Während eines Spazierganges traf ich einen alten Mann, der wohl auch schon bessere Zeiten gesehen hatte. Irgendetwas verriet mir, dass ich vor diesem Greis, der sich als Timon vorstellte keine Angst haben musste. Er sah hungrig aus und so bat ich ihn, die Vesper mit mir zu teilen. Wir setzten uns auf eine Bank, genossen das Essen und die Stille des Waldes. Zum Dank erzählte mir Timon eine Geschichte, die vor langer Zeit ihren Anfang nahm und bis heute kein Ende hat. Bevor er jedoch begann, erklärte er mir, dass die Zeit ein Strom mit vielen Nebenflüssen sei, welche voneinander abhängig sind. Erst dann erzählte er seine Geschichte.
„Damals gab es zwei Völker, die die durch eine immer schwächer werdende magische Wand getrennt waren. In Vishtar, dem Land der Sharek, herrschte Tar`eshdor. Er war ein Magier von großer Kraft und Grausamkeit.
Hinter dieser Grenze lag das Gebiet der Sharyn. Es war ein fruchtbarer und friedlicher Ort, an dem es weder Unterdrückung noch Not gab.
Es kam aber der Tag an dem Tar`eshdor auch das Land der Sharyn für sich haben wollte, denn unter seiner Knute war aus dem blühenden Vishtar eine unfruchtbare Wüste geworden. Nur an besonders geschützten Orten wuchsen noch einige spärliche Pflanzen.
So überschritten die Schergen des Magiers immer öfter die Grenze, um grausame Ernte zu halten.
Eines Tages jagten, die sich aber in das Land der Sharyn retten konnte.
Geschunden und dem Tode nahe brach sie im Wald zusammen, wo sie von Tashy dem Heiler und Priester der Sharyn gefunden wurde. Da diesem Volk alles Leben, auch das ihrer Feinde heilig war, brachte er sie in sein Dorf und pflegte sie gesund.
König Mandigo bat sie als seine Frau zu bleiben, denn er hatte Tamila, so war ihr Name, lieb gewonnen und konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen.
Zwei Jahre später schenkte Tamila einem Sohn das Leben, den sie Ruyan nannte. Zur gleichen Zeit gebar auch die Schwester des Königs einen Sohn.
Drei Monate nach Ruyans Geburt teilte Tashy den Eltern mit, dass ihr Sohn nicht hier sondern bei den Sharek aufwachsen müsse, weil sein Weg vom ´Einen` erleuchtet sei.
Die Eltern weinten sehr, aber gegen das Wort des ´Einen´ gab es keine Weigerung.
Kurz darauf nahm die Mutter das Kind und ging zurück nach Vishtar, wo sie bei dem Einsiedler Rontral ein neues zu Hause fand.
Als Ruyan fünf Jahre alt wurde, starb seine Mutter unter mysteriösen Umständen. Er erholte sich erstaunlich von diesem Schock, was Rontral zwar freute, ihm aber auch unheimlich war. Als er den Jungen darauf ansprach, erhielt er eine Antwort, die er nicht erwartet hatte, schon gar nicht von einem so kleinen Kind.
„Mutter ist in den Gefilden des `Einen´. Ich weiß das es ihr gut geht, und dass sie mich beschützt.“
Rontral fragte nicht weiter, denn er liebte Ruyan wie einen eigenen Sohn und fürchtete den Jungen zu verlieren. Er spürte wohl das etwas ungewöhnliches vor sich ging, aber was es war, konnte er nicht sagen.
Bis zu seinem neunten Lebensjahr war Ruyan ein ganz normales Kind, doch dann veränderte er sich über acht.
Seine hellblonden Haare wurden rabenschwarz und die fast schneeweiße Haut nahm einen hellen Bronzeton an. Die größte Veränderung war jedoch in seinen Augen zu sehen. Sie strahlten nicht mehr in einem Meerblau, sondern hatten eine stahlgraue Farbe angenommen. Rontral kam es so vor, als könne der Junge bis in sein Herz sehen.
Wenn Ruyan nichts anderes zu tun hatte, erforschte er die Gegend, übertrat aber die Grenze zum Land der Sharyn niemals. Er stellte ragen über Fragen, so dass Rontral über soviel Wissensdurst nur den Kopf schütteln konnte. Dieser Knabe war ein Fass ohne Boden. Er hätte Ruyan zwar gerne in die Schule geschickt, aber die waren den Kindern der engsten Vertrauten Tar´eshdors vorbehalten. Dem einfachen Volk war das Wissen nicht nur verschlossen, sondern gar verboten, denn unwissende Menschen waren leichter zu beherrschen.
Ruyan hatte gerade sein zwölftes Lebensjahr vollendet, da kamen die Schergen Tar´eshdors um ihn ins Heer zu holen, denn nun war er kein Kind mehr und hatte seine Jugend und Kraft dem Herrscher zu unterstellen. Als Rontral erfuhr das sie den Jungen schon am nächsten Tag mitnehmen wollten, wusste er dass es an der Zeit für Ruyans Rückkehr ins Land der Sharyn war. Noch in derselben Nacht brachte er den Knaben zu seinem Vater. Obwohl der Einsiedler gebeten wurde zu bleiben lehnte er entschieden ab. Zu fremd war ihm dieses Volk und seine Lebensart.
Er umarmte Ruyan kurz und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Unsicher schaute sich der Junge um. Er wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte, doch als Ruyan all die Herzlichkeit spürte, die ihm dieses Volk entgegenbrachte, war auch diese Hürde schnell genommen.
Tahai, der Neffe Mandigos, stand während der Begrüßung neben Ruyan, als wäre es nie anders gewesen.
Tashy nahm seinen Freund und König zur Seite, denn er spürte eine besondere Verbindung zwischen Ruyan und Tahai.
„Hör zu, König der Sharyn. Die Beiden sind enger verbunden als Brüder und werden Seite an Seite gehen. Sie haben besondere Gaben empfangen und sind Wanderer zwischen den Zeiten, wenn sie gelernt haben, die Kraft zu nutzen, die in ihnen wohnt.“
„Wie meinst du das, Tashy?“
„Um gegen Tar` eshdor bestehen zu können, müssen sie ihre dunkle Seite in Tatkraft und Entschlossenheit verwandeln, im Dienst für den ´Einen`. Erst wenn sie akzeptieren das jedes Lebewesen Gut und Böse in sich vereint, um überleben zu können, wird der Kampf zwischen beiden Seiten aufs Neue beginnen.“
Plötzlich schwieg Timon, so dass ich überrascht aufsah.
„Und was geschah weiter?“
Timon schüttelte den Kopf.
„Ich sagte doch, dass diese Geschichte noch ohne Ende ist, denn sonst würdest du es merken.“
Erstaunt sah ich auf.
„Du meinst hier, in meiner Welt?“
Timon schaute mich an als hätte mir jedes Kind diese Frage beantworten können.
„Natürlich oder gibt es hier keine Gewalt und Kriege mehr?“
Jetzt war ich es der nicht wusste, was er von seinem Gegenüber halten sollte, denn schließlich waren ja alle Zeitungen und Fernseher voll von solchen Meldungen.
„Siehst du, sagte er, erst wenn überall Frieden herrscht, wird diese Geschichte ein Ende haben.“
Es schien als überlege er und gerade wollte ich ihn erneut ansprechen, als noch etwas hinzufügte.
„Eines gibt es noch zu berichten.“
Ich schwieg, um ja nichts zu verpassen.
„Tar` eshdor konnte Sharynland zwar nicht besiegen, aber er brachte Kummer und Not über das einst so friedliche Volk. Der Hof Rontrals blieb verlassen, von ihm selbst wurde nie wieder etwas gehört oder gesehen.“
Ich holte mein Schreibzeug hervor, das ich stets bei mir trug, und schrieb zunächst alles auf, denn über diese seltsame Begegnung nachdenken konnte ich später. Dann wollte ich fragen, was aus Ruyan und Tahai geworden ist, doch der Platz neben mir war leer. Timon war ohne Abschied verschwunden, geräuschlos wie ein Geist.
Als ich seinen Namen rief, glaubte ich etwas zu hören, das wie „Wanderer zwischen den Zeiten“
Klang, aber es konnte auch der Wind gewesen sein, der mit dem Herbstlaub spielte.
Tag der Veröffentlichung: 13.06.2010
Alle Rechte vorbehalten