Prolog
Er verging. Athryn fühlte es mit jeder Faser seines Körpers.
Die Blutbuche, sein Baum, mit dem er seit ewigen Zeiten verbunden war, starb einen langsamen, erbärmlichen Tod.
Zuerst begann es in der Krone, doch nach und nach breitete sich die Fäulnis aus. Der einst so mächtige Baum wurde immer schwächer und mit ihm auch Athryn, der bis dahin größte Träumer Vandryans.
Je mehr Träumer und Baum jedoch an Kraft verloren, desto stärker wurde Awynda, der Schattenmagier.
Schon jetzt begann er seine Macht auszubreiten.
Immer weniger Menschen wandelten auf den Straßen der Träume. Stattdessen war die Dämmerung dort auf dem Vormarsch.
Rhyan und Inaiel, die Hüter Vandryans, waren nicht mehr zu erreichen. Später erfuhr Athryn, dass Inaiel und Rhyan sich mit Tahai, dem Oberhaupt der Shyir, treffen wollten, stattdessen jedoch in einen Hinterhalt der Schergen Awyndas
gerieten. Als Tahai am Treffpunkt ankam, fand er nur Rhyan, der dem Tode näher war als dem Leben. Aus diesem Grunde hatten ihn die Soldaten wohl auch liegen gelassen.
Inaiel wurde in einen der schwarzen Türme gesperrt, wo sie, wie alle dort Gefangenen, entsetzliche Qualen litt.
Doch noch hatte Athryn genug Kraft, jene zu bestimmen, in deren Hände er das Schicksal Vandryans legen wollte.
Auch wenn Awynda den Menschen alle Träume nahm, gab es einen unter ihnen, der davon nicht beeinflusst wurde.
Nur dieser Junge konnte in Zukunft das aufhalten, was mit Vandryan und allen anderen fortwährend geschah, die dort lebten.
Nur er war stark genug, den Weg zu gehen, der gegangen werden musste. Doch alleine war auch er machtlos.
So beschloss Athryn, seinen Aintha in einen der schwarzen Türme zu schicken.
Dort sollte Dunain etwas vergraben, einen Gegenstand
der Hoffnung, für Vandryan und seinen letzten Träumer.
Doshen Viandryn
(Das erste Buch der Hüter)
Kapitel 1
Als Charyan die Gestalt sah, die alleine durch den Wald streifte, glaubte er seinen Augen nicht trauen zu können. Er musste zweimal hinschauen, um zu begreifen, dass sich dieser Mensch tatsächlich ohne Waffen hierher traute.
Vorsichtig schlich der Waldläufer näher, denn an der fast zierlichen Gestalt glaubte er ein Mädchen zu erkennen, und als er den Korb mit den gesammelten Kräutern sah, war er sich seiner Sache sicher.
Nachdem der junge Waldläufer jedoch hervorgetreten war, um sich bemerkbar zu machen, stellte er überrascht fest, dass es ein junger Mann war, der etwa sein Alter haben musste.
Stumm betrachtete er den Anderen, bevor er ihn ansprach.
„Seit wann übernehmen junge Männer die Aufgaben der Mädchen und Frauen. Ist das bei euch Menschen so Brauch, oder wurdest du bestraft?“
Ein verächtliches Grinsen spielte um den Mund des Waldläufers.
Arion, der für Saretha die Heilkräuter sammelte, verbarg seine Wut und überlegte, ob er überhaupt antworten sollte, aber höflich, wie er war, tat er dem Anderen den Gefallen.
„Ist es bei eurem Volk nicht Sitte, dass euer Heiler die Kräuter gegen Krankheiten sucht?“
Arion sah die Waffen des Waldläufers und konnte es nicht lassen ihn zu verspotten.
„Sag mir, ist es so gefährlich hier, dass du waffenstarrend durch den Wald läufst, oder hast du etwa Angst vor mir?“
Charyan fehlten ob dieser Frechheit die Worte. Ohne etwas auf den Spott zu erwidern, drehte er sich um und verschwand in den Wald.
Was waren die Menschen für ein merkwürdiges Volk, dachte Charyan, doch insgeheim konnte er nicht verleugnen, dass der Junge Mut besaß, angesichts dessen, dass Charyan Messer und Bogen mit sich führte.
Nun, er hatte eine Prüfung abzulegen, auch wenn er wusste, dass Gadrac einen Weg finden würde, ihn durchfallen zu lassen. Charyan hatte seinem Lehrer Androu versprochen, sein Bestes zu geben und genau das tat er jetzt.
Immer tiefer drang Charyan in den Wald hinein, bis ein helles Licht seine Aufmerksamkeit erregte.
Vorsichtig ging der junge Mann darauf zu und bemerkte schaudernd, dass dieses Gleißen überall um ihn herum war.
Wenn Gadrac mir damit Angst einjagen will, dann ist ihm das gelungen. Wahrscheinlich sitzt er ganz in der Nähe und kriegt sich vor Lachen nicht mehr ein.
Dieser Gedanke gefiel dem stolzen Waldläufer überhaupt nicht, jedoch seine Angst war zu stark und so versuchte er dem Licht zu entkommen, aber ganz gleich, wie schnell er auch lief, es war immer noch da, bis er stolperte und zu Boden fiel. Still blieb Charyan liegen, wartete auf etwas von dem er nicht recht wusste was es war, doch nichts geschah. Nur ein leises Flüstern drang zu seinen Ohren.
Ungläubig hob er den Kopf und fand sich am Eingang einer Höhle wieder. In dieser Gegend war er noch nie gewesen. Ganz gleich, wie sehr er nach vertrauten Zeichen Ausschau hielt, dieser Ort blieb ihm fremd.
Was geschieht hier mit mir und wie komme ich hierher?
Lange konnte sich Charyan mit dieser Frage nicht aufhalten, denn etwas zog ihn unerbittlich in die Höhle hinein, auch wenn er versuchte sich zu wehren. Fast schmerzhaft war dieser Kampf, bis der Waldläufer schließlich erschöpft aufgab, und dem innerlichen Drang folgte.
Als Charyan die Höhle betrat, blieb er überrascht stehen. Er hatte Dunkelheit erwartet und fand einen lichtdurchfluteten Dom, in dem es glitzerte und funkelte als wären alle Schätze Vandryans hier versteckt.
Er konnte nicht lange stehen bleiben, es zog ihn immer tiefer hinein, bis eine Stimme erklang, die von allen Seiten zu kommen schien.
„Tritt näher, Sohn des Waldvolkes, lange habe ich auf dich gewartet.“
So sehr Charyan sich auch umschaute, er fand niemanden, zu dem diese Stimme gehörte.
„Wer bist du, und warum bin ich hier?“
Er erhielt keine Antwort. Wäre dieses übermächtige Bedürfnis, diesen Worten folge zu leisten nicht gewesen, Charyan wäre schreiend aus der Höhle geflohen, auch wenn er sich dafür in Grund und Boden geschämt hätte.
Schritt für Schritt zog es ihn tiefer in die Höhle hinein, bis er vor einer silbernen Wand stand und sie, ohne es zu wollen, berührte.
Ein erwartungsvolles Raunen erhob sich, aber alles was der Waldläufer verstand, war ein Satz, den er niemals wieder vergessen sollte.
„Wenn der Schläfer erwacht, werden Träumer und Waldläufer die alten Wege gehen und lernen, das Land zu verstehen.“
Immer wieder hörte Charyan diese Worte. Sie raubten ihm fast den Verstand.
Etwas berührte den Waldläufer, und eine Bilderflut stürzte auf ihn ein, dass ihm ganz schwindelig im Kopf wurde.
Er sah unsägliche Grausamkeiten und friedliche Idyllen, aber alles gemischt und ineinander verschlungen. Dann hörte Charyan jemanden schreien, bis er merkte, dass er selbst, der stolze Krieger des Waldes es war, der diese grauenvollen Töne von sich gab.
Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, bis der Waldläufer in eine gnädige Ohnmacht fiel.
Arion starrte dem Fremden noch eine weile nach, drehte sich wütend um und ging seines Weges. Auch wenn er es nicht wollte, weilten seine Gedanken immer noch bei diesem Fremden.
Was glaubte dieser komische Kerl eigentlich, wer er war, dass er meinte, Arion verachten zu müssen, ohne ihn überhaupt zu kennen.
Arion wusste nicht, warum ihn das so wütend machte. Mittlerweile sollte er sich daran gewöhnt haben, denn solange wie er denken konnte, lebte er damit und doch …
Irgendwie ärgerte es Arion sehr viel mehr, als bei den Dörflern.
Er wusste selbst, dass er nie ein Krieger sein würde. Er war im Umgang mit Schwert und Messer ungeschickter als ein Mädchen. Außerdem verspürte er ein großes, schon fast quälendes Unbehagen, wenn er einer dieser Mordwerkzeuge in den Händen hielt.
Längst hatte er es aufgegeben, seinen Altersgenossen nachzueifern. Er konnte deren Spott einfach nicht ertragen, und ging nicht mehr zu den Übungskämpfen.
Nur eines konnte er noch machen.
Dann werde ich eben Heiler, auch sie werden geehrt und gebraucht. Wenn sie dann mit ihren Wehwehchen zu mir kommen, lachen und spotten sie nicht mehr. Dieser Gedanke munterte Arion wieder auf.
Leichten Schrittes trat er in das Haus, das er mit seiner Ziehmutter bewohnte. Er wollte gerade die Türe schließen, als ein Donnerschlag das alte Gemäuer erbeben ließ.
Saretha war in der Küche, als dieser fürchterliche Knall durch das Haus dröhnte. Sie hatte wohl gehört, dass Arion nach Hause gekommen war, aber jetzt herrschte eine unheimliche Stille, bis diese vom Schlagen der offenen Tür durchbrochen wurde.
Als sie in den Flur kam, sah sie Arion am Boden liegen. Obwohl der Junge seine Augen geöffnet hatte, reagierte er auf nichts, was sie tat.
Sie schleppte Arion in sein Zimmer und dankte dem ´Einen ´, dass Ihr Ziehsohn seinen Raum zu ebener Erde hatte. Sie war einfach zu alt, um sein Gewicht auch noch die Treppe hinauf zu schleppen.
Sie wuchtete Arion auf sein Bett und trat dann erschöpft ans Fenster.
Es war sternenklar, nichts deutete auf ein Unwetter hin, und doch ahnte die Heilerin, dass Bedeutsames geschehen würde. Etwas, von dem sie nicht wusste, ob es zum Guten oder Schlechten für Vandryan gereichte. Jahrzehnte lang hatte sie sich in diesem kleinen Dorf versteckt, ohne dass jemand wusste, über welche Kräfte sie wirklich verfügte. Ein leichtes Grinsen umspielte ihre Lippen. Sie hatte Awynda ein Schnippchen geschlagen und nichts freute sie mehr.
Aber könnte es denn wirklich sein, nach all diesen Jahren?
Diese Frage setzte sich in ihren Gedanken fest, denn der Höllenlärm aus heiterem Himmel war einst ein Zeichen dafür, dass ein Träumer erwachte, doch seit ewiger Zeit hatte es das nicht mehr gegeben. Athryn war der letzte Träumer vor Awyndas Herrschaft, und dieser knechtete die Völker Vandryans schon, bevor Saretha geboren wurde.
Neue Hoffnung machte sich in der alten Heilerin breit, nur ganz kurz, dann wollte Saretha wieder in ihre alte Schwermut verfallen, als sie einen Ruf in sich vernahm.
„Saretha, deine Aufgabe soll bald erfüllt sein.“
Die Heilerin konnte kaum glauben, dass es wirklich Athryn war, dessen Stimme sie in sich vernahm. So lange hatte sie auf diesen Ruf gewartet, doch als die Jahre kamen und gingen, und aus dem Säugling, der ihr einst überantwortet worden war, ein fast erwachsener junger Mann wurde, hatte sie es aufgegeben und versucht das Beste aus allem zu machen.
„Saretha, hörst du mich nicht?“
„Doch Athryn, ich habe deinen Ruf vernommen, auch wenn du sehr leise bist.“
„Nun, alte Freundin, auch an mir gehen die Jahre nicht spurlos vorbei. Es wird nicht mehr lange dauern, bis ich in den Gefilden des `Einen´ wandeln darf und mich ausruhen kann. Doch noch haben wir eine Aufgabe.“
„Dann ist es also wirklich wahr?“
„Du hast die Zeichen gehört und gesehen, wie könnte es anders sein? Der Träumer ist in Arion erwacht und er hat den Aintha getroffen. Jetzt muss er seinen Weg gehen, so wie wir alle.“
Nun, wo die Entscheidung gefallen war, wollte Saretha nicht mehr daran glauben. Die Vorstellung, Arion könnte mutterseelenallein durch die Wälder streifen erschreckte sie bis ins Mark.
„Jetzt schon, er ist doch noch ein Kind, Athryn.“
„Saretha, er ist fast ein Mann. Er muss seinen Weg gehen. Außerdem werden die Veränderungen seines Äußeren immer auffälliger, er wäre eine gar zu leichte Beute für Awynda.“
Resignierend gab sie Athryn Recht. Ihr Schützling war alt genug, um ohne ihre mütterliche Fürsorge zurechtzukommen. Jedenfalls war es besser zu fliehen, als Awynda in die Hände zu fallen. Athryn sagte ja, dass Arion nicht alleine sein würde.
„Wann?“
„Sobald er erwacht, Saretha. Wenn Awynda den Schlag des Donners nicht gehört hat, so wird er auf jeden Fall die Erschütterung auf der Shyn yl `Dhia gespürt haben, so wie auch ich.“
„Was ist mit der restlichen Prophezeiung?“
„So wie der Träumer erwacht auch der Schläfer, aber davon weiß Awynda nichts.“
Wie aus weiter Ferne klang die Stimme Athryns, als er fortfuhr.
„Du siehst, Saretha, es muss getan werden, es geht um mehr als um deine Gefühle, es geht um Vandryan und seine Völker. Non trac mish Sian, meine Freundin, wir sehen einander bald.“
„Athryn, geh nicht, was soll ich ihm sagen?“
Sie erhielt keine Antwort.
„Athryn!“
So sehr Saretha auch rief, sie konnte ihn nicht mehr erreichen.
Seufzend drehte sie sich um, und betrachtete Arion, der sich langsam zu regen begann. Sie nahm einen Hocker und setzte sich ans Bett. Behutsam umfasste Saretha die Hand Arions.
Sie wusste, wenn Arion ging, würde auch ihr Weg enden, hier in diesem Haus, und sie hatte Angst davor.
Wehmütig betrachtete sie den jungen Mann und vermisste ihn schon jetzt.
Für seine fast sechzehn Jahre war Arion klein und schmächtig, so dass ihn viele für jünger hielten, und ihn auch so behandelten. Doch das störte Arion offenbar nicht.
Er sprach sehr wenig – suchte, seit er nicht mehr zu den Übungskämpfen ging die Einsamkeit – und lachte auch in letzter Zeit nicht mehr. Wenn Saretha ihn darauf ansprach, wich er ihr aus, aber sie wusste auch so warum.
In dieser Welt galt ein Mann nur etwas, wenn er ein Krieger war, und Arion war alles andere als das. Jetzt erst erkannte sie die Veränderung an ihrem Ziehsohn, so wie Athryn es gesagt hatte.
Die Schulterlangen schwarzen Haare waren nun mit kupfernen Strähnen durchzogen. Sein ehemals bleiches, ebenmäßiges Gesicht war kantiger geworden und der leichte Bronzeton seiner Haut ließ ihn gesund und frisch aussehen. Nur seine grauen, geheimnisvollen Augen – die ihr das Gefühl gaben er könne bis auf den Grund ihrer Seele schauen – waren geblieben. Sie wusste, dass es nicht nur ihr so erging.
Seufzend zuckte Saretha mit den Schultern, bevor sie ihn ansprach.
„Arion, komm zurück.“
Als hätte es nur dieser Worte bedurft, sah er sie an und setzte sich erschrocken auf.
„Saretha, was …, wieso …, “ unsicher sah er sie an.
Die Heilerin ließ ihm Zeit sich zu sammeln, betrachtete ihn nur mitfühlend.
„Ich hatte einen sonderbaren Traum, Saretha. Er war voller Licht und Schatten.“
„Was hast du gesehen, Sohn?“
Immer noch außer sich berichtete Arion.
„Eine Frau in Licht gehüllt, ein Mann, der zu ihr wollte, und doch keinen Schritt machen konnte. Sie riefen sich etwas zu, in einer
Sprache, die ich nicht verstand, die mir aber doch vertraut war. Ich sah Gestalten. Sie waren in weiße Roben gekleidet, aber sie machten mir Angst.
Ein Junge stolperte durch meinen Traum. Ich glaube …, nein ich weiß, dass ich ihm schon einmal begegnet bin. Obwohl er nicht viel älter sein kann als ich selbst, sah ich in seinen Augen uraltes Wissen.
Jemand war bei ihm, aber ich kann nicht sagen wer. Ich sah beide im Feuer wandeln. Dann bin ich erwacht.“
Ängstlich betrachtete Arion seine Ziehmutter, als erwarte er Hilfe von ihr - wie es immer war, wenn er von Alpträumen heimgesucht wurde – aber dieses Mal war es anders, das spürte er wohl.
„Saretha, was geschieht mit mir, und jetzt sag bloß nicht, dass es nur wieder ein Alptraum war. Dazu war es zu echt, ich meine …“
Hilflos schüttelte Arion den Kopf. Ihm fehlten einfach die Worte für das, was ihm widerfahren war.
Saretha nickte. Sie konnte den Jungen nicht im Ungewissen lassen, so schwer es ihr auch fiel, ihm von seinem Erbe zu erzählen.
„In dir ist der Träumer erwacht, Arion. Du hast die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft gesehen. Wenig kann ich dir über dieses Erbe berichten, nur dass du lernen musst, auf den Straßen der Träume zu wandeln, ohne dich dort zu verirren.
Die Frau, die du im Licht gesehen hast, war Rhea, soviel kann ich dir sagen.“
Ungläubig schüttelte Arion den Kopf.
„Rhea? Aber das ….“
„Du meinst, weil es verboten ist, diesen Namen zu denken, geschweige denn ihn auszusprechen?“
Arion nickte nur.
„Dann höre gut zu, mein Sohn.
Rheannion wurde einst nach Rhea genannt und zwar war es der Kaiser – so will er genannt werden - der ihr, seiner größten Magierin, diese Ehre zugestand.
Damals jagten seine Schergen alle, die zu den alten Völkern gehörten, und dezimierte sie nach und nach, bis auf die Yndriddin, und einem Volk, dessen Name unbekannt blieb. Es lebte im Norden Vandryans auf dem Meer der Ungeheuer, so wurde es damals genannt. Er schickte seine größten Magier dorthin. Wie sie es machten, weiß keiner, aber seither ist der Norden Vandryans unter einer Eisschicht begraben und Schneestürme, deren Gewalt du dir nicht vorstellen kannst, fegen darüber hinweg. Es wurde nur bekannt, dass Rhea floh, und niemand wusste, wohin sie ging. Selbst mit all seiner Macht konnte der Herrscher sie nicht finden. Er verfluchte Rhea und ihre Sippe.
Dass auch die Yndriddin zu diesen, vom Kaiser so verachteten „Alten“ gehörten, wusste niemand, deshalb leben sie bis heute unangetastet und friedlich in Vai.
Nur eines ist noch überliefert.
In ganz Vandryan wurde eine weinende Stimme vernommen die sagte: Gydra imane domatha shaidron. Niemand verstand jedoch, was diese Worte bedeuten sollten, bis heute. Denn jene, die es hätten verstehen können, lebten nicht mehr, oder hielten sich versteckt.“
Vehement schüttelte Arion den Kopf.
„Das ist doch nur eine Legende, Saretha, ein Märchen, dass man kleinen Kindern am Feuer erzählt.“
„So, nur eine Legende, ein Märchen. Es wäre eine grausame Mär, Arion. Blutige Kriege überzogen das Land, denn der Herrscher konnte nicht glauben, dass Rhea sich ohne Hilfe vor ihm verstecken konnte. Ihm reichte der kleinste Verdacht, um ein Land zu überrennen und die dort lebenden Menschen zu quälen und zu unterjochen.
Du kennst diesen selbst ernannten Kaiser, und nicht nur du. Damals wie heute ist es Awynda, der Schrecken und Leid über Vandryan bringt.“
„Moment, dann müsste Awynda ja über ein Jahrhundert …“
Arion sah die Wahrheit in Sarethas
Augen, und konnte es dennoch nicht glauben.
„Glaub es nur, mein Sohn. Er ist sogar noch älter, doch es bleibt uns nicht genug Zeit, über das Wie und warum zu reden. Auch Awynda wird die Zeichen erkannt haben, denn seine Zauberkraft findet nicht ihresgleichen in diesem Land. Sicher hat er schon seine Schergen auf den Weg geschickt. Du musst packen und gehen, denn mit dir würde die letzte Hoffnung Vandryans sterben.
„Warum ich, Saretha?“
„Weil du bist, was du bist. Du wirst mit der Zeit alles erfahren, doch nicht jetzt. Geh in den Wald, und suche jenen, den du getroffen hast. Er wird dich beschützen, während du auf den Straßen der Träume die Geschichte Vandryans und noch vieles mehr lernst.“
„Woher weißt du von dem Fremden?“
Lächelnd strich sie ihm übers Haar.
„Auch ich kenne Wege um gewisse Dinge zu erfahren. So, genug geredet, mach schon, steh endlich auf.“
Arion machte jedoch keine Anstalten sich vom Bett zu erheben.
„Was geschieht mit dir, Saretha. Ich kenne weder meinen Vater, noch meine Mutter. Du bist alles, was ich habe. Wenn sie mich nicht finden, was werden sie mit dir machen?“
In seinen eigenen Ohren hörten sich seine Worte wie das Quengeln eines kleinen Kindes an, aber das war Arion egal. Er wollte Saretha nicht verlassen.
„Ich werde sicher sein, wenn du deiner Bestimmung folgst. Nun komm schon, oder willst du in einem der schwarzen Türme landen?“
Überrascht sprang Arion auf.
„Türme?“
„Der schwarze Turm in Rheannion ist nicht der Einzige in Vandryan. Awynda hat sie überall bauen lassen. Dort kommen keine Verbrecher hin, sondern jene die zu den „Alten“ gehören, sich gegen Awynda auflehnen oder gemischten Blutes sind, und glaube ja nicht, dass Kinder und Frauen verschont werden.
Man kann die Schreie der Bedauernswerten bis in die Stadt hören. Einige behaupten sogar, Awynda erhält seine Kräfte durch ihre gequälten Seelen.“
Schaudernd half Arion ihr beim Einpacken. Es war nicht viel, nur was er am nötigsten brauchte. Als Saretha ihm ihren mit Kräutern gefüllten Beutel in den Rucksack legen wollte, hielt er sie fest und sah sie an. Ungeduldig schüttelte die Heilerin seine Hand ab.
„Sei nicht dumm, Arion. Ich kann mir jederzeit einen Neuen machen, aber du wirst dazu keine Zeit haben.“
Entschlossen steckte sie den Beutel zu den anderen Sachen und ging in die Küche. Während sie Proviant in eine zweite Tasche packte, schloss Arion den Rucksack und schnallte ihn sich auf den Rücken.
Er folgte Saretha in die Küche. Arion wollte noch so vieles sagen, aber sie drückte ihm die Provianttasche in die Hände, umarmte ihn kurz und schob den jungen Mann zur Tür hinaus.
„Geh jetzt, Arion, und schau nicht zurück. Deine Zukunft liegt nun woanders. Nutze den geheimen Pfad des Waldes und sei auf der Hut.“
Bevor Arion etwas erwidern konnte, knallte sie ihm die Tür vor der Nase zu. Einen Moment starrte er noch vor sich hin, dann stapfte er wütend los.
Gut, wenn sie mich unbedingt loswerden will, dann geh ich. Niemand soll behaupten, ich würde einer alten Frau zur Last fallen.
Arion wusste sehr wohl das dieser Vorwurf ungerecht war, aber es half ihm.
Kurze Zeit später tat es ihm Leid so von Saretha – die sicherlich nur das Beste für ihn im Sinn hatte – gedacht zu haben, und leistete stumme Abbitte.
Weinend stand Saretha hinter der Tür. In ihrem langen Leben hatte sie noch nie etwas so Schweres tun müssen wie das, was sie gerade getan hat, und hoffte das Arion ihr eines Tages verzeihen konnte.
Sie richtete sich kerzengerade auf, als sie Athryns Stimme vernahm.
„Hast du ihn auf den Weg gebracht?“
„Er folgt seiner Bestimmung. Athryn?“
„Was möchtest du wissen, Saretha?“
Irgendwie klang der Träumer anders. Traurig, aber zugleich auch fröhlich. Saretha verstand es nicht.
„Warum sah Arion Rhea und dich selbst, aber nur wenig von seinem Aintha und Awyndas Gefolgsleuten?“
„Noch darf er nicht mehr erfahren. Je mehr er lernt sich auf den Straßen der Träume zu bewegen, desto mehr wird er sehen.“
„Wirst du ihn lehren?“
„Nein, alte Freundin, ein anderer wird ihn lehren, mir fehlt dazu die Kraft, ich sterbe.“
Den letzten Satz hörte sie nicht mehr im Geiste.
Erschrocken drehte sich Saretha um. Vor ihr stand, sie wollte ihren Augen nicht trauen, Athryn.
Dann senkte sie traurig den Kopf.
„Saretha, noch träume ich, aber deine Zeit ist nun gekommen. Du darfst dich ausruhen, nach all den Mühen dieses harten Lebens.“
Sie nickte voller Freude, nahm seine ausgestreckte Hand, und betrat mit ihm den Pfad, der zu den Gefilden des `Einen` führte.
Awynda hatte seine Soldaten schneller in Bewegung gesetzt als Athryn es für möglich gehalten hätte, und doch kamen sie zu spät.
Als sie das Haus der Heilerin erstürmten, war niemand mehr da, und der zornige Schrei des Magiers war in ganz Vandryan zu hören.
Kapitel 2
In ihrer Eile Arion fortzuschicken, hatte Saretha ganz vergessen, dass er nur den Anfang des geheimen Pfades kannte, jenen Teil, den sie ihm gezeigt hatte. Er begann hinter dem Haus und führte in den Wald. Der Weg endete in einem dichten, dornigen Gebüsch, welches sich um ihn schloss, wie eine schützende Mauer.
In diesem Versteck hörte er den markerschütternden Schrei Awyndas und erstarrte vor Angst.
Bei den Soldaten des Herrschers schien dieser Laut jedoch eine berserkerartige Wut auszulösen, der nichts und niemand entkommen konnte, und genauso war es. Nichts blieb vom Dorf über, und niemand überlebte.
Obwohl Arion all dies mit angesehen hatte, weigert sich etwas in ihm zu glauben, dass dies wirklich geschehen war.
Er konnte später nie sagen, wie lange er verharrte, bis er sich schließlich aufraffte und wie ein Betrunkener durch den Wald taumelte.
Nach zwei Tagen, in denen er kaum etwas wahrnahm, wurde er von einem versprengten Trupp Soldaten gefangen genommen die Arion schlugen und verhörten, wieder auf ihn einprügelten und dabei grausam lachten. Plötzlich stand jemand vor ihm. Der Fremde sagte nichts, sondern starrte ihn nur an, bis Arion glaubte, sein Kopf müsse zerspringen.
Abermals wurden Fragen gestellt. Danach prasselten erneut Hiebe auf Arion nieder, wenn er wieder mit einem „Ich weiß nicht“, antwortete. Als die Schmerzen zu groß wurden, floh sein Geist in sein Inneres, zu einem Ort, der Arion sehr fremd vorkam.
Er sah den Schein eines warmen Lichtes und ging darauf zu.
„Halt ein, junger Träumer, geh nicht weiter.“
Abrupt blieb Arion stehen.
„Warum sollte ich nicht? Dort ist alles hell und klar. Wer bist du, und wieso sollte ich dir gehorchen?“
Ein tiefes Lachen erklang.
„Ich bin Moshtrey, dein Lehrer.“
Er zeigte auf das Licht und sprach weiter.
„Von dort gibt es kein zurück mehr, dein Weg ist ein anderer.“
Vehement schüttelte Arion den Kopf.
„Es scheint, als wäre schon alles zu Ende, bevor es überhaupt begonnen hat, was immer es auch sein mag. Mein Körper liegt in Fesseln, ich bin gefangen von den Schergen Awyndas, die mir ständig Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann.“
Nachdenklich betrachtete Moshtrey den Jungen, der ihn zitternd vor Wut anstarrte.
„Aber dein Geist ist frei, nutze die Zeit und lerne.“
Arion war hin und her gerissen zwischen dem Licht, welches ihn magisch anzog, und seiner Neugier, mehr von diesem Ort zu erfahren. Doch dann sah er wieder diese Bilder vor sich und wurde nochmals von Grauen geschüttelt. Als Arion glaubte es nicht mehr ertragen zu können, spürte er plötzlich, wie ihn jemand umarmte, seine Trauer um all jene, die er gekannt hatte, mit ihm teilte. Endlich konnte er weinen, und der Knoten aus Wut, Hilflosigkeit und Scham löste sich langsam und verschwand ins Nichts.
Es dauerte eine Weile, bis Arion sich wieder beruhigt hatte. Er spürte den Schmerz immer noch, aber er beherrschte Arion nicht mehr.
Dankbar sah der junge Mann zu Moshtrey auf, nickte und begleitete ihn auf den Wegen, die der Lehrer als die Straßen der Träume bezeichnet hatte.
Moshtrey erklärte ihm die Zeichen und Wege, damit der junge Träumer sich nicht verirrte, wenn er später alleine hier weilte.
Arion sah die Schönheit dieser Straßen, welche nur ein Träumer bewusst erleben konnte. Moshtrey erkannte wohl die Freude des jungen Mannes, so wie es auch bei ihm einst gewesen war. Jedoch, auch auf den Straßen der Träume gab es Schattenseiten.
„Arion, lass dich nicht von Schönheit blenden. Auch an diesem Ort gibt es die Dunkelheit.“
Erschrocken sah Arion seinen Lehrer an.
„Du meinst, Awynda könnte …"
Moshtrey nickte und führte Arion zu einem Ort, der im Zwielicht lag.
„Dies ist eine Grenze, wenn auch sehr verschwommen, die nicht überschritten werden darf. Einst war auch dieser Teil hell und licht, aber Awynda drängt mit Macht vorwärts. Wenn du kannst, dann meide diesen Ort, doch wenn es keinen anderen Ausweg gibt, dann wage dich hinein, aber nicht ohne Schutz.“
Verwirrt schüttelte Arion den Kopf.
„Aber das widerspricht sich, Moshtrey.“
„Nicht unbedingt, junger Mann, doch auch dieses wirst du noch lernen.“
Arion hasste es, wenn jemand in Rätseln sprach. Saretha war auch sehr gut darin, meinte aber immer, es käme auf die Betrachtungsweise an, wenn Arion sie darauf hinwies.
Moshtrey konnte sehen, wie es in Arion arbeitete, grinste kurz und wurde wieder ernst, bevor dieser etwas merkte.
Als Moshtrey den erwartungsvollen Blick seines Schülers auf sich ruhen fühlte, fuhr er mit dem Unterricht fort.
Er sprach mit Arion darüber, warum der Schmerz einem Träumer erst den Weg ebnete, erklärte ihm, dass nur so die Mauer, die den menschlichen Geist umgibt, überwunden werden kann.
„Arion, Geist und Seele eines Träumers sind verletzlicher als bei anderen Menschen, darum gibt es immer einen Beschützer. In der alten Sprache heißt er Aintha. Seit es Träumer gibt, ist es immer ein Waldläufer, der diese Aufgabe übernimmt, denn dieses Volk besaß besondere Gaben. Nur Athryns Aintha war keiner von ihnen.“
Arion fiel auf, dass Moshtrey von den Waldläufern sprach, als gäbe es sie nicht mehr, wusste aber, dass einige dieses Volkes tief im Shirnaiwald lebten. Er war sich auch sicher, dass der Fremde, in dessen Augen er so viel Verachtung gesehen hatte, zu diesem Volk gehörte.
„Du sagtest besaß? Ist es heute nicht mehr so?“
Traurig schüttelte Moshtrey den Kopf.
„Sie haben vergessen, wo ihre Wurzeln sind. Nur wenige wissen noch vom lichten Volk, dessen Erbe sie in sich tragen und es doch verleugnen, um in Ruhe leben zu können. Jedoch, einigen hat dies nur wenig geholfen, da bei ihnen nicht zu übersehen war, welches Blut in ihren Adern floss. Zu auffällig waren die Merkmale. Sie wurden …“
„Was meinst du mit Merkmalen?“
Ärgerlich sah Moshtrey den Jungen an.
„Hat dir niemand beigebracht, dass es unhöflich ist, jemanden zu unterbrechen?“
Moshtrey sah wohl, wie verlegen Arion wurde, störte sich aber nicht daran, sondern erzählte weiter.
„Also, jene mit dem Erbe der Ahnen haben leuchtend grüne Augen.
Sie sehen Dinge, die anderen verborgen bleiben, und ihren Ohren entgeht kein Laut, so wie es auch bei deinem Aintha sein wird.“
„Ich habe keinen Beschützer, Moshtrey.“
Kopfschüttelnd betrachtete der Lehrer seinen unwilligen Schüler.
„Schau hinunter, junger Träumer, du hast ihn schon einmal gesehen.“
Arion tat, um was Moshtrey ihn bat und erschrak. Er konnte seinen Körper zerschunden und blutend am Boden sehen. Ein junger Mann beugte sich darüber und versorgte die Wunden.
„Das ist …?“
Moshtrey nickte.
„Er heißt Charyan und wurde im gleichen Monat, am gleichen Tag und zur selben Stunde wie du geboren. Charyan wird an deiner Seite sein, wenn du auf den Straßen der Träume wandelst, um zu lernen und zu wachsen.“
„Das glaube ich nicht. Er verachtet mich, ich sah es in seinen Augen.“
Moshtrey seufzte leise.
„Arion, so wie du musste auch Charyan lernen. Ich bin mir sicher, dass er nun vieles anders sieht. Vertrau ihm, denn nur Charyan, kann den geheimen Pfad sehen und nur er kann dich schützen, wenn du auf den Shyn yl´ Dhia wandelst.“
„Shyn … was?
„Entschuldige, Arion. In der alten Sprache heißen die Straßen der Träume, Shyn yl `Dhia.“
„Dieser Name klingt wie Musik.“
„Es ist die Sprache des Herzens, so sagte es das lichte Volk.“
„Was ist mit …?“
Du wirst Awynda noch früh genug gegenüberstehen. Vorher jedoch benötigst du das Wissen um die alten Völker Vandryans und deren Geschichte, denn dies ist der Weg, um die Macht Awyndas zu brechen.“
„Wirst du mich lehren?“
Missbilligend schüttelte Moshtrey den Kopf.
„Hast du nicht zugehört, Arion? Ich sagte bereits, dass ich dein Lehrer sein werde, jedoch hat dies seinen Preis.“
„Und der wäre?“
„Du musst eine Entscheidung treffen, jedoch erst, wenn du gehört hast, was ich dir zu sagen habe. Bist du dazu bereit?“
Arion zuckte mit den Schultern.
„Habe ich eine andere Wahl?“
Moshtrey schüttelte den Kopf und begann zu erzählen.
„Zu jener Zeit, da nur wenige Menschen in Vandryan lebten, gab es den großen Rat der alten Völker. Viele von ihnen leben heute versteckt, oder wandeln nicht mehr unter den Sternen des Landes. Eine uralte Prophezeiung besagt, dass ein Träumer berufen wird, wenn eine dunkle Macht das Land, und alle die mit ihm verbunden sind, bedroht. Es gab nur wenige in diesem Rat, die auf den Straßen der Träume zu wandeln vermochten. Nur einer von ihnen besaß die Stärke, dort zu bleiben, so lang es ihm beliebte. Sie bildeten eine Gemeinschaft und nannten sich Thay´rehn, ohne die Bedeutung dieses Wortes zu kennen. Zuerst waren sie bestrebt allen zu helfen, die es benötigten, aber nach und nach änderte sich das.
Sie gründeten eine Schule in Nygadon, um jene zu lehren, in denen sie die Gabe verspürten. Dabei aber übergingen sie die Menschen. Man glaubte, dass diese Gabe nur in den alten Völkern schlummerte, denn sie waren schließlich zuerst da.
Jahrzehnte lang geschah nichts. Doch plötzlich erschien ein alter Mann mit einem Jungen an der Hand, der kaum dem Knabenalter entwachsen zu sein schien. Wer jedoch in die Augen dieses Burschen sah, konnte, erkennen, dass diese älter waren, so als hätten sie schon Jahrhunderte vorbeiziehen sehen.
Der Leiter der Schule jedoch lehnte es ab, Athryn, so der Name des Jungen, zu unterrichten, denn dieser war ein Mensch.
Lächelnd nahm der Alte Athryn an die Hand und verschwand wieder.
Keiner an der Schule bemerkte, dass einer der Ihren ein Buch in den Gewölben der Schule fand, das verbotene Kräfte in sich barg. Lorcan, so der Name des Schülers, war sehr wissbegierig und begabt. Längst schon hatte er Lehrer und Schüler überflügelt. Er wollte mehr als das, was gelehrt wurde. Tief unter der Schule waren Katakomben, von denen niemand etwas wusste, da sie durch einen starken Bannspruch geschützt waren. Lorcan fand einen Weg, denn die Macht des Buches rief nach ihm, sang geradezu in seinem Blut.
Jeder Spruch, den er benutzte, machte ihn stärker und mächtiger, aber je mehr er diese Macht gebrauchte, desto mehr verlor er sich selbst. Eines Tages wurde Lorcan unvorsichtig. Der Leiter überraschte ihn, als er wieder einmal in dem Buch las. Der Ältere spürte die dunkle Aura und beschwor seinen Schüler, davon abzulassen.
Als der Leiter in die Augen des jungen Mannes sah, schrak er zurück. Dies war nicht mehr sein Schüler, sondern etwas anderes, Bösartiges. Bevor der Magier eine Warnung von sich geben konnte, zerstörte Lorcan, der zu Awynda geworden war, die Schule und alle, die in ihr lebten. Er selbst war durch einen Schild geschützt.
Awynda ging nach Rheannion. Zuvor jedoch brachte er das Buch an seinen Platz zurück und belegte es mit einem neuen Bannspruch. So war sein Überleben gesichert, auch wenn der Körper verging. Wie er in den Palast gelangte, weiß niemand, aber ich denke, dass er sich das Vertrauen des damaligen Königs erschlichen hat. Doch auch der Körper Lorcans alterte und so machte sich Awynda auf die Suche. Er brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass der Sohn des Königs geradezu nach Macht gierte. So ging es immer weiter. Jetzt ist Awynda im Körper Zharmaos.“
Arion schüttelte verwirrt den Kopf.
„Was geschah mit den Seelen, welche zuvor die Körper bewohnten. Ein Körper ohne Seele, das geht doch gar nicht, er wäre tot.“
Moshtrey schüttelte den Kopf.
„Nicht, wenn er von einem anderen Wesen übernommen wird. Die Seele Zharmaos ist auf einer dunklen Ebene in einem Kreis aus kaltem Feuer gefangen. Für ihn, genauso wie für alle, die dort sind, gibt es kein Entrinnen. Sie können nicht gegen dieses Wesen kämpfen.
Ihr müsst dies tun, denn sonst wird das Wesen immer stärker, je mehr gequälte Seelen ihr die Kraft geben, die sie braucht.
So wie Charyan, bist auch du ein Auserwählter.“
„Warum ausgerechnet ich?“
„Jeder versucht sich ins rechte Licht zu setzen, denn es bedeutet Sicherheit, manchmal sogar Reichtum und, was selten vorkommt, auch Macht.
Du wirst geboren, lebst dein Leben und wandelst dann wieder in den Gefilden des `Einen`. Doch alle Wege sind anders, die meisten gewunden und voller Steine, nur wenige gerade und ohne Hindernisse. Doch jeder muss seinen Weg gehen, ganz besonders du.
Es ist schwer, den Weg des Träumers zu gehen, aber es hat auch seine guten Seiten.“
„Und die wären?“
„Finde es selbst heraus. Geh jetzt zurück, Arion, wir sehen uns wieder.“
„Warte Moshtrey, du hast etwas von einem Preis gesagt.“
„Er wird eingefordert, wenn es an der Zeit ist.“
Mit diesen Worten verschwand Moshtrey, und ein sehr nachdenklicher Arion blieb zurück.
Hatte er alles richtig gemacht? Wie konnte er sich darauf einlassen, einen Preis zu zahlen, von dem er nicht wusste, was es war?
Entschlossen schüttelte er den Kopf. Es half alles nichts. Er hatte zugestimmt und musste sein bestes geben.
Es gab im Moment Wichtigeres. Da war zum Beispiel dieser Waldläufer, von dem Moshtrey behauptete, dass er Arions Beschützer wäre.
Nun, er würde nichts erfahren, wenn er auf der Shyn yl `Dhia blieb.
Behutsam hatte Charyan die Wunden des Fremden, den er von nun an beschützen sollte, versorgt. Seine Peiniger mussten ihn für tot gehalten haben, so wie es auch Charyan glaubte, bevor ein leises Stöhnen ihn eines Besseren belehrte. Es war tatsächlich noch Leben in diesem malträtierten Körper.
Charyan hob den Verletzten, dessen Gewicht ihm federleicht erschien, hoch und brachte ihn zu seinem Lager.
Erst zwei Tage später öffnete der Fremde seine Augen und versuchte sich aufzusetzen. Behutsam hinderte Charyan ihn daran.
„Wenn du nicht willst, dass deine Wunden wieder aufbrechen, bleibst du besser liegen. Ich habe getan, was ich konnte, aber ich bin kein Heiler.“
Arion deutete auf seinen Rucksack, den der Waldläufer ebenfalls mitgenommen hatte. Die Soldaten mussten sich nur auf Arion konzentriert haben, denn der Rucksack war unberührt geblieben.
Der junge Mann erklärte Charyan, wie er die Kräuter, die darin waren, verwenden musste. Als der Waldläufer Umschläge auf die schlimmsten Wunden gelegt hatte, reichte er Arion einen schmerzstillenden Tee. Es dauerte nicht lange, da fühlte sich der junge Träumer schon sehr viel besser.
„Non trac mish Sian, Fremder. “
“Non trac mish Sian, Charyan.”
Überrascht riss der Waldläufer die Augen auf.
Ihm war gesagt worden, er würde den Träumer an diesen Worten erkennen.
Charyan sah jedoch; wie viel Mühe es den Verletzten kostete; die Augen aufzuhalten und beschloss, dass sie später reden konnten. Als hätte der Fremde die Gedanken des Waldläufers gelesen, schlief dieser augenblicklich wieder ein.
Charyan kam das sehr gelegen. Er hatte mehr als genug Stoff zum Nachdenken, wobei er immer wieder besorgte Blicke auf den Schlafenden warf.
Wie in der Höhle erschrak der Waldläufer heftig, als in ihm die Stimme des Schläfers ertönte, oder war es eine Schläferin, er konnte es nicht sagen.
„Er ist 16 Jahre alt, so wie du selbst. Kein Kind mehr, aber auch noch kein Mann. Beurteile niemals jemanden nach seinem Aussehen, es könnte dein Untergang sein.
Diese Prüfung, die den Jungen eures Volkes auferlegt wird, macht noch lange keine Männer aus ihnen.“
Erstaunt hörte Charyan zu.
„Aber diese Prüfung gibt es schon; seit Waldläufer existieren, du müsstest es doch wissen.“
„Es gab sie nie vorher. Erst seit Awynda herrscht, wird dies von euch verlangt, und nur in Sainthe wird sie auch vollzogen. Alle anderen Dörfer wurden, bis auf eines, vernichtet. Sie sahen keinen Sinn darin; aus ihren jungen Leuten Kämpfer ohne Herz und Verstand zu machen.“
Stille herrschte nun in Charyan und er war dankbar dafür.
Was ihm offenbart wurde, musste er erst einmal verarbeiten. Seit Kindesbeinen wurde den Waldläufern beigebracht, dass nur; wer die Prüfung überstand, in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen wurde. Wer es nicht schaffte, musste mit den Frauen arbeiten.
„Waldläufer, führe deinen Schützling zu Athryns Quelle, dort werde ich auf euch warten.“
„Wo finde ich diese Quelle. Es gibt zwar Geschichten darüber, aber keine erzählt davon, wie man zu ihr gelangt.“
„Du wirst den Weg finden. Denk an die geheimen Pfade.“
So viele Geheimnisse, Charyan schüttelte wütend den Kopf.
Keine klaren Aussagen, immer nur Andeutungen.
Sanft wurde Arion aus seinen Träumen geweckt.
„Arion, wir müssen weiter. Es sind immer noch Soldaten im Wald, anscheinend wissen sie jetzt, dass es ein Fehler war, dich liegen zu lassen.“
Erschrocken sah er den Waldläufer an, der ihm ein Stück Brot und einen Becher Wasser hinhielt.
„Wie kommst du darauf, Charyan?“
„Sie trampeln durch den Wald, wie eine Horde Ungeheuer. Dabei schreien sie sich zu, was sie mit dir anstellen, wenn sie dich in die Finger bekommen.“
Vorsichtig stand Arion auf und verzog das Gesicht.
„Geht es, Arion?“
„Wenn ich kein Wettrennen veranstalten muss, schaffe ich das schon.“
Charyan hatte recht mit dem, was er sagte. Der Trupp Soldaten, der in Awyndas Augen so versagte, wurde bis auf den letzten Mann in den schwarzen Turm verbannt. Niemand hatte Lust, das gleiche Schicksal zu erleiden.
Selbst diesen Männern, die vor keiner Grausamkeit zurückschreckten, überkam das nackte Grauen, wenn sie die Schreie der Gefangenen hörten. Zwei Türme waren fertiggestellt, einer befand sich noch im Bau. Awynda kannte keine Gnade und das Volk schwieg aus Angst. Nur wenige trotzten im Geheimen. Sie warnten oder versteckten jene, denen das gleiche Schicksal drohte, wie den alten Völkern. Aber es waren nur wenige und der Kraft Awyndas hatten sie nichts entgegenzusetzen.
Charyan und Arion drangen immer tiefer in den Wald hinein. Verzweifelt hielt der Waldläufer nach den geheimen Pfaden Ausschau, konnte sie jedoch nicht finden.
Mittlerweile hatten sie einen Teil des Waldes erreicht, der Charyan völlig unbekannt war. Die Bäume standen so dicht, dass kein Licht den Boden berührte. Arion sah schon lang seine Hand nicht mehr vor Augen, verließ sich ganz auf Charyan.
Der Waldläufer blieb so plötzlich stehen, dass Arion ihn fast umgelaufen hätte.
„Arion kannst du es auch hören?“
„Die Wynddragh, wir sind in ihr Gebiet geraten, und sie wissen es.“
Ein frostiger Wind ließ die Blätter rascheln. Arion glaubte, eisige Finger auf seiner Haut zu spüren, dann gab es nur noch Dunkelheit.
Arion erwachte mit dröhnenden Kopfschmerzen, die sich nur langsam in ein dumpfes Pochen verwandelten. Als er sich vorsichtig umsah, stellte er fest, dass er alleine war.
Besorgt wollte Arion aufstehen, doch Fesseln an Händen und Füßen hinderten ihn daran. Kein Laut war zu hören, niemand kam, um nach ihm zu sehen.
Wie Moshtrey es ihn gelehrt hatte, begab er sich auf die Straße der Träume, denn etwas oder jemand hatte ihn gerufen. Er war völlig überrascht, als er Charyan sah, der verwirrt und einer Panik nahe seinen Namen rief.
„Ich bin hier, Charyan, hab keine Angst.“
Der Waldläufer schien ihn nicht zu hören. Verzweifelt sank er auf die Knie. Arion tat weh, was er mit ansehen musste.
Vorsichtig wollte er auf Charyan zugehen, blieb aber wie zu Eis erstarrt stehen.
Eine graue Wolke begann den Waldläufer einzuhüllen, schemenhafte Gestalten tanzten um ihn herum.
Charyan rief nicht mehr, sondern wimmerte nur noch leise vor sich hin.
„Arion, es gibt nur einen Weg, deinem Aintha zu helfen.“
Erschrocken drehte sich der Träumer um und erkannte Moshtrey, welcher zu ihm trat.
„Geh hinein in das Schreckliche und lass Charyan spüren, dass du da bist. Nimm ihn in deinem tiefsten Inneren auf, dort wird sich der Kampf entscheiden.“
„Wie, Moshtrey?“
„Du wirst es wissen, wenn du vor ihm stehst, Arion.“
Nach diesen Worten verschwand Moshtrey und Arion wandte sich zögernd wieder der Wolke zu.
Angst sprang ihn an wie ein wildes Tier, ließ ihn zweifeln und mit seinem Schicksal hadern. Der Wunsch, einfach wegzulaufen, diesem Grauen zu entkommen, wurde schier übermächtig.
Arion kämpfte jedoch all diese Gefühle nieder, rief sich die Bilder, als Charyan seine Wunden versorgte und über ihn wachte in Erinnerung und stürzte sich schluchzend in die Wolke. Arion sah den Waldläufer, lief auf ihn zu und ließ sich vor Charyan zu Boden fallen.
Außer seinem Beschützer und Freund nahm er nichts anderes wahr.
„Charyan, ich bin hier, hörst du mich?“
Ungläubig sah der Waldläufer auf.
„Arion bist du es wirklich?“
Dieses von Grauen gezeichnete Gesicht. Was nur, fragte sich Arion, war Charyan hier angetan worden und wie konnte er, der Träumer, seinem Aintha helfen?
Plötzlich fielen Arion die Worte Moshtreys ein und er tat, was sein Herz ihm befahl.
Behutsam umarmt er Charyan, flüsterte ihm tröstende Worte zu, bis er merkte, dass der Waldläufer ruhiger wurde.
„Charyan, kannst du mir folgen, vertraust du mir?“
„Du weißt, das es so ist, Arion.“
„Lass nicht los, ganz gleich, was geschieht, ruhe dich eine Weile in mir aus, mein Freund.“
Jetzt war Arion den Peinigern seines Freundes ausgesetzt und sah abscheuliche Bilder. Als diese Tortour nicht den gewünschten Erfolg brachte, spürte er eiskalte Berührungen, ohne zu erkennen, von wem oder was sie stammten.
Arion war bitterkalt.
Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so gefroren zu haben, es schien als müsse sein Herz zu Eis erstarren.
Plötzlich erstrahlte ein helles Licht neben ihm. Darin erkannte er Charyan, der immer größer zu werden schien.
Arion sah, wie die graue Wolke verschwand, welche die verunstalteten Wesen verborgen hatte. Sie sahen aus, als wären sie einem Alptraum entsprungen.
Charyan wuchs immer weiter, während ihre Gegner immer kleiner und kleiner wurden.
Die Stimme des Waldläufers klang wie Donnerhall, als er sprach:
„Voita kaith ary mynoh
Vom Sturmwind gejagt sollt ihr sein.
Digrar tynan ashwere Njemoh
Ans Ende der Welten, gefesselt in Stein.“
Unter Heulen und Kreischen wurden ihre Feinde hinweggeweht, wie die Herbstblätter im Wind.
Als Arion neben sich schaute, waren Charyan und auch das helle Licht verschwunden, an seiner Stelle stand Moshtrey dort.
„Geh zurück, Träumer, nimm deinen Aintha mit. Erst wenn man euch ruft, dürft ihr euch wieder trennen.“
„Warum nicht jetzt?“
„Erst muss heilen, was fast zerbrochen wäre. Nur so könnt ihr einander helfen.
Auch du hast einiges erlitten.“
Bevor Arion etwas erwidern konnte, erfasste ihn ein Wirbel, der in allen Farben des Regenbogens leuchtete. Dann wurde alles um ihn herum schwarz.
Kapitel 3
Charyan hörte ganz leise wie aus weiter Ferne eine Melodie.
Sie war kraftvoll aber auch sanft, fröhlich und traurig zugleich. Nie hatte er Ähnliches gehört. Sie hieß ihm ihr zu folgen. Je weiter er ging, desto mehr verblassten die Bilder der Wynddragh und die Angst, so wie sie zu werden, verschwand ganz.
Immer weiter führte ihn die Weise, durch Welten, für deren Schönheit er keine Worte fand, dann erwachte der Waldläufer.
Vorsichtig sah er zu Arion, doch dieser schlief noch tief und fest, obwohl er sich unruhig hin und her warf und ständig etwas vor sich hin murmelte.
Als Charyan genauer hinhörte, verstand er die Worte, die sein Freund sprach.
„Erde wird trinken deiner Ängste Schweiß,
Feuer soll brennen, wie die Sonne so heiß,
Wasser wird den Weg dir verwehren,
Sturm soll deinen Schritt erschweren.
Entschlossenheit, Hoffnung, Kraft und Mut,
Stellen sich entgegen der weißen Wut,
Den Weg der Elemente kann nur gehen,
Wem gelehrt, Vandryans Seele zu sehen.
Vergiss es nie!
Sanft wie das Säuseln eines Frühlingswindes erklang die Stimme in Arion. Vergiss es nie! Danach entstanden die Sätze vor seinem inneren Auge, die sofort verschwanden, als er sie gelesen hatte.
Er konnte die Worte gar nicht vergessen.
So leise, wie sie gesprochen wurden, rüttelte der Ernst dieser Stimme seinen Geist dennoch wach.
Erst nach und nach wurde es ruhiger in Arion. Die kraftvollen Worte verwehten, doch die Erinnerung blieb.
Als Arion die Augen öffnete, war es Charyans besorgtes Gesicht, welches er zuerst erblickte. Behutsam half der Waldläufer seinem Freund, sich aufzusetzen.
Jetzt erst bemerkte der Träumer, dass sie sich in einer Höhle befanden. Er versuchte sich zu erinnern, wie sie dahin gekommen waren, aber es blieb bei dem Versuch.
Fragend sah er Charyan an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern.
„Frag mich nicht. Als ich erwachte, waren wir schon hier.“
Stirnrunzelnd sah Arion auf den köchelnden Eintopf, dessen Duft ihm in die Nase gestiegen war. Charyan folgte seinem Blick und wusste, was sein Freund dachte.
„Ich habe weder das Feuer entzündet, noch die Mahlzeit zubereitet, Arion. Alles, was ich sah, waren huschende, kleine Gestalten. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob es nur ein Traum war, obwohl …“
Charyan deutete auf das Feuer, sprach aber nicht weiter.
„Wenn unsere Retter unerkannt bleiben wollen, dann können wir nichts dagegen tun, mein Freund, gleichwohl ich mich gerne für diese Hilfe bedanken würde. Vielleicht, eines Tages, wird …“
Das Knurren seines Magens unterbrach den Träumer. Entschuldigend sah Arion den Waldläufer an, dann begannen sie lachend zu essen.
Als sie fertig waren, fühlten sie sich stark genug, die Höhle zu erkunden.
Die Freunde fanden zwei Gänge. Der linke endete in einer Sackgasse, der rechte jedoch schien sehr viel tiefer zu gehen. Sie beschlossen, zu ihrem Lager zurückzukehren und den morgigen Tag abzuwarten.
Charyan erwachte vom lauten Stöhnen Arions. Der Träumer sprach Worte, die Charyan nicht verstand, obwohl jedes einzelne von ihnen kalte Schauer über seinen Rücken jagte. Nach und nach wurde aus Worten ein leises Flüstern, bis Arion wieder tief und friedlich schlief.
Charyan jedoch fand keine Ruhe. Er setzte sich vor die Höhle und sah auf den fremdartigen Wald, der sich, soweit sein Auge reichte, tief unter ihm erstreckte. Es gab vieles, über das er nachzudenken hatte.
Nicht nur über die fremdartigen Worte Arions, sondern auch über alles, was bisher geschehen war.
Damals hatte ihn die Stimme des Schläfers darauf vorbereitet, der Beschützer eines Träumers zu sein. Dieses Erlebnis war eigentlich schon ungewöhnlich genug und hätte ihm zu denken geben müssen.
Er hätte jedoch nie damit gerechnet, in eine für ihn völlig fremde Welt zu geraten. Schamanen waren für Seelenreisen zuständig, aber doch nicht ein einfacher Waldläufer, so wie er es nun einmal war.
Dabei dachte Charyan nicht an die Höhle oder dieses riesige, fremde Gebiet.
Nein, es war sein Erlebnis im Shirnaiwald.
Er war irgendwie in Arions Sinnen und Denken gewesen, hatte nicht nur die hellen, sondern auch die Schattenseiten des Träumers gesehen.
Sollte sein Lehrer Androu doch Recht gehabt haben? Damals hatte Charyan noch über den alten Waldläufer gelacht und mit seinen Freunden Witze darüber gemacht.
Schlagartig fiel ihm ein, dass es auch Arion nicht besser ergangen war.
Kein schöner Gedanke, denn in Charyan war einiges, was er gerne für sich behalten wollte.
„Halt ein Charyan, du denkst im Kreis. In jedem ist Gut und Böse. Niemand ist frei von Schatten. Nur die Entscheidung, welcher Seite du dich zuwendest, liegt allein an dir.“
„Es zeugt nicht gerade von Höflichkeit, dass du mich mit Namen ansprichst, während ich den Deinen immer noch nicht kenne.“
Ein quecksilbriges Lachen erklang auf seine mürrische Antwort.
Ungeduldig wartete Charyan.
„Früher nannte man mich Aiden, dieser Name ist ausreichend.
Die Worte des Träumers sind nicht so fremdartig, wie du glaubst. Es war die Sprache des Herzens, so würde es das lichte Volk nennen. Vor langer Zeit sprachen alle so, heute kennt sie keiner mehr.“
„Ich habe nicht alles verstanden, denn er wurde immer leiser.“
Dann werde ich es dir nochmals sagen:
Tomyah sainwehn
Mogh drai woash tain myi droh
Gosh dyane byr stayna aiwyn
Ashdra myr zyar nai braith
Voudrough miende othro cyiendai
Kehmaite, Andai, Quyn desh meyh
Vai gydre moah ishde zhog
Amia nai Evianyn imag phoar
Bydryn Viandryn oshar iley
Tomyah sainwehn
Merke dir beides, denn ihr werdet es brauchen.“
„Wofür, Aiden“
Charyan bekam keine Antwort, aber das kannte er ja schon, obwohl es ihn ärgerte.
Vehement schüttelte er den Kopf. Wieder einmal wurde in Rätseln gesprochen, aber eigentlich war es ihm egal, was den Waldläufer nicht wenig überraschte. Früher hat er nur an sich und seine Stellung innerhalb des Dorfes gedacht, das änderte sich innerhalb kürzester Zeit grundlegend. Es hatte weniger mit diesem Aiden – der sich immer dann meldete, wenn Charyan nicht damit rechnete – zu tun, sondern mit Arion, den er zu Anfang so verachtete. Der Waldläufer stellte für sich fest, dass er dem Träumer bis ans Ende der Welt folgen würde, ganz gleich, was auch geschehen mochte. Das war ein ganz neues Gefühl für Charyan. Arion musste seiner Aufgabe gerecht werden und er, Charyan hatte dafür zu sorgen, dass der Träumer dies auch schaffte.
Seufzend stand der Waldläufer auf und eilte zurück in die Höhle.
Mittlerweile war auch Arion aufgewacht. Er hatte das Feuer neu entfacht und den übrig gebliebenen Eintopf erwärmt. Schweigend aßen sie. Im Stillen dankte Arion ihren unbekannten Helfern nochmals für die Kräuter, von denen er nicht alle kannte. Von einigen wusste er, dass sie zu einem köstlichen Tee wurden, kochte man sie im Wasser. Arion vermutete, dass auch die, welche er nicht kannte, zu heilenden Zwecken bestimmt waren, denn sie hatten einen beträchtlichen Vorrat vorgefunden, sowie gefüllte Wasserflaschen und einen Beutel für die Kräuter.
Derartig ausgerüstet beschlossen die Freunde, den rechten Gang zu erkunden. Sie löschten das Feuer und machten sich auf den Weg.
Als sie den Ort erreichten, blieben sie überrascht stehen.
Der Stollen war verschwunden. Beide wussten aber, dass er da gewesen war. Es gab auch keinen anderen Ausweg, denn bevor Charyan sich an den Höhleneingang setzte, hatte er nach einem Pfad gesucht. Irgendwo mussten ihre Retter ja hergekommen sein, doch er hatte nichts als steile Bergwände gefunden. Charyan machte sich da noch keine Sorgen, denn sie hatten ja zuvor die Stollen entdeckt, doch jetzt war dieser Hoffnungsschimmer zerstört.
Wütend trat der Waldläufer gegen die Wand. Zu seinem Erstaunen tat es nicht einmal weh.
Auch Arion wartete auf die Reaktion seines Freundes, denn man trat nicht ungestraft gegen eine Felswand. Als der Schmerzensschrei jedoch ausblieb, schob er Charyan zur Seite und betastete den vermeintlichen Fels.
Ungläubig schüttelte er den Kopf. Er sah Gestein, hatte aber das Gefühl, Seide zu berühren, obwohl auch das nicht ganz stimmte. Es kam aber dem am nächsten, was er an Stoffen kannte.
Ein erschrockenes Keuchen ließ den Träumer herumfahren.
„Arion, werde ich jetzt wahnsinnig, oder sehe ich da wirklich etwas Geschriebenes stehen.“
Der Träumer folgte dem Blick des Waldläufers. In bronzenen Runen war ein Satz in die Wand geschrieben, den er aus seinen Träumen kannte.
„Nein, Charyan. Auch ich sehe die Worte und erkenne sie aus meinen Träumen.“
„Lies sie vor, es muss doch etwas zu bedeuten haben.“
Ungeduldig wartete Charyan.
„Mogh drai woash, tain myi droh.“
Erwartungsvoll schauten sie auf die Wand, aber nichts geschah.
Enttäuscht betrachteten sie einander, bis Charyan sich an die Stirn fasste.
„Oh, ich Tölpel. Natürlich kann es so nicht gehen.“
„Wie meinst du das, Charyan?“
„Du hast Vandryans alte Sprache, die des Herzens, benutzt.“
Zweifelnd betrachtete der Träumer seinen Gefährten. Stimmte vielleicht doch etwas nicht mit ihm?
Charyan sah Arion lachend an.
„Niemand in Vandryan spricht noch so, Arion. Sie ist völlig unbekannt.“
„Und was heißt das jetzt für uns?“
„Na, überleg doch mal. Du sagst es nochmals in der alten Sprache, denn du bist ein Träumer, verbunden mit den alten Völkern. Ich spreche für alle anderen.“
„Gut, wenn du glaubst, dass es so geht.
Mogh drai woash, tain myi droh“
Charyan antwortete.
„Erde wird trinken deiner Ängste Schweiß.“
Erstaunt sahen die Freunde, wie sich die Wand in Luft auflöste.
Eine leise Stimme erklang, als hieße sie die Gefährten willkommen:
„Viandryn nai“
Ungläubig schauten Arion und Charyan auf das, was sich hinter der Wand verborgen hatte.
Vor ihnen lag keine Höhle, sondern ein schmaler Weg, der durch einen kleinen Wald führte. Rechts und links erhoben sich steile Felswände und die Gefährten konnten etwas blauen Himmel sehen.
Ohne dass sie es wollten, setzten sich ihre Füße in Bewegung.
Gedanken schwirrten wie aufgeschreckte Bienenschwärme in ihren Köpfen herum. Doch es blieb keine Zeit, sie zu ordnen oder zu verstehen, denn plötzlich begann die Erde zu beben.
Schlimmer noch, sie gebärdete sich wie ein bockendes Pferd, das seinen ungeliebten Reiter loswerden wollte. Schon längst waren die Gefährten zu Boden gefallen, und krochen auf allen Vieren dorthin, wo sie das Ende des Tales vermuteten. Dann herrschte plötzlich Stille, bis ein lautes Knirschen ertönte, dass sie frösteln ließ.
Als Charyan den Träumer ansah, erkannte er in dessen Augen die gleiche Panik, die er in sich selbst aufsteigen spürte.
Er wollte etwas sagen, aber da begann es erneut.
Dieses Mal war das Beben nicht so stark, also standen sie auf und liefen den Weg entlang, in der Hoffnung, dieser Hölle zu entkommen.
Felsbrocken fielen herunter, denen sie oft nur knapp ausweichen konnten. Staub wirbelte auf und sie glaubten ersticken zu müssen.
Angst überdeckte alle anderen Gefühle, so dass ihr Handeln nur noch vom Instinkt bestimmt wurde.
Irgendwann wurde aus dem Laufen ein Stolpern, dann sanken die Gefährten zu Boden. Sie hatten keine Kraft mehr aufzustehen, also hielten sie schützend die Arme über ihre Köpfe und warteten auf das Ende. Plötzlich überkam sie eine große Schläfrigkeit, aber nur Arion vernahm die grollende Stimme.
„Leben und Tod in meiner Hand. Warum sollte ich nicht alles zerstören?“
Bevor Arion antworten konnte, kamen die Bilder.
Er sah Awyndas Minen, in denen das schwarze Erz für die Türme abgebaut wurde.
Wieder sprach die Stimme.
„Etwas durchdringt mein Gebein. Es reißt und beißt. Nichts kann mehr wachsen. So stirbt jedes Mal ein Teil von mir.“
„Es sind wenige schuldig, aber viele, die ebenso leiden wie du. Lass uns für euch streiten.“
Stille herrschte. Als Arion schon glaubte, keine Antwort mehr zu erhalten, ertönte es flüsternd:
„So soll es geschehen.“
Als die Gefährten erwachten, war der kleine Wald verschwunden, genauso wie die Felswände und der Himmel. Sie befanden sich wieder in der Höhle. Vorsichtig setzten sich die Freunde auf, konnten kaum glauben, dass sie mit dem Leben davon gekommen waren.
Erst nach einer ganzen Weile sprach Arion über das, was er im Traum sah.
„Die Erde weint, Charyan, über die Gewalt, die ihr angetan wurde, und noch immer wird.“
Erstaunt hörte der Waldläufer zu.
„Ich habe nichts dergleichen gehört, Arion.“
Als sie aufstanden und sich umdrehten, sah Arion silberne Runen an der Felswand stehen, die ihnen den Weg versperrte.
Er stieß den Gefährten an und deutete auf die Worte.
„Sieht fast so aus, als würde man nicht viel von Pausen halten, Charyan.“
„Scheint mir auch so, mein Freund. Ich fühle mich, obwohl wir schliefen, um Jahre gealtert, und eigentlich möchte ich nicht wissen, was uns hinter dieser Wand erwartet.“
„Mir geht es nicht anders, aber ich glaube nicht, dass wir eine Wahl haben.“
„Dann lass uns weiter machen. Je eher wir das hinter uns haben, desto besser.“
Der Träumer nickte und las den Satz vor.
„Gosh dyane byr stayna aiwyn. “
Wie beim letzten Mal übersetzte Charyan.
„Feuer soll brennen wie die Sonne so heiß.“
Wieder verschwand die Wand und zeigte ihnen, was sie erwartete.
Ein schmaler Pfad führte durch eine Feuerlandschaft. Vorsichtig betraten sie den Weg.
Rechts von ihnen erhoben sich Feuersäulen, wunderschön anzusehen, aber todbringend, wenn man ihnen zu nahe kam. Auf der linken Seite brodelten kleine Lavaseen vor sich hin, gespeist von mehreren Minivulkanen.
Die Hitze saugte den Gefährten jeden Tropfen Flüssigkeit aus dem Körper, so dass es ihnen schwer fiel, auf den Beinen zu bleiben.
Jeder hatte den Anderen vor einem Sturz bewahrt, als Charyan plötzlich lauschend stehen blieb und seinen Freund grinsend ansah.
„Arion, schau mal, ob in deinem Beutel sternförmige Kräuter sind.
Der Träumer verstand nicht.
„Ist dir die Hitze zu Kopf gestiegen? Lassen wir diese Hölle so schnell wie möglich hinter uns, bevor wir kross wie ein gebratenes Stück Kaninchen sind.“
„Vertrau mir, ich weiß, was ich sage.“
Achselzuckend tat Arion, was sein Freund ihm riet und war erstaunt, dass er wirklich das Gewünschte fand.
„Was hast du damit vor?“
„Gib mir eines der Blätter. Nimm dir auch eines, und lege es dir auf die Zunge.“
Die Wirkung war durchschlagend. Es schien, als würde ein schützender Panzer ihre Körper umhüllen, der die hohen Temperaturen von ihnen fernhielt.
Außerdem fühlten sie neue Kräfte in sich aufsteigen, aber zusätzlich geschah noch etwas anderes.
Beide konnten nicht beschreiben, was genau mit ihnen passierte. Sie wussten auch nicht, ob es ihnen zum Guten oder Schlechten gereichte.
Nur das Es da war, das wussten sie mit Sicherheit.
Schweigend gingen sie weiter, die Augen immer auf den Pfad gerichtet, bis ein Tosen und Knistern sie aufblicken ließ.
Wie erstarrt blieben sie stehen, als sich vor ihnen eine Feuerwand erhob. Prächtig war sie anzusehen und so heiß wie Vadroshs Hölle.
Sie kam direkt auf Arion und Charyan zu, und es gab keine Möglichkeit auszuweichen.
Bevor noch ein Schrei ihre Lippen verließ, hüllte sie die Gefährten sanft ein und verschwand.
Während der kurzen Zeit, in der Charyan im Feuer stand, hörte er seine flüsternde Stimme.
„Wärme bring ich, aber auch Tod.“
Charyan antwortete:
„Lass uns für alle streiten.“
Wie bei Arion herrschte wieder Stille, bis die Antwort kam.
„So soll es sein.“
Ungläubig starrte Charyan den Träumer an.
Er konnte es gar nicht fassen, dass sie dieses Inferno überlebt hatten. Nach dem Kribbeln auf seiner Haut zu urteilen, musste es jedoch so sein, denn Tote - wie jeder wusste - fühlten ja nichts mehr.
Tatsächlich hatten die Freunde nichts abbekommen, außer einer leichten Rötung, als wären sie zu lange in der Sonne gewesen. Doch Charyan beschäftigte etwas ganz anderes.
„Arion, hast du die Stimme des Feuers gehört?“
„Nein, was sagte sie?
„Es war so wie bei dir, nur kürzer. Verstehst du es?“
Als Arion den Kopf schüttelte, verlor er das Gleichgewicht und wäre gestürzt, hätte Charyan ihn nicht gehalten.
„Arion, was ist los mit dir?“
„Ich weiß es nicht, Charyan. Es scheint, jemand entzieht mir Kraft. Je weiter wir kommen, desto schwächer werde ich.“
Besorgt schaute der Waldläufer in Arions bleiches Gesicht.
„Fühltest du dich nach den Kräutern denn nicht kräftiger, so wie es bei mir war?“
Arion nickte bestätigend.
„Aber nur ganz kurz. Als wir im Feuer standen, war die Wirkung wieder verschwunden.“
„Dann wirst du dich jetzt ausruhen. Sonst schaffst du es nie bis zum Schluss.“
Energisch schüttelte Arion den Kopf.
„Nein! Wir müssen zu Athryns Quelle. Es bleibt nur so wenig Zeit. Ich schaffe es schon, glaub mir.“
Also gingen sie weiter. Am Ende des Weges warteten bereits die nächsten Runen, dieses Mal in Kobaltblau.
„Ashdra myr zyar nai braith.“
„Wasser wird den Weg dir verwehren.“
Als sie die Worte gesprochen hatten, löste sich die Wand jedoch nicht auf, sondern neue Runen erschienen, diesmal in weißer Farbe.
„Voudrough miende othro cyiendai.“
„Sturm soll deinen Schritt erschweren.“
Leise Furcht machte sich in ihnen breit. Sie waren am Ende ihrer Kräfte. Jeder weitere Schritt wurde zur Qual und dennoch blieb den Gefährten nichts anderes übrig, als den Weg zu gehen, der ihnen bestimmt war. Erde und Feuer hatten sie gemeistert, jetzt also warteten noch Wasser und Luft auf sie. Doch was kam danach?
Auf jeden Fall blieb der Pfad versperrt. Die Wand löste sich nicht wie von Geisterhand auf. Stattdessen erschien mitten im Felsen ein kreisrunder Einstieg.
Misstrauisch betrachtete Charyan ihn, sah Arion an und zuckte ergeben mit den Schultern, bevor er sich hochstemmte.
Ein überraschter Laut ließ Arion zögern- nur für eine Sekunde- dann folgte er dem Waldläufer.
Charyan war nur einige Meter weit den niedrigen Gang entlang gekrochen und wollte sich schon über den sehr glatten Boden wundern, als er plötzlich nach vorne fiel.
Bäuchlings sauste er durch den vor ihm liegenden Tunnel abwärts, so schnell, dass ihm Hören und Sehen vergingen.
Kurz darauf befand er sich im freien Fall und betete zum ´Einen´, dass diese Schwindel erregende Rutschpartie doch endlich ein Ende nähme.
Dann fiel er in eiskaltes Wasser.
Der Waldläufer hatte sich gerade wieder an die Oberfläche gestrampelt, als neben ihm Arion ebenfalls ins Wasser klatschte.
Eine Weile hörte man nur die keuchenden Atemzüge zweier Menschen, die gierig nach Luft schnappten.
Lange würden sie es nicht aushalten können, das wussten beide, denn die Kälte ließ jetzt schon jede Bewegung zur Qual werden. Nirgends fand sich ein Ausgang, so sehr sie auch suchten.
Sie wollten schon aufgeben, als das Wasser sank, langsam nur, aber die Gefährten fassten neuen Mut.
Wieder hörte Arion eine Stimme, dieses Mal wie Meeresrauschen.
„Warum sollte ich jene verschonen, die zerstören?“
„Lass uns für euch streiten.“
„So soll es sein.“
Endlich, nach einer Ewigkeit, wie es ihnen schien, erreichten sie festen Boden. Am ganzen Körper zitternd und zähneklappernd steuerten die Freunde auf einen Gang zu, der urplötzlich am anderen Ende der Höhle wie aus dem Nichts erschien.
Es war ihnen gleich, was geschah, sie wollten einfach nur raus, endlich wieder Sonne spüren und vor allem Wärme.
Es wurde ihnen jedoch nicht leicht gemacht, der Höhle zu entkommen.
Ein Wind erwartete sie, so stark, dass sie sich ihm nur gemeinsam entgegenstemmen konnten.
Hohe, pfeifende Töne ließen sie fast taub werden.
Der Sturm schien von allen Seiten zu kommen, zerrte an ihren Kleidern, stieß sie hierhin und dorthin. Sie brauchte alle Kräfte, um überhaupt auf den Beinen zu bleiben.
„Voller Wut sprach der Wind zu Charyan.
„Warum sollte ich nicht alles Leben hinwegfegen?“
„Zu viele sind selbst Opfer, lass uns für euch streiten.“
Ein Kreischen, wie aus tausend gequälten Seelen erklang, und ließ den Waldläufer erschauern.
„So soll es sein.“
Irgendwann – selbst später konnten weder Arion noch Charyan sagen, wie lange sie diesem Inferno ausgesetzt waren – hörte es so abrupt auf, so dass die Freunde unsanft zu Boden gingen. Minutenlang bewegten sie sich nicht, genossen einfach das Gefühl, ruhig liegen zu bleiben, ohne mal in diese, mal in jene Richtung gezerrt zu werden. Nach einer geraumen Weile standen sie dann doch wieder auf und schlossen geblendet die Augen.
Die Höhle, in der sich nun befanden, erstrahlte in einer gleißenden Helligkeit, die nur langsam erträglicher wurde.
Als Arion seine Umgebung wieder erkennen konnte, sah er an jeder der Höhlenwände - denn wieder einmal war der Gang verschwunden, aus dem sie gekommen waren - Runen stehen. An der gegenüberliegenden Wand darunter gezeichnet, Pfeile, also brauchten sie wenigstens nicht darüber rätseln, wo sie anfangen sollten.
Müde las der Träumer die Inschriften vor, während Charyan übersetzte.
Vielleicht, so hofften sie, war ihr Weg ja hier zu Ende.
„Kehmaite, Andai, Quyn desh meyh.“
„Entschlossenheit, Hoffnung, Kraft und Mut.“
„Vai gydre moah ishde zhog.“
„Stellen sich entgegen der weißen Wut.“
„Amia nai Evianyn imag phoar."
„Den Weg der Elemente kann nur gehen.“
„Bydryn Viandryn oshar iley.“
„Wem gelehrt, Vandryans Seele zu sehen.“
„Tomyah sainwehn.“
„Vergiss es nie.“
Danach löste sich die ganze Höhle auf und die Freunde fanden sich in einem wunderschönen Tal wieder.
Sie hörten erneut das Grollen der Erde.
Es knisterte und knackte wie ein fröhliches Lagerfeuer.
Wie von Ferne erklang Meeresrauschen und eine leichte Brise strich ihnen durchs Haar.
„Viandryn nai“, vernahmen sie und wussten, dass die Elemente sie willkommen hießen.
Vögel sangen und Schmetterlinge tanzten über duftenden Blumen, die auf saftigen, grünen Wiesen wuchsen. Mitten im Tal lag ein tiefblauer, kristallklarer See, an dessen Ufer ein kleines, mit Efeu bewachsenes Häuschen stand.
Hinter dem See sah der Waldläufer Bäume und - er glaubte seinen Augen nicht trauen zu können - sogar Wild.
Rundum wurde das Tal von steilen Felswänden geschützt. Es war ein Paradies inmitten der lebensfeindlichen Berge.
Charyan war so in den Anblick versunken, dass er Arion erst bemerkte, als dieser ihn zum zweiten Mal ansprach.
„Das ist Ymain Athryn.“
„Hat der Name eine Bedeutung?“
Ganz leise sprach der Waldläufer, der wieder wie gebannt auf den See starrte.
Arion, der ihn nur zu gut verstand, antwortete ebenso leise:
„Es bedeutet friedlicher Traum, Athryn.
Richtig heißt es Ymain pagore, Athryn. Wir haben die Quelle des Träumers erreicht.“
„Der Name gefällt mir, Arion. Wie lange werden wir bleiben?“
„Bis ich jenes Wissen besitze, das ich im Kampf gegen Awynda brauchen werde.“
Kapitel 4
Während Arion und Charyan sich durch die Elemente kämpften, wurde das Leben unter Awyndas Herrschaft immer schwieriger.
Schulen wurden geschlossen, Kinder zur Arbeit in den Schmieden herangezogen, und die Schergen des Magiers waren überall. Man musste damit rechnen, dass sie einfach ins Haus stürmten und die arbeitsfähigen Kinder und Männer herausholten. Niemand war vor ihnen sicher, selbst in Sainthe geschah es, denn Gadrac brachte jene, die ihm zu gefährlich waren, selbst bis an den Rand des Waldes.
Einige versuchten ihre Söhne und Töchter zu verstecken, aber nachdem ganze Familien ausgelöscht wurden, traute sich niemand mehr. Es blieb dem Volk kaum etwas, um zu überleben, denn viele Felder lagen brach, da es die Frauen nicht schafften, alles zu bewirtschaften.
Wer sich widersetzte, landete im schwarzen Turm. Die Kerker waren überfüllt, aber Awynda schien dies alles nicht zu stören. Seine Leute fielen regelmäßig wie die Heuschrecken bei den Bauern ein, um zu stehlen, was sie brauchten.
Es dauerte nicht lange und der Hunger hielt überall Einzug.
Aufstände wurden blutig niedergeschlagen, aber den Menschen war es gleich. Lieber durch einen Schwertstreich sterben, als elendig zu verhungern.
Was war nur aus dem einst so gütigen Herrscher geworden?
Warum nannte er sich jetzt Awynda?
Wie konnte er so lange seine Macht ausüben?
Es war Shuma, ein Gelehrter aus dem Volk der Acron, der sich diese Fragen stellte. Er konnte sich diese Wendung einfach nicht erklären, es sei denn …
Vor einigen Jahrzehnten - die Acron waren ein sehr langlebiges Volk – sprach Shumas alter Lehrmeister von einem Wesen, das abgrundtief böse war. Wie es damals besiegt wurde, entzog sich seinem Wissen, aber da es über einen Zeitraum von fünf Generationen nicht mehr aufgetaucht war, glaubte man, es getötet zu haben.
Konnte dieses Wesen vielleicht …?
Bei diesem Gedanken lief es Shuma kalt den Rücken herunter. Schnell machte er sich auf den Weg in die Bibliothek, die alles Wissen seines Volkes und noch einiges mehr beherbergte.
Obwohl in tiefer Konzentration versunken, spürte Awynda die erneute Erschütterung im Weltengefüge, was ihn jedoch wenig überraschte.
Seine Soldaten suchten überall in Vandryan nach dem Jungen. Vom fallenden Meer im äußersten Süden des Landes bis Shoval im Westen. Auch im östlichen Daimar waren sie. Im Norden, wo ewiges Eis herrschte, suchten sie nicht, denn es hieß, dass reißende Bestien dort zu Hause wären.
Selbst die Waldläufer aus Sainthe mussten zugeben, dass ihnen der Träumer entkommen war, denn sie hatten seine Spur bis zu den Ausläufern der unüberwindlichen Myrdanberge verfolgt.
Jetzt wurde Zharmaos Ahnung zur Gewissheit.
Nach der Prophezeiung war dieser Träumer der Einzige, der ihn, den Herrscher Vandryans, vernichten konnte. Aber sie beinhaltete auch, dass Hass alles zunichtemachen würde, denn Hass war die Triebfeder des Bösen.
Grimmig lachte der Magier. Hätte er dieses Buch nicht mit einem starken Bann geschützt, wäre er gestorben, wenn seine Zeit gekommen wäre. So aber hatte er den schwachen Körper des rechtmäßigen Herrschers geheilt, und schließlich ganz übernommen.
Niemand verstand, wie Awynda so lange leben konnte, denn was einst geschah, war längst vergessen. Nur eines wurde immer wieder von den Alten weitergegeben: In jener schweren Zeit ritt das lichte Volk gegen den Feind und verbannte oder tötet ihn. Doch so genau wusste es keiner mehr, außer, dass auch die Geheimnisvollen seither nie wieder gesehen wurden.
Weder heute noch damals ahnte jemand etwas von einer Schrift, die von mächtigen Bannsprüchen geschützt die Jahrhunderte überdauerte, bis Zharmao sie fand, obwohl das nicht ganz stimmte. Man könnte auch sagen, dass dieses Buch ihn gesucht und gefunden hatte, denn es schien ein Eigenleben zu haben.
In früheren Zeiten hatte Awynda viele Anhänger, die sich als seine Kinder bezeichneten. Unter ihnen waren sechs der größten Magier der damaligen Zeit.
Er versprach ihnen ewiges Leben, da er wusste, dass nur wenige von ihnen einer solchen Verlockung widerstehen konnten.
Ihnen stand nicht mehr der Sinn danach zu dienen, sie wollten Macht über andere. So fanden auch die Essenzen dieser Sechs eine neue Bleibe und schworen Awynda erneut die Treue. Er ahnte ja nicht, dass dies nur ein Teil der Verheißung war.
Denn es war nicht der Träumer, der Bewegung in das Weltengefüge brachte, sondern eine junge Waldläuferin aus Sainthe.
Maithe, so ihr Name, wurde von seltsamen Träumen heimgesucht. Einmal glaubte sie in Charyan zu sein, dann wieder sah sie einen Wald, ähnlich dem Shirnaiwald, aber ihr völlig unbekannt. In ihm lebte ein Volk, deren Angehörige kleiner als Waldläufer oder Menschen waren. Man konnte sie zwischen den Bäumen kaum erkennen. Eine seltsame Sanftmut ging von ihnen aus und eine große Trauer.
Dann war sie wieder bei Charyan. Maithe sprach Worte, die sie erst verstand, als sie ausgesprochen waren.
Sie hörte das Grollen der Erde, ging mit Charyan durch Feuer und Wasser.
Zuletzt hielt sie mit dem Waldläufer dem Sturm stand. Dabei spürte sie immer seine große Sorge um den Träumer, dessen Beschützer er war.
Maithes Mutter erschrak heftig, als sie den Namen Aiden aus dem Mund ihrer Tochter vernahm.
Sie war froh, alleine mit Maithe zu sein, denn sie ahnte im Voraus, wie ihr Mann darauf reagiert hätte, denn alles, was Gadrac sagte, war für Toran Gesetz.
Aber was, um des `Einen` willen sollte sie nur tun?
Aiden! Fast vierzig Jahre hatte sie diesen Namen nicht mehr gehört. Sie war ihre Schwester gewesen, und Myra hatte sie sehr geliebt. Doch Aiden war immer anders als alle gewesen. Sie wurde von Träumen, die eigentlich mehr Visionen waren, heimgesucht. Doch niemand wollte etwas davon hören. Oft genug wurde sie geschlagen, wenn ihr nur ein Wort herausrutschte. Meist zogen sich die Beiden zurück, und Myra tröstete ihre große Schwester, so gut sie es eben konnte.
Nach einer besonders harten Züchtigung hatte Aiden die jüngere Schwester zur Seite genommen und so eindringlich mit Myra gesprochen, dass diese es nie vergaß.
„Myra, eines Tages wirst du eine Tochter haben. Dieses Mädchen wird etwas ganz Besonderes sein, nenne sie Maithe, denn so hab ich es gesehen.
Schweig über das hier Gesprochene, denn sonst wird es dir wie mir ergehen. Non trac mish Sian, Schwester meines Herzens. Vergiss mich nicht.“
Mehr konnte Aiden nicht sagen, denn Amhar, damaliges Oberhaupt Sainthes, ließ nach ihr rufen. Stolz erhobenen Hauptes ging sie zu ihm, so als wüsste sie, was geschehen würde. Am selben Tage verschwand Aiden ohne eine Spur zu hinterlassen. Niemand trauerte, jeder behauptete, dass Aiden mit dem Bösen im Bunde gewesen war. So wurde der Name ihrer Schwester in Sainthe zum Fluch. Myra selbst hatte nie daran geglaubt, und getan, um was Aiden sie gebeten hatte.
Jetzt, nach so langer Zeit, hörte sie den Namen ihrer geliebten Schwester wieder.
Entschlossen eilte Myra zu Androu. Er war der einzige, der helfen konnte. Da Maithe krank war, fiel es nicht weiter auf, denn er vertrat den Heiler, wenn dieser abwesend war. So konnten auch Gadracs Spitzel nichts weitergeben, denn das Oberhaupt des Dorfes hat nie vergessen, wessen Schwester Myra war.
Bei Androu angekommen, erzählte sie ihm, was geschehen war und beide kamen überein, dass Mutter und Tochter fliehen mussten.
„Androu, wie sollen wir das bewerkstelligen. Maithe hat hohes Fieber und murmelt ununterbrochen etwas vor sich her. Manchmal wird sie richtig laut.“
Beruhigend lächelte er sie an.
„Mach dir keine Sorgen, Myra. Ich weiß, was ich tue.“
Er gab ihr einige Kräuter.
„Mach deiner Tochter einen Tee davon, dann schläft sie tief und ruhig. Heute Nacht bringe ich euch dann in Sicherheit.“
Ängstlich betrachtete Myra ihn.
„Was wird aus dir, Androu?“
„Keine Angst, Myra. Mir wird nichts geschehen.“
Beruhigt ging sie wieder zu ihrer Tochter. Hätte sie gewusst, was in Androu vorging, sie wäre vor Sorge um den Freund außer sich gewesen.
Wie es vorgeschrieben war, ging Androu zu Gadrac und bat um die Erlaubnis, das Dorf verlassen zu dürfen.
„Was hast du im Wald verloren, Androu, wo diese Verbrecher gesucht werden?“
„Die Tochter Torans ist schwer erkrankt. Ich muss bestimmte Kräuter sammeln, denn es könnte ansteckend sein.“
Innerlich musste Androu lachen. Er wusste nur zu genau um die Angst Gadacs vor solchen Krankheiten.
„Dann geh, und sage mir später, wie es Maithe geht, und ob es so ist, wie du sagst.“
Mit einer respektvollen Verneigung, so wollte es das Oberhaupt nun mal, verließ Androu die Hütte und eilte in den Wald.
Endlich, nach einigen Stunden erreichte er sein Ziel, den See der Acron.
Leise rief er nach dem Freund.
„Non trac mish Sian, Shuma! Anwhe nia bayta!“
Androu musste nicht lange warten, bis der Gerufene erschien.
„Was ist los, alter Freund.“
Aufgeregte erzählte Androu, was sich zugetragen hatte.
„Shuma, es ist, wie Aiden es voraussagte. In Maithe ist der Schläfer erwacht.“
Ungläubig betrachtete Shuma den Freund.
„Sie wollte uns also nicht nur trösten, als sie sagte, dass ihr Körper zwar verginge, aber ihre Seele einst wiederkehren würde, wenn die Zeit gekommen wäre?“
Heftig schüttelte Androu den Kopf.
„Nein, mein Freund. Sie ist der Schläfer. Erinnere dich, was sie zuletzt flüsterte, als sie immer schwächer wurde. Der Schläfer ist immer eine Frau. Wenn Träumer und Waldläufer aufeinandertreffen, wird der Schläfer erwachen.“
Zweifelnd schüttelte Shuma den Kopf.
„Der Schläfer; hört sich nicht gerade weiblich an. Wie können wir uns da sicher sein?“
Ungeduldig seufzte Androu.
„Sicherheit gibt es schon lange nicht mehr, Shuma. Wir können nur dafür sorgen, dass Maithe und Myra in Sicherheit sind. Vielleicht erfährst du ja mehr, denn in Sainthe wird der Name Aiden nur als Fluch ausgesprochen. Außerdem ist ihr Vater Gadrac treu ergeben. Er würde Frau und Kind lieber töten, als dem Oberhaupt des Dorfes zu widersprechen. Toran ist sein Ansehen wichtiger als alles andere.“
„Ich verstehe deine Sorge, Androu. Hier hast du die Kräuter gegen das Fieber. Sag Myra, dass sie sich bereithalten soll. Wir holen sie und ihre Tochter diese Nacht ab.“
Beruhigt nickte Androu und machte sich wieder auf den Heimweg.
Als er sich dem Dorf näherte, sah er den Aufpasser zu Gadrac gehen. Still lächelte Androu vor sich hin und betrat seine Hütte, wo er schon sehnlichst erwartet wurde.
„Werden sie uns helfen, Dhao?“
Überrascht, aber auch gerührt starrte er das Mädchen, welches vor Stunden von hohem Fieber geplagt wurde, an.
Seit Jahrzehnten war er so nicht mehr genannt worden. Dhao, was soviel wie Herzensvater bedeutete, war ein Wort, was nicht so schnell ausgesprochen wurde. Allerdings war Maithe immer mehr gewesen, als nur eine besonders gute Schülerin. Jedenfalls, solange sie lernen durfte.
Es dauerte einen Moment, bis er sich wieder gefangen hatte.
„Heute Nacht, Sathe. Woher weißt du von den Acron?“
„Aiden, so nannte sich jene, die in mir spricht. Ich habe Angst, Dhao.
Etwas sagt mir, dass sie noch nicht ganz erwacht ist, aber ich spüre schon jetzt ihre Macht. Was bleibt von mir, Maithe, wenn Aiden ganz erwacht ist? Bleibt überhaupt ein Teil von mir übrig?“
Bestürzt sahen sich Androu und Myra an. Beide hatten sie keine Antwort auf Maithes Fragen. Unsicher betrachtete das Mädchen seine Mutter, bevor es sich einen Ruck gab und weiter sprach.
„Dieses ständige leise Raunen in mir macht mich wahnsinnig. Oft wird es von komischen Träumen begleitet, in denen ich Worte spreche, die ich nie zuvor gehört habe, geschweige denn verstehe. Wird Shuma sagen können, was da mit mir geschieht?“
„Ich hoffe es, Maithe. Vieles an Wissen haben die Weisen der Acron gesammelt. Nicht nur das ihres eigenen Volkes, sondern auch mit Gelehrten anderer Völker haben sie gesprochen und vieles aufgeschrieben.
Mag sein, dass du dort Antworten findest.“
Während sich Maithe und Androu unterhielten, hatte Myra das Abendessen fertig.
Zufrieden schloss Androu die Augen. Es war lange her, dass jemand für ihn gekocht hatte. Er war berühmt für seine aromatischen Kräutertränke, aber seine Kochkünste hielten sich in Grenzen. Myra allerdings war darin unschlagbar.
Ihre Soßen, in denen dicke Fleischstücke schwammen und das würzige Brot, welches sie dazu reichte, waren der Tafel eines Kaisers würdig. Toran wusste gar nicht, wie glücklich er sich schätzen konnte.
Androu jedenfalls würde Myra auf Händen tragen, wäre sie seine Frau.
Doch Toran sah dies gar nicht.
Während Androu schweigend aß, erklärte Myra ihrer Tochter leise, wer Aiden war. Mit großen Augen hörte Maithe zu. Androu erkannte in ihnen keine Angst mehr, sondern sah nur noch Mitgefühl.
Plötzlich überkam alle eine große Müdigkeit. Es war ein langer Tag gewesen und für Maithe wurde es Zeit zu schlafen.
Als Androu am nächsten Morgen erwachte, waren Myra und Maithe verschwunden. Myra hatte sogar daran gedacht eine Nachricht zu hinterlassen, die ihr Verschwinden erklärte. So konnte Gadrac ihm, Androu, keine Vorwürfe machen, was ihm das weitere Leben im Dorf sehr erleichtern würde. Froh über die Geistesgegenwart dieser Frau nahm Androu die Nachricht und eilte zu Gadrac, um zu berichten.
Mit Hilfe von Maithe und der riesigen Bibliothek fand Shuma bald die Antworten auf seine Fragen, doch war es schon zu spät, um zu verhindern, was bald darauf geschah. Maithe, in der nun der Schläfer vollends erwacht war, fiel in einen tiefen Schlaf, aus dem sie nichts und niemand wecken konnte.
Awynda hatte beschlossen, ein Land dem Erdboden gleich zu machen, dessen Volk ihm wegen seiner geheimnisvollen Gaben schon lange ein Dorn im Auge war. Bisher war es ihm nicht gelungen, dieses Volk auf seine Seite zu ziehen oder wenigstens zu ergründen, was es mit seinen Gaben auf sich hatte. Nie verließ es sein Land, half aber jenen, die um Aufnahme baten.
Eines Tages erschienen auf den Hügeln, die Vays südliche Grenze bildeten, sechs verhüllte Gestalten. Sie hielten einander fest, hoben die Arme und ließen machtvolle Worte erklingen, die in ganz Vandryan zu hören waren.
Unruhig wälzte sich Arion in seinem Bett hin und her. Zwei Tage, nachdem er mit Charyan Myrdan erreicht hatte, bekam der Träumer hohes Fieber. Besorgt machte Charyan einen Tee aus den wenigen Kräutern, die sie noch besaßen. Während der Heiltrank abkühlte, wärmte der Waldläufer den kräftigen Wildeintopf auf, der vom gestrigen Mahl übriggeblieben war. Er schaffte es, dass sein Freund etwas Tee trank, aber essen wollte Arion nichts. Gegen Abend sank das Fieber und Arion schlief ruhiger.
Erleichtert atmete Charyan auf und ging nach draußen. Es war eine sternklare Nacht, so wie er es liebte. Es wehte ein lauer Wind, so dass Charyan kaum glauben wollte, dass sie von Berggipfeln umgeben waren.
Er genoss die Ruhe, doch es sollte nicht lange so bleiben.
„Charyan, bald ist es soweit. Geh zur Quelle Athryns und hole den Kelch der Hoffnung, er wird bald gebraucht werden.“
Wieder hatte ihn Aiden überrascht. Doch so langsam gewöhnte er sich daran. Als sie ihm den Tipp mit den Kräutern gab, war er froh gewesen sie zu hören, denn das hatte Arion und ihn gerettet, als sie durch das Feuer gingen.
„Wie soll ich diesen Kelch, finden? Außerdem ist Arion sehr krank. Ich kann ihn nicht alleine lassen.“
„Er wird schlafen, solange du unterwegs bist. Jetzt hör gut zu;
Die geheimen Pfade werden dich zum Kelch der Hoffnung bringen.
Mach schnell, denn bald werden gequälte Seelen ihn brauchen.“
Charyan erschrak und lief los. Bald schon sah er ein silbriges Glitzern entlang des Sees aufblitzen. Sobald er näher kam, verschwand es auch schon wieder. So ging es eine ganze Weile, bis er völlig außer Atem vor einer Felswand stand. Bunte Kreise tanzten vor seinen Augen, als er keuchend Worte rief, die er nie zuvor gehört hatte.
„Gash dromai!
Mit einem leisen Knirschen öffnete sich der Fels und Charyan betrat eine Welt voller funkelnder Farben.
Geblendet schloss er die Augen. Dann kamen ihm wieder Worte über die Lippen, die er selbst nicht kannte.
„Shom Ashgydy! Aintha nain!
Wie von selbst reckte sich seine Hand nach oben und fing etwas angenehm Glattes auf. Vorsichtig öffnete er die Augen und wollte es betrachten, aber es war zu dunkel, denn das strahlende Leuchten war vergangen.
Schnell machte er sich auf den Rückweg.
Als er das Haus betrat, schlummerte Arion immer noch tief und ruhig.
Erschöpft legte auch Charyan sich auf sein Bett und schlief augenblicklich ein.
Mitten in der Nacht jedoch wurde Charyan von einem gellenden Schrei geweckt. Schnell eilte er zu seinem Gefährten und versuchte, Arion zu wecken, ihn zu beruhigen, aber alle Bemühungen waren umsonst. Also beschränkte Charyan sich darauf, den tobenden Träumer festzuhalten.
Der Waldläufer konnte nicht sagen, wie es geschah, doch plötzlich fand er sich auf den Straßen der Träume wieder, neben ihm stand, wie erstarrt, Arion, und weinte. Es dauerte einen Augenblick, bis auch Charyan erkannte, was den Träumer so sehr entsetzte.
Das Volk, das in Vay lebte, nannte sich selbst Yndriddi. Dies war ein Wort in der alten Sprache. Man konnte es mit ´die mit dem Land verwurzelten` übersetzen - obwohl auch das nicht richtig war, dem aber am nächsten kam.
Als die Yndriddi die Gestalten erblickten, dachten sie sich nichts dabei, denn viele, die Hilfe brauchten, kamen über diese Hügel.
Als jedoch diese machtvollen und finsteren Worte erklangen, erhob sich ein ängstliches Geschrei im Land.
Schlagartig wurde es so dunkel, das man keine Hand mehr vor Augen sehen konnte. Mütter riefen nach ihren Kindern, Väter nach ihrer Familie. Heilloses Chaos brach aus. Dann herrschte Stille.
Plötzlich erklang ein irres Gelächter. Worte wurden ausgespien, deren Bösartigkeit alles übertraf, was je in Vandryan gesprochen wurde. Der Fluss im Norden des Landes gefror zu schwarzem Eis. Schwarzer Regen fiel auf Vay und ließ alles vergehen, was er berührte. Selbst die Yndriddi, die sich in die Häuser flüchten konnten, wurden nicht verschont, denn Vay starb, und mit ihm sein Volk.
Jene Yndriddi jedoch, die nicht schnell genug einen Unterschlupf fanden, sollten nach Awyndas Willen zu Stein erstarren und ihre Seelen darin gefangen sein.
Etwas jedoch machte seinen Plan zunichte.
„Moghwaere, Shom Ashgydy
Seymain Yndriddi!!“
Es war Charyan, aber es war nicht seine Stimme, die diese mächtigen Worte sprach.
Verwundert sahen Arion und der Waldläufer, was daraufhin geschah.
Ein kleiner Funke fiel auf Vay hinab. Er ließ die versteinerten Körper zu Staub zerfallen und befreite die gefangenen Seelen. Was blieb, war ein dunkles schwarzes Land, das alle, die sich dort hinein verirrten, in den Wahnsinn trieb.
Texte: Alle Rechte liegen bei der Aurorin
Tag der Veröffentlichung: 14.06.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Tochter Tanja