.
Nachdem sie den Schrank ausgeräumt hatte, machte sie sich daran die Deko abzunehmen und andere Dinge, die sie fand und ihr gefielen, aufzustellen. Sie verrückte die Möbel, bis sie in einer Konstellation waren, die ihr sowohl gefiel, als auch praktisch und vorteilhaft erschien.
Es dauerte den halben Tag, bis sie halbwegs zufrieden war. Ihre Eltern kamen ab und an einmal bei ihr vorbei und brachten ihr etwas zu trinken oder essen vorbei, nahmen im Hinuntergehen auch einige Dinge mit, die entsorgt werden sollten.
Einmal kam Kenny vorbei und half ihr beim Verrücken des Bettes. Er fragte nicht, warum sie das tat, genauso wenig wie ihre Eltern, und dafür war sie ihnen dankbar, denn sie wüsste nicht, was sie ihnen hätte antworten sollen.
Es musste Mittag sein, als ihre Mutter die Treppen erneut hochkam und sich auf das Bett sinken ließ. Zuerst ignorierte Robin sie, dachte, sie würde gleich wieder gehen, doch als sie keine Anstalten machte dies zu tun, unterbrach sie sich in ihrer Arbeit und blickte die ältere Frau fragend an.
„Kann ich dir helfen?“
Mariann sah zu ihrer Tochter auf, als wäre sie gerade aus Gedanken gerissen worden. „Ja, ich denke das kannst du.
Nach der Szene von gestern Abend habe ich über Torren nachgedacht. Er ist schon sehr erwachsen geworden, das gebe ich zu, und vielleicht haben wir einiges verpasst. Aber er war heute Abend nicht zu Hause und ich dachte mir, ob du nicht weißt, wo er stecken könnte.“
Ihre Eltern kamen ja reichlich früh darauf, dass er nicht da war und sie eine Menge verpasst hatten. Robin hätte es anders ausgedrückt, wie zum Beispiel im Stich lassen. Aber das sagte sie ihrer Mutter nicht, denn sie fürchtete, sie könnte immer noch labil sein.
„Ich weiß nicht genau, wo er ist, aber mir hat er mitgeteilt, dass er diese Nacht auswärts verbringen würde. Ich sage dir nichts genaueres, ich verrate ihn nicht. Er ist 18, also volljährig. Du hättest dir vor drei Jahren um ihn Sorgen machen müssen, nicht erst jetzt, wo es schon zu spät ist.“
Vielleicht hätte sie das nicht sagen sollen, vielleicht brachte sie ihre Mutter damit auf, aber sie konnte sich nicht zurückhalten. Sie hatte gesehen, wie traurig und allein Torren gewesen war, und ihre Eltern waren in Trauer um sie nachlässig geworden und hatten ihn dabei vergessen.
Schuldgefühle halfen ihr jetzt auch nicht weiter, und dennoch hatte Robin genau die.
„Na.. gut.
Aber ich will, dass er heute Abend mit uns isst. Ich habe extra Suppe vorbereitet.“ meinte Mariann, aber Robin spürte, dass sie mit ihrer Antwort nicht ganz zufrieden war. Als ob es sie interessierte! Was auch immer in ihre Eltern gefahren sein mochte, jetzt so zu tun als wäre alles gut und nichts sei passiert war ausgeschlossen. Torren würde es nicht vergessen und es machte sie wütend, dass ihre Eltern das nicht einmal sahen.
„Das ist schön, aber ich weiß nicht, ob er kommen oder bleiben wird. Er hat jetzt ein eigenes Leben, denn ob du es einsehen willst oder nicht, Mom, die letzten 4 Jahre sind passiert. Er war noch ein Kind, ein Teenager und jetzt ist er erwachsen. Es freut mich, wenn ihr so leicht vergessen könnt, aber Torren kann es nicht.
Lasst ihm Zeit, aber ihn zu etwas zwingen bringt dir rein gar nichts.“
Schweigen folgte auf Robins harte, aber ehrliche Worte. Sie wandte sich wieder ihrer Arbeit zu um ihrer Mutter etwas Zeit zu geben, die sie eventuell benötigte.
Es wurde Zeit, dass sich jemand endlich einmal um Torren kümmerte und sich für ihn einsetzte, und sie war fest entschlossen, dass sie dieser jemand sein würde.
Die Vorhänge hatten eine schreckliche Farbe, sie würde sich Neue besorgen, mitsamt Bettwäsche, die zu dem Rest ihres neuen Zimmers passte.
Vielleicht wäre ein kleiner Teppich neben dem Bett noch ganz gut und ein oder zwei Bilder oder Fotos an der kahlen weißen Wand gegenüber.
Während Robin überlegte, was sie noch alles ändern und verbessern konnte, kam erneut jemand die Treppen hoch.
„Kind, du hast Besuch,“ meinte James, der durch die offene Tür lugte und sich mit einer faltigen Hand am Rahmen festhielt.
„Besuch? Wer ist es denn?“ fragte sie überrascht. Mit Besuch hatte sie eigentlich nicht gerechnet, allerdings konnte es ja gut sein, dass Kenny schon herumerzählt hatte, dass sie wieder da war. Vielleicht war es ein neugieriger Bürger, der sich vergewissern wollte, dass das Gerücht stimmte. Möglicherweise wollte er auch nur der erste sein, der berichten konnte die 20- jährige Robin gesehen zu haben.
„Es ist Jay, Liebes,“
Jay? Robin bemerkte verärgert, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Es war 4 Jahre her, sie waren 4 Jahre her, er sollte keine solche Wirkung mehr auf sie haben. Dass er es doch tat, machte sie über alle Maße wütend.
Dennoch konnte sie nicht umhin festzustellen, dass sie sich über sein überraschendes Kommen freute. Sicherlich würde er ihr wieder einen Haufen Vorwürfe machen und sie anschreien, warum sie ihn verlassen hatte.
„Hallo, Robin,“
Jays Stimme ließ sie zusammenzucken. Er stand neben James in der Tür und lächelte zaghaft. Sein Gesicht war unglaublich schön, seine Augen blitzten und wanderten aufmerksam im Zimmer umher.
„Du renovierst es. Wurde langsam auch einmal Zeit. Es gefällt mir.“
„Ja, mir gefällt es auch. Obwohl ich noch nicht fertig bin, es gehört noch einiges angeschafft, aber das erledige ich später.
Mom, würden du und Dad uns alleine lassen, bitte?“
Nur zögernd erhob sich Mariann und stieg mit ihrem Ehemann die Treppen hinunter.
„Weswegen bist du hier?“ fragte sie, als sie endlich alleine und die Türe hinter Jay ins Schloss gefallen war.
Es war unglaublich schwer, in einem Raum mit Jay zu sein und nicht fast dem Drang erliegen ihn zu berühren. Sie verschränkte die Hände miteinander und trat einige Schritte nach hinten, um noch mehr Abstand zwischen ihnen entstehen zu lassen.
„Ich wollte sehen, wie es dir geht und ob du dir mit dem Essen schon leichter tust.
Haben deine Eltern bemerkt, wie dünn du bist?“
Sie schüttelte verneinend den Kopf und krallte sich am Fensterbrett fest. „Nein, haben sie nicht. Und Kenny auch nicht, aber das ist gut so. Ich meine, es würde sie nur aufregen, und das können sie jetzt nicht gebrauchen.“
Jay gab einen abfälligen Laut von sich. „Sie sind deine Eltern, sie sollten es bemerken!“
Seine Worte rührten sie, doch sie konnte die Sache nicht so im Raum stehen lassen, auch wenn sie ihm innerlich recht geben musste.
„Vielleicht. Aber die letzten Jahre waren trostlos für sie, sie sehen nur das, was sie sehen wollen. Dass ich erwachsen bin und sie Torren vernachlässigt haben sehen sie einfach nicht, es ist so, als wäre das alles nicht passiert.
Vielleicht liegt es am Alter oder einfach an dem, was ich ihnen angetan habe, aber sie sind blind für alles, was unschön ist.“
Darauf erwiderte er nichts. Stattdessen wandte er den Blick von ihr ab und ging auf das Bett zu, auf dem er sich seufzend niederließ.
„Du hast vielen Leuten sehr weh getan, Robin, aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.
Ich habe heute Morgen Torren gesehen,“ fuhr er fort und wechselte dabei geflissentlich das Thema. „Er und Lauren sind zusammen durch den Wald gestreift. Er sah glücklicher aus, als ich ihn seit langem gesehen habe.“
„Das ist er auch, denke ich.
Ich meine, ich bin zurück, er hat Lauren, die er liebt, auch wenn er das noch nicht weiß. Dass seine Eltern ihn im Stich gelassen haben, lastet dennoch schwer auf ihm, dafür musste ich nicht einmal lange mit ihm reden,“
Ohne zu bemerken, was sie das eigentlich tat, setzte sie sich neben Jay, nur Zentimeter von seinem starken Körper entfernt.
Wie gern würde sie in seine Arme sinken und sich von ihm halten lassen, wie gerne würde sie an seiner Schulter weinen und ihm erzählen, was wirklich passiert war! Aber sie konnte nicht. Er war verlobt, die Gefühle die er einst für sie gehabt hatte mussten längst verblasst sein. Sein Leben verlief in ruhigen Bahnen, da brauchte er keine Exfreundin, die emotional derartig verkrüppelt war, dass sie es kaum ertrug auf die Toilette zu gehen, weil der Raum so klein und fensterlos war. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie sich eingestehen dass sie das Zimmer nur aus einem Grund umräumte: Um sich abzulenken. Sie wollte nicht nachdenken, wollte nicht in Erinnerungen versinken, die auftauchen würden, sobald sie Gelegenheit dazu hatten.
Sie wagte es außerdem kaum sich in den Spiegel zu sehen, fürchtete sich vor dem Skelett, das sie dort zu sehen bekam.
Nein, so jemanden wie sie konnte Jay nicht gebrauchen, deswegen würde sie nicht heulen und nicht daran denken, wie gerne sie seine Arme um ihren Köper spüren würde.
„Ich habe einige Male versucht mit ihm zu reden und hab ihn zum Essen eingeladen, wenn er wieder einmal allein draußen herumgestreunt ist, aber er war zu stolz um das Angebot anzunehmen,“
Sie schmunzelte ob seiner Worte. „Ja, Torrens Stolz ist etwas, das ihm sehr wichtig ist und was man definitiv nicht unterschätzen sollte.
Er hat es immer gehasst Schwäche zu zeigen, und wenn er es tat, dann nur mir gegenüber.“
Robin räusperte sich. „Wie geht es Ines?“
Jay fuhr sich mit seiner Hand durch sein Haar und blickte sie aufmerksam an. „Sie plant gerade ihren Jungesellinenabschiedsabend. Sie ist furchtbar aufgeregt, das kannst du mir glauben. Es ist schwer sie zu beruhigen. Vielleicht kannst du ihr helfen bei den Vorbereitungen und einmal bei ihr vorbeischauen,“
Wie könnte sie ihm je eine Bitte ausschlagen? Auch wenn es um Ines ging, es war ihm scheinbar wichtig, und selbst wenn sie die Kraft gehabt hätte, nein zu sagen, wusste sie, dass sie es nicht getan hätte.
Ihre Augen trafen sich. Minutenlang starrten sie einander nur an, zumindest kam es ihr so vor. Für eine Sekunde hatte sie das Gefühl, er könne ihr tief in die Seele schauen, doch es ging ebenso schnell vorbei wie es gekommen war.
Es war schließlich Jay, der den Blick als erstes abwandte und sich erhob.
Mit großen Schritten ging er zum Fenster und starrte hinaus in die verschneite Landschaft.
„Ich werde Ines besuchen, aber ich weiß nicht, ob ich es heute noch schaffe.“
„Danke.“
Als eine längere Pause folgte, knetete sie ihre Hände und strich sich mehrmals eine Strähne hinter ihr Ohr. Angespannt wartete sie, dass er etwas sagen würde, dass er sich zu ihr umdrehte, doch er tat es fünf geschlagene Minuten nicht.
Krampfhaft versuchte sie sich etwas einfallen zu lassen, womit sie dieses Schweigen brechen konnte, doch ihr Hirn war wie leer gefegt, sie konnte nichts tun außer seinen Rücken anzustarren, mit den breiten Schultern, den schmalen Hüften und den Muskeln, die sich unter seinem Shirt abzeichneten.
Seine Arme waren lang und kräftig, wie gemacht um eine Frau zu halten. Ungertechtfertigte Eifersucht kochte in ihr hoch, als sie sich vorstellte, wie Jay seine Arme um Ines legte, sein Kinn an ihrem Kopf rieb und Küsse auf ihr Gesicht hauchte.
Gleichsam fühlte sie sich schuldig und schlecht, weil sie so etwas überhaupt dachte. Sie hatte kein Anrecht mehr auf Jay, also durfte sie auch nicht eifersüchtig sein.
Es tat weh das einzugestehen, aber Jay gehörte jetzt Ines, er würde sie heiraten, mit ihr Kinder bekommen.
„Hat es einen Mann in deinem Leben gegeben?“
Robin lachte humorlos auf. „Warum willst du das wissen? Ist dein Stolz gekränkt? Wenn dem so ist, tut mir das leid.
Aber wenn du so versessen darauf bist, es zu wissen, dann sage ich es dir. Nein, es gab keinen. Ich war nicht verheiratet, bin es nicht und ich hatte noch nicht einmal einen festen Freund!“
Auch das war die Wahrheit, denn außer ihrem Entführer hatte sie keinen anderen Menschen gesehen, geschweige denn kennen lernen können.
Robin hoffte, dass sie nicht zu viel verraten hatte, aber was machte es schon, wenn er wusste dass er bisher ihr einziger Freund gewesen war?
Für ihn mochte das nichts bedeuten, doch ihr tat es das sehr wohl.
Jay wandte sich langsam wieder zu ihr um und lehnte sich mit seinen Hüften an das schmale Fensterbrett. Robin spürte, dass er sie eingehend musterte und wusste, dass er die Kränkung und Wut in ihrer Stimme nicht überhört hatte.
Das nächste Mal musste sie besser aufpassen, wie sie etwas sagte. Sie wollte sich ihm nicht derart Preis geben, wollte nicht, dass er erfuhr wie einsam sie sich fühlte und sie verletzt und wütend sie war.
Er würde es als Anstoß nehmen sie noch mehr zu verachten, wenn er erfuhr wie eifersüchtig sie auf Ines war. Schließlich hatte sie ihr Recht dazu vor 4 Jahren aufgegeben.
„Tja, das überrascht mich. Ich meine, du bist ganz nett anzuschauen und wenn ich ehrlich bin, hatte ich erwartet dass du dein Leben unter den Menschen genießt und auskostest.“
Robin wusste nicht genau warum, aber irgendwie verletzte sein Kommentar sie. Dachte er ernsthaft, er hatte ihr so wenig bedeutet, dass sie das Dorf und somit ihre Heimat verließ, nur um andere Männer, Menschen, zu treffen und Spaß mit ihnen zu haben?
So eine war sie nie gewesen, und auch wenn die Gefangenschaft viel mit ihr gemacht hatte, das hatte sich bestimmt nicht geändert, denn sosehr sie es auch versuchte, sie schaffte es nicht, nicht an Jay zu denken. Sie dachte an keinen anderen Mann, das hatte sie noch nie getan.
„Warum bist du hier, Jay? Um mich das zu fragen? Um mir das zu sagen?
Ja, ich hatte keinen Freund, keinen Mann und auch sonst nichts. Bist du zufrieden?“
Schnaubend stand Robin auf. Auf einmal kam ihr der Raum viel zu klein vor und sie brauchte dringend frische Luft und einen Sprint, oder sogar zwei. Sie sollte allein sein, denn sie konnte Jay nicht ansehen, denn wenn sie ihm in die Augen sehen würde, würde er erkennen, wie weh es tat, dass er so mit ihr redete und eine so niedrige Meinung von ihr hatte.
„Geh einfach, Jay.“ meinte sie, kraftlos und auf einmal müde. „Bitte.“
Ohne ein Wort zu sagen richtete er sich auf und stieß sich vom Fensterbrett an. Robin hielt ihr Gesicht abgewandt, sodass sie nicht sehen konnte, ob Jay sie noch eines Blickes würdigte, oder ob er direkt das Zimmer verließ und die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.
Wahrscheinlich lachte er sich jetzt kaputt über sie, dachte, sie sei eine dumme Kuh, weil sie die letzten Jahre allein verbracht hatte, oder aber er hielt sie für eine Lügnerin und glaubte ihr kein Wort.
So oder so, es verletzte Robin, dass er überrascht war, dass er so wenig Vertrauen in die hatte. Er kannte sie doch! Er musste doch wissen, dass sie ihm nie wehtun würde!
Und doch hatte er es geglaubt. Geglaubt, dass sie ihn verlassen hatte.
Was sagte das aus?
Seufzend ließ Robin sich auf das Bett sinken und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Heiße Tränen brannten in ihren Augen, doch sie wollte jetzt nicht weinen. Sie hatte vor langer Zeit damit aufgehört, als klar geworden war, dass sie IHM nicht entkommen konnte. Die Tränen waren versiegt und getrocknet. Jetzt kamen sie ihr wieder hoch, doch nicht aus Angst oder Schmerz. Zumindest keinem körperlichen Schmerz.
Kopfschüttelnd wischte Robin sich die Tränen aus dem Gesicht. Nein, nicht wegen Jay. Es war aus, er würde heiraten und wenn sie ehrlich und objektiv war, musste sie sich eingestehen, dass die beiden ein schönes Paar waren. Sie passten gut zusammen, und Ines schien unglaublich glücklich zu sein, und das war Jay zu verdanken.
Nein, sie konnte und durfte sich den beiden nicht in den Weg stellen. Das Beste war, wenn sie jetzt wieder anfing zu leben und ihre Beziehung mit Jay der Vergangenheit abschrieb. Es war vorbei, sie war wieder hier, jetzt war es an der Zeit nach vorne zu sehen.
Sie musste ihr Leben wieder in die Hand nehmen. Sie würde Ines bei den Vorbereitungen helfen und ihr eine gute Freundin sein, sie würde zu der kleinen Boutique von Amber gehen und sich dort neue Kleidung besorgen oder sie von der jungen Frau schneidern lassen, sie würde Jeffrey besuchen, mit seiner kleinen Bibliothek, in der er schon seit seinem 15. Lebensjahr Bücher sammelte, die auf irgendeinem Weg ins Dorf gelangten, durch Reisende oder Besucher anderer Dörfer oder gar von kurzen Ausflügen zu den Menschen.
Sie würde ins Wirtshaus gehen und etwas trinken und sie würde mit ihren alten Freunden reden und sich neue suchen. Und vielleicht fand sie sogar jemanden, mit dem sie eine Beziehung aufbauen konnte, jemanden, den sie lieben konnte, wie sie Jay liebte und geliebt hatte.
Mit neu gewonnener Zuversicht erhob Robin sich und marschierte durch die Tür die Treppen hinab ins Freie.
Unterwegs riss sie sich eine alte, teilweise schon löchrige Lederjacke vom Hacken und streifte sie sich über, denn selbst für Gestaltwandlerwölfe waren der Winter und der Schnee kalt, wenn sie nicht gerade in Tiergestalt waren.
Draußen war es tatsächlich kälter als an dem Tag, an dem Robin nach Hause zurückgekehrt war. Vielleicht lag das auch an dem kalten, fast schon eisigen Wind, der ihr um die Ohren pfiff, aber das war schwer zu sagen.
Robin beschloss, dass das wichtigste, was sie momentan brauchte, neune Kleidung war, da ihr die alte nicht mehr passte und sie immer noch die von Ines trug. Deswegen machte sie sich entschlossen auf den Weg in die Dorfmitte, ins Zentrum, um Amber aufzusuchen.
Viele Leute waren nicht draußen, und die wenigen, die es waren, starrten sie überrascht und verwundert an, aber sie dürften mittlerweile schon wissen, dass Robin zurück gekommen war.
Der Hauptplatz hatte sie nicht ein bisschen verändert. Die Häuser aus dunklem Holz standen alle noch, und wie erwartet war auch kein neues dazugebaut worden. Die Schilder, die die jeweiligen Geschäfte kennzeichneten, waren ebenfalls noch die gleichen, was aber ebenfalls nicht weiter überraschend war.
Es kamen so gut wie nie neue Bewohner hierher, schon gar keine, die dann ein Geschäft eröffneten und selbst wenn, die wenigsten Bewohner waren bereit, ihres zu verkaufen oder herzugeben.
Ambers Schneiderei und Boutique stand direkt gegenüber vom Wirtshaus. Ein hölzernes Schild in blau und rot wiesen darauf hin.
Robin klopfte einmal an der Tür ehe sie sie öffnete und in den beheizten und wohlig warmen Raum hereintrat.
Es roch herrlich nach frischen Stoffen und neuer Kleidung, gemischt mit einem sanften Hauch von Kaminfeuer, was das ganze noch heimeliger und wohliger machte.
Es hatte sich nicht allzu viel verändert, abgesehen von der Mode und den Kleidern, die an Puppen, Kleiderhacken oder Regalen ausgestellt waren.
Ein Perlvorhang am anderen Ende des Raumes führte zu der Schneiderei, in der Amber ihre Arbeiten erledigte, denn jedes einzelne Teil hier, war ein Unikat, persönlich und einzigartig, denn alles, was hier zu kaufen war, hatte Amber selbst gemacht.
Es gab auch viele Leute, die spezielle Wünsche hatten und diese an Amber weitergaben, die ihnen dann genau das fertigte, was sie haben wollten.
Doch so spezifische Wünsche hatte Robin nicht, sie brauchte lediglich etwas, womit sie sich bekleiden konnte ohne aussehen zu müssen, als lebe sie auf der Straße.
Der Käuferbereich war leer, kein Kunden stöberten sich durch die Klamotten und Amber stand nicht hinter der Theke, was nur bedeuten konnte, dass sie hinten im Laden sein musste oder gerade an einem neuen Kleidungsstück arbeitete.
Sogleich kam Robin sich ziemlich dumm vor, weil sie bei einem öffentlichen Geschäft geklopft hatte, vor allem, weil er geöffnet hatte. Sie war froh, dass niemand sie gehört zu haben schien.
„Amber?“ rief sie und durchquerte den Raum, bis sie direkt an der Kassa stand, welche den Weg zum Perlenvorhang symbolisch versperrte.
Rumpeln drang aus dem Hinterraum, gefolgt von einem lauten Scheppern, fast so als wäre etwas Schweres, Großes umgestoßen worden.
Ein übler Fluch ertönte, kurz gefolgt von leichten Schritten und dem Klackern von hohen Schuhen. Der Perlvorhang wurde zur Seite geschoben und eine junge Frau trat hindurch in den Verkaufsbereich.
Sie hatte schwarzes Haar, oder zumindest wirkte es in dem gedämpften Licht der Boutique so, ihr Körper wirkte stämmig und kräftig, und sie war klein, doch in ihren Augen leuchtete ein Feuer, der bewies, das sie es in sich hatte.
Doch als sie bemerkte, wen sie da vor sich hatte, wurden ihre Augen groß und ihr Mund klappte auf, so als könnte sie nicht fassen, was sie da mit eigenen Augen sah.
„Oh Gott.“ hauchte sie. Kopfschüttelnd trat sie einen Schritt näher.
„Gott. Ich habe ja gehört, dass du wieder da bist, aber es mit eigenen Augen zu sehen, dich zu sehen… Großer Gott.“
Dann, so plötzlich und überraschend, dass Robin es erst bemerkte, als es schon zu spät war, hatte sich Amber ihr an den Hals geworfen und angefangen zu schreien. Freudenschreie, Jubelschreie und vergnügtes Gequietsche.
„Ich wusste du würdest zurückkommen, ich wusste es! Was auch immer dich aus dem Dorf vertrieben hat, du bist zurückgekehrt!“
Robin musste unwillkürlich lächeln, angesichts Ambers Freude über ihre Rückkehr. Sie war die erste und bislang einzige, die sich ihr an den Hals warf ohne ihr Vorwürfe zu machen oder Fragen zu stellen. Nicht einmal ihre Eltern hatten sie so schnell umarmt.
Tränen der Rührung traten Robin in die Augen. Es war richtig gewesen, hierher zu kommen. Amber war zwar vier Jahre älter als sie selbst, doch das hatte sie nie gestört. Sie waren früher gute Freundinnen gewesen und seit Amber die Boutique und die Schneiderei ihrer Mutter vor nun fast 6 Jahren übernommen hatte, hatte Robin sie jeden Tag nach der Schule besucht. Dann hatten sie sich unterhalten und gelacht.
Amber war noch sehr jung gewesen, als sie das Geschäft übernommen hatte, doch dieses ungeheuere Talent lag in der Familie, und nachdem ihre Mutter gestorben war, war ihr nichts anderes übrig geblieben als die Schneiderei selber weiter zu führen.
„Es ist auch schön, dich wieder zu sehen.
Weißt du, ich habe dich vermisst, Amber,“
Das hatte die tatsächlich. In ihrer Gefangenschaft hatte Robin an Jay gedacht, an Torren, an ihre ganze Familie, aber auch die Erinnerungen an Ambers Lachen und ihre netten Worte, wenn es ihr einmal schlecht gegangen war, hatten ihr geholfen.
Die Schwarzhaarige schob Robin eine Armeslänge von sich und betrachtete sie eingehend.
„Ich habe dich auch vermisst, Mädchen.
Ich konnte nicht glauben, dass du einfach so gegangen bist, ich meine, ohne ein Wort des Abschieds oder so, weißt du?
Du hast Jay geliebt, du hast deine Familie geliebt, du hättest sie nie verlassen.“
Amber war die Erste, die das zu ihr sagte, die sagte, dass sie nicht glaubte, dass sie einfach so gegangen war.
„Komm, setzen wir uns,“
Amber führte Robin in den hinteren Bereich des Ladens, wo ein schmaler, runder Tisch mit zwei ungleichen Stühlen stand und drückte Robin auf einen von ihnen.
„Möchtest du etwas trinken? Wasser? Kaffee?“
„Wasser, bitte,“
Zwei Minuten später saßen sich die beiden Frauen gegenüber, Robin nippte an ihrem Glas und sah Amber an, die ihren Blick langsam über ihre Freundin gleiten ließ.
„Rück raus mit der Sprache, wo warst du?“
Robin öffnete den Mund, um automatisch ihre Geschichte zu erzählen, schloss ihn jedoch wieder, als Amber eine abwehrende Handbewegung machte und sie unterbrach, bevor sie überhaupt anfangen konnte.
„Ich weiß dass du mir eine Lüge erzählen willst – nämlich das, was du allen erzählst. Du wärst irgendwo in der Menschenwelt gewesen und hättest Freiraum gebraucht und bla bla bla. Ich bin dir deswegen nicht böse, aber das, was du erzählst, ist eine Lüge und bleibt eine Lüge, egal wie vielen Leuten du sie erzählst.
Du wirst deine Gründe haben und die Leute werden dir glauben, aber ich tue das nicht.
Ich sehe dich an und vor mir sitzt ein spindeldürres Mädchen, bei dem man selbst durch die Kleidung fast die Knochen sieht.
Ich nehme einmal nicht an, dass du erst seit gestern wieder hier bist, also hast du wohl bereits zwei, drei Kilo zugelegt, bevor du nach Hause marschiert bist, was bedeutet du warst noch dünner als du es jetzt bist.
Du kannst mir nicht erzählen, dass du einfach nichts zum Essen gefunden hast. Wärst du freiwillig weggegangen, wärst du nicht derart abgemagert.
Die Dorfbewohner erzählen sich eine Menge. Du hättest einen anderen Gestaltwandler kennen gelernt und seist mit ihm gegangen, du wolltest lieber als Mensch leben, in einer Großstadt, du wolltest Karriere machen oder dir war es hier zu langweilig. Es gibt viele Gerüchte und Vermutungen, ich aber glaube, dass du deine Heimat nicht freiwillig verlassen hast.“
Robin starrte Amber an. Schweigen breitete sich aus, in dem sich die beiden unentwegt ansahen. Amber war die erste und einzige, die wusste, dass es nicht freiwillig war, ohne dass Robin ihr die Sache erklärt hatte. Kenny hatte ihr erst geglaubt, als sie es ihm erzählt hatte und Amber ahnte es schon, bevor sie überhaupt irgendetwas zu dem Thema gesagt hatte.
Sie hatte nicht auf die Gerüchte gehört sondern sich selbst etwas zusammengereimt, das nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt war.
Seufzend rieb Robin sich über das Gesicht und kapitulierte. Amber würde wohl erst Ruhe geben, wenn sie die Geschichte hörte.
Und zum zweiten Mal seit sie wieder zu Hause war, erzählte sie, was ihr zugestoßen war, in allen Einzelheiten und schonungslos. Robin brauchte kein Mitleid, aber Amber sollte nicht glauben, sie enthalte ihr etwas vor oder wolle sie schonen, denn ihren Bruder hatte sie nicht alles ins Detail erzählt und es tat gut, es diesmal tun zu können.
Amber hörte aufmerksam zu und unterbrach sie kein einziges Mal. Ihre Augen wurden immer größer, bis sich darin blankes Entsetzen zeigte, sodass Robin sich abwenden musste um fort zu fahren.
Als sie fertig war und verstummte, legte Amber sanft ihre Hand über die Robins. „Es tut mir so leid, so schrecklich leid.
Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie es für dich sein muss, damit zu leben. Es ist ein Wunder, dass du hier bist.
Aber, sag mir, warum erzählst du es Jay nicht? Jeder weiß wie sehr du ihn geliebt hast, also warum verschweigst du es ihm?“
Robin seufzte und schloss die Augen. „Ich liebe ihn immer noch, aber er ist jetzt mit Ines zusammen. Es ist leichter für mich, wenn er mich hasst, als wenn er mein Freund sein will oder mich gar bemitleidet. Das würde ich nicht überstehen.“
„Bist du dir denn sicher, dass du das so überstehst? Du liebst ihn und auch wenn du dir einredest, es wäre besser, wenn er es nicht weiß, wird es dich früher oder später kaputt machen, dass er dir mit solcher Abneigung begegnet.
Glaub mir, die Situation ist schwer und aus deiner Sicht mag sie aussichtslos sein, aber überleg einmal, ob es wirklich so am besten für dich ist.
Robin sah Amber in die Augen und musste sich wohl oder übel eingestehen, dass sie recht hatte. ja, es würde sie kaputt machen, ihr Herz zerreiße, langsam aber unaufhaltsam. Doch es war unabwendbar.
„Vielleicht hast du recht, aber wenn ich es Jay erzähle, wenn ich ihm alles sage, wird er wütend werden, so unglaublich wütend. Auf mich, weil ich es so lange verschwiegen habe, auf sich, weil er keinen Glauben in mich gehabt hat und auf meinen Entführer.
Ich kenne ihn mein Leben lang, die Wut würde ihn zerfressen, er würde Jagd auf den Kerl machen wollen, der mir das angetan hat.
Also, ja, vielleicht macht es mich kaputt, aber lieber lass ich das über mich ergehen, als zuzulassen, dass er zugrunde geht.“
Darauf erwiderte Amber nichts, doch das brauchte sie auch nicht. Robin wusste auch so, dass Amber Mitleid für sie empfand und in ihren Augen konnte sie Traurigkeit erkennen.
„Dieser Mistkerl hat dein Leben ruiniert, warum bleibst du so ruhig? Wie kannst du so ruhig sein? Ich meine, er hat dir 4 Jahre deines Lebens gestohlen, aber ich denke, das könntest du verkraften.
Er hat dir etwas viel wichtigeres genommen, nämlich Jay.
Er war so wütend und bestürzt, als du weg warst, hat sich verkrochen. Wir alle waren überrascht und ein wenig schockiert darüber, dass er etwas mit Ines angefangen hat.
Ich kann es immer noch nicht verstehen. Er hat dich so geliebt.“
„Aber jetzt hasst er mich.
Sein wird doch einmal ehrlich, ich bin kaputt, so jemanden wie mich kann Jay nicht in seinem Leben brauchen.
Ines ist viel besser für ihn.“
Amber zuckte mit den Schultern und erhob sich aus ihren Stuhl.
„Mag sein, dass sie besser für ihn ist, aber das heißt nicht, dass sie diejenige ist, mit der Jay zusammen sein soll.
Ich kann nicht verstehen, warum er sie heiratet.“
Robin rang sich ein Lächeln ab, obwohl ihr eigentlich gar nicht danach zu Mute war. An Jay und Ines zu denken, trugen nicht unbedingt zu ihrer guten Laune bei, aber andererseits war sie dadurch von ihrer Gefangennahme und all den seelischen Wunden, die sie hatte, ablenken zu können, so musste sie nicht ständig daran denken.
Auch wenn dies genauso weh tat.
„Ines ist perfekt, Amber.“
Diese schnaubte abfällig und meinte mürrisch: „Zu perfekt, Kleines. Zu perfekt.“
„Mag sein.“
„Nein, das ist so.
Sie sieht toll aus, also, ich meine, sie ist wirklich sehr hübsch, fast schon schön. Toller Körper, schöne Augen und ihre Haare sind der Wahnsinn. Sie ist die ideale Hausfrau, kümmert sich rührend um einen und ist nett und liebevoll. Sie hat keinerlei Fehler, ich meine, das ist so langweilig!
Jay mag sich sicher bei ihr fühlen, wahrscheinlich, weil er eben glaubt, dass du ihn verlassen hast und eine Frau wie Ines das nie tun würde.
Würde sie wahrscheinlich auch nicht, aber das gehört jetzt nicht hierher.“
„Na gut, vielleicht hast du recht. So, wie du sie beschreibst klingt sie wirklich langweilig und unaufregend und soweit ich mich erinnere war sie alles andere als spontan, aber sie war meine Freundin. Außerdem ist sie nicht ganz perfekt, sie ist eifersüchtig auf mich.“
Amber lachte und warf sich das Haar schwungvoll zurück.
„Natürlich ist sie das. Sie weiß, dass du und Jay etwas Besonderes gehabt habt, an das sie niemals das Wasser reichen können wird.
Jay hat sie gewählt, weil sie sicher ist, weil sie ihn nie verlassen würde und ihm nicht gefährlich werden kann. Ich bezweifle, dass sie in der Lage wäre ihn ernsthaft zu verletzen, nicht so wie du.“
Robin schüttelte den Kopf. Daran wollte sie jetzt nicht denken, denn ganz egal was früher war, jetzt liebte Jay sie nicht mehr. Es konnte sein, dass er anfangs in Ines Sicherheit gesehen hatte, aber mittlerweile liebte er sie, denn andernfalls würde er sie nicht heiraten, so einer war er nicht, das würde er sich und Ines niemals antun.
„Wie sind wir zu diesem Thema gekommen?“ fragte sie, wollte nicht länger darüber reden.
Amber zuckte ruhig mit den Schultern. „Weiß ich nicht mehr, ist auch egal.
Du bist hier wegen Kleidung, nehme ich an, und ich werde dir ein paar passende Teile heraussuchen.
Zuerst allerdings,“ Sie schritt zur Tür, die zu ihrem Arbeitszimmer, ihrem heiligen Reich, führte. „Muss ich dir etwas geben, das ich extra für dich angefertigt habe, als ich hörte, dass du wieder da bist.
Warte hier, ich bin gleich wieder da,“ fügte sie mit einem schelmischen Lächeln hinzu.
Kaum drei Minuten später erschien sie wieder, mit einem wunderschönen dunkelblauen Satinkleid in den Händen.
„Das hier ist eine meiner gelungensten Anfertigungen seit langem. Ich habe die besten Stoffe darin verarbeitet, es wird dir gefallen.“
Robin starrte ihre Freundin mit großen Augen an und schüttelte vage den Kopf. „Warum?“
„Du bist meine Freundin und es soll ein Willkommensgeschenk sein.
Nimm es einfach an.“
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Wie wäre es mit Danke?“ fragte Amber schelmisch lächelnd.
„Danke. Ich… danke dir vom ganzen Herzen. Es ist so lange her, seit ich etwas bekommen habe, vor allem etwas, das so toll ist.“
„Ach, das ist doch keine Ursache,“ winkte Amber ab. Eine leichte verlegene Röte schlich sich in ihre Wangen. „Na komm, lass uns dir noch ein paar andere Sachen heraussuchen, etwas, das alltagstauglich ist, wäre für den Anfang nicht schlecht,“

Eine Stunde später verließ Robin die Schneiderei, mit drei riesigen Taschen, welche vollgefüllt waren mit Hosen, T- Shirts, Pullovern, Westen und anderem Zeug, das sie tragen konnte.
Robin fühlte sich so gut, wie lange nicht mehr. Sie hatte beinahe schon vergessen, wie es sich anfühlte einzukaufen und mit einer Freundin zu reden. Es war einfach so lange her.
Der Wind blies nun heftiger und war um einige Grad kälter geworden. Es war gut möglich, dass es bald wieder anfangen würde zu schneien, aber bis dahin waren wohl noch ein paar Stunden Zeit.
Robin überlegte, ob sie im Wirtshaus vorbeigehen und etwas essen sollte, entschied sich dann aber lieber Kenny und seine Freundin, Larise, zu besuchen. Es überraschte sie nicht, dass die beiden noch immer ein Paar waren, sie waren schließlich schon früher unzertrennlich gewesen. Bevor die beiden zusammen gekommen waren, waren sie beste Freunde gewesen, aber dies war nun schon sehr lange her. So lange, dass Robin sich kaum noch an die Zeit erinnern konnte, sie war noch recht klein gewesen.
Während sie durch das Dorf ging und die Leute, die ihr über den Weg liefen grüßte und kurze Gespräche mit ihnen führte, wanderten ihre Gedanken immer wieder zu Jay.
Sie hatte ihn sich oft als erwachsenen Mann vorgestellt, aber ihre Erwartungen waren übertroffen worden.
Er schien glücklich zu sein mit Ines, und auch sonst schien es ihm gut zu gehen. Er hatte Janis, seine kleine Schwester, mit keinem Wort erwähnt, aber wenn sie genau darüber nachdachte, war das auch nicht sonderlich verwunderlich.
Sie hatten oft gemeinsam auf sie aufgepasst oder mit ihr im Wald gespielt. Viele gemeinsame Erinnerungen verbanden sie mit der Kleinen und Jay war immer dabei gewesen.
Vermutlich wollte er nicht, dass sie wieder von früher zu reden anfing, es musste ja auch so schon schwer genug für ihn sein.
Seine Ex war wieder aufgetaucht und auch für Ines war das sicher keine leichte Situation. Unter anderen Umständen hätte Robin vielleicht eine Lösung gefunden. So aber musste sie dem glücklichen Paar auf die Nerven fallen.
Jay, ihr Jay, war weg. Er war für sie unerreichbar und sie würde nie wieder mit ihm zusammen durch den Wald laufen, denn offensichtlich war er nicht einmal mehr an einer Freundschaft mit ihr interessiert.
Sie hatte ihn verloren.
Robin schüttelte den Kopf und konzentrierte sich darauf, nicht auf dem Schnee auszurutschen und die schweren Taschen nicht fallen zu lassen.
Kenny und Larise lebten ebenfalls etwas außerhalb, ein paar Meter vom Waldrand entfernt, in einem kleinen, gemütlichen Bungalow, aus dessen Schornstein weißer Rauch aufstieg.
Tatsächlich war ein Feuer und etwas Warmes zu essen jetzt genau das, was sie brauchte. Und die Gesellschaft ihres Bruders würde sie vielleicht auf andere Gedanken bringen als Jay. Sie musste lernen, nicht mehr über den Mann nachzudenken und ihn sich für immer aus dem Kopf zu schlagen.
Leichter gesagt als getan, aber sie musste es versuchen, ernsthaft versuchen, wenn sie glücklich werden wollte.

Robin musste nicht lange warten, bis Larise die Tür zu ihrem Haus öffnete. Die junge Frau hatte lange schwarze Haare, die sie jedoch zu einem Knoten gebunden hatte. Ihre Wangen leuchteten rosa und gesund, genauso, wie sie sie in Erinnerung hatte.
„Robin, schön dich zu sehen! Kenny hat mir erzählt, dass du wieder da bist. Komm rein!“
Robin musste unwillkürlich lächeln. Larise war früher auch immer ruhig und nett gewesen, zurückhaltend auch. Sie hatte damals schon gut zu Kenny gepasst und Robin hatte immer gewusst, dass die beiden einmal heiraten würden.
Im Haus war es warm und es roch einfach fantastisch nach Essen. Robins Magen knurrte, bevor sie es verhindern konnte und Larise hörte es wohl, denn sie meinte: „Ich habe gerade etwas gekocht. Ich richte dir auch eine Portion her, wenn du willst.“
„Da sag ich nicht nein.“
Larise nickte und führte ihren Gast in die gut geheizte Stube. Feuer prasselte in einem kleinen Kamin und leise Musik drang aus einem kleinen Radio, der auf der Theke stand. Weihnachtsmusik, doch keine menschliche. Sie war von Gestaltwandlern komponiert und umgesetzt worden. Angeblich waren die Vögel die besten Musiker, aber auch die Raubkatzen hatten einige gute Gitarristen.
Robin kannte ein oder zwei bekannte Sänger, die zum Volk der Wölfe gehörten, aber keiner kam aus diesem Dorf.
„Wo ist Kenny?“
Larise drückte ihre Schwägerin auf einen der Stühle und bedeutete ihr es sich bequem zu machen, während sie sich an den Herd stellte und heiße Suppe hineingoss.
„Er ist draußen im Wald und holt etwas Holz. Er müsste aber gleich wieder da sein.“
Robin nickte. Sie hatte Zeit, konnte auf ihren großen Bruder warten.
Larise stellte die randvolle Schüssel auf den Tisch und ließ sich ebenfalls an den Tisch sinken, Robin gegenüber.
„Kenny hat mir erzählt, was mit dir passiert ist. Es tut mir leid.“
Natürlich hatte er es seiner Frau erzählt, aber seine Frau war Gott sei Dank Larise, und die war noch nie eine Plaudertasche gewesen.
Deswegen konnte sie ihr Mitgefühl annehmen und es tat gut, dass sie eine Person, die sie mochte, weniger anlügen musste.
„Mir geht es gut. Ich will, wenn ich ehrlich bin, nicht mehr darüber reden.“
Larise akzeptierte Robins Wunsch schweigend.
Stille breitete sich aus, aber sie war nicht unangenehm.
Die Suppe schmeckte köstlich und Robin war stolz auf sich, dass sie es schaffte die ganze Schüssel zu leeren.
„Darf ich dir etwas sagen?“
„Klar,“ meinte Robin schulterzuckend. „Warum nicht?“
„Du bist sehr dünn, schon fast krankhaft dünn. Hat das keiner bemerkt?“
Robin seufzte und lehnte sich im Stuhl zurück. „Klar, Jay und Ines. Aber die haben mich gefunden und aufgepäppelt, denen hätte es gar nicht entgehen können. Was sie davon halten, weiß ich nicht, ich habe auch keine Ahnung, was sie denken, wie es dazu kommen konnte.
Meine Eltern… nein, die haben es nicht bemerkt. Vielleicht wollten sie es auch nicht. Die Zeit muss schwer für sie gewesen sein, sie haben sogar Torren vernachlässigt.“
„Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich mich um ihn gekümmert!“
Robin konnte an ihrer Stimme hören, wie schuldig sich Larise fühlte, und sie wusste, dass ihre Schwägerin sich wirklich Torrens angenommen hätte, aber…
„Du hast es ja nicht wissen können. Er hat es ja keinem gesagt, zumindest nicht dir und Kenny. Er hätte zu euch kommen können, aber das hat er nicht getan. Mach dir keine Vorwürfe.“
Larise nickte, aber Robin konnte sehen, dass es nicht so einfach für sie war. Sie konnte ihr die Schuldgefühle nicht nehmen, aber mit der Zeit würde sie einsehen, dass sie keine Schuld trug.
„Torren geht es ja gut. Er ist ein harter Junge.“
Robin hoffte, dass Larise verstand, dass sie nichts falsch gemacht hatte.
Gerade als sie etwas erwidern wollte, kam Kenny in die Küche gestapft.
Seine Haare standen wild zu Berge und sein hellblaues Hemd war nass, so als hätte es gerade im Schnee gelegen.
„Robin!“ rief er überrascht aus, als er seine jüngere Schwester erblickte.
„Na großer Bruder, hast du dich ein bisschen im Schnee gewälzt?“
Sie konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen, als Kenny an sich hinunterblickte und bemerkte, was sie meinte.
Seine Wangen röteten sich, doch sonst ließ er sich nichts anmerken.
Gelassen setzte er sich neben seine Ehefrau, einen Arm um die Lehne ihres Stuhls gelegt.
„Was machst du hier, Schwesterchen?“
„Ich wollte nur einmal vorbeischauen. Ich war bei Amber, sie hat mir Kleider gegeben und ich wollte euch besuchen.“
Kenny nickte und blickte hoffnungsvoll zu seiner Ehefrau. „Könntest du mir vielleicht auch etwas zu Essen bringen? Ich bin am verhungern.“
Larise lachte und stand auf. Liebevoll blickte sie ihrem Mann in die Augen und sagte: „Hast du es dir auch verdient?“
„Das Holz ist in der Kammer verstaut und im Wohnzimmer brennt bereits das Feuer.“
Zufrieden hantierte Larise am Ofen herum, derweil wandte sich Kenny wieder Robin zu.
„Ich musste es ihr erzählen. Zwischen uns soll es keine Geheimnisse geben.“
Robin lächelte verständnisvoll. „Ja, ich weiß. ist schon gut, Larise würde niemandem etwas sagen.“
Da war sie sich ganz sicher.
„Gut.
Also, wie geht es dir? Du hast etwas mehr Farbe im Gesicht und du warst schon zu Besuch bei deiner alten Freundin. Ist das ein Fortschritt?“
So ehrlich besorgt war Kenny wirklich süß. Er war immer der brave und besonnene von ihnen gewesen und immer hatte er sich um seine jüngeren Geschwister gesorgt. Das hatte Robin vermisst. Sie hatte ihn vermisst.
Robin nickte langsam. „Ich denke schon.
Mir geht es so gut, wie es mir gehen kann. Ich habe Amber alles erzählt und es hat gut getan.
Außerdem,“ sie lächelte ihren großen Bruder an, „habe ich dank deiner wunderbaren Frau sogar mehr gegessen als in den letzten 4 Jahren zusammen.“
Was eigentlich nur ein Scherz gewesen war, wurde ernst, als sie Kennys Gesichtsausdruck sah.
„Wenn ich den Dreckskerl in die Finger bekomme, der dir das angetan hat, wird er bereuen auch nur einen Fuß in unseren Wald gesetzt zu haben!“
Daran zweifelte Robin keine Sekunde. „Ich will nicht, dass du zum Mörder wirst. Das ist der Typ nicht wert.“
Kenny schnaubte nur, musste ihr aber insgeheim zustimmen und schwieg.
Larise kam mit dem Essen für ihren Mann zurück und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken.
„Heute Abend findet ein Fest statt. Es ist so eine Art Ball, du weißt schon. Der berühmte Nebelwald Winterball, du weißt schon.
Früher waren wir auch immer dort.
Möchtest du hingehen? Vielleicht tut es dir gut?“
Robin dachte über Larises Vorschlag ernsthaft nach. Ein Ball war eine gute Gelegenheit sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Sie würde allen zeigen, dass es ihr gut ging und dass sie wieder da war und dazugehörte.
Es war tatsächlich eine Überlegung wert. Und wenn Larise auch kam, vielleicht würde es ja lustig werden.
„Geht ihr beide hin?“
Larise nickte und bejahte Robins Frage. „Ich freue mich schon seit Wochen auf dieses Ereignis. Das einzige Mal im Jahr, an dem etwas stattfindet, etwas Gesellschaftliches. Du weißt, was ich meine. Ein gesellschaftliches Ereignis, eine öffentliche Party, sozusagen.“
Larise hatte recht. Es gab wenige solche Veranstaltungen hier im Dorf und die Partys waren fast alle privat, abgesehen von den wenigen Hochzeiten.
„Also gut – ich denke ich werde daran teilnehmen. Amber hat mir ein Kleid genäht, ich denke es ist genau richtig für so einen Anlass.
Wann findet er statt?“
„Am Ende der Woche. Wir holen dich gegen 7 von dir zu Hause ab. Sei fertig und stell die anderen alle in den Schatten.“

Die Woche verging recht ereignislos und Robin verließ das Haus täglich um durch den Wald zu streifen oder um Amber und Kenny zu besuchen.
Ihre Eltern ließen sie kaum aus den Augen, was unglaublich nervend war. Torren besuchte sie zweimal und erzählte ihr, dass er in jener Nacht mit Lauren im Stall geschlafen hatte. Sie hatten sich in dicke Mäntel gehüllt und eingekuschelt im Stroh geschlafen und sich unterhalten, bis ihnen die Augen zugefallen waren.
Am nächsten Morgen war Lauren wieder zurück nach Hause gegangen, hatte sich in ihr Zimmer geschlichen, damit ihre Mutter nichts mitbekam.
Seitdem hatte er sie nur zweimal wieder gesehen, da im Wirtshaus viel los war, wegen den Vorbereitungen für den Ball ging es in der Küche rund.
Was Torren die restliche Zeit tat, wusste sie nicht genau, und sie fragte auch nicht nach. Sie war nicht seine Mutter sondern seine Schwester und sie wusste, dass er keinen Unsinn anstellte, sie spürte es.
Nein, Torren brauchte seinen Freiraum. Und Robin würde ihm den auch lassen.
Am Tag des Balls war Robin in heller Aufregung. Es war schon mehr als 4 Jahre her, seit sie an so einem Event teilgenommen hatte und die meisten Leute, die dort waren, sie ansehen würden wie ein Tier im Zoo, eine Sehenswürdigkeit.
Robin schlüpfte in das Kleid, das Amber ihr gegeben hatte. Es war wirklich wunderschön und es saß wie angegossen.
Auch wenn sie etwas zu dünn war, immer noch, und man ihre Rippen sehen konnte, das Kleid war an der Brust geschnürt wie ein Korsett, und verbarg die Tatsache, wie abgemagert sie in Wahrheit war.
Ihre zu dünnen und knochigen Arme konnte sie nicht verbergen, aber das ging schon in Ordnung.
Sie Haare steckte sie sich selber hoch, das hatte sie früher auch immer getan und es war immer sie gewesen, die die Frisuren für Ines und Larise gemacht hatte.
Den schmuck von früher hatte sie immer noch in ihrer Schatulle liegen, und sie benutzte ihn auch.
Am Ende fand Robin das Resultat ganz annehmbar, sie sah wieder halbwegs menschlich aus und nicht mehr wie ein Schatten ihrer selbst.
Zufrieden mit sich ging sie hinunter in die Küche, wo ihre Mutter um den Tisch herum saß und ihren Tee schlürfte.
Mariann sah aus, als ihre Tochter den Raum betrat und schlug sich eine Hand vor den Mund. „Mein Mädchen. Du siehst wunderschön aus.
Aber bist du dir sicher, dass du das schaffst? Willst du wirklich dorthin gehen? Übernimmst du dich damit nicht. Mein Engel, du bist doch erst seit Kurzem wieder da.“
Robin seufzte genervt auf. Sie fühlte sich besser als seit Jahren und es war das erste Mal, dass sie sich wirklich auf etwas freute, und dann kam ihre Mutter.
„Mir geht es gut, wirklich. Ich will gehen und ich werde gehen.“
„Aber…“
„Kein Aber Mutter! Ich freue mich schon die ganze Woche auf diesen Ball und ich fühle mich gut. Ich bin kein kleines Kind mehr, das nicht weiß, was gut für einen ist, aber ich weiß es. Ich bin 20, und erwachsen und anstatt sich um mich zu kümmern, solltest du einmal mit Torren reden. Weißt du, wo er heute ist? Nein?
Das wundert mich nicht, denn es interessiert dich auch nicht. Es tut mir leid, aber es ist die Wahrheit. Er ist auch dein Kind, nicht nur ich, und er ist der Jüngste.“
Mariann sah ihre Tochter erschrocken an, die Augen geweitet und überrascht. Früher hatte Robin nie so mit ihr gesprochen und es war ihrer Kleinen immer wichtig gewesen, dass ihre Mutter ihr etwas erlaubte oder billigte.
Es war schwer, auf einmal eine selbstständige, erwachsene Tochter zu haben, die ihr Leben nun selbst bestimmte.
„Torren ist ein Junge, der schafft das schon allein!“
Robin schnaube aufgebracht, langsam, aber sicher machte Mariann sie wütend, wahnsinnig wütend.
„Und ich nicht? Ich bin gegangen, hast du das schon vergessen? Das habe ich auch alleine geschafft!
Wo ist Vater?“
Mariann starrte ihre Tochter einige lange Minuten schweigend an. „Er ist draußen, im Wald. Er brauchte ein bisschen frische Luft und er wollte die Grenzen abgehen.“
Robin nickte und erkannte, dass es sie freute, dass ihr Vater aktiv war und sich wieder nach draußen in den Wald begab, wo er früher Stunden verbracht hatte.
Als es an der Tür klopfte, wandte sich Robin von ihrer Mutter ab und murmelte: „Ich bin spät zurück,“
Larise und Kenny warteten draußen auf sie, und die Frau ihres älteren Bruders sah wunderschön aus. Sie trug ein Kleid in blassem Rosa und das Haar trug sie ebenfalls hochgesteckt, nur ein oder zwei einzelne Strähnen spielten um ihr Gesicht.
Auch Kenny sah gut aus in seinem dunkelblauen Anzug und der helleren Krawatte. Sein blondes Haar trug er zurückgekämmt und elegant aus dem Gesicht gestrichen.
„Du siehst bezaubernd aus heute Abend, kleine Schwester. Ich werde auf dich aufpassen müssen, nicht, dass mir jemand noch auf dumme Gedanken kommt.“
Kennys Lächeln war immer schon umwerfend gewesen, was auch der Grund dafür war, warum ihm in seiner Jugend die Frauen alle zu seinen Füßen gelegen hatten.
Wäre er nicht verheiratet gewesen, wäre Robin es gewesen, die auf ihren Bruder aufpassen musste.
„Lass uns gehen. Ich habe Lust zu tanzen.“
Lachend legte Kenny den einen Arm um Larises, den anderen um Robins Schultern. Gemeinsam schlenderten sie den Waldrand entlang, zu dem Stall von Timothy, der alte Mann stellte jeden Winter seine Scheune für den Ball zur Verfügung.
Die Musik konnte man schon von Weitem hören, es war gute Musik, von einer Band ganz aus der Nähe, aus einem benachbarten Dorf. Soweit sich Robin erinnern konnte, hieß sie Garou. Torren war ein großer Fan dieser Band gewesen und Robin musste zugeben, dass die Musik nicht schlecht war.
„Kommt unser kleiner Bruder heute auch?“ fragte Robin.
Kenny zuckte mit den Schultern und meinte lässig: „Ja, ich denke schon. Ist eine gute Gelegenheit seine Lauren zu sehen, ohne dass ihre Mutter ihnen dazwischen funkt.“
Kapitel 9

Die Scheune, die als Ballsaal fungierte, war beinahe voll. Es waren viele Leute da, sicher fast das ganze Dorf.
Robin entdeckte einige bekannte Gesichter und jeder begrüßte sie, sogar jene, die sie noch nie gesehen hatte oder an die sie sich nicht mehr erinnern konnte.
Robin hasste das Gefühl, dermaßen im Mittelpunkt zu stehen, alle starrten sie an und sie wusste, dass sie es nicht taten, weil sie so toll aussah.
Gott sei Dank sprach sie niemand darauf an, aber das Getuschel hinter ihrem Rücken war fast genauso schlimm.
Torren und Lauren tanzten auf dem Parkett und Robin bemerkte wieder einmal, was für ein schönes Paar die beiden nicht abgaben.
Christine war offenbar nicht hier, und ein Blick in die Menge bestätigte Robin ihre Vermutung. Sie hätte sie zugelassen, dass ihre einzige Tochter mit Torren tanzte.
Jay war auch da, er hielt Ines eng umschlungen, während sie sich im Takt wiegten.
Ines sah einfach umwerfend aus in ihrem orangen Kleid, das ihre Figur perfekt betonte. An der Seite war es bis zur Hälfte ihres Oberschenkels aufgeschlitzt und der Ausschnitt war herzförmig und gewagt tief, ohne jedoch nuttig zu wirken.
Neben ihr kam sich Robin vor wie ein hässliches Entlein.
Sehnsüchtig dachte sie daran, wie sie einst in Jays Armen getanzt hatte – es war das schönste Gefühl auf der Welt gewesen.
Kenny führte seine Ehefrau auf die Tanzfläche und wirbelte sie gekonnt herum. Sein scharmantestes Lächeln kam zum Einsatz, woraufhin einige weibliche Wölfe inne hielten und ihm einen Blick zuwarfen.
Robin wandte sich ab um an die Bar zu gehen und sich etwas zu trinken zu holen. Es gab Cola, Wein, Sekt und Cocktails.
Robin überlegte sich ein Wasser zu nehmen, aber was sie im Moment brauchte, war etwas Alkohol.
„Einen Crashed Sunrise, bitte!“
Crashed Sunrise war ein Cocktail, den die Gestaltwandlerwölfe vor einigen Jahren erfunden hatten. Mangosaft vermischt mit Wodka und Grenadinesirup und noch einigen Dingen, von denen sie aber nicht genau wusste, was sie waren.
Der Barkeeper reichte ihr das schlanke Cocktailglas und Robin wandte sich wieder der Tanzfläche zu. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, hierher zu gehen. Das verstärkte nur das Gefühl des Alleinseins. Robin wünschte, sie könnte neu anfangen, dass niemand hinter ihrem Rücken über sie redete oder die Gerüchteküche anheizte.
Sie könnte allen die Wahrheit sagen, aber das würde das Dorf aufwirbeln, weil jemand aus ihrer Mitte entführt wurde. Natürlich sollten sie wissen, dass es jemandem gelungen war, so nah ans Dorf zu kommen, doch andererseits würden dann einige den Mistkerl jagen wollen und das könnte ihre Entdeckung oder ihren Tod bedeuten.
„Darf ich dich um einen Tanz bitten?“
Robin sah auf und ihr Blick kreuzte den eines überaus gut aussehenden Mannes, ein oder zwei Jahre älter als sie.
„Mein Name ist Theo, ich weiß nicht, ob du dich noch an mich erinnern kannst.“
Robin musterte sein dunkelbraunes Haar und die grauen Augen. Es konnte sein, dass sie ihm das ein oder andere Mal begegnet war, das war sogar sehr wahrscheinlich. Aber dass sie je mit ihm gesprochen hätte, das wusste sie nicht mehr.
„Tut mir leid.
Aber ich würde sehr gerne mit dir tanzen.“
Theo war der erste Mensch an diesem Abend, abgesehen von ihrer Familie, der sie ansprach.
Er forderte sie sogar auf, mit ihm zu tanzen, was sehr schmeichelhaft war.
„Ich muss dich warnen, ich habe das schon lange nicht mehr gemacht, ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch tanzen kann.
Wenn ich also auf deine Füße steigen, tut mir das sehr leid.“
Theo winkte charmant lächelnd ab. „Ach, das macht doch nichts. Das nehme ich gern in Kauf, wenn ich dafür mit der schönsten Frau des Dorfes tanzen kann…“
Robin musste sein Lächeln einfach erwidern, seit sie wieder da war, hatte nie jemand so etwas süßes zu ihr gesagt und es tat gut, so etwas zu hören, auch wenn sie wusste dass es gelogen war.
Theo tanzte wirklich gut, er führte sie perfekt und er schaffte es, dass sie sich fühlte wie eine Prinzessin.
Doch sie merkte, dass sie noch längst nicht wieder fit und völlig erholt war, denn der eine Tanz erschöpfte sie vollkommen.
Theo führte sie an einen der Stehtische, wo sie vorhin ihren Cocktail abgestellt hatte. Ihr Atem ging schnell und schwer und Theo sah sie besorgt an. „Geht es dir gut? Bist du in Ordnung?“
Gerade als Robin ihm versichern wollte, dass alles okay war, als Jay sich vor Theo stellte.
„Was hast du mit ihr gemacht? Sie sieht aus, als hätte sie einen Marathon hinter sich und nich einfach nur einen einzelnen Tanz!“
„Jay, mir geht es gut…“
„Das tut es nicht! Offensichtlich bist du völlig fertig, und dieser Hurensohn ist schuld daran!
Wenn du ihr weh tust, muss ich dir die Eingeweide herausreißen! Das schwöre ich dir.
Und jetzt hau ab!“
Jay benahm sich so furchteinflößend, dass Theo sofort das Weite suchte und die beiden allein am Tisch zurück ließ.
Wutentbrannt und empört wirbelte Robin zu ihrem Ex herum und funkelte ihn böse an.
„Was fällt dir ein, er hat doch nur mit mir getanzt!“
„Ja, das habe ich gesehen,“ murmelte Jay trocken.
„Das hat Spaß gemacht und das war das erste Mal seit einer Ewigkeit! Wieso musstest du das ruinieren?
Du bist weder mein Bruder, noch mein Freund!“
Robin konnte fast sehen, dass Jay mit den Zähnen mahlte. Er schien nicht zu wissen, was er erwidern sollte, doch er rauchte förmlich vor Wut.
Seine Reaktion hatte Robin einen freudigen Schauder über den Rücken gejagt, für den sie sich schämte. Es war allerdings nicht weiter schwer, den Grund dafür zu ergründen. Ob er es zugeben wollte oder nicht, diese Aktion zeugte von Eifersucht und Robin wusste, dass sie innerlich deswegen keinen Jubeltanz aufführen sollte, aber es bekam ja keiner mit, also…
„Das mag stimmen, aber ich kenne dich schon mein Leben lang und du bist gerade erst zurückgekommen, da kannst du noch keinen solchen… Hund… gebrauchen, der dich verwirrt!“
Das klang absolut lächerlich und Jay wusste das auch. Seine Augen funkelten und er schien nicht recht zu wissen, was er nun machen sollte. Sie schütteln oder einfach stehen lassen.
„Ich bin hier um zu tanzen, Jay, und genau das werde ich auch tun.“
„Aber du bist erschöpft! Du bist noch nicht kräftig genug! Du hättest zu Hause bleiben sollen, und dich ausruhen!“
Jay fluchte unterdrückt und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Dann tanz ich eben mit dir.“
Robin starrte Jay verwundert an. Sie musste sich verhört haben, er konnte sie gerade nicht zum Tanz aufgefordert haben, oder doch? Er wollte sich doch von ihr fernhalten, oder etwa nicht? „Was ist mit Ines?“
Jay zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, sie tanzt mit ihrem Bruder oder so. Komm.“
Ohne ein weiteres Wort nahm er ihre Hand und führte sie auf die gefüllte Tanzfläche und wirbelte sie elegant herum.
Robin strahlte über das ganze Gesicht, als er sich mit ihr im Takt bewegte und mit ihr über die Tanzfläche wirbelte. Er war ein verdammt guter Tänzer und Robin konnte ein glückseliges Strahlen nicht unterdrücken, das ihre Augen leuchten ließ.
Das Kleid wehte ihr um die Beine und schmiegte sich eng an ihre Waden. Das erste Mal seit ihrer Flucht fühlte sie sich wieder schwerelos und beinahe glücklich. Sie konnte sich der Illusion hingeben, dass das alles niemals passiert war und dass sie an Ines Stelle mit Jay verlobt war.
Doch der Tanz endete viel zu bald wieder, als die Musik endete und eine andere Melodie ertönte. Robin hätte liebend gern noch eine Weile in Jays Armen verbracht, doch er führte sie zurück zu dem Stehtisch, wo sie ihr Glas abgestellt hatte. „Das reicht, Robin. Ich habe mit dir getanzt, jetzt kannst du den anderen dabei zusehen und dich mit den Leuten unterhalten. Ich will nicht, dass du dich völlig erschöpfst.
Torren ist irgendwo hier, ich habe ihn mit Lauren gesehen. Wenn du willst, hole ich ihn her.“
„Gott, Jay! Ich bin kein kleines Mädchen mehr! Torren ist mein kleiner Bruder, er ist nicht mein Aufpasser. Ich kann ihn auch selbst suchen gehen, wenn ich will, dafür brauche ich dich nicht. Außerdem kannst du genauso gut mit mir reden, da Ines offensichtlich gerade ohnehin beschäftigt ist, oder sehe ich das falsch?“
Jay seufzte und meinte: „Also gut, du hast recht. Es tut mir leid, dass ich dich bevormundet habe, aber ich habe dich vor wenigen Tagen halbtot gefunden und ich mache mir Sorgen.“
Er machte sich Sorgen? Robins Herzschlag beschleunigte sich. Das war dumm und sie wusste es. Viele Leute machten sich über jemanden Sorgen, das bedeutete gar nichts. Sie sollte nicht so viel hineininterpretieren.
„Wie hast du ihr den Antrag gemacht? Ines. Wie hast du sie gefragt?“
Robin fragte nicht nur, weil sie es wissen wollte, sondern auch, weil sie sich vor Augen führen wollte, dass Jay für sie verloren war und sie sich nicht in Illusionen verlieren durfte.
Er wirkte überrascht ob ihrer Frage, als hätte er nicht erwartet, dass sie so etwas fragen könnte. „Ähm… Wir waren ein halbes Jahr zusammen und gingen im Wald spazieren. Ich… ich hatte nichts vorbereitet und auch keinen Ring gekauft, denn eigentlich hatte ich es nicht geplant.
Aber als wir durch den Wald gingen, musste ich an dich denken und Ines bemerkte meine… Wut über dein Verschwinden. Sie sagte, dass sie es versteht und noch einiges andere und dann passierte es. Ich fragte sie, ob sie meine Frau werden wollte. Denn sie war da.“
Und du nicht hing unausgesprochen im Raum und Robin spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte. Ihr Entführer hatte nicht nur ihr Leben zerstört sondern auch das des Mannes, den sie mehr als alles andere liebte. Er hatte ihre Zukunft zerstört. In diesem Moment hasste sie den Mann mehr als je zuvor.
„Sie passt sehr gut zu dir. Und sie scheint dir gut zu tun. Ich war einmal mit ihr befreundet, du weißt schon, vorher.“
Jay nickte. „Ja, ich weiß. Sie tut mir gut und ich erinnere mich, dass ihr euch einmal gut verstanden habt. Warum könnt ihr nicht wieder Freundinnen werden? Du musst ja irgendwo wieder in dein altes Leben zurückfinden.“
Robin schnaubte. Sie würde bei Lebzeiten nicht mehr mit Ines befreundet sein. Sie hatte in ihren Augen gesehen, dass sie sterben konnte, wenn sie Jay zu nahe kam. Ihre Freundschaft war seiner Verlobten doch gar nichts mehr wert, alles was zählte war sie. Aber natürlich wusste er das nicht und er wollte es wohl auch gar nicht sehen.
„Ich habe Amber.“
„Ja, aber du kannst doch mehrere Freundinnen haben.“ „Ja, vielleicht.“
Jay zuliebe würde sie sich zusammenreißen und sich bemühen, mit Ines klar zu kommen. Er schien sie wirklich zu lieben und sich mit Ines anzulegen würde bedeuten dass auch Jay mit ihr brach und das könnte sie nicht ertragen.
Robin seufzte und nippte an ihrem Glas. Sie hatte geglaubt, wenn sie erst einmal wieder zu Hause war, würde alles leichter sein, und das war es auch, aber ihr Leben war nach wie vor kompliziert, wo sie es doch nur einfach haben wollte. Einen Freund, eine Familie und ihre Ruhe. Tja, das war und blieb dann wohl ein ewiger Traum.
„Sieh mal, dort hinten. Torren kann ziemlich gut tanzen.“
Robin lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Stelle, auf die Jay deutete. Tatsächlich wirbelte Torren seine Partnerin, Lauren, wie es schien, ziemlich elegant und offensichtlich gekonnt über die Tanzfläche. Ihr kleiner Bruder… der früher Tanzen immer für Mädchenkram gehalten hatte, war einer der besten Tänzer hier in der Scheune. Und er schien nur Augen für Lauren zu haben.
„Ich habe so viel verpasst. So verdammt viel.“
Aus irgendeinem Grund schienen Jay ihre Worte wütend zu machen, denn er starrte sie aus eiskalten Augen an und meinte mit harter, kalter Stimme: „Es war deine Entscheidung weg zu gehen und jetzt musst du mit diesen Konsequenzen leben, ob es dir passt oder nicht. Sei froh, dass dich nicht alle hassen. Denn sie hätten jedes Recht dazu.“
Seine Worte verletzten Robin, vor allem, weil es nicht ihre Wahl gewesen war weg zu gehen. Sie würde es ihm so gerne sagen, ihm alles erzählen. Doch sie könnte es nicht ertragen das Mitleid in seinen Augen zu sehen und zu wissen, dass er sie bemitleidete und immer, wenn er sie sah, an das dachte, was ihr zugestoßen war. Außerdem würde die Wahrheit seine Beziehung zu Ines belasten und das konnte sie einfach nicht verantworten.
„Du verstehst das nicht. Ich werde mit dir nicht darüber diskutieren.“
Jay schnaubte und hielt seine Meinung nicht zurück. „Es geht mich etwas an, schließlich war ich damals dein Freund. Ich habe allen Grund, sauer auf dich zu sein und dich zu hassen!“
„Und, tust du es? Hasst du mich?“
Jay musterte sie aufmerksam und schien zu überlegen, was er ihr antworten sollte. Robin rieb sich über die Arme, es fröstelte sie plötzlich. Was, wenn er sie wirklich verabscheute und hasste? Sie konnte es ihm nicht übel nehmen, aber weh würde es trotzdem tun. Es würde ihr das Herz aus der Brust reißen.
Sie spürte die Anspannung, die ihren Körper durchzog. Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen. Wie ein Mantra sagte Robin sich diese Worte im Kopf, um sich auf seine Antwort vor zu bereiten.
Schließlich seufzte Jay und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Auf einmal wirkte er erschöpft und müde.
„Ich hasse dich nicht, Robin. Das könnte ich gar nicht. Aber du hast mich verletzt, mich fast umgebracht mit deinem Fortgang. Verlange nicht von mir, dass ich dir verzeihe.“
Nun spürte Robin doch, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Er hasste sie nicht, aber verzeihen würde er ihr nie. Sie hatte ihm so wehgetan. Wenn er nur wüsste, dass es ihr genauso schlecht gegangen war! Aber das würde er nie wissen.
„Darum bitte ich dich auch gar nicht.“
Jay nickte und leerte sein Glas in einem Zug. Robin bemerkte, wie er ihrem Blick auswich. Sie ließ den Blick über die tanzende Menge schweifen und beobachtete die Leute, die ihr früher einmal sehr nahegestanden waren, als würde sie sie gar nicht kennen. Es fühlte sich nicht so an, als würde sie sie kennen. All diese Leute waren wie Fremde, und das waren sie ja irgendwie auch. Sie waren älter geworden, hatte sich verändert und sie, Robin, war nicht dabei gewesen, hatte es nicht miterlebt und mit der Zeit waren die Leute über die hinweg gekommen, zumindest die meisten, und einige hatten sie bestimmt vergessen. Die jüngsten kannte sie nicht, hatte sie noch nie gesehen und andere waren gestorben, ohne dass sie sich hatte verabschieden können.
„Ich werde Ines suchen und sie um einen Tanz bitte. Entschuldige mich.“
Jay wartete ihre Antwort gar nicht erst ab, sondern ließ sie einfach stehen und verschwand in der Menge.
Sie hatte den Menschen, der ihr am meisten auf der Welt bedeutete zerstört und ihn in die Arme einer anderen Frau getrieben, die ihn viel mehr verdient hatte. Ja, sie war nicht freiwillig gegangen, aber dennoch hatte sie eine gewisse Schuld daran. Sie hätte nicht allein in den Wald gehen sollen und als sie zurückgekommen war, hätte sie Jay die Wahrheit sagen sollen. Aber hätte er ihr geglaubt oder hatte sie ihn so sehr verletzt, dass er ihr nicht mehr glauben konnte? Er hasste sie nicht, aber das hieß nicht, dass er auch noch etwas mit ihr zu tun haben wollte. Er war glücklich mit Ines und sie würde einen Teufel tun und sein Glück zu zerstören. Das konnte sie ihm nicht antun. Das Beste war, sie hielt sich eine Weile von ihm fern, bis er selbst bereit war, wieder normal mit ihr zu reden und vielleicht konnten sie eines Tages wieder Freunde sein. Vielleicht.
Jay lehnte sich mit den Rücken an die Wand und schloss für einen Augenblick die Augen. Gott, Robin war wunderschön in diesem Kleid und wie sie sich bewegte, als wäre sie eine Königin. Sie war schon immer eine Prinzessin gewesen, nämlich seine Prinzessin.
Als sie mit diesem Mann getanzt hatte, hatte er das dringende Bedürfnis verspürt ihn zu erschlagen. Das war unlogisch und nicht rational, doch die Eifersucht hatte ihn in so rasende Wurt versetzt.
Er schämte sich für seine Gefühle, vor allem, weil sie Ines gegenüber unfair waren. Robin war seine Vergangenheit und Ines seine Verlobte! Er sollte nicht eifersüchtig sein, wenn es um Robin ging und doch war er es. Mehr, als er es bei Ines je gewesen war.


Sie hatte ihn gefragt, ob er sie hasste. Wie könnte er sie jemals hassen, wie konnte sie das denken? Sosehr er es auch versuchte, denn es wäre einfacher, aber er konnte es nicht. Sie hatte ihn mehr verletzt als jemand anderes es je können würde. Es wäre viel besser für ihn und sein zerfetztes Herz Abstand zu ihr zu gewinnen, aber offensichtlich war er masochistisch veranlagt. Ines war doch die perfekte Frau für ihn. Sie würde ihm niemals, nicht in einer Million Jahren so wehtun, und zwar aus dem einfachen Grund, weil sie es gar nicht konnte. Er hätte es nie jemandem gegenüber zugegeben und er fühlte sich wie ein hundsgemeiner Schuft, aber er musste zumindest sich gegenüber ehrlich sein. Ines bedeutete ihm bei weitem nicht so viel wie Robin es sogar jetzt noch tat.
Er war ein Idiot. Er liebte eine Frau, die seine Gefühle offenbar mit Füßen trat und der er nicht genug bedeutete um bei ihm zu bleiben. Er war es ihr offenbar nicht einmal wert ein Wort des Abschieds zu sagen, oder, wenn schon, dann wenigstens zu sagen, dass es aus war. Aber einfach so zu verschwinden, das war feige.
Wie er mit ihr getanzt hatte… das war unglaublich gewesen, sie wieder in seinen Armen zu halten, ihre Körperwärme zu spüren und ihren Geruch einzuatmen.
Aber das mit ihnen hatte in keiner Weise eine Zukunft. Er war verlobt mit einer Frau, die er nicht verdient hatte, die zu gut für ihn war. Sie war die perfekte Frau, alles, was man wollen konnte und sie bereitete einem keine Kopfschmerzen oder andere Probleme. Er würde sie heiraten und Kinder mit ihr bekommen und vielleicht würde er sie eines Tages lieben.
Was er jetzt für sie empfand war weniger als vor Robins Wiederkehr. Denn nun war er sicher, dass seine Gefühle für sie nicht über Freundschaft hinausgingen und mit Liebe nichts zu tun hatten. Er war einsam gewesen und hatte einen Fehler begangen als er sie um ihre Hand angehalten hatte aber er würde einen Teufel tun und ihr Herz brechen. Das hatte sie nicht verdient.
Das bedeutete, dass er sie heiraten würde, egal ob es das war, was er wollte oder nicht. Er konnte auf seine Gefühle keine Rücksicht nehmen, schließlich hatte er sich in diese Lage gebracht. Das mit ihm und Robin würde nie wieder etwas werden, dafür hatte sie sein Vertrauen zu sehr missbraucht.
Also würde er Ines heiraten und eines Tages würde er über Robin hinwegkommen. Er liebte sie immer noch, aber das musste sich ändern. Es musste einfach.


Kapitel 10

Robin spürte die Müdigkeit, die die Arme nach ihr austreckte bereits. Nachdem Jay gegangen war hatte sie noch einen Tanz mit Kenny gehabt, bevor er zurück zu Larise gegangen war. Anschließend hatte sie sich ein wenig mit einigen Leuten unterhalten, die aber alle eigentlich nur wissen wollten, wo sie gewesen war und warum sie gegangen war.
Irgendwann hatte es ihr gereicht und sie hatte sich einen weiteren Drink geholt. Jetzt stand sie allein an dem Stehtisch und dachte darüber nach, nach Hause zugehen.
Was sollte sie noch hier? Jay war weg, offenbar allein, denn Ines amüsierte sich noch mit ihren Freundinnen. Torren und Lauren hatten sich irgendwohin verzogen und Kenny und Larise drehten sich eng umschlungen auf der Tanzfläche.
Robin packte ihre Tasche und schickte sich an zu Kenny zu gehen und ihm zu sagen, dass sie sich auf den Heimweg machen würde, als ein kleiner Tumult am anderen Ende der Scheune ausbrach. Zuerst konnte sie nicht erkennen, um was es ging. Doch als sie sich dem Lärm näherte, erkannte sie, dass es zwei Jugendliche betraf, die sich scheinbar um ein Mädchen stritten, das etwas abseits stand.
Du meine Güte, war das etwa Juliette Mannings? Sie war damals noch ein Kind gewesen, kaum älter als 12, ein nettes und braves Mädchen, soweit sie sich erinnern konnte. Milton und Lucas waren immer an ihrer Seite zu sehen gewesen, schon damals hatten sie sie vergöttert. Das dürfte sich nicht geändert haben, stellte Robin fest und betrachtete die beiden eben genannten Jungs, die sich lauthals miteinander stritten.
Robin nutzte die Tatsache, dass die Aufmerksamkeit auf jemand anders lag und schlich sich zu Kenny, um ihm leise ins Ohr zu flüstern: „Ich gehe nach Hause. Bleib du mit Larise ruhig noch etwas hier.“
Kenny sah sich mit gerunzelter Stirn und Sorge in den Augen an. „Geht es dir gut?“
Robin nickte. „Aber ja, ich bin nur etwas müde und erschöpft von den Tänzen. Alles gut.
Aber ich werde jetzt gehen und zwar allein. Den Weg heim kenn ich ja noch.“
Sie sah ihm an, dass er sie nur widerstrebend allein gehen ließ, aber er blieb wirklich noch gerne hier und tanzte mit Larise und Robin war schon erwachsen und auch wenn sie viel durchgemacht hatte und nicht ganz fit war, so war sie auf jeden Fall stark genug um die paar Meter nach Hause zu laufen. Sie war ein Wolf, sie konnte sich verteidigen.
„Also gut. Aber wenn was ist, ich bin hier.“
Robin nickte und winkte ihrem Bruder und Larise zum Abschied, bevor sie sich durch die Tür ins Freie schob, wo sie die kalte Luft sofort umfing und ihr eine Gänsehaut verursachte. Es war stockdunkel, nicht einmal die Sterne waren mehr zu sehen und auch der Mond war hinter dicken Wolken verborgen. Es würde bald Schnee geben.
Die Musik drang leise aus der Scheune hinaus ins Freie, was die Ruhe aber nicht störte. Mit einem letzten Blick zur Scheune machte sie sich auf den Weg nach Hause. Sie könnte den kürzeren Weg über die Lichtung nehmen, doch die Nacht war schön und sie wollte noch nicht mit ihren Eltern reden müssen, die bestimmt auf sie warteten und sie dann ausfragten, ob es ihr gut ging. Dabei wollte sie jetzt ein wenig allein sein und über Jay nachdenken. Jay. Wie lange noch bis zur Hochzeit? Nicht mehr sehr lange. Sollte sie sich das wirklich antun und zu der Feier kommen? Wollte sie sich wirklich selbst so sehr quälen? Die Fragen waren alle nur rein theoretisch, denn egal wie oft sie sich sagte, dass es besser wäre zu Hause zu bleiben, sie würde hingehen. Sie würde es tun, sie kannte sich gut genug um das zu wissen.
Sie musste mit eigenen Augen sehen, wie Jay eine andere Frau heiratete und ab diesem Zeitpunkt für immer unerreichbar für sie wurde. Gäbe es eine andere Lösung, Robin würde sie wählen. Wegziehen, ein anderes Dorf aufsuchen war zwar eine Option, aber sie hatte nicht die Absicht wegzulaufen. Ihr Entführer hatte sie weggesperrt, sie würde ihre Freiheit nicht dermaßen mit den Füßen treten und vor ihren eigenen Gefühlen davonlaufen.
Vielleicht waren es Jay und Ines, die wegzogen, und wenn sie das taten, konnte sie es nicht verhindern. Aber sie würde einen Teufel tun und diejenige sein, die die Verbindung abbrach.
Robin musste ihr Kleid anheben, damit der Saum nicht im Schnee streifte. Im Wald war es noch dunkler als auf der Lichtung und je weiter sie sich von der Scheune entfernte, desto leiser wurde sie Musik, bis sie letztendlich gar nicht mehr zu hören war.
Irgendwo schrie eine Eule, vermutlich auf der Suche nach Nahrung. Einen kurzen Moment überlegte sie sich, ob sie die Gestalt eines Wolfes annehmen sollte und einen Lauf durch den Wald wagen sollte, ein wenig Bewegung im Freien würde ihr sicher gut tun und einen klaren Kopf verschaffen.
Aber dann siegte doch die Vernunft. Sie war nach wie vor zu schwach und zu dünn, die würde auch mit dem Fell des Wolfes noch frieren und außerdem Amber hatte ihr dieses Kleid extra genäht, sie konnte es also weder zerfetzen bei der Wandlung, noch im Schnee liegen lassen.
Der kalte Schnee drang durch ihre dünnen Ballschuhe an ihre Füße, die lediglich mit einer dünnen Strumpfhose umhüllt waren. Sie fühlten sich schon weniger Minuten wie Eisklötze an und wurden taub vor Kälte. Mit den hohen und relativ schmalen Absätzen war es zusätzlich schwer durch den Schnee zu stapfen, aber Robins Wolfgene halfen ihr ein wenig das Gleichgewicht zu halten.
Sie war nicht mehr allzu weit von ihrem Haus, der Mühle, entfernt, als sie plötzlich den metallischen Geruch von Blut in der Luft wahrnahm. Der Wind wehte ihn aus dem tieferen Wald herbei. Robin erstarrte, all ihre Muskeln spannten sich an. Das Blut war frisch, so als wäre es erst vor wenigen Minuten ausgetreten.
Eines konnte Robin mit absoluter Bestimmtheit feststellen: das Blut stammte von einem Wandler und es war eine ganze Menge. Die Hoffnung, dass es sich lediglich um einen Kratzer oder eine leichte Verletzung handeln könnte, schwand dahin.
Das war ernst. Irgendjemand von ihren Leuten lag dort, schwer verwundet, im Wald und war gerade dabei zu verbluten.
Trotz der panischen Angst, die Robin ergriff, ging sie mit vorsichtigen Schritten auf den Blutgeruch zu. Was, wenn das kein Unfall gewesen war? Sie musste so schnell wie möglich zu demjenigen, der dort gerade im Sterben lag, doch sie konnte nicht schneller gehen! Sie versuchte es, aber die 4 Jahre in Gefangenschaft hatten sie übervorsichtig werden lassen. So ein Erlebnis konnte man nicht vergessen, man würde es nie vergessen und es hinterließ seine Spuren. Angst war ihr ständiger Begleiter, sie wusste gar nicht mehr, wie es sich anfühlte keine Angst zu haben, es war einfach schon zu lange her.
Gerade in diesem Moment, als sie sich dem Blut immer weiter näherte, spürte sie die unglaubliche Angst stärker als sonst in den letzten paar Tagen, doch vergessen hatte sie sie nie ganz. Das konnte sie einfach nicht. Das Schwein, das sie entführt hatte, lebte noch, zumindest als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Er konnte sie hier nicht finden, redete sie sich ein. Aber hatte er das nicht schon einmal getan? Was, wenn er sie verfolgte und sie jagte, nach ihr suchte? Er würde hierher kommen und die Leute verletzen, die sie liebte!
Doch darüber durfte sie sich jetzt keine Gedanken machen, das würde sie innerlich nur zerstören. Der Mann war nicht hier, so wichtig war sie ihm gar nicht gewesen, konnte es nicht gewesen sein. Dennoch… hätte sie lieber einen anderen Ort aufsuchen sollen als nach Hause zu kommen?
Ein leises, sehr, sehr schwaches Keuchen riss sie aus ihren Gedanken. Wer auch immer dort am Boden lag und dabei war zu verbluten – noch lebte er. Vielleicht, wenn sie schnell genug war, konnte sie ihn retten.
Robin beschleunigte ihre Schritte, bis sie fast rannte. Ihre Nase zeigte ihr den Weg, den sie nehmen musste und das erste Mal, seit sie wieder hier war, ließ ihre Wachsamkeit nach, denn jetzt ging es nicht um sie und ihr Leben, sondern um das eines anderen.
Das Kleid hinderte sie daran schneller zu laufen, sonst würde sie sich verfangen und stürzen und das würde sie noch mehr aufhalten.
Der kalte Wind peitschte ihr das Haar ins Gesicht und schränkte ihre Sicht ein, doch sie brauchte ihre Augen nur, um den Bäumen auszuweichen.
Sie war nicht lange gerannt und dennoch kam es vor, als wären es Stunden gewesen. Sie bremste ihre Schritte ab, als das Blut in ihrer unmittelbaren Nähe war.
Es wäre dumm gewesen, einfach so hinzustürmen ohne die Gegend zu übersehen. Robin lauschte und schnupperte in der Luft, doch außer dem Blut, der Angst und einem seltsam vertrauten Geruch konnte sie nichts Verdächtiges riechen. Aber woher kannte sie den Duft nach frisch gesägtem Holz und Kohle? Woher…
Mit einem erstickten Aufschrei stürzte Robin sich neben dem leblosen Bündel auf den Boden. Schluchzend zog sie den Körper, der unter einer Tanne versteckt im Schnee in seiner eigenen Blutlache lag, in die Arme und drückte ihn an sich.
Das konnte nicht sein – es durfte nicht sein. Nein, völlig ausgeschlossen. Der Mann, der in ihren Armen lag und verblutete, war nicht ihr Vater. Er konnte es nicht sein, er war doch zu Hause, mit ihrer Mutter, im Bett und schlief oder wartete in der Küche auf ihre Rückkehr, aber er lag ganz bestimmt nicht hier auf dem Boden und war dabei zu sterben.
Robin spürte die heißen Tränen, die ihr Gesicht hinabliefen und spürte die heftigen Schluchzer, die sie schüttelten, doch sie schenkte beidem keine Beachtung. Verzweifelt presste sie beide Handflächen auf die große, tiefe Wunde, die in der Brust ihres Vaters aufklaffte. Blut sickerte in einem stetigen Strom aus der tödlichen Wunde und ließ ihre Finger nass und glitschig werden.
Ihr Herz pochte schmerzhaft schnell in ihrer Brust und das Atmen fiel ihr zunehmend schwer. Solche Angst hatte sie nicht mehr gehabt seit sie in Gefangenschaft gewesen war, doch jetzt fürchtete sie sich nicht mehr um sich selbst, sondern um ihren Vater, den Mann, der sie großgezogen hatte und sie geliebt hatte.
James Benett durfte einfach nicht sterben.
„Hilfe! Ich brauche Hilfe! So helft mir doch!
HILFE!!!!!“
Robin schrie sich die Seele aus dem Laib, so laut sie konnte, so laut, bis ihr Hals schmerzte. Irgendjemand musste doch kommen, irgendjemand musste sie doch hören. Sie konnte hier nicht weg, denn wenn sie die Hände von James Brust nahm, würde er verbluten. Aber wenn sie hier noch lange allein mit ihm blieb, würde er auch sterben.
„Dad, bitte, stirb nicht. Bitte, Dad!“
Voller blinder Angst und Verzweiflung presste sie den Saum ihres schönen Ballkleides an die blutende Wunde.
James Haut war eiskalt und gräulich. Wenn nicht bald jemand kam, würde er sterben, hier, in ihren Armen.
„Stirn nicht, bitte, tu es nicht. Du musst leben!“
„Ro… Robin?“ Die Worte kamen James nur leise und krächzend über die Lippen und es fiel ihm offensichtlich sehr schwer etwas zu sagen und bereitete ihm große Schmerzen.
„Nicht reden, Dad, du brauchst nichts zu sagen!“
„Lauf!.... Er… dich… Er will…“
Mit einem Mal verstummte James und sein Körper wurde schlaff und sank ihn ihren Armen zusammen. Alle Anspannung wich aus seinen Muskeln und seine Lungen hörten auf zu arbeiten. Robin wusste, dass James tot war, doch sie konnte es nicht wahrhaben, wollte es nicht wahrhaben.
„Nein Dad, nein! NEIN!“
Robins Schrei hallte durch den Wald und wurde wiedergehallt von den hohen Bäumen.


Jay hörte Robins Schrei.
Zuerst dachte er, er hätte sich das eingebildet, ihre Stimme projiziert, da er gerade an sie gedacht hatte, doch einen Moment später wurde ihm klar, dass es tatsächlich Robin gewesen war.
Ohne zu zögern rannte Jay in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Er war gerade auf dem Weg nach Hause gewesen. Er hatte erfahren, dass Robin gegangen war und er wollte sicher gehen, dass sie gut zu Hause angekommen war, bevor er in sein Haus zurückkehrte. Ines wollte noch bleiben, aber ihm war die Lust vergangen.
Jetzt war er froh über seine Entscheidung Robin hinterher zu gehen. Dieser Schrei… niemals würde er ihn vergessen können. So voller Angst und Verzweiflung.
Es hatte ihm das Herz aus der Brust gerissen und dass er nicht mehr atmen konnte lag nicht daran, dass er rannte.
Gott, ihr durfte nichts geschehen sein. Es musste ihr gut gehen.
Warum war sie alleine nach Hause gegangen? Sie hätte Kenny mitnehmen sollen oder Torren, sie hätte ihn, Jay, fragen können! Ihr ging es noch nicht gut genug, sie war nach wie vor viel zu dünn und abgemagert.
Konnte sie nicht einmal nicht in Schwierigkeiten geraten?
Außer sich vor Sorge beschleunigte Jay seine Schritte und rannte so schnell er konnte in die Richtung, aus der ihr Geruch kam.

Er sah sie zusammengesunken am Boden und heftig schluchzend. In ihren Armen hielt sie ein lebloses Bündel, das er als Menschen identifizieren konnte. Verdammt, es war James und der Menge Blut und Robins Verzweiflung nach zu urteilen war er tot.
„Nein, nein, oh bitte, nein.“ Ihre Stimme war hauchdünn und von Schmerz und Qual gezeichnet. Sie schien nichts außer dem Leichnam ihres Vaters wahr zu nehmen und schien Jay gar nicht zu bemerken.
Es zerriss Jay schier das Herz, sie so verzweifelt und blind vor Trauer auf dem Boden sitzen zu sehen. Ihr ganzer Körper bebte und zitterte und wurde geschüttelt von heftigen Schluchzern. Sie sah dadurch noch zerbrechlicher und dünner aus und der Anblick ließ Jay wünschen, sie in den Arm nehmen und ihr sagen zu können, dass alles in Ordnung war.
„Robin…“
Doch sie schien ihn nicht zu hören, murmelte ständig vor sich hin: „Meine Schuld, alles meine Schuld.“
„Was, Robin, was ich deine Schuld? Komm, sprich mit mir!“
Jay sank vorsichtig und langsam neben ihr auf den Boden und berührte sie sacht an der Schulter, um sie nicht zu erschrecken.
Sanft schüttelte er sie, um ihre Aufmerksamkeit auf ihn zu lenken.
Endlich schien sie sich bewusst zu werden, dass sie nicht mehr allein war und mit tränennassen Augen blickte sie zu ihm hoch. „Er ist tot, Jay. Er ist tot.“
Heftig schluchzend warf sie sich an seine Brust und vergrub ihr Gesicht in seinem Hemd. Vorsichtig und behutsam legte Jay seine Arme um sie und drückte sie an sich. Tröstend redete er auf sie ein und streichelte und küsste ihr Haar.
Eigentlich sollte er Hilfe holen, Leute, die das hier untersuchten und ihm halfen, Robin von der Leiche ihres Vaters los zu reißen, doch er konnte nicht gehen. Er war der einzige, der Robin im Augenblick halt gab und verhinderte, dass sie zusammenbrach und James Leiche fest an sich presste. Sie brauchte ihn jetzt, aber jemand musste hierher kommen.
Ines musste noch auf dem Ball sein und früher oder später würde sie hier vorbeikommen und das Blut und ihn riechen. Aber wie lange würde das wohl noch dauern?
„Er ist meinetwegen gestorben.“ Schluchzte Robin in sein Hemd, die Finger krallte sie in den weichen Stoff, so als wolle sie ihn daran hindern zu gehen und sie allein zu lassen.
„Was redest du denn da?
Ich bleibe bei dir, keine Angst. Ich bin hier.“
Es tat Jay weh, sie sehr Robin sich quälte und litt. Ihr Herz musste momentan so wehtun, als wäre es zerfetzt. Sie war nach 4 Jahren zurückgekommen und kaum dass sie ihren Vater wieder bei sich hatte, war er tot. Welch verschwendete Zeit.
Vielleicht meinte sie das damit, dass sie Schuld war. Vielleicht meinte sie, dass sie nie hätte weggehen dürfen. Da musste Jay zustimmen. Sie hatte so viel Zeit verspielt. Jetzt war es zu spät.
„Jay…?“ Als er Ines leise, gehauchte Stimme hinter sich hörte, schloss er erleichtert die Augen. Sie hatte die Gerüche richtig gedeutet und sie hier gefunden.
„Ines? Hol jemanden, Ines, egal wen. Am besten Kenny und wenn du schon dabei bist, auch noch Henry. Beeil dich.“
Er wandte sich nicht um, er wusste auch so, dass Ines nickte und schnell wieder im Wald verschwand. Falls sie James Leiche nicht gesehen hatte, so hatte sie sie zumindest gerochen und die Menge Blut, die hier im Schnee versickerte, war auch kaum zu übersehen.
Kaum dass Ines wieder davongerannt war um jemanden zu holen, der ihm hier half, konzentrierte sich Jay wieder vollkommen auf Robin, die in seinen Armen bebte und hemmungslos weinte.
„Robin, hörst du mich? Komm zu dir. Wir können hier nicht bleiben, es ist kalt und dein Kleid ist völlig nass.“ Das war nicht gerade der Punkt, der ihm am meisten Sorgen bereitete, doch selbst eine Gestaltwandlerwölfin konnte vor Kälte krank werden, vor allem wenn sie so dünn war wie Robin.
„Wir müssen weg hier, Kleines.“


Kleines. So hatte er sie früher auch immer genannt. Jays Worte drangen durch den dicken Schleier aus Verzweiflung und Trauer zu ihr durch.
„Wir können hier nicht weg. Ich muss doch bei ihm bleiben. Ich muss bei Daddy bleiben.“
Ihre Vernunft sagte ihr, dass das dumm war, aber ihr Herz konnte einfach nicht zulassen, dass ihr Vater hier allein im Schnee liegen blieb. Er brauchte sie doch.
„Ist ja gut, wir blieben. Okay? Wir bleiben.“
Beruhigt drückte Robin ihr Gesicht wieder fest gegen seine Brust, versuchte sich zusammenzureißen und nicht daran zu denken, dass ihr Vater nicht bemerken würde, ob sie da war oder ob sie mit Jay wegging. Dass er überhaupt nie wieder etwas bemerken würde, egal was es betraf.
Robin spürte, dass Jay ihr beruhigend mit der Hand über den Kopf und das Haar strich und seine Umarmung war tröstlich, doch konnte es das große Loch in ihrem Herzen nicht stopfen. Es tat weh, so gottverdammt weh. Wieso hatte ihr Vater sterben müssen? Ihretwegen? Es musste so sein. SEIN Geruch hing an der… an ihrem Vater, er musste hier gewesen sein.
Nein, sagte sie sich, nein, sicher nicht. Du hast dich getäuscht.
Doch kaum dass sie den Kopf ein wenig hob, drang der beißende Geruch nach James Blut wieder zu ihr durch und ihre Gedanken wurden ausgelöscht, bis es nur noch den reißenden Schmerz in ihrer Brust gab.
Sie wusste nicht, wie lange es letztendlich dauerte, bis Ines mit Hilfe zurückkehrte. Es konnten Minuten, genauso Stunden gewesen sein.
Sie bemerkte am Rande, wie Jay mit Ines und Henry sprach, hörte Kennys verzweifelten Aufschluchzer und seinen Schrei, der von seiner Trauer zeugte. Doch sie wollte jetzt nichts hören und nichts sehen, sie wollte im Moment einfach nur allein sein. Niemals würde sie begreifen, dass ihr Vater nicht mehr da war. Sich jetzt mit anderen Leuten auseinander zu setzten… dafür fehlte ihr einfach die Kraft. Um Kenny würde sich seine Frau schon kümmern und Torrin… Torrin hatte Lauren, aber vermutlich war er sowieso gerade mit ihr unterwegs und wusste noch gar nichts von… hiervon.
Robin spürte, dass Jay die Position änderte und sie auf den Arm nahm, als er aufstand, um sie zu tragen.
„Ich bringe Robin nach Hause. Sie hat ihn gefunden und ist außer sich vor Trauer, was nur verständlich ist.
Ines, ich weiß nicht, wann ich nach hause komme. Ich denke, sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert und ihre Brüder und ihre Mutter werden das nicht können.“
Unwillig seufzte Ines. Sie zögerte. Doch schließlich meinte sie: „Na schön, geh mit ihr.“
„Danke,“ meinte Jay und entfernte sich mit langen, schnellen Schritten von ihrem toten Vater. „Nein Jay, ich kann ihn nicht allein lassen! Er braucht mich doch!“
Jay seufzte. „Nein, Robin, er würde nicht wollen, dass du hier draußen erfrierst, hörst du? Wir müssen dich jetzt nach Hause bringen, okay“
„Okay.“ Schluchzte Robin und wurde sofort erneut von heftigen Schluchzern geschüttelt.

Jay sah auf Robin hinab, sie war ein Bündel von Verzweiflung und Trauer, sie konnte nicht klar denken. Er hatte ihr nicht sagen können, dass ihr Vater nicht mehr spüren würde, ob sie da war oder nicht, aber er hatte es nicht übers Herz gebracht. Sie hatte so traurig ausgesehen, ihre Augen hatten ihm ihr zerfetztes Herz gezeigt und am liebsten würde er auf etwas einschlagen oder etwas töten, doch er wusste, dass es sinnlos wäre. Dadurch könnte er ihren Schmerz auch nicht vertreiben.
„Jay!“
Jay wandte sich zu Henry um, der ihm mit schnellen Schritten folgte. Henry war so etwas wie der Arzt hier im Dorf und somit gleichzeitig zuständig für die Toten des Dorfes.
Henry blieb dicht vor Jay stehen, der stehen geblieben und auf ihn gewartet hatte. „Ich habe mir James angesehen. Seine Wunden sehen übel aus, verdammt übel. Hast du sie gesehen?“
„Ehrlich gesagt habe ich mich eher auf Robin konzentriert, aber ja, habe ich. Wieso?“
„Glaubst du, das war ein Unfall? Ich kann erst nach näheren Untersuchungen sicher sein, aber für mich siehst es nicht danach aus. Und wenn es kein Unfall war, dann müssen wir schnell etwas unternehmen, denn das würde bedeuten, wir haben…“
„Einen Mörder hier, ja.“ Beendete Jay Henrys Satz.
„Das war kein Unfall, da bin ich mir sicher. Wer auch immer das getan hat, ich konnte ihn an James riechen. Und ich kannte den Geruch nicht. Geh dem nach, Henry, und warne das ganze Dorf, sie sollen aufpassen und sich vorsehen. Ich bin nicht sicher, aber ich vermute, dass es keiner aus dem Dorf war. Und das bedeutet, dass jemand von außerhalb hierher gekommen ist, was die Sache noch gefährlicher macht.“
„Meinst du, der Kerl ist Robin hierher gefolgt?“
Jay warf einen abschätzenden Blick auf das Bündel in seinen Armen. Erst, nachdem er festgestellt hatte, dass sie schlief, antwortete er. „Schon möglich. Aber bis wir es bewiesen haben, halten wir Stillschweigen darüber, klar? Ich will nicht, dass eine Hexenjagd auf sie beginnt.
Ich kann nur sagen, dass ich den Geruch nicht kannte und ich kenne jeden aus dem Dorf. Was das heißt, weißt du. Aber sieh es dir selber an, geh allem nach und halte mich auf dem Laufenden. Aber bitte, tu mir einen Gefallen und behalte das erst einmal für dich, okay? Ich bin ab sofort für die Aufklärung des Mordes zuständig, und ich will nicht, dass sich jemand anders einmischt.“
Henry nickte und versprach Jay, nichts zu tun, was er nicht zuvor genehmigt hatte und verschwand wieder zum Tatort.
Somit hatte Jay sich gerade selbst zum Ermittler in diesem Fall erklärt. Er wusste nicht, ob das klug gewesen war oder nicht, aber er hatte so eine Ahnung dass der Mord etwas mit Robins Verschwinden zu tun hatte und er wollte nicht, dass jemand anders ihr so nahe kam und ihr möglicherweise vorschnell die Schuld gab.
In einem Dorf wie diesen gab es keine Gesetzeshüter. Jemand aus dem Dorf erklärte sich in einem Fall wie diesen bereit, das ganze zu untersuchen und in diesem Fall war er derjenige, der dies tat.
Jay bemerkte Robins Gewicht kaum, sie war viel zu dünn und folglich auch viel zu leicht und einem Gestaltwandler bereitete es ohnehin keine Probleme schwerere Dinge zu tragen. Jemand wie sie fiel dabei kaum auf und war keine Last.


Die Mühle kam schon bald in Sicht und Jay musste sich überlegen, was er der Witwe sagen sollte. Sie wusste vermutlich noch nicht, dass ihr Gatte tot war. Er würde es ihr sagen müssen. Würde ihr das Herz brechen müssen, so wie Robin das Herz gebrochen war.
Jay spürte einen Stich in seinem Herzen. Egal was zwischen ihnen passiert war, er wollte, er konnte, sie nicht leiden sehen. Sie so traurig zu sehen bereitete ihm körperliche Schmerzen. Mit der freien Hand hämmerte Jay gegen die Tür des alten Gebäudes und betete insgeheim, dass Mariann schon schlief und ihn nicht hörte. Er wusste nicht, ob er es fertig bringen würde sich auch noch mit ihr auseinander setzen zu müssen. Auch wenn er es nie zugeben würde, so war er doch ziemlich müde und erschöpft, das Geschehene war auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. Er hatte James gemocht und früher, in seiner Jugend, hatte er viele Stunden in der Mühle verbracht. James war für ihn wie ein Onkel gewesen, nur seit Robins Abgang hatten sie sich nicht mehr so häufig gesehen, Jay hatte es nicht ertragen in die Nähe des Hauses zu kommen, wo er und Robin so viele glückliche Stunden verbracht hatten und James hatte das Haus kaum noch verlassen, nicht einmal um sich zu verwandeln.
Zu Jays Erleichterung öffnete ihm niemand die Türe und er hörte auch niemanden im Inneren des Hauses.
Gestaltwandler sperrten ihre Häuser nie zu, zumindest nicht hier im Dorf, wo jeder jeden kannte und auch riechen konnte. Niemand würde es wagen in das Haus eines anderen einzubrechen. Das kam Jay jetzt zu Gute. Vorsichtig drückte er die Messingklinke hinunter und trat ins Innere des Hauses ein. Es war vollkommen dunkel und leise Geräusche ließen erkennen, dass Mariann tatsächlich noch schlief. Gut so, er würde sie auch nicht wecken. Sollte sie diese Nacht noch friedlich schlafen, sie würde es weiß Gott nicht mehr allzu bald wieder können.
Jay kannte den Weg in Robins Zimmer auswendig, er war ihn früher jeden Tag gegangen. Er brauchte kein Licht um die richtige Tür zu finden. Robins Bett war ordentlich gemacht, aber etwas anderes war von ihr auch nicht zu erwarten. Das Zimmer sah anders aus, als früher. Es hatte einen hellorangen Anstrich und die Möbel waren ausgetauscht worden. Ein breites Bett aus dunklem Holz ersetzte das alte aus Messing.
Behutsam um sie nicht aufzuwecken legte Jay Robin auf das weiche Bett und begann vorsichtig sie aus dem Kleid zu schälen. Zuerst allerdings zog er ihr die nassen Schuhe aus, die sehr fadenscheinig wirkten und die Kälte und Nässe nicht einmal ansatzweise fernhalten konnten.
Unter anderen Umständen hätte Jay sich nie dazu veranlasst Robin zu entkleiden, zumindest nicht, wenn sie schlief, doch in dieser Situation konnte er kaum anders reagieren. Das Kleid war voller Blut und ganz nass, er wollte nicht, dass sie so aufwachen musste und vor allem wollte er nicht, dass sie sich erkältete.
Kaum dass er ihr den Stoff vollständig abgestreift hatte, hüllte er sie in eines ihrer weiten T-Shirts, die sie wohl zum Schlafen trug und zog eine Decke über sie, damit sich ihr kalter Körper wieder aufwärmen konnte.
Sie sah so friedlich und jung aus, wenn sie schlief. So unschuldig und verletzbar, dass Jay wirklich alles getan hätte um sie zu beschützen.
Er wusste, er dürfte nicht so empfinden wie er es tat, aber am liebsten hätte er neben ihr gelegen und sie im Arm gehalten, sie nie wieder losgelassen.
Aber das war dumm von ihm. Er war verlobt mit Ines, er würde sie bald heiraten und Robin hatte vor 4 Jahren nicht einmal Leb wohl zu ihm gesagt, sie war einfach gegangen.
Dennoch… seine Gefühle für sie hatten sich in den 4 Jahren nicht geändert, waren nicht schwächer geworden. Er hatte geglaubt über sie hinweg zu sein, doch als er sie zum ersten Mal wiedergesehen hatte, hatte er gewusst dass es nicht so war und auch nie so sein würde.
Er mochte Ines und ja, vielleicht liebte er sie auch, aber niemanden würde er je so lieben können wie Robin.
Doch er musste auf seine Zukunft schauen. Mit Robin hatte er keine, aber Ines war eine gute Frau, sie würde auch eine gute Ehefrau sein und Mutter. Sie war das, was er wollte, aber Robin war das, was er brauchte.
So ein Unsinn, schalt sich Jay und schüttelte den Kopf. So durfte er nicht denken. Er war mit Ines verlobt und er würde sie heiraten. Mit ihr eine Familie gründen.
Das beste wäre, Robin würde wieder verschwinden. Als sie weg war, war noch alles viel leichter gewesen. Er hatte sie nicht ständig sehen müssen und jedes Mal, wenn sie in der Nähe war darauf achten, dass er sich korrekt verhielt und sich nicht anmerken ließ, wie gern er sie in den Arm genommen und geküsst hätte.
Schon als kleiner Junge hatte er gewusst, dass Robin die Frau war, die er eines Tages heiraten wollte. Da hatte er Ines kaum angesehen, für ihn hatte es nur sie gegeben. Zu seinem Unglück war er auf dem besten Wege dazu zu diesem Zustand zurück zu kehren. Wenn Robin in der Nähe war viel es ihm immer schwerer, seine Aufmerksamkeit auf Ines zu richten. Manchmal vergaß er für einen kurzen Augenblick ihre Anwesenheit.
Das durfte nicht passieren. Als seine Verlobte sollte Ines all seine Aufmerksamkeit gelten. Er schämte sich dafür, dass es nicht so war.
Seufzend ließ Jay sich auf den einzigen Sessel sinken, der im Raum stand und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
Ja, er musste sich von Robin fern halten, aber nicht jetzt. Sie brauchte ihn diese Nacht, aber morgen früh würde er Amber zu ihr schicken und sie in Ruhe lassen. Zu Ines Wohl und zu Robins.


Kapitel 11


Die Tage und Wochen vergingen und Jay hielt sich weitgehend von Robin fern. Sie wusste nicht warum, aber da sie mit ihrer Trauer genug zu tun hatte, wollte sie sich darüber nicht auch noch Gedanken machen. Amber kam jeden Tag vorbei, manchmal blieb sie auch über Nacht. Sie war eine wirklich gute Freundin und trotz dem Schmerz merkte Robin bald, dass sie nicht mehr ganz so weit weg war und es ihr besser ging. Es half, dass sie kaum Zeit hatte sich mit sich selbst zu beschäftigen und sich in ihrer Trauer zu vergraben. Ihre Mutter brauchte sie und ihren Trost, sie aß kaum noch etwas und verließ das Bett nie, auch nicht zum Duschen. Die ganze Zeit starrte sie nur an die Decke und sagte kein Wort und Robin begann sich ernsthafte Sorgen zu machen. Ihre Mutter wurde immer kränker und sie könnte es nicht verkraften, sie auch noch zu verlieren.
Torrin war wütend auf alles und jeden. Er verkroch sich in seinem Zimmer und hörte laut Musik, kam kaum heraus und redete noch weniger. Nicht einmal Lauren ließ er in seine Nähe, und die kam fast jeden Tag vorbei, um nach ihm zu sehen.
Kenny hatte den Trost seiner Frau, die sich rührend um ihn kümmerte, und die Tatsache, dass die beiden nun ein Kind erwarteten, half ihm dabei mit dem Verlust fertig zu werden.
Robin fragte sich, ob die Tatsache, dass sie James 4 Jahre lang nicht mehr gesehen hatte, die Sache schlimmer oder leichter für sie machten, aber bald machte sie sich auch darüber keine Gedanken mehr.
Auch wenn ihr Inneres es vielleicht wollte, sie ließ sich nicht gehen und bald schon lernte sie mit dem Schmerz zu leben. Amber brachte es wieder fertig, sie zum Lachen und bringen und die Sehnsucht nach Jay war beinahe stärker denn je, denn sie brauchte ihn, brauchte seine starken Arme, die sich um sie schlangen.
Doch abgesehen von ein, zwei Besuchen ging er ihr aus dem Weg. Robin wusste, dass er mit der Aufklärung des Mordes ihres Vaters beschäftigt war, doch gleichzeitig ahnte sie, dass er den Mörder nicht finden würde.
Sie konnte sich nicht mehr sicher sein, schließlich war sie so verzweifelt gewesen, aber sie hatte einen Moment den ihr verhassten Geruch in den Lungen gehabt. Der Mann, der sie vor 4 Jahren entführt und sie dann gefangen gehalten hatte, seinen Geruch, seine Witterung würde sie nie vergessen können. Dieser metallische Gestank, der Hauch von Tod, der ihn umgeben hatte. Auch sein Gesicht erschien wieder und wieder in ihrem Geist, sein schmales, vogelartiges Gesicht, die kalten, leblosen Augen. Sie wagte es nicht einmal, an seinen Namen zu denken, denn jedes Mal, wenn sie es tat, krochen die Erinnerungen wieder in ihr hoch.
Vielleicht sollte sie Jay sagen, dass es sein könnte, dass sie den Mörder kannte. Doch war sie sich nicht sicher, ob sie seinen Geruch wirklich wahrgenommen hatte. Außerdem lähmte der Gedanke sie, dass ER sie wieder gefunden haben könnte, dass er hier war, um sie zu holen.
Sie musste einfach glauben, dass nicht ER es gewesen war, doch das ungute Gefühl ließ sie nicht los.

Trotz allem, was passiert war, oder vielleicht gerade deswegen, wurde beschlossen die Hochzeit von Ines und Jay nicht abzusagen oder zu verschieben. Also rückte der Tag der Vermählung immer näher und man spürte das Umschlagen der Stimmung im ganzen Dorf. Von Trauer, Schock und Entsetzen wandte man sich ab und alle stürzten sich in die Vorbereitungen. Mittlerweile war fast ein Monat seit dem Mord vergangen und selbst Robin konnte nicht finden, dass es makaber war, jetzt zu heiraten. Auch wenn Robin gegen die Heirat war, doch das hatte nichts mit dem Mord zu tun sondern vielmehr damit, dass ihre große Liebe nun für immer unerreichbar für sie sein würde. Jay würde sich niemals von seiner Ehefrau trennen. Robin wusste nicht, ob es überhaupt noch einen Sinn für sie machte hier im Dorf zu bleiben.
Torren verließ sein Zimmer immer noch kaum, und wenn er es tat, dann um alleine durch den Wald zu streichen. Sie hatte sich mit der armen Lauren unterhalten, die völlig verzweifelt war, weil Torren sie nicht an sie heranließ. Sie verfolgte ihn nicht und drängte sich ihm nicht auf, sie wollte ihm die Zeit geben, die er brauchte.
Robin tat das arme Mädchen leid. Sie und Torren behaupteten zwar, sie seien nur Freunde, die besten Freunde, doch es war offensichtlich dass die beiden mehr füreinander empfanden.

Robin war gerade auf dem Weg zu Amber um mit ihr eine Tasse Tee zu trinken, als Ines auf sie zugelaufen kam, natürlich in menschlicher Gestalt und vor ihr stehen blieb.
Sie trug einen schwarzen Mantel, der ihr wirklich sehr gut stand. Bald würde es Frühling werden, der Schnee hatte schon angefangen zu schmelzen und bald würde er gar nicht mehr da sein.
„Hallo, Robin. Wir haben uns schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir?“
Eigentlich hatte Robin überhaupt keine Lust jetzt mit der Verlobten von Jay zu reden, die sie immer weniger mochte, was hauptsächlich daran lag, dass sie es war, der Jay gehörte. Doch früher einmal waren sie gute Freundinnen gewesen, deswegen blieb Robin stehen und sah ihre Rivalin an.
„Hallo.
Es geht schon.“ Ines würde sie ganz bestimmt nicht ihr Herz ausschütten. „Und dir? Hast du mich gesucht?“
Ines nickte und warf ihr langes, schwarzes Haar zurück. „Ja, das habe ich. Hör mal, du weißt ja, dass Jay und ich Ende der Woche heiraten werden. Das ist doch kein Problem für dich, oder?“ Sie wartete nicht einmal die Antwort ab, fuhr gleich fort. „Wir sind doch Freundinnen, richtig? Also habe ich mir gedacht: Ines, du musst Robin einfach zu deinem Junggesellinnenabschied einladen. Also, hier bin ich und ich frage dich, ob du die Einladung annimmst. Was ich sehr hoffe.“
Am liebsten hätte Robin nein gesagt. Was sollte sie da? Ines dabei zusehen, wie sie vor Glück platzte und sich jede Sekunde des Abends bewusst sein, dass sie am nächsten Tag den Mann, den sie liebte, heiraten würde? Das konnte sie nicht ertragen, das war demütigend und den ganzen Abend müsste sie eine Maske aufsetzen, damit niemand sah wie es ihr wirklich ging. Das müsste schon eine Oskar reife Leistung sein.
Robin wandte ein: „Aber ich bin doch die Exfreundin von Jay. Du willst mich sicher nicht dabei haben.“
Ines dachte nicht einmal über die Antwort nach. „Ach papperlapapp. Das ist Unsinn und das weißt du. Das mit Jay und dir ist Vergangenheit und wird niemals wieder sein. Er liebt jetzt mich, dich wird er hingegen niemals wieder lieben. Also kann ich dich ruhig einladen. Ich bestehe sogar darauf, dass du kommst. Du freust dich sicher für Jay, dass er eine neue, bessere Liebe gefunden hat, nicht wahr?“
Wie konnte jemand nur so… so ekelhaft falsch sein? Die Worte kamen Ines lächelnd über die Lippen, locker dahingesagt, als ob sie es nicht böse meinte, was sie sagte. Doch Robin wusste es besser. Ihre einstige Freundin sah sie mit triumphierenden Augen an, in denen Überlegenheit, Kälte und Siegesgewissheit lag. Es tat weh, das aus ihren Augen zu lesen. Sie waren doch früher Freundinnen gewesen, gute sogar. Was war nur passiert? Wann war Ines so geworden? Musste sie ihr unbedingt so unter die Nase reiben, dass Jay sie nicht mehr liebte? Es tat ja auch so schon weh genug. Er verachtete sie. Liebe empfand er ganz bestimmt nicht mehr für sie, soviel war klar. Er liebte Ines, da hatte die schwarzhaarige Wölfin ganz Recht, und er würde mit ihr glücklich werden, so wie es offenbar sein sollte.
Nun stand Ines vor ihr und bestand darauf, dass sie zu ihrem Junggesellenabscheid kam, worauf sie nun wirklich keine Lust hatte. Aber wenn sie absagte, wäre das der Beweis für Ines, dass Robin noch längst nicht über Jay hinweg war und sie würde es ohne Zweifel so auslegen, wie sie es brauchte, nämlich dass sie ihr das Glück mit Jay nicht gönnte.
Was nicht stimmte, nicht wirklich. Okay, am liebsten hätte sie ihn zurück und für sich, doch es war ihr klar, dass das wohl kaum möglich sein würde. Und Ines selbst hatte ihn auf keinen Fall verdient. Niemand hatte ihren Jay verdient, auch sie selbst nicht. Ines allerdings vielleicht noch weniger. Ihre unangebrachten Seitenhiebe gerade eben gegen ihre ehemalige Freundin zeugten nicht gerade von einem besonders gutem Charakter. Aber das hatte Robin nicht zu beurteilen und wenn sie Jay glücklich machen konnte, dann sollte sie das auch tun. Er hatte jedes Recht auf Glück, nachdem sie es ihm genommen hatte, damals, vor 4 Jahren.
Robin wusste, dass Jay sie damals abgöttisch geliebt und ja, auch ein wenig verehrt hatte. Sie hatte ihm damals das Herz gebrochen und sie hasste sich selbst dafür, dass sie ihm so wehgetan hatte. Freiwillig hätte sie es nie, niemals getan. Jay war damals schon ihr Leben gewesen. Aber was hatte sie schon machen können? Sie war noch ein Teenager gewesen und wohl kaum in der Lage sich gegen einen ausgewachsenen Mann mit Betäubungspfeil zu wehren.
Robin blickte hoch und erwiderte Ines berechnenden Blick. „Okay, ich werde kommen. Soll ich etwas mitnehmen?“ seufzte Robin.
Ines nickte eifrig, ihre Augen blitzten, da sie bekommen hatte, was sie wollte. „Fein. Ja, zieh dich anständig an, du weißt schon, was chickeres als das, was du jetzt trägst. Und bloß nicht dieses blutige Kleid vom Ball. Sonst kannst du mir ein Geschenk mitbringen, ein Verlobungsgeschenk so zu sagen. Am besten du lässt ein Kleid anfertigen. Grün, das passt perfekt zu meinen Haaren.“
Robin musste sich zusammenzureißen, um nicht ausfallend zu werden und Ines an den Kopf zu werfen, dass sie, zum Teufel, Jay nicht einmal ansatzweise verdiente, doch sie hielt sich zurück. Jay war erwachsen. Er wusste wohl, was er tat und sie hatte nicht das Recht sich in seine Beziehung einzumischen. Dafür würde er sie nur noch mehr hassen und das wollte Robin einfach nicht.
„Ja, mach ich“, murmelte Ines und nickte zaghaft.
„Fein.“

Torren lag in seinem Zimmer, in dem er seit dem Tod seines Vaters kaum herausgekommen war, und starrte regungslos an die hölzerne Decke. Er fühlte sich leer, fühlte gar nichts, was er definieren konnte. Kein schmerz, keine Trauer. Wie im Schock. Anfangs hatte Torren sich nichts dabei gedacht, schließlich kam das bei so einer Tragödie vor. Doch das war jetzt schon fast einen Monat lang her, langsam sollte er wirklich aus diesem Zustand erwachen. Doch das tat er nicht und er begann sich zu fragen, ob etwas nicht mit ihm stimmte.
Er wollte niemanden sehen, mit keinem reden. Nicht mit Robin, nicht mit Kenny und auch nicht mit Lauren. Sie würden ihm alle Vorwürfe machen, weil er nichts fühlte. Seit dem Fortgang von Robin hatten seine Eltern ihn fast ignoriert und er war mehr oder weniger auf sich selbst gestellt gewesen, doch das hatte seiner Liebe zu seinen Eltern keinen Abbruch gemacht. Schließlich waren sie seine Eltern. Doch warum konnte er jetzt nicht weinen, nicht um seinen Vater trauern? Warum fühlte er nichts, gar nichts? Vielleicht sollte er einfach weg gehen. Er hatte noch nie sonderlich an diesem Dorf gehangen. Das einzige, was ihn noch hielt, waren Lauren und Robin. Seine Mutter hatte Kenny und Robin, sie kam auch ohne ihn zurecht und er auch ohne sie. Doch wie sollte er ohne Lauren leben?
Sie war seine beste Freundin, und wenn Torren ehrlich war, empfand er mehr als nur Freundschaft für sie. Aber was half es, wenn er ihr nicht unter die Augen treten konnte? Was würde sie von ihm denken? Er war ein gottverdammter Mistkerl, der es nicht zustande brachte, um seinen eigenen Vater zu trauern! Davon abgesehen war Christine, ihre Mutter, sowieso gegen eine Freundschaft zwischen ihnen. Er wollte nicht, dass die beiden wegen ihm getrennte Wege gingen.
Torren suefzte und legte einen Arm über sein Gesicht. Er wusste nicht, wie es jetzt weitergehen sollte. Was sollte er machen, mit seinem Leben anfangen? Er hatte keine Antwort darauf. Hier bleiben würde er nicht. Das hatte er nie gewollt. Das Dorf war schön und würde für ihn immer eine Heimat sein, mit Menschen, die er mochte und liebte, aber er wollte nicht hier alt werden. Er wollte in den Süden, etwas mehr vom Nebelwald sehen und vielleicht einen Ort finden, wo er bleiben wollte.
Er hatte sich nie vorgestellt, allein zu gehen. In seinen Träumen begleitete Lauren ihn, war an seiner Seite. Aber Christine würde sie niemals gehen lassen und davon abgesehen wusste er ja nicht einmal, ob Lauren überhaupt mit ihm gehen würde wollen.
Leise klopfte es an seiner Zimmertür. Zaghaft, zurückhaltend. Es war also nicht Robin und Kenny auch nicht.
„Kann ich rein kommen?“ Laurens liebliche, melodische Stimme drang zu ihm, ruckartig setzte er sich auf.
„Ich will jetzt nicht reden. Lass mich allein!“
Doch Lauren ließ sich nicht so leicht abwimmeln, sie blieb wo sie war, vor der Tür zu seinem Zimmer.
„Bitte Torren, lass mich rein, lass mich bei dir sein und mit dir reden! Bitte, schließ mich nicht aus!“
Wie könnte er ihr wiederstehen? Er liebte sie. Jetzt, da er es sich eingestand, kam er sich dumm vor, dass er es nicht früher gemerkt hatte. Ja, er liebte sie. Er brauchte sie. Er wollte mit ihr reden. Auch wenn sie ihn möglicherweise nicht verstehen würde.
„Komm herein!“ gab er nach und lehnte sich mit dem Rücken an die weiße Wand und zog die Beine hoch um die Arme darauf zu stützen.
Langsam öffnete sich die hölzerne Tür, langsam und geräuschlos. Er hatte sie erst vor Kurzem geölt, weil es ihn genervt hatte, dieses ständige Quietschen und Knarren.
Lauren sah so gut aus wie immer. Ihr dunkles Haar trug sie zu einem Pony zurückgebunden, was ihr wirklich ausgezeichnet stand. Ihre braunen Augen blickten besorgt zu ihm hinüber, musterten ihn von oben bis unten.
Torren streckte seine Hand aus und zog Lauren neben sich auf das Bett, wartete, bis sie neben ihm saß, mit dem Rücken an die Wand gelehnt.
„Ich werde dich nicht fragen, wie es dir geht. Aber ich habe mir Sorgen um dich gemacht und es hat weh getan, dass du mich so ausgeschlossen hast.“
Torren sah Lauren in ihre wunderschönen braunen Augen und spürte Reue, weil er ihr wehgetan hatte. Er wollte nicht, dass sie traurig war.
„Es tut mir leid. Aber ich wollte nicht, dass du mich so siehst.“
„Wie denn? Wie soll ich dich nicht sehen sollen?“
Torren zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht. Von mir wird erwartet, dass ich weine und trauere und danach weiterlebe. Aber das kann ich nicht, verstehst du? Ich kann es einfach nicht. Ich fühle nichts, keine Trauer, keinen Schmerz. Ich fühle mich leer und ich weiß keinen Grund dafür. Ich weiß nicht, was mit mir nicht stimmt.
Ich wünschte, ich könnte weinen. Aber ich kann nicht.“
Lauren sah Torren eine Weile schweigend an, der den Kopf abwandte, so als könne er nicht ertragen Mitleid oder Unverständnis in seinen Augen zu sehen. Wenn er sie angesehen hätte, wüsste er, dass beides nicht der Fall war.
„Das ist normal, Torren. Leere ist ein Teil der Trauer. Manche trauern so, andere eben anders. Du stehst unter Schock, kannst nicht fassen, was passiert ist. Glaub mir, irgendwann kannst du die Trauer, die du jetzt verdrängst, zulassen.“
Was sie sagte, klang so vernünftig. Aber… „Am Anfang, ja. Aber sein… Tod ist jetzt schon einen Monat her. Das ist ein wenig lange für einen Schock und Verdrängung, meinst du nicht?“
Lauren jedoch schüttelte entschieden den Kopf und griff nach Torrens Hand. „Sieh mich an. Torren, bitte, sieh mich an.“
Zögernd gehorchte er und wandte seinen Kopf seiner besten Freundin zu, die seine Hand noch nicht losließ.
„Du warst fast die ganze Zeit hier allein im Zimmer und hast niemand an dich herangelassen, mit niemandem über seinen Tod gesprochen. Kein Wunder, dass es noch nicht zu dir durchgedrungen ist.
Aber ich werde jetzt mit dir reden und es dir sagen: Dein Vater ist tot, er kommt nicht zurück. Es tut mir unendlich leid, ich würde dir das so gerne ersparen, aber das kann ich nicht. Aber ich kann dafür sorgen, dass du angemessen um ihn trauern kannst. Erst wenn du das getan hast, kannst du weiterleben.
Ich will dir nicht weh tun, aber trotzdem musst du es hören, so lange, bis du es begreifst: Dein Vater, James, wurde ermordet und deine Schwester hat ihn finden müssen. Er ist tot, Torren. Und es tut mir unendlich leid.“
Da brach der Schutz, hinter dem er sich einen Monat lang versteckt und wie ein Schild um sich geschlungen hatte zusammen und er konnte die Tränen nicht zurückhalten.
„Ich vermisse ihn, Lauren. Ich will das Zimmer nicht verlassen, weil ich nicht sehen will, wie Mum um ihn weint und ich will nicht begreifen müssen, dass er nicht unten am Tisch sitzt. Ich vermisse ihn so…“
Lauren schloss die Augen und schlang die Arme um den Menschen, der ihr auf der ganzen Welt am meisten bedeutete.
Torren vergrub sein Gesicht an ihren Hals und presste sie mit seinen Armen fest an sich. Heftige Schluchzer schüttelten ihn und es zerriss ihm das Herz, die Trauer zuzulassen.
„Ich habe ihn geliebt. Ich habe ihn geliebt.“
Lauren nickte und streichelte ihm beruhigend durch die Haare, ihr selbst rannen ebenfalls Tränen die Wangen hinab. Es tat ihr weh zu sehen, wie sehr er litt. Sie wünschte, sie könnte ihm den Schmerz nehmen. „Ich weiß, Torren. Ich weiß.“


Kapitel 12


Am nächsten Morgen betrat Robin Ambers Schneiderei. Ihre Freundin stand hinter der Theke und unterhielt sich gerade mit Jays jüngerem Bruder Lesly, der gerade aus dem Teenageralter herausgewachsen war. Er hatte das gleiche Haar wie sein Bruder und auch sonst sah er wie eine jüngere Ausgabe von Jay aus. Robin hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Beim Ball hatte er die meiste Zeit in einer Ecke mit seiner Freundin geknutscht und einmal war er vorbeigekommen um mit ihr zu reden. Er war ein lieber Junge, im gleichen Alter wie Torrin. Die beiden waren auch ziemlich gut befreundet, aber da die beiden nun mit ihren Mädchen beschäftigt waren, machten sie nicht mehr so viel miteinander wie früher.
„Lesly, wie geht es dir?“
Der Junge blickte auf und erwiderte ihr freundliches Lächeln. „Hallo Robin. Danke, ganz gut. Ist nur ein bisschen stressig zu Hause gerade, meine Familie rastet völlig aus wegen der Hochzeit.“
„Hey Robin, ich freu mich, dich zu sehen!“ grüßte nun auch Amber, verschwand aber gleich hinter dem Vorhang, der zu ihrer Privatwohnung führte.
Robin wandte sich wieder an Lesly und lehnte sich an die Theke. „Das kann ich mir vorstellen. Was machst du hier?“
„Ich will mit Jane zur Hochzeit gehen und ich will sie mit einem Kleid für sie überraschen. Weißt du, sie liebt hübsche Kleider und sie hat morgen Geburtstag, also…“
Robin nickte und lachte leise. „Das ist eine süße Idee, Lesly, wirklich. Gott, wie du dich verändert hast!“
Zu seiner Bestürzung musste er feststellen, wie er errötete und seine Wangen vor Verlegenheit zu brennen begannen.
„Na ja… ja, vielleicht ein bisschen. Du aber auch. Du bist noch schöner als früher. Tut mir leid, dass ich seit deiner Rückkehr kaum bei euch vorbeigeschaut habe, aber Jane und ich… wir sind noch nicht so lange ein Paar und… Jay ist mit einer anderen verlobt… Ich weiß, es ist dumm, aber ich fand es komisch wenn ich dich öfter besuche als Ines und die besuche ich eigentlich gar nicht…“
„Du brauchst dich wirklich nicht zu rechtfertigen, ist schon gut. So viel Zeit haben wir früher nicht miteinander verbracht.
Wieso besuchst du Ines nicht so oft? Ich meine, bald ist sie die Frau deines Bruders.“
Lesly wand sich und verzog das Gesicht, als ob er bei etwas ertappt worden wäre, das er nicht hätte tun sollen.
„Ich weiß nicht… ich kann sie nicht so gut leiden. Ich weiß auch nicht, warum. Du hast viel besser zu ihm gepasst, aber sag ihm das nicht, okay? Ich meine, dass ich dir das gesagt habe, sonst ist er wieder sauer auf mich.“
Amber kam aus dem hinteren Teil des Hauses zurück und trug ein wunderschönes gelbes Kleid, das sie Lesly präsentierte.
„Wie findest du das? Glaubst du, es gefällt Jane?“
Jane… Jane… Robin konnte sich kaum noch an sie erinnern, meinte aber zu wissen, dass sie ein oder zwei Jahre jünger war als Torrin und Lesly.
„Oh, ja. Sie wird das Kleid lieben. Ich nehme es!“
Fünf Minuten später war Robin mit Amber alleine und ihre Freundin beugte sich über die Theke zu ihr hinüber.
„Süße, was kann ich für dich tun? Willst du reden?“
Robin schüttelte den Kopf und strich sich eine Strähne hinter das Ohr, sah sich beiläufig in der Schneiderei um und inspizierte die Klamotten, die in den Regalen lagen und auf den Ständern hingen.
„Eigentlich nicht. Nur soviel: Ines zwingt mich praktisch dazu, dass ich zu ihrem Junggesellenabschied gehe und ihr ein Geschenk mitnehme, am besten ein Kleid.
Also, hast du was Passendes?“
Amber runzelte die Stirn und schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich wusste schon immer dass sie egoistisch ist, aber dich so zu quälen? Das ist scheußlich.“
„Ach, lass es. Ich werde es schon überleben.“

In der Nacht lag Robin in ihrem Bett und starrte an die Decke. Sie hatte Amber gesagt, dass sie es überleben würde und dass es ihr gut ginge, doch das war gelogen. In Wahrheit zerriss es ihr das Herz. Wie sollte sie zu dem Abend gehen, an dem gefeiert wurde, dass Ines Jay heiraten würde und zwar schon bald? Heftig aufschluchzend biss sie sich in die Lippen und ließ die Tränen ungehindert über ihre Wangen rinnen. Es tat so weh, den Menschen zu verlieren, den sie am meisten auf der Welt liebte. Schlimmer war noch, auch seine Liebe verloren zu haben. Die gehörte jetzt Ines, sonst würde er sie nicht heiraten.
Vielleicht sollte sie einfach wieder gehen, das Dorf verlassen, denn sie glaubte nicht, dass sie es ertragen könnte, zusehen zu müssen, wie die beiden eine Familie gründeten und ihre Kinder herumliefen, wo es doch Jays und ihre Kinder sein sollten und nicht die von Ines.
Robin wusste, dass es für sie nie einen anderen Mann geben würde und der Gedanke, einsam sterben zu müssen, schüttelte sie in neuen Schluchzern.
Sie war blöd, so blöd. Sie sollte Jay vergessen. Es war wohl einfach das Schicksal gewesen, das sie auseinander geführt hatte. Ihre Entführung hatte nicht nur das Ende ihres bisherigen Leben, sondern auch ihrer Beziehung bedeutet und anscheinend auch ihrer tiefen Bindung. Robin hatte gehofft, dass er auf sie wartete, dass er sich freute, sie zu sehen und dass er nie gedacht hatte, sie hätte ihn verlassen. Aber anscheinend hatte sie falsch gelegen, er hatte ihr nicht vertraut und offenbar keine allzu gute Meinung von ihr gehabt, andernfalls hätte er nie daran gedacht, dass sie einfach gegangen wäre ohne auf Wiedersehen zu sagen. Er hätte sie besser kennen sollen.
Trotzdem, sie konnte ihre Gefühle nicht abstellen, sie waren da und würde so schnell nicht verschwinden. Besser sie würde versuchen ihrem Leben wieder einen tieferen Sinn zu geben und sich etwas zu suchen, das sie tun konnte, das sie tun wollte.
Fürs Erste würde sie Amber in ihrem Laden helfen können, aber schneidern konnte sie nicht wirklich. Früher einmal war sie sehr begabt mit Instrumenten gewesen, doch das war schon so lange her, dass sie nicht mehr sicher war, ob sie es noch konnte.
Zeichnen… sie liebte es, zu zeichnen. Früher hatte sie immer die Entwürfe für Ambers Kleider gemacht, aber die Entführung hatte dann die Partnerschaft beendet. Vielleicht könnte sie es wieder tun, wieder Entwürfe zeichnen und Amber somit neue Ideen und neue Kollektionen liefern. Robin hoffte bloß, dass sie nicht ihre Inspiration verloren hatte.
Entschieden wischte sie sich die Tränen von den Wangen und richtete sich auf. Auf Dauer konnte sie nicht lediglich Entwürfe zeichnen, dafür wurden hier nicht genug Kleidung gebraucht, außerdem zeichnete sie schneller als dass Amber schneidern konnte. Aber fürs Erste musste das einfach reichen.
Sie würde Jay nicht mehr hinterherweinen, nicht, wenn es keine Chance für sie mehr gab. Sie würde ihn immer lieben, aber sie würde sich deswegen nicht kaputt machen. Sie würde zu Ines Junggesellenabend gehen und sie würde es mit Würde tun.


Kapitel 13

Robin betrachtete sich in dem Spiegel und zupfte unzufrieden in ihrer Frisur herum. In weniger als einer Stunde würde der schlimmste Abend ihres Lebens beginnen und sie wusste noch nicht recht, wie sie damit umgehen sollte. Vor ein paar Tagen hatte sie sich von Amber ein Kleid gekauft, nur weil Ines darauf bestand, dass sie sich schön anzog.
Schnaubend strich sie über das knielange dunkelblaue Kleid und wandte sich dem Bett zu, auf dem, in einem hübschen Päckchen verstaut, das Geschenk für Ines lag. Als ob Ines wirklich ein grünes Kleid bräuchte, ausgerechnet von ihr. Jay würde ihr alles kaufen, was sie haben wollte, und morgen würde sie sowieso ein wunderschönes weißes Brautkleid tragen.
Robin seufzte und nahm das Päckchen, sah sich noch einmal im Zimmer um, um festzustellen, ob sie etwas vergessen hatte, dann ging sie die Treppen hinab in die Küche, wo ihre Mutter gebeugt über dem Tisch saß.
„Ich gehe jetzt, Mum. Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme. Es kann spät werden.“
Robin wartete ihre Reaktion, die lediglich aus einem leichten, abwesenden Nicken bestehen würde, gar nicht ab und machte sich auf den Weg zu Ines Haus, wo der Abend stattfinden würde.
Sie hatte sich erkundigt, einige Leute nach den Gästen gefragt. Es kamen die engsten Freunde von Ines, Frauen, die sie früher gemieden hatte, zu denen auch Ines nicht gehört hatte. Das hatte sich scheinbar verändert, jetzt war sie eine von ihnen, wie sie es immer genannt hatten.
Eine von ihnen, von dem exklusiven Club, angeführt von Lara Maine. Sogar in einem kleinen Dorf wie diesem gab es Mädchen, die Macht über andere besaßen und ihren guten Ruf auszunutzen wussten. Es waren intrigante Frauen, die alles so spannen, wie sie es gerade brauchten. Robin hatte Lara und ihre Freundinnen nie ausstehen können, aber diesen Abend konnte sie ihnen nicht länger aus dem Weg gehen. Irgendwie würde sie es schon überleben.
Als Robin an die Tür klopfte, drang bereits leise die Musik zu ihr heraus, verführerische Musik, die eine Frau mit leiser, rauchiger Stimme sang.
Völlig unpassend, fand Robin, aber es war ja nicht ihre Sache, und wenn sie Ines gefiel… Nun, dann eben diese Musik.
Ines riss die Tür förmlich auf, sie schien schon einiges intus zu haben, denn ihre Augen wirkten verklärt und waren glasig.
„Robby! Schön dass du endlich da bist. Wir warten schon auf dich, aber das war ja klar, dass du dir Zeit lassen würdest.
Ist das mein Geschenk? Ich hoffe, dass es mir gefällt!“
Robin konnte ihre ehemalige Freundin nur mit weit aufgerissenen Augen ansehen, als diese ihr das Päckchen einfach aus der Hand riss und wieder im Haus verschwand.
Zögernd folgte Robin ihr in das Haus und schloss die Tür hinter sich. Wie erwartet waren neben Ines auch noch Lara, Tina, Kiki und Mia da, in einer hinteren Ecke im Wohnzimmer, welches in dunkles, schummriges Licht getaucht war, saß Amber, die sich sichtlich unwohl fühlte, auf einem samtenen roten Sessel und beobachtete die anderen dabei, wie sie mit langsamen Bewegungen und einem Glas Cosmopolitan durch den Raum tanzten.
Robin ging auf ihre Freundin zu, froh und erleichtert, sie hier zu sehen. Nicht allein diesen… Frauen gegenüberstehen zu müssen.
„Amber. Ich wusste nicht, dass du auch eingeladen bist.“
„Ja, das wusste ich bis heute morgen auch nicht, aber ich habe ihr versprochen, dass sie Vergünstigungen bekommt, wenn sie mich einlädt. Ich konnte dich doch nicht allein mit ihnen lassen.“
Robin brach fast in Tränen aus vor Rührung und umarmte die dunkelhaarige Frau und drückte sie eng an sich. „Danke, Amber. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich täte.“
„Ach, ist doch klar. Als du mich in dein Geheimnis eingeweiht hast, war ich mehr als nur ein bisschen berührt. Das hat mir viel bedeutet. Und ich weiß, dass Ines und du einmal Freundinnen wart. Es tut mir leid.“
Was sie nicht sagte, war, dass es ihr leid tat, dass sie Jay verloren hatte, aber Robin wusste, dass sie das dachte.
„Hey, was tuschelt ihr da? Es wird nicht getuschelt. Geschenke werden ausgepackt!“
Seufzend setzte sich Robin auf die Lehne des Sessels und sah zu den 5 anderen Frauen hinüber, die aus allen Ecken des Zimmers in Geschenkpapier gepackte Sachen holten und sie auf dem Wohnzimmertisch stapelten.
Es waren viele Päckchen, große Päckchen.
„Seht, das hat Jay mir heute Morgen gegeben. Ist das nicht süß von ihm?“
Um ihren Hals funkelte ein wunderschönes Diamantcollier, das ganz bestimmt ein Vermögen gekostet hatte.
„Ja, wunderschön.“


Die Party war schlimmer, als Robin sie sich vorgestellt hatte. Es war laut und es wurde zu viel getrunken. Und umso mehr Ines trank, umso unausstehlicher wurde sie. Den Höhepunkt erreichte der Abend, als sie anfing Bettgeschichten über sich und Jay zu erzählen. Wie gut er nicht im Bett sei, schwärmte sie, und zu allem Überfluss fragte sie Robin auch noch um ihre Meinung.
Darauf jedoch wollte sie nicht antworten, woraufhin Ines anfing wie verrückt zu lachen.
„Er redet mit mir auch nie darüber. Ich denke, du warst einfach so schlecht, dass er es vergessen hat oder vergessen will.
Aber nimms nicht so schwer, ein Mann wie Jay hätte es bei einem so langweiligen, hässlichen magersüchtigen Wölfchen sowieso nicht lange ausgehalten.
Wenn du nicht gegangen wärst, hätte er früher oder später sowieso eine Affäre mit mir angefangen!“
Robin schob ihre gehässigen Worte auf die Tatsache, dass sie betrunken war und das stimmte vermutlich auch. Sie glaubte nicht, dass Jay je so tief sinken und seine Freundin betrügen würde, trotzdem taten ihre Worte weh und sie musste sich zusammenreißen, um ihr nicht ins Gesicht zu sagen, dass sie genau wusste, wie gut Jay im Bett war.
Stattdessen erhob sie sich und verkündete, sie sei zu müde um noch länger hier zu bleiben und dass sie nun ins Bett gehen wollte.
„Ja, geh nur. Ich wusste ja schon immer, dass du langweilig bist.“
Robin ignorierte Ines gehässige Worte und wandte sich an Amber. „Kommst du mit zu mir?“
Amber schüttelte den Kopf. „Nein. Ich bin müde und dein Haus liegt in der anderen Richtung. Aber ich gehe mit dir los.“
Gemeinsam sammelten sie ihre Sachen zusammen, die überall auf dem Fußboden verstreut lagen und verabschiedeten sich kurz und bündig von den anderen Partygästen.
Erst als sie wieder frische Luft auf ihrer Haut spürte, konnte sie wieder richtig aufatmen.
Die Nacht war so ruhig und die plötzliche Stille tat so gut in ihren Ohren. Robin spürte, wie sich ihr Puls fast augenblicklich wieder beruhigte und sie schloss einen Moment die Augen, um es zu genießen, dass sie aus der Hölle entkommen war.
„Geht es dir gut?“ Amber blickte ihre Freundin besorgt an und legte behutsam eine Hand auf ihren Arm.
„Ja, alles okay. Geh nur. Wir sehen uns morgen bei der… der Zeremonie.“
Amber musterte sie ein letztes Mal besorgt, ehe sie sie umarmte und ihr eine gute Nacht wünschte.
Robin wartete nicht ab, bis Amber im Wald verschwand, sondern machte sich sofort auf den Weg in die andere Richtung. Sie wollte jetzt allein sein, niemanden sehen und mit niemandem reden. So schlimm der Abend auch gewesen war, zumindest hatte sie nie die Gelegenheit gehabt, zu realisieren, dass dies der letzte Abend war, an dem Jay noch nicht verheiratet war. Morgen würde er ein Ehemann sein und zwar nicht der Ihre.
Tränen schossen ihr in die Augen und sie konnte nicht verhindern, dass sie überflossen.


Kapitel 14

Irgendwann hörte Robin auf zu laufen. Tränen rannen ihr Gesicht hinab und tropften auf ihr Kleid. Sie wusste, dass sie das Dorf nicht noch einmal hinter sich lassen würde. Weinend sank sie zu Boden, unfähig sich noch länger auf den Beinen zu halten.
Jay. Ihr Jay.
Hemmungslos schluchzend presste Robin sich die Hand gegen den Mund, damit sie keiner hörte. Sie wollte und musste jetzt einfach allein sein. Um ihre große Liebe trauern.
Sie wusste nicht, wie lange sie so da saß und weinte, darum weinte, dass sie Jay gehen ließ, ohne dass er die Wahrheit um ihr Verschwinden kannte. Er hasste sie dafür und er hatte gelitten. Hatte er nicht ein Recht darauf, die Wahrheit zu kennen? Doch sie schämte sich so, schämte sich aufgrund ihrer Hilflosigkeit und weil sie sich als Wolf nicht hatte wehren können.
„Robin?“ Sie zuckte unter Jays überraschter Stimme zusammen und vergrub ihr Gesicht in den Händen, damit er ihr Weinen nicht bemerkte. Er war der Letzte, den sie jetzt sehen konnte, aber der einzige, den sie sehen wollte.
„Ich habe jemanden weinen gehört und dachte, etwas ist passiert. Robin, was ist los? Warum weinst du?“
Er hatte es also schon bemerkt, erkannte Robin seufzend. Warum musste seine Stimme zu sanft und weich klingen? Konnte er sie nicht anschreien. Dann fiele es ihr leichter, ihn zu vergessen.
Vergessen. Als ob sie das je könnte.
„Tue ich gar nicht, alles okay.“ Doch es war unüberhörbar, dass nicht alles okay war. Langsam kauerte sich Jay neben sie und strich ihr vorsichtig über den Arm. „Bist du verletzt? Ist was passiert?“
„Nein, ich bin nicht verletzt und es ist auch nichts passiert, keine Sorge. Es ist bloß… ach, vergiss es.“
„Komm, ich bring dich nach Hause.“
„Nein!“ rief Robin und packte Jay am Arm, als er aufstehen wollte. „Nein, bitte, ich will nicht nach Hause.“
„Also gut, dann… dann bring ich dich eben wo anders hin. Es ist kalt.“
Kommentarlos ließ sie sich aufhelfen, doch ihre Beine zitterten durch das viele Weinen, also nahm Jay sie kurzerhand auf die Arme und trug sie.
Kraftlos ließ sie den Kopf gegen seine Brust sinken und schloss die Augen. Ihr Geruchssinn sagte ihr, dass er sie nicht nach Hause trug, sondern zu Teds alten Heustall, der irgendwo außerhalb im Stall stand. Dort waren sie früher immer hingegangen, wenn sie allein sein wollten.
Jay stieß die Tür auf und setzte sie auf dem weichen Heu ab, das einfach herrlich duftete. Robin setzte sich bequem hin und strich ihr Kleid glatt, wartete bis Jay sich neben sie sinken ließ. Er hatte sie hierher gebracht. Warum blieb er?
„Also, was ist los?“
„Was soll schon los sein?“
„Ach komm schon, Robin, erzähl mir doch keinen Blödsinn. In all den Jahren, in denen wir uns kennen, hast du nur sehr wenige Male geweint und wenn du es getan hast, dann aus einem Grund.
Also, lüg mich nicht an. Was ist los?“
Robin seufzte. Sie wusste, dass er so lange keine Ruhe geben würde, bis sie es ihm erzählte.
„Ich war auf Ines Party… und… es hat mich etwas aufgewühlt. Mehr nicht.“ Jay runzelte die Stirn. „Warum hat es dich aufgewühlt? Und dann auch gleich so, dass du weinst, als ginge die Welt unter?“
Robin wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und rieb ihre Wangen trocken. „Ach, ist doch egal.“
„Nein, ist es nicht. Hat sie was gesagt, das dich verletzt hat?“
Warum musste er nur so nett sein? Sie konnte ihn nicht anlügen, ihr fehlte die Kraft dazu.
„Nein, nicht wirklich. Sie hat nur dauern unter die Nase gerieben, dass du sie morgen heiratest und nicht mich. Dass ich dich für immer verloren habe.“
Robin wagte es nicht, ihn anzusehen, wagte es nicht, auch nur aus den Augenwinkeln zu ihm zu blicken, aus Angst, was sie sehen könnte.
Eine Weile war es ziemlich still, keiner sagte etwas. Schließlich war es Jay, der das Schweigen brach.
„Das hat dich zum Weinen gebracht? Dass ich morgen heirate?“ Seine Stimme klang überrascht. Überrasch und wütend.
Kleinlaut gab sie zu, dass er Recht hatte. „Ja.“
„Verdammt, Robin. Wenn ich dir wirklich etwas bedeuten sollte, wieso hast du mich dann verlassen? Warum bist du abgehauen? War ich dir nicht mehr gut genug? Wolltest du sehen, was ohne mich läuft, ob ich dir ein Klotz am Bein bin? Habe ich dich etwa eingeengt? Oder nur gelangweilt? Du hast kein Wort gesagt, bist einfach gegangen. Und jetzt bist du zurück und sagst mir, dass du so herzzerreißend weinst, weil du mich für immer verlierst? Wie kannst du es wagen, zu weinen? Ich hatte damals jedes Recht zu weinen, denn du hast mir das Herz gebrochen.“
Seine Worte trafen sie tief, tiefer als sie je gedacht hatte. Doch was wusste er schon? Nun spürte auch Robin Wut in sich hochsteigen.
„Du hast doch keine Ahnung! Du hast keine Ahnung warum ich gegangen bin, du denkst es bloß! So wie Mom, Torren und alle anderen. Kenny und Amber sind die einzigen, die die Wahrheit kennen. Dich habe ich auch belogen.“
„Was redest du da? Herrgott, Robin, was meinst du?“
„Was ich meine?“ Mittlerweile hatte sie sich richtig in Rage geredet. „Was ich meine, ist, dass ich gar nicht freiwillig gegangen bin, okay? Ich habe dich nicht verlassen, das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Ich habe dich so geliebt und ich liebe dich immer noch. Dich mit Ines zu sehen zerreißt mich. Aber ich habe dich nicht verlassen.“
Robin holte tief Luft, um sich zu beruhigen. Sie fasste nicht, was sie gleich tun würde.
„Da war dieser Kerl. Ich ging spazieren und lief ihm über den Weg, gerade als ich mich verwandelte. Ich kannte ihn nicht, er kam nicht aus dem Dorf und er roch auch nicht nach einem anderen Gestaltwandler.
Er schien überrascht und beeindruckt von der Wandlung zu sein, so als hätte er das noch nie gesehen. Ich wollte umdrehen und weglaufen, aber er packte mich und drückte mich zu Boden. Zwei Männer kamen ihm zu Hilfe und sie schleppten mich ab, weg aus dem Wald. 4 Jahre war ich gefangen, bis ich endlich entkommen konnte. 4 Jahre habe ich verloren, doch das wäre mir egal gewesen, wenn ich dich hätte. Aber auch dich habe ich verloren. Ich habe so vieles verloren, was ich geliebt habe.“
Die letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Nun kannte er die Wahrheit, nun wusste er, warum sie weg gegangen war. Würde er sie verabscheuen, oder gar bemitleiden? Würde er Ekel empfinden?
Erneut dehnte sich Schweigen aus, diesmal länger als zuvor. Robin wandte den Blick nicht vom Boden ab, zählte die Strohhalme und versuchte nicht daran zu denken, was jetzt kommen würde.
„Mein Gott, Robin. Oh mein Gott.“
Er schien tief getroffen, entsetzt, fassungslos. Und ehe Robin etwas tun konnte, hatte Jay seine Arme bereits um sie geschlungen und sie an sich gepresst.
Erstaunt und verblüfft konnte sie nichts anderes tun als seine Umarmung zu erwidern, die fast verzweifelt wirkte. Ihre Wange war gegen seine Brust gepresst und sie konnte seinen schnellen Herzschlag hören, der jedoch beruhigend auf sie wirkte.
Jay lehnte seine Wange an ihr Haar und streichelte ihre Arme, als ob er sich vergewissern müsste, ob sie wirklich da war.
„Oh Robin… Warum hast du nichts gesagt? Wenn ich das gewusst hätte…. Und ich habe dir Vorwürfe gemacht. Es tut mir leid, es tut mir so leid, Robin.
Es tut mit leid, dass ich nicht an dich geglaubt habe und dir so etwas zugetraut habe, dass ich dich nicht gesucht habe.“
Robin schüttelte den Kopf. „Es ist nicht deine Schuld. Ich habe es dir ja nicht gesagt und wie konntest du ahnen, was passiert ist? Hier in die Gegend kommt nie jemand fremder, wie solltest du wissen, was geschehen war?
Es ist vorbei, okay? Ich bin wieder hier.“
„Ja, es ist vorbei. Großer Gott, wie du gelitten haben musst. Und ich mache dir auch noch Vorhalte! Vergib mir, bitte, vergib mir.
Du warst so dürr, dem Tod so nah und ich dachte es läge an deiner Dummheit. Wenn ich gewusst hätte… Was du alles durchgemacht haben musst.“
„Schon gut. Ich bin wieder hier. Was mir jedoch am meisten weh tut, ist nicht dass ich verletzt wurde und gefangen gehalten, sondern dass ich dich verloren habe.“
„Aber das hast du nicht. Du hast mich nicht verloren. Ich habe nie aufgehört dich zu lieben, ich habe jeden einzelnen Tag an dich gedacht und von dir geträumt. Ich dachte mit Ines könnte ich über dich hinweg kommen, aber ich liebe sie nicht. Nicht so, wie ich dich liebe. Vielleicht empfinde ich ihr gegenüber nicht mehr als Freundschaft, aber ich wollte so sehr über dich hinwegkommen, dass es mir egal war, dass ich sie nicht liebte.
Dich liebe ich, Robin, nur dich.“
„Oh Jay!“ seufzte Robin.
Jay sah ihr in die Augen, dann beugte er sich nach vorne und küsste sie. Wie sie dieses Gefühl vermisst hatte, Seine Lippen auf ihren, seine Hände auf ihrem Körper. Robin legte all ihre Liebe in diesen Kuss und begann, fahrig an seinen Knöpfen herumzuhantieren.
Als auch Jay begann, sie aus ihren Klamotten zu befreien, schaltete sich ihr Denkvermögen aus. Es gab nur noch Jay und sie und die Vergangenheit war ausgelöscht. Zumindest für den Moment.


Blinzelnd öffnete Robin die Augen. Es war bereits hell und einzelne Sonnenstrahlen drangen durch die Holzbretter des Daches. Neben ihr im Heu lag Jay, einen Arm fest um sie geschlungen. Ihr Herz begann bei seinem Anblick schneller zu schlagen, ja fast zu rasen. Er war so schön… und die gestrige Nacht würde sie wieder vergessen. Er hatte gesagt, dass er sie liebte. Er liebte sie! Glücklich lächelnd wandte Robin ihm ihr Gesicht zu. Er schlief noch, seine schönen Augen waren noch geschlossen.
Plötzlich schoss ein Gedanke durch ihren Kopf, der sie erstarren ließ.
Heute war Jays Hochzeitstag, der Tag, an dem er Ines heiraten würde. Sie hatten zwar die Nacht miteinander verbracht, aber er war immer noch mit Ines verlobt. Und nichts ging über Jay Ehrgefühl. Er war durch und durch ein Ehrenmann und wenn er jemanden so sehr verletzte, wie er Ines bei Absage der Hochzeit verletzen würde, würde er sich selbst hassen.
Jay rührte sich neben ihr und streckte eine Hand nach ihr aus. „Was ist Robin? Warum bist du schon auf?“
Robin schloss die Augen und seufzte. „Die Frage ist wohl eher, warum du noch nicht wach bist.“
Jay runzelte die Stirn. „Warum sollte ich schon wach sein? Ich mag es, hier mit dir zu liegen. Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren.“
Unendliche Traurigkeit überschwemmte sie. Was sie jetzt tun würde, würde ihr das Herz brechen, aber sie musste es tun. Alles andere könnte sie sich nicht verzeihen. Sie wollte Ines nicht den Mann stehlen, so sehr sie auch darunter leiden würde. Sie könnte es nicht ertragen ihr Glück zu zerstören.
„Jay, heute ist dein Hochzeitstag. Heute heiratest du Ines.“
Robin konnte sehen, wie Jays Gesicht sich verfinsterte. „Du hast Recht. Ich hatte es in all unserem Glück, wieder vereint zu sein, vergessen. Verdammt.
Robin, es tut mir leid, ich muss jetzt gehen.“
Robin nickte bloß während ihr Herz Stück für Stück auseinander brach. Sie hatte gewusst, dass er nicht der Mann war, der sich vor der Verantwortung stahl, trotzdem tat es weh. Ihre Brust schnürte sich zusammen, tat weh, aber sie versuchte stark zu sein.
„Geh. Na los, geh schon.“ Sie schaffte es, ihre Stimme absolut ruhig klingen zu lassen.
Jay sah sie noch einmal an, strich ihr über die Wange, leicht, zärtlich, dann schlüpfte er schnell in seine Kleider und verließ die Scheune, ließ Robin allein zurück.
Kaum dass er weg war, konnte sie ihre Tränen des erneuten Verlusts nicht länger zurückhalten. Sie weinte, weil sie ihn geliebt und erneut verloren hatte, weil er jetzt mit einer anderen zusammen sein würde. Mit der Zeit würde er sie vergessen, da war sie sich sicher.
Doch es hatte keinen Sinn hier zu bleiben. Sie hatte gedacht, es schaffen zu können, doch das konnte sie nicht. Vielleicht hätte sie es gekonnt, doch nach dieser Nacht war das völlig ausgeschlossen. Sie musste gehen, musste diesmal das Dorf freiwillig hinter sich lassen. Und somit auch Jay.
Robin zog sich rasch an und beseitigte alle Spuren dieser Nacht, ehe sie sich aus der Scheune schlich, auf der Suche nach Kenny oder Torren.
Tatsächlich stieß sie wenig später auf ihren älteren und jüngeren Bruder, die beide auf dem Weg zur Hochzeit waren.
„Hey, Schwesterchen, da bist du ja!“
Kenny hielt entsetzt inne, als er die Tränen auf ihrem Gesicht sah. „Es tut mir so leid für dich, Schätzchen. Komm her.“
Für einen Moment ließ sie sich von ihren zwei Brüdern in den Arm nehmen, ehe sie sich von ihnen löste und sie ernst ansah. Erneut traten ihr Tränen in die Augen. Sie wollte ihre Familie nicht schon wieder verlassen, aber sie musste es tun. Sonst würde sie hier zu Grunde gehen.
„Ich werde gehen. Ich werde das Dorf verlassen.
Es tut mir leid, ich liebe euch, aber ich kann nicht hier bleiben und zusehen, wie Jay und Ines glücklich werden. Ich muss das tun. Vergebt mir, bitte. Aber ihr müsst mich verstehen.“
Nun breitete sich auch Traurigkeit auf Torrens und Kennys Gesicht aus, Traurigkeit und Verständnis, das war mehr, als Robin zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte gedacht, sie würden sie mit allen Mittel aufhalten wollen und war froh darüber, dass sie es nicht taten. Sie wusste nicht, ob sie die Kraft hätte trotzdem zu gehen.
„Wir haben uns das schon gedacht“, meinte Torren. „Wir verstehen dich. Wir wollen nicht, dass du gehst, aber wir werden dich nicht aufhalten und dich auch nicht bitten, wegen uns zu bleiben. Ich weiß, wie du dich fühlen musst. Wenn ich mir vorstelle, dass mir das Gleiche mit Lauren passieren würde… Und Kenny mit seiner Frau.
Geh nur. Na los, wir werden es den anderen erklären. Geh, wenn du es tun musst. Melde dich nur ab und zu bei uns, ja?“
„Oh, Jungs. Ich danke euch. Natürlich melde ich mich bei euch. Ich liebe euch.“
Kenny beugte sich nach vorne und küsste Robin auf die Stirn. „Versprich mir nur, dass du auf dich aufpasst, ja?“
„Ja, ich verspreche es.“
Robin schlang ihre Arme um den Körper ihres großen, dann um den ihres kleinen Bruders und drückte Letzterem einen Kuss auf die Wange.
„Machts gut. Ich werde euch vermissen.“
„Wir dich auch, Kleines, wir dich auch.“
Sobald sie sicher war, dass die beiden sie nicht mehr sehen konnten, begann sie zu laufen. Sie lief so schnell ihre Beine sie trugen und achtete nicht einmal auf die Richtung, in die sie lief. Weg, nur noch weg. Doch irgendwann wurde ihr Schluchzen so heftig, dass sie anhalten musste. Ihr Weinen zerriss die Stille des Waldes, die Sonne schien weiterhin beharrlich durch die Baumkronen und beachtete die Trauer des einsamen Wolfmädchens nicht.
Sie hatte in den letzten Wochen so viel geweint wie zuvor noch nie in ihrem Leben. Nicht einmal in den 4 Jahren ihrer Gefangenschaft hatte sie so viel geweint, aus so tiefer Verzweiflung und Trauer.
„Robin!“
Jays verzweifelter Ruf drang an ihre Ohren. Zuerst dachte sie, sie habe sich das nur eingebildet, weil sie es sich so sehr wünschte. Doch als ihr Name immer und immer wieder gerufen wurde und seine Stimme immer näher kam.
„Jay?“ Robin wagte es kaum zu hoffen und wandte sich zögernd zu der Stimme um, die nun direkt hinter ihr und zu einem leisen Flüstern geworden war.
Jay stand neben einer besonders dicken Eiche, seine Hände auf die Knie gestützt und heftig atmend, so als wäre er so schnell gerannt, wie er nur konnte.
„Robin…“
Jay stürzte nach vorne, gleichzeitig wie Robin und zog sie fest in seine Arme.
„Wie konntest du nur auf die Idee kommen, dass ich Ines nach allem, was gestern passiert ist, heiraten könnte? Ich liebe dich! Ich bin losgegangen, um die Hochzeit abzusagen, nicht um sie zu feiern. Ich will mit dir zusammen sein.“
Robin traute ihren Ohren kaum. Sie musste sich verhört haben. Doch Robin blickte in seine Augen und wusste, dass er die Wahrheit sagte. Er würde Ines nicht heiraten. Überglücklich schlang sie ihre Arme um seinen Hals und ließ sich von ihm herumwirbeln.
Dabei bemerkten beide nicht, wie ein dunkler Schatten zwischen den Bäumen hindurchglitt und die Augen auf sich gerichtet hielt.


Kapitel 15


Zwei Tage waren seit der abgesagten Hochzeit vergangen und es waren die glücklichsten in ihrem Leben gewesen. Stundenlang waren sie durch den Wald gelaufen oder einfach nur spazieren gegangen, hatten geredet und gelacht.
Robin hatte ihm alles erzählt, jedes Detail aus den 4 Jahren ihrer Gefangenschaft. Daraufhin war Jay fast ausgerastet und sie hatte ihn nur mit Mühe davon abhalten können, den Mistkerl zu suchen und zu töten.
Sie wünschte auch, der Mann wäre endlich tot, aber nicht, wenn Jay sich damit in Gefahr brachte.
Ines hatte sich seit der geplatzten Hochzeit nicht mehr blicken lassen, sie hatte sich in ihr Haus im Wald zurückgezogen und Robin wusste, dass Jay Schuldgefühle hatte. Doch davon ließen sie sich ihr Glück nicht verderben. Am späten Nachmittag des zweiten Tages kam Jay in ihr Zimmer, küsste sie stürmisch zur Begrüßung und lächelte sie mit seinem typischen Jay- Lächeln an.
„Ich muss dich was fragen und bitte sag ehrlich, was du davon hältst.
Ich weiß ja, dass wir noch nicht lange wieder zusammen sind und dass die geplatzte Verlobung mit Ines noch recht frisch ist, deswegen bitte ich dich jetzt auch noch nicht, meine Frau zu werden, weil es ihr gegenüber nicht fair wäre. Ich werde dich fragen, aber nicht jetzt.
Doch ich würde gerne ein Haus bauen, für dich und für mich. Ich habe Kenny und ein paar andere schon gefragt, sie würden mir helfen.
Wäre das okay?“
Robin strahlte Jay an und warf sich in seine Arme. „Oh ja. Ich würde liebend gerne mit dir in einem Haus leben, in unserem Haus.“
Jay verschwand zwei Stunden später wieder, er wollte mit ein paar Leuten wegen dem Bau reden und Robin ließ ihn gehen. Endlich war sie glücklich. Jay und sie waren wieder ein Paar, das, was sie gedacht hatte, nie wieder erleben zu dürfen, war passiert.
Sie verstand, dass sie jetzt nicht gleich heiraten konnten, aber irgendwann würden sie es tun und bis dahin würden sie zusammenleben wie ein Ehepaar. Jay liebte sie immer noch, sie konnte es kaum glauben und fassen. Ihr kam der Gedanke, dass sie sich viel Leid hätte ersparen können und auch Ines, wenn sie Jay gleich die Wahrheit gesagt hätte. Doch für solche Gedanken war es zu spät.
Robin beschloss einen Spaziergang zu machen, durch den Wald zu gehen und sich wieder so richtig zu Hause zu fühlen.
Der Wald war ruhig, nur der Wind, der durch die Baumkronen blies und die Blätter zum Rascheln brachte. Es war so friedlich. Robin dachte nur ungern daran, dass sie auf das alles hier 4 Jahre lang hatte verzichten müssen. Ihr Herz fing immer noch an zu schnell zu schlagen, wenn sie an die Gefangenschaft dachte und an das hässliche grinsende Gesicht ihres Peinigers.
Sie wusste, dass er nicht allein agierte, dass er einer Gruppe von Leuten angehörte, die herausfinden wollte, ob und welche Gestaltwandler es gab und Versuche an ihnen anstellte.
Das Gesicht des Mannes würde sie absolut nie vergessen, niemals. Seine nahezu schwarzen Augen, das schlammbraune Haar, die käsige weiße Haut. Er sah genauso aus, wie der Mann, der dort auf der Lichtung vor ihr stand.
Robin erstarrte. Wie der Mann auf der Lichtung? Ja, so konnte man es auch bezeichnen, nur fürchtete sie, dass es nicht nur das Aussehen war, das gleich war wie das des Entführers. Das musste der Entführer sein.
Robins Blut wurde zu ihr Eis, ihr Herz schien aus Angst ihre Brust zu sprengen. Er war hier, er hatte sie gefunden. Maßlose Angst machte sich in Robin breit, sie zitterte, wollte weglaufen, doch sie war wie erstarrt. Sie wusste, sie sollte schreien, doch ihre Kehle war ausgedörrt und trocken, sodass sie keinen Laut von sich geben konnte.
Der Mann kam näher, langsam, aber mit großen Schritten. In seinen Augen konnte sie erkennen, dass er wusste, dass sie sich nicht rühren konnte.
Langsam bekam Robin wieder ein Gefühl in ihren Beinen und sie begann, langsam nach hinten zurück zu weichen. Ihre Gliedmaßen fühlten sich an wie Gummi, weich wie Pudding, doch sie versuchte mit aller Kraft, sich zusammen zu reißen.
„Robin, Robin, Robin. Wie konntest du nur verschwinden? Weiß du, wie lange ich dich gesucht habe? Wochen, Monate!
Letztendlich habe ich dich gefunden und dich beobachtet. Ich musste nur auf die perfekte Gelegenheit warten.“
Robin wich immer weiter zurück, nur der Mistkerl, dessen Namen sie nicht kannte, rückte immer hinterher.
Sie wollte sich gerade umdrehen und um ihr Leben rennen, als jemand sie am Arm packte und daran hinderte. Zuerst wollte sie sich losreißen, doch dann erkannte sie Ines.
„Ines, Gott sei Dank, du musst mir helfen. Dieser Mann will mich entführen, um an unser Geheimnis zu kommen. Wir brauchen Hilfe!“
Doch Ines starrte sie nur unbeteiligt an und rührte sich nicht. „Ines, komm schon!“
Die anfängliche Erleichterung sie zu sehen, wich einem anderen Gefühl. Etwas stimmte hier nicht. Warum wirkte sie nicht ängstlich, nicht einmal überrascht?
„Frank, ich halte sie. Tu mit ihr, was du willst, aber lass Jay in Ruhe und die anderen auch. Nimm sie mit, hier will sie eh keiner. Man wird sie nicht vermissen, schließlich ist sie ja schon einmal verschwunden.“
Ines arbeitete mit diesem Mistkerl zusammen, nur um sie los zu werden? Robin spürte, wie ihr Gehirn taub wurde. Ihre ehemalige Freundin hatte sie verraten, hatte sie verraten an einen Mistkerl wie diesen Frank und alles nur, weil Jay sie liebte und nicht Ines.
„Warum tust du das, Ines? War dir unsere Freundschaft denn nie etwas wert?“
Ines lachte laut und freudlos auf. „Sicher, im Kinderalter. Aber als du dir Jay gekrallt hast, hat das aufgehört. Ich habe ihn geliebt, und du hast ihn bekommen, so wie du immer alles bekommen hast. Das ist ja wieder so typisch, Robin, die tolle Robin. Es kam mir gelegen, dass du verschwunden bist. Nur leider musstest du ja wieder auftauchen und mir Jay erneut wegnehmen.“
„Ich habe ihn dir nie weggenommen, Ines! Zumindest nicht damals. Er war nie mit dir zusammen, hörst du? Niemals. Ich wusste nicht, dass du ihn liebst, du hast ja nie etwas gesagt!“
Ines schnaubte nur. „Du warst meine Freundin, du hättest es wissen müssen. Aber das alles wird bald ohnehin nicht mehr von Bedeutung sein. Wenn du erst weg bist, wird Jay wieder zu mir zurückkommen und dich vergessen.“
„Das reicht jetzt. Ich will keine weiteren Verzögerungen. Dass dieser Mann mich entdeckt hat und ich ihn auslöschen musste, hat mir schon genug Komplikationen bereitet.“
Mann? Ausgelöscht? Plötzlich tauchte vor Robins geistigem Auge das Bild ihres toten Vaters auf. Frank hatte ihn getötet, ihr Entführer war dafür verantwortlich.
Natürlich hatte sie es schon vorher geahnt, doch nun hatte sie den Beweis: sein Geständnis. Diese schreckliche Wahrheit grub sich tief in ihr Herz und fraß ein großes Loch in ihre Brust.
„Du hast meinen Vater getötet! Ich werde niemals wieder mit dir gehen, lieber sterbe ich!“
Frank lachte auf. „Das werden wir schon sehen.“
Robin wagte es nicht, sich zu verwandeln, sie würde sich damit nur verraten und alle anderen Gestaltwandler auch. Aber wenn Ines ihm half, wusste sie nicht, ob sie schnell genug laufen konnte oder laut genug rufen.
Mit einem Satz sprang Frank auf sie zu und versuchte sie zu packen, Robin konnte gerade noch rechtzeitig ausweichen, doch verlor dafür das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ines stand hinter ihr und presste ihre Hände auf Robins Schultern, damit sie nicht entkommen konnte.
„Bleib still, du dumme Kuh!“ Mit der rechten Hand schlug sie ihr ins Gesicht, zwei, dreimal, bis Robins Nase zu bluten begann. Sie selbst hatte sich von ihrer Schwäche noch nicht ganz wieder erholt, während Ines so stark wie immer war.
Nun kam Frank wieder näher, sprühend vor Wut. „Wehr dich nicht, Kleine. Du hast doch ohnehin keine Chance.“
Mit dem rechten Bein holte er aus und trat mit aller Kraft in Robins Magen, woraufhin ihr unglaublich schlecht wurde und sie dachte, sich vor Schmerzen übergeben zu müssen.
Noch einmal trat er zu und noch einmal und Robin konnte nichts anderes tun als laut aufzuschreien vor Schmerzen. Sie dachte an Jay, ihre große Liebe, der sie, kaum dass er sie gefunden hatte, wieder verlieren würde, an ihre Brüder und ihre Mutter, für die das gleiche galt.
Warme Tränen flossen über ihre Wangen und tropften auf ihr Shirt. Sie würde Jay nie wieder sehen, wurde ihr klar, und dieser Schmerz war größer, als alles, was Frank ihr sonst noch zufügen konnte.

Torren blickte zu Lauren hinüber, die neben ihm herging und strahlte. In den letzten Tagen hatten sie fast noch mehr Zeit als je zuvor miteinander verbracht und Torren wusste nun mit Sicherheit, dass er sie liebte. Doch wusste er auch, dass er nicht hier bleiben konnte. Sicher, hier lebten seine Familie und alle, die er liebte. Aber er musste fort von hier, etwas sehen und erleben. Vielleicht kam er ja eines Tages wieder.
Torren würde gehen, wenn es sein musste auch allein. Aber er wünschte, Lauren würde mit ihm gehen.
Doch bevor er sie fragte, ob sie bereit war ihn zu begleiten, musste er wissen, ob sie seine Gefühle erwiderte. Er musste ihr dazu seine Liebe gestehen und das würde nicht einfach werden.
Torren holte tief Luft und räusperte sich.
„Lauren…“ begann er zögernd. Sie blickte hoch und ihre Augen trafen die Seinen.
„Ja?“
„Ich… ich habe dich sehr gerne und du bedeutest mir unglaublich viel, weißt du?“
Lauren lachte leise und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Du mir auch, Torren.“
Torren schüttelte den Kopf. „Ja, ich weiß, wir sind Freunde. Aber das meinte ich nicht. Du bedeutest mir viel, du bedeutest mir alles. Ich… ich liebe dich, mehr als ein Freund seine beste Freundin liebt. Ich bin in dich verliebt.“
Einen Moment wirkte Lauren überrascht, verblüfft, doch dann wandte sich der Ausdruck dem ehrlicher Freude zu. „Du liebst mich? Wirklich?“
Torren nickte ernst. „Ja. Und ich muss wissen, ob du auch so fühlst. Ich bin ehrlich zu dir. Ich werde das Dorf verlassen und wo anders hingehen, mir etwas ansehen. Ich möchte, dass du mit mir kommst, aber ich kann verstehen, wenn du das nicht möchtest.“
Doch Lauren nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und sah ihm tief in die Augen. „Ich liebe dich und ich werde mit dir kommen!“ Dann presste sie ihre Lippen auf seine und küsste ihn mit all der Liebe, die sie für ihn empfand.
Als sie sich widerwillig voneinander lösten, schwer schnaufend und atmend, blickte sich Torren in der Umgebung um, wohlwissend, was ihnen jetzt bevorstand.
„Wir müssen mit meiner Mutter reden.“ Ja, an das hatte Torren eben auch gedacht. Und wenn man bedachte, dass Christine ihn nicht leiden konnte, standen die Chancen schlecht, dass sie Lauren mit ihm gehen lassen würde.
„Bringen wir es hinter uns.“ Seufzte Torren und schloss die Augen. Lauren packte seine Hand und zog ihn hinter sich her zum Wirtshaus.

Tatsächlich war Christine alles andere als begeistert. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Nein, keine Chance. Lauren bleibt hier. Und die Beziehung zwischen euch beiden… Lauren hat einen Mann verdient, der bei ihr bleibt und nicht umherzieht wie ein Zigeuner!“
Torren starrte zu Boden, er wusste, was er Lauren damit auflud. Vermutlich sah sie es so wie ihre Mutter und würde hier bleiben. Mittlerweile war sich Torren nicht mehr so sicher, ob er auch ohne Lauren gehen würde, ob er es ertragen würde, sie zu verlassen.
Doch Lauren überraschte ihn. „Nein Mutter. Ich bin alt genug um meine Entscheidungen zu treffen. Ich liebe Torren und ich werde mit ihm gehen. Bitte, ich möchte nicht im Streit mit dir auseinander gehen.
Aber ich möchte, dass du weißt, dass ich mit Torren gehen werde.“
Zuerst sah Christine entsetzt aus, schockiert, dass ihre Tochter sich so gegen sie auflehnte. Doch dann breitete sich Resignation auf ihrem Gesicht aus. Sie seufzte tief. „Ich kann dich wohl nicht davon abhalten, oder?“
Lauren schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Mutter.“
„Na schön. Tu, was du meinst tun zu müssen.“
Lauren strahlte über das ganze Gesicht, als sie ihre Arme um den Körper ihrer Mutter schlang. „Danke Mom, danke. Ich hab dich lieb.“
Christine erwiderte die Umarmung und drückte einen Kuss auf ihren Kopf. „Ja, schon gut.“
An Torren gewandt sagte sie: „Pass gut auf sie auf.“
Torren nickte ernst. „Das werde ich.“

Robin ertrug weitere Schläge, die ihr immer mehr den Atem raubten. Mittlerweile spuckte sie schon Blut, sie wusste, wie nah sie dem Tode war. Wenn er nicht bald aufhörte, sie zu treten, würde sie sterben.
Doch Frank hörte auf, Robin wünschte fast, er hätte es nicht getan.
„Jetzt kannst du dich nicht mehr wehren. Jetzt bleibt dir gar nichts anderes mehr übrig, als mit mir zu kommen.“
In ebendiesem Moment hörte sie ein lautes Heulen. Es war das Heulen eines Wolfes.
Kurz darauf folgte ein zweites und ein drittes.
„Was ist das?“ Frank sah sich um, er wirkte nervös, ja, fast ängstlich. Während er sich im Kreis drehte, lockerte er seinen Griff, der den von Ines ersetzt hatte, die irgendwann einmal losgelassen und verschwunden war, mit der Begründung ihre Aufgabe erledigt zu haben.
Jetzt war sie allein mit diesem kranken Schwein.
Das Heulen verstärkte sich, es kam nun von allen Seiten und Franks Angst war nun so groß, dass Robin sie selbst mit der blutigen Nase riechen konnte.
Dann, mit einem drohenden, bösen Knurren sprang ein wunderschöner Wolf, der niemand anders war als Jay, aus dem Gebüsch hervor und warf sich mit seinem Körper aus Frank, der unter der Wucht des Aufpralls sofort zu Boden ging.
Es dauerte nur eine Sekunde und andere Wölfe folgten. Robin erkannte blinzelnd, dass Kenny, Lauren und Torren auch unter ihnen waren. Sie waren gekommen, um sie zu retten.
Freude schwappte über Robin hinweg. Sie würde Jay nicht verlieren und auch sonst niemanden. Jay tötete mit einem einzigen Biss ihren Feind, sorgte dafür, dass sie nie wieder Angst vor diesem Monster haben musste.
Kaum dass der leblose Körper des Entführers zu Boden sank, kam Jay auf sie zu und drängte die anderen Wölfe, die sich um sie gescharrt hatten, bei Seite, um zu ihr zu gelangen.
Mit seiner nassen Schnauze stupste er sie nicht an, schließlich war sie voller Blut, doch dafür legte er seine Pfote auf ihre Schulter.
Robin hob ihre Hand um ihm über das Fell zu streichen, doch die Kraft verließ sie und sie musste die Hand sinken lassen.
Ihr Blick wanderte zum Waldrand, wo Ines in Wolfsgestalt stand und zu ihnen hinübersah. Robin wusste nicht wieso, aber in dem Moment wurde ihr klar, dass Ines es gewesen war, die die anderen alarmiert und zu ihnen gebracht hatte. Somit ihr Leben gerettet hatte.
Ines neigte ihren Kopf, dann wandte sie sich um und lief davon in den Wald.


Epilog

6 Monate später


Robin saß auf einem Baumstumpf und beobachtete Jay, der sich mit Torren unterhielt um sich von ihm zu verabschieden. Es war der Tag, an dem Torren und Lauren aufbrechen würden. Sie hatten das Dorf schon vor einiger Zeit verlassen wollen, doch dann kam die beinahe Entführung und er wollte bleiben, bis es Robin besser ging. Dann wollte er bleiben, um die Hochzeit seiner Schwester mit Jay miterleben zu können und letztendlich wollte er sogar noch länger bleiben, doch Robin hatte ihm gesagt, dass ihre Schwangerschaft kein Grund sei, hier zu bleiben, wenn er gehen wollte.
Ines war verschwunden und die Lage hatte sich wieder beruhigt, es gab also keinen Grund, nicht zu gehen.
„Ist es wirklich in Ordnung, wenn wir zur Geburt des Kindes nicht hier sind?“
Lauren setzte sich neben Robin und schaute sie fragend an.
Doch Robin winkte ab. „Nein, geht nur. Ich weiß, wie sehr ihr das wollt. Und ich habe ja Kenny und Jay und all die anderen. Versprecht mir nur, dass ihr mich besuchen kommt, irgendwann einmal.“
Lauren nickte. „Ich verspreche es.“
„Lauren, wir sollten gehen, wenn wir das nächste Dorf noch vor Einbruch der Nacht erreichen wollen.“
Lauren nickte und umarmte Robin noch ein letztes Mal.
Unter Tränen schlang Robin ihre Arme auch noch einmal um Torren und drückte ihn eng an sich. „Passt gut auf euch auf. Ich werde euch vermissen.“
„Wir dich auch. Du hörst von uns.
Machs gut. Ich hab dich lieb.“
„Du auch.
Ich hab dich auch lieb.“
Seufzend lehnte sich Robin mit dem Rücken an Jays Brust. „Ich vermiss ihn jetzt schon.“
„Du siehst ihn ja wieder.“
„Ja, ich weiß.“
Jay legte seine Hände behutsam auf ihren rundlichen Bauch.
„Bist du glücklich?“
„So glücklich wie nie zuvor.“


Ende

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 14.04.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An meine Freunde, die mich dazu animieren weiter zu machen.

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