Cover

Eigene Anmerkung zum Buch

 

 

Die folgenden Figuren sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeiten zu lebenden und/oder erfundenen Personen sind reiner Zufall.

Die Gesetze und Anmerkungen in dem >>Bürgerlichen Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals [BGZH]<<

sind ebenfalls frei erfunden und sollen dem Leser ein Gefühl für die Lage und die Behandlung der Hunimals (Gestaltwandler) in der Gesellschaft vermitteln.

 

Viel Vergnügen!

Emanuela

 

 

Was weißt denn du von Liebe?

Von Liebe weißt du nichts.

Dich haben deine Gefühle mal wieder ausgetrickst.

Du hältst dich für gefährlich,

Doch siehst nicht die Gefahr.

Das hier ist die Geschichte von Emanuela.

(Fettes Brot)

 

 

 

 

Kapitel 1

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 1, Abschnitt 1

 

„Hunimal“ [Hu(man) & (A-)nimal]; Bezeichnung eines Tieres, das in der Lage ist, menschliche Gestalt anzunehmen, zu reden und Befehle auszuführen; seinem Besitzer gegenüber verpflichtet bis zum Tod()…

 

 

„Wohin gehst du?“, fragte ich ihn. Ich saß halb aufrecht und mit aufgeschlagener Decke, - jeder Zeit bereit um plötzlich aufzuspringen und ihn festzuhalten, - auf meinem Bett. Bis auf das schwache Mondlicht, lag das Zimmer völlig im Dunkeln. Er stand mit dem Rücken zu mir und drehte sich halb mit dem Gesicht zu mir, um mich anzusehen. Seine hellblauen Augen wirkten fast wie Silber.

„Geh wieder schlafen, Emma“, erwiderte er gelassen und machte Anstalten zur Tür zu gehen. Ich war wie erstarrt.

„Nein“, schrie eine Stimme in meinem Kopf und ich war erstaunt, dass er sie anscheinend ebenfalls gehört hatte. „Silvan!“ Denn seine Hand zögerte einen kurzen Moment lang, bevor sie den Türgriff betätigte.

„Ich bin bald zurück“, versicherte er mir. „Schlaf jetzt.“

Ich wollte aufspringen und ihn festhalten. Ihn bitten, nicht zu gehen. So wie mittlerweile beinahe jede Nacht. Oder ihn wenigstens bitten, mich mitzunehmen. Aber ein Blick in seine leuchtenden Augen und ich sah die Entschlossenheit darin. Er würde mich nirgendwohin mitnehmen. Nicht heute. Nicht sonst wann.

Ein wenig enttäuscht blieb ich in meinem Zimmer zurück, nachdem er die Tür leise geschlossen hatte. Frustriert ließ ich mich in mein Kissen fallen. Warum musste er immer Geheimnisse vor mir haben? Mir nie etwas erzählen, und dann einfach erwarten, dass ich alles hinnahm? Wieso musste er jede zweite Nacht still- und heimlich verschwinden ohne eine Erklärung, ohne ein Wort zu mir oder zu meinem Vater, der das Ganze auch noch zu akzeptieren schien? Ja, wirklich. Es war, als hätten sich die beiden gegen mich verschworen.

Jedes Mal, wenn ich versuchte das Thema anzusprechen, wechselte mein Vater auf nicht gerade galante Weise das Thema auf in etwa die Schule oder das Wetter, und wenn ich dann einen finsteren Blick auf Silvan warf, zuckte der bloß unbekümmert mit seinen Schultern, als wüsste er nicht ganz genau was hier vor sich ging.

Und was ging hier wirklich vor sich? Egal, was es war, es schien ungemein wichtig zu sein. Und verboten. Möglicherweise sogar gefährlich.

Ich kannte Silvan seit ich denken konnte. Ich war mit ihm aufgewachsen, - und damit meinte ich nicht, wie man mit seinem besten Freund oder seinem Nachbarn aufwächst. Mein Vater hatte Silvan schon vor meiner Geburt aufgenommen, - und wenn er mir das nicht selbst mit zehn Jahren erzählt hätte, hätte ich das niemals geglaubt. Es war absolut unüblich, einen Hunimal noch vor der Geburt des dafür zuständigen Kindes auszusuchen. Normalerweise hätte ich diejenige sein müssen, die meinen Hunimal aussucht. Ich hatte noch niemals von einem ähnlichen Fall gehört. Aber da mein Vater mit Silvan eine ungemein gute Wahl getroffen hatte, würde ich mich hüten, je auch nur ein Wort der Beschwerde über meine Lippen kommen zu lassen.

Silvan war mein Hunimal. Er war mein Beschützer auf Lebenszeiten. Das war an sich nichts Besonderes. Jeder hatte einen Hunimal, der ihn oder sie durchs Leben geleiten sollte.

Der einzige Unterschied lag in der Art des Hunimals. Diese war abhängig davon, welchen Stand man inne hatte. Als Töchter eines Schreiners standen meine kleine Schwester Leonie und ich nicht gerade an der Spitze der Pyramide, aber es hätte weitaus schlimmer sein können. Immerhin schenkte man uns Dank unseres Mittel- bis Niederen Stand kaum Beachtung, sodass unser Privatleben vorwiegend sicher vor den neugierigen Augen anderer war.

Für die Oberschicht hingegen und auch einigen Leuten aus der Unterschicht waren die Hunimals ein Gesetzt gegen die Natur, ein Widerspruch an sich. Einige hatten sogar richtige Angst oder empfanden gegenüber ihnen Ekel. Meine Englischlehrerin war nicht die einzige, welche die Hunimals als >>Parasiten<< oder >>Bestien<< bezeichnete. Derlei Begriffe hörte man in der Öffentlichkeit beinahe täglich.

Für mich lagen sie alle falsch. Ein Hunimal, - ein Tier, das nach Belieben die Gestalt eines Menschen annehmen konnte, - erschien mir als das Natürlichste der Welt. Mein Vater hatte mich gelehrt, dass die Hunimals die Stärksten ihrer Vorfahren waren, die sich, - bedroht von dem Menschen, - weiterentwickeln hatten müssen um überhaupt zu überleben. Wir alle entstammten einmal demselben Ursprung. Warum war es dann für so viele schwer zu akzeptieren, was die Hunimals waren? Auch im normalen Tierreich kamen Veränderungen vor. Die Raupe, die zum Schmetterling wurde, das Chamäleon, das sich seiner Umgebung anpasste. Es schein beinahe verrückt, dass es ausgerechnet diese Veränderung, - oder Verwandlung, - war, welche die meisten ablehnten.

Ich liebte Silvans Verwandlung. Und niemals in all den Jahren hatte ich Silvan auch nur ansatzweise einmal als minderwertig oder als Parasit empfunden. Und mein Vater, dessen Hunimal in seiner Jugendzeit verstorben war und seitdem nie wieder einen Beschützer an seiner Seite hatte, und meine Schwester Leonie empfanden es genauso.

Meine Schwester war vierzehn, - demnach um zwei Jahre jünger als ich, - und hatte dieselben hellbraunen Haare wie ich von unserer verstorbenen Mutter geerbt, - bloß trug sie ihre um einiges kürzer, als ich; sie reichten ihr gerade einmal bis zum Kinn. Im Gegensatz zu mir und meinen rein grünen Augen, hatten ihre Augen auch mehr von dem warmen Braun-Ton unseres Vaters abbekommen. Natürlich hatte auch sie einen Hunimal. Ihr Name war Paige, und das aufgeweckte Lemurenmädchen war wie geschaffen für meine schüchterne kleine Schwester. Hatte ich einmal gedacht, Silvan und ich wären unzertrennlich, so hatte ich Paige und Leonie noch nicht gesehen. Sie waren wie Pech und Schwefel. Die Lemurin schien praktisch auf der Schulter meiner kleinen Schwester zu leben.

Silvan. Ich nahm mir fest vor, ihm sein Verschwinden diesmal nicht mehr durchgehen zu lassen. Aber… Was sollte ich tun?

Er gehörte zu mir, und ich ertrug es nicht, dass er Geheimnisse vor mir hatte und sich möglicherweise in Gefahr begab. Aber würde mein Vater das überhaupt zulassen? Ich dachte darüber nach.

Mein Vater war Schreiner, - seine Werkstatt befand sich im hinteren Teil des Hauses. Noch vor meiner und Leonies Geburt hatte er einen schweren Unfall gehabt, und hatte dabei sein linkes Bein verloren. Seit dem ging er auf Krücken, und war sich der vielen Gefahren, die einem im Leben begegneten, nur allzu bewusst. Silvan war wie ein Sohn für ihn. Natürlich würde er nicht zulassen, dass er sich in Gefahr begab. Aber wenn es nicht in zumindest irgendeiner Weise gefährlich war, würde er es nicht so geheim halten. Außer mein Vater heilt es für richtig, was auch immer Silvan nachts tat. Wie zum Beispiel…

Mir fiel nichts ein. Meine Gedanken waren erschöpft und dieses ganze Grübeln verursachte mir Kopfschmerzen. Ich kuschelte mich erschöpft in meine Decke, schloss müde meine Augen und beschloss morgen weiter nach der Wahrheit zu forschen.

Als ich noch klein war, hatten Silvan und ich immer in demselben Bett geschlafen. Ich erinnerte mich noch ganz genau an dieses warme und sichere Gefühl, dass sein kuscheliges, weißes Fell mir gab. Es mochte unverschämt sein, zu behaupten ich wäre einsam, seit Silvan zu groß geworden war, um in einem Bett zu schlafen, aber so war es. Ich vermisste seine Nähe unheimlich. Jetzt ganz besonders. Ich konnte nicht einmal mehr sicher sagen, wann es angefangen hatte.

Als er die ersten Male verschwand, dachte ich, ich hätte es mir nur eingebildet. Aber als ich Silvan im Scherz davon erzählte, reagierte er überhaupt nicht und ließ mich mit einem unguten Gefühl in der Magengrube zurück, und da wusste ich, dass es echt war und er nachts wirklich regelmäßig verschwand. Dass ich in diesen Nächten selbst kaum ein Auge zumachen konnte, schien ihm nicht einmal aufzufallen. Sonst würde er mich ja mitnehmen. Oder vielleicht ignorierte er es auch einfach nur.

Hunimals hatten einen guten sechsten Sinn und schienen immer besonders gut zu spüren, wenn einem etwas bedrückte oder waren immer die ersten, die spürten, wenn etwas in der Luft lag. Aber allem Anschein nach, war Silvan die Ausnahme der Regel.

Ich war schon fast eingeschlafen, da kam in mir der leise Gedanke hoch, wie ein Flüstern, dass mein Vater mit Sicherheit und ohne zu zögern jede Angelegenheit unterstützen würde, welche mit dem Herzen zu tun hatte. Aber da Hunimals sich grundsätzlich nicht verliebten oder gar heiraten durften, verwarf ich den Gedanken sofort wieder und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Kapitel 2

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 10, Abschnitt 3

 

Ein Hunimal, der seine Aufgabe, seinem Besitzer nützlich zu sein nicht erfüllt, darf nach einem dreitägigen Überprüfungsausschusses zu Gunsten des Besitzers von dessen Seite entfernt werden; der ehemalige Besitzer erwirbt sich das Recht nach einer Zeitspanne von einem Jahr einen neuen Hunimal zu fordern()...

 

 

Ich war schlecht gelaunt. Vielleicht lag es an der Tatsache, dass Silvan erst kurz vor dem Frühstück nach Hause kam. Oder vielleicht lag es an meiner kleinen Schwester und Paige, die beide Frühaufsteher waren, und eine Zufriedenheit ausstrahlten, dass ich sie am liebsten in ihre Cornflakes getunkt hätte, - alle beide. Oder aber es lag an der Tatsache, dass heute Montag war, und somit eine neue Schulwoche begann.

Uniformen. Lehrer. Trennungen. Regeln. Dies alles brachte mich dazu, die Schule schon fast zu verabscheuen. Ein Klassenzimmer, geteilt durch eine Glaswand vom vorderen Teil des Raumes zum hinteren.

Auf der einen Seite, - zusammen mit dem Lehrer, und den anderen Schülern in weißen Uniformen, - war ich. Auf der anderen Seite, - in schwarzen Uniformen, - waren Silvan und die restlichen Hunimals meiner Mitschüler, abgeschnitten von allen Lehrern und Schülern. Nicht wahrgenommen. Ignoriert. Ein Zeichen dafür, dass sie nur hier waren, weil ihr Besitzer es war, - und um diesem behilflich zu sein.

Eine Wahl hatten sie nicht.

Vielleicht würde es mich weniger stören, wenn wir wenigstens in den Pausen Zeit miteinander verbringen dürften. Aber keine Chance. Sobald man das Schulgebäude betreten hatte, gab es keine Möglichkeit mehr, mit der >>anderen Seite<< wie sie unter den Schülern gerne genannt wurde, in Kontakt zu treten. Laut der Direktorin, - einer alten Freundin meines Vaters, - sollte das dazu dienen, Freunde in den >>eigenen Reihen<< zu finden.

Völlig überflüssig, meiner Meinung nach. Aber meine Meinung interessierte ja auch niemanden.

Immer wieder im Unterricht, schienen meine Augen und Gedanken zu Silvan auf der anderen Seite ab zu schweifen. Und jedes Mal, wenn sie es taten, erwiderte er meinen Blick, als wüsste er instinktiv, wenn ich an ihn dachte.

Er sah nie als erster weg. Ich wusste nicht, ob es an seinen, - ich entschuldige die Ausdrucksweiße, aber so war es nun einmal, - animalischen Instinkten lag, aber ich konnte mich nicht erinnern, dass er jemals eines unserer vielen Blickduelle verlor.

Seine Augen waren wunderschön.

Mal schienen sie blau, dann doch wieder hellblau, grau oder in manchen besonderen Momenten schienen sie sogar die einzigartige Farbe von flüssigem Silber anzunehmen. Wie in der letzten Nacht. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und ein kleiner Teil von mir bekam langsam Panik, dass es jeder im Raum mitbekommen könnte, - vor allem, die mit dem besser entwickelten Gehör, - während ein anderer Teil von mir einfach nicht aufhören konnte, ihn anzusehen. Seine Augen waren aber bedenklicher Weiße nicht das einzige an ihm, das mein Herz schneller schlagen ließ.

Da waren seine schwarzen Augenbrauen, - ein wenig verdeckt, von den weiß-schwarzen Haaren, - und seine hohe, stolze Stirn, seine gerade Nase und sein bestimmter Mund. Seine breiten Schultern, und seine, - wie ich wusste, - muskulöse Brust. Silvan war ernst und gelassen zu gleich. Er konnte im Mittelpunkt stehen oder sich ohne Probleme zurück halten. Er hatte so viele verschiedene Gesichter, dass ich allein für ihre Entdeckung ein halbes Leben bräuchte, - und ein weiteres für deren Ergründung. Zufälligerweise hatte ich beides.

Als er bemerkte, dass ich nicht wie sonst, weg sah, deuteten seine Lippen ein warmes Lächeln an. Aber in dem Moment, in dem sich sein Gesichtsausdruck, - und vor allem der Ausdruck in seinen Augen, - veränderten, sah ich wie vom Blitz getroffen in eine andere Richtung. Meine Haut kribbelte und mein Herz schlug so hart gegen meine Brust, dass ich erst einmal versuchen musste, tief durchzuatmen, und mich zu beruhigen, - und das ohne dabei sonderlich aufzufallen.

Als ich nach einigen Minuten einen kurzen Seitenblick in seine Richtung warf, musste ich feststellen, dass er mich immer noch ansah, aber ich vermied den direkten Blick in seine Augen, - der Tag war immerhin noch lange und mein Herz hatte sich gerade erst wieder beruhigt; ich wollte es nicht noch mehr überstrapazieren.

„So ein Mist aber auch, was Emma?“, wurde ich von meinem Sitznachbarn Marcus angesprochen. Seine Haare waren ausgesprochen kurz und dunkelblond, seine Augen blau.

Er hatte einen ungewöhnlich großen Hang, sich in Schwierigkeiten zu bringen, - und fehlte beinahe schon regelmäßig im Unterricht. Manchmal unterhielt ich mich mit ihm oder aß mit ihm und ein paar anderen gemeinsam an einem Tisch in der Aula. Es war, - im Gegensatz zu vielen anderen, - immer angenehm mit ihm zu reden. Unser Jahrgang war der erste mit Ständeübergreifenden Klassen. Marcus war nicht so herabsehend, wie viele andere, und ich rechnete ihm das hoch an.

„Entschuldige“, war meine Antwort. „Ich habe gerade nicht aufgepasst. Was ist Mist?“ Ein kurzer Blick durch die Klasse verriet mir, dass es allem Anschein nach schon geläutet hatte. Marcus lachte leise.

„Immer mit dem Kopf in den Wolken“, zog er mich auf, und erklärte dann. „Ich meine den stumpfsinnigen Aufsatz über unser Leben mit unserem Hunimal. Was geht es die Lehrerschaft überhaupt an, was bei uns Zuhause vor sich geht?“, fragte er leicht zornig. Ein wenig erschrocken sah ich ihn an.

„Davon… davon weiß ich gar nichts“, stammelte ich leicht erschrocken.

„War ja klar, dass du wieder nichts mitkriegst“, tat er die Sache ab. „Fünfhundert Wörter über unser Leben und inwiefern unser Hunimal uns beeinflusst, Lebensgewohnheiten, etc. Du verstehst schon?“ Ich dachte einen Moment darüber nach und konnte ein Seufzten nicht unterdrücken.

„Na, das wird dann wohl ein Lügenaufsatz“, erklärte ich immer noch ein wenig ungläubig lachend. Marcus stimmt ein.

„Einfach das schreiben, was sie hören wollen“, bestätigte er. „Kommst du mit in die Aula zu den anderen?“ Ich warf einen letzten Blick zur anderen Seite. Silvan war schon weg.

„Klar“, antwortete ich lachend, hob meine Tasche auf und folgte ihm ins Erdgeschoss.

Die anderen saßen schon am Tisch. Der schüchterne Thomas, der fast nur von seinem Hunimal, einem Fuchsmädchen namens Grace sprach, sowie die stets gut gelaunte, blond-gelockte Bethany, von allen nur Beth genannt, und die verführerische, braun-gebrannte Naturschönheit Vivien, die schon so manchem Jungen aus der Oberschicht den Kopf verdreht hatte. Diese drei, sowie Marcus und ich, hatten uns miteinander arrangiert, - wenn nicht sogar angefreundet. Wir gehörten alle, - bis auf Marcus, - mehr oder weniger der gleichen, - unteren, - Gesellschaftsschicht an.

Vor einigen Jahren wäre eine solche Ständeübergreifende Klasse, wie in der, in welcher wir uns befanden, noch undenkbar gewesen. Aber sie hatte sich trotzdem durchgesetzt.

Es hieß zwar, wir waren noch auf „Probezeit“, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass man diese große Änderung wieder rückgängig machen würde. Im Prinzip fand ich die Idee toll. Wirklich. Es war nur nicht so toll, als die erste Gruppe Laborratten zu fungieren, das war alles. Spätestens bei unserem Abschluss wären wir bestimmt gut in der Klasse integriert, - unter all dem Nachwuchs der Oberschicht.

Immer schön positiv denken.

Mir war bewusst, dass ich mir etwas vormachte.

Ich wurde verabscheut. Nicht von allen. Und nicht nur ich.

Aber da war dieser eine Junge, - aus der hohen Oberschicht, mit einem schwarzen Puma als Hunimal, - der mich manchmal ansah, als wünschte er mir den Tod. Es war nicht direkt beängstigend, - so leicht ließ ich mich, vor Allem mit Silvan als meinen Beschützer, nicht unterkriegen, - aber doch beunruhigend.

Sehr beunruhigend. Mir lief es kalt den Rücken runter, wenn ich nur an seinen Namen dachte.

Vincent.

Er hatte wildes, wasserstoffblondes, halb-lang gelocktes Haar und kalte, grüne Augen. Er nahm nicht wirklich am Unterricht teil, und es schien, als würde er seine Zeit hier im Klassenzimmer als eine Art Strafe ansehen. Er schien sich nicht sonderlich um irgendetwas zu kümmern, sprach mit niemanden ein Wort und ignorierte jeden.

Mit einer einzigen, verdammten, beunruhigenden Ausnahme.

An seinem ersten Tag, - denn er stieg erst wenige Wochen nach Schulbeginn ein, - hatte ich ernsthaft versucht, ein normales Gespräch mit ihm zu führen. Ich wusste nichts über ihn, - außer, dass er hier neu war. Ich musste nicht extra erwähnen, wie es endete, oder? Und da war es wieder, dieses Frösteln.

„Alles okay bei dir?“, erkundigte sich die sanfte Stimme Viviens leise neben meinem Ohr.

„Ja, danke“, versicherte ich ihr. „Mir ist nur ein bisschen kalt, halb so schlimm.“ Wenn ich jetzt bei Silvan wäre, würde er mich bestimmt wärmen.

„Hm, hier“, erklärte die Schwarzhaarige und schenkte mir einen Schluck ihrer Thermosflasche ein. „Kräutertee“, sagte sie lächelnd. „Er schmeckt gut und er hält warm.“ Ich hätte trotzdem Silvan vorgezogen.

„Ist schon okay, - aber danke“, wehrte ich freundlich ab.

„Still sein und trinken“, befahl sie. Da Widerstand allem Anschein nach zwecklos war, tat ich ihr den Gefallen, und war überrascht davon, wie gut der Tee schmeckte. „Der ist selbstgebrüht“, erklärte sie stolz lächelnd. „Lucy, - also mein Hunimal, - hat einen eigenen, kleinen Kräutergarten.“

„Wow“, meinte ich anerkennend. „Ich wünschte, ich hätte einen grünen Daumen. Mein Vater würde mich nicht einmal bitten, mich um seine Zimmerpflanzen zu kümmern, wenn es um Leben und Tod ginge.“ Und ich konnte es ihm nicht verübeln.

Wir lachten beide und sie versprach mir Lucy einmal bei Gelegenheit vorzustellen. Vielleicht konnte sie mir ja hier und da ein paar Tipps zum Thema Pflanzenwelt geben.

So vertrieb ich mir die Zeit bis zum Ende des Schultages, - und konnte es einerseits kaum abwarten, Silvan wegen gestern Nacht anzusprechen, und war andererseits nervös, ob ich mich dieses eine Mal endlich durchsetzten würde können.

Kaum, dass es geläutet hatte, verabschiedete ich mich von meinem Sitznachbarn Marcus und den anderen, und war schon zur Tür, - den Ruf meines Chemielehrers ignorierend, - und bald zum Schuleingangstor raus.

Nur raus, raus, raus.

Jeden Tag nach Schulschluss, trafen wir uns unter einer alten Eiche, versteckt vor den Blicken der anderen zwischen Parkplätzen und Autos. Wir gingen meistens zu Fuß nach Hause; die Strecke war, wie man so schön sagte >>nicht die Welt<< und ich genoss die gestohlene Zeit, die nur uns gehörte.

Momentan war es Ende Herbst, - der Himmel war von grauen Wolken durchzogen und die Bäume begannen langsam ihre Blätter zu verlieren. Wie so oft, war er vor mir da. Er lehnte mit dem Rücken am Baumstamm und sah mich unter seinem schwarz-weißen Vorhang von Haaren amüsiert an.

„Na, auch schon da, Emma?“, scherzte er. Ich wollte verärgert mein Gesicht verziehen, aber es wurde ein merkwürdiges Lächeln daraus; das hatte man davon, wenn man jemanden mochte, - man konnte der Person einfach nicht böse sein.

„Im Gegensatz zu dir, habe ich nur zwei Beine“, verteidigte ich mich. Er lachte leise als Antwort und stieß sich von der alten Eiche ab, und wir begannen den Weg Richtung nach Hause einzuschlagen.

„Das mag schon stimmen“, fügte er leise hinzu. „Allerdings weißt du so gut wie ich, dass ich diese im Moment unter gar keinen Umständen nützen darf, - aus mehreren Gründen.“

Wieder trafen seine hellblauen Augen meine. Ein Schauder ging durch meinen Körper; es war kein unangenehmes Gefühl.

„Ich weiß“, murmelte ich den Blick abwendend. „Trotzdem, - ein Wettrennen mit dir wäre bloße Zeitverschwendung.“ Allein den Gedanken fand ich schon absurd.

Silvan, - ob in seiner wahren Gestalt oder verwandelt spielte keine Rolle, - gegen eine halbe Portion wie mich. Nicht, dass ich sonderlich klein war, aber selbst in seiner Menschform war er einen guten Kopf größer als ich, - und im Vergleich zu seiner Löwenform war ich einfach nur mickrig.

„Da muss ich dir widersprechen“, wandte er ein und ich sah ihn überrascht an. „Bist du denn gar nicht neugierig?“ In seinen Augen stand ein Blitzen, dem ich selten widerstehen konnte.

„Wieso? Sag mir nicht, dass du ernsthaft darüber nachdenkst“, erwiderte ich baff.

„Nun, ja“, überlegte er, seine Stirn in Falten legend. „Zuerst müsste man einen geeigneten Ort finden, - fern von den Augen der Stadt…“

„Städte haben keine Augen, Schlaumeier“, unterbrach ich ihn augenverdrehend, einfach, weil ich die ganze Idee so absurd fand.

„Du weißt, was ich meine“, wehrte er ab und fuhr seine Überlegungen laut fort. „Es würde dauern, bis wir aus der Stadt raus wären, - demnach wäre es an Wochenenden am besten. Natürlich müssten wir es deinem Vater erklären, aber ich glaube Jules dürfte unser geringstes Problem sein. Leonie und Paige sagen wir es besser auch nicht, - am Ende wollen sie noch mitkommen, andererseits…“

Er fuhr fast den ganzen Nachhauseweg mit seinen Überlegungen fort, und ich war so überrascht von dieser ungewöhnlichen Idee, dass ich keinen weiteren Ton mehr dazu sagen konnte. Irgendwann ging er dazu über, leise zu denken und nur noch gelegentlich scheinbar vollkommen gedankenlos ein paar Wörter zu murmeln. Schließlich verstummt er komplett, - ganz und gar in Gedanken versunken.

„Silvan?“, fragte ich ihn irgendwann. Wir waren jetzt fast schon Zuhause.

„Hm?“, antwortete er abwesend.

„Du willst nicht hier sein“, stellte ich leise fest. Bei meinem dünnen Tonfall hob er aufmerksam seinen Kopf. „Nachts verlässt du das Haus“, fuhr ich kaum hörbar fort. „Ohne mir zu sagen, wo du hingehst, oder ohne meine Fragen auch nur zu versuchen zu beantworten, - und jetzt willst du Hals über Kopf die Stadt verlassen…“ Meine Stimme brach.

Er sagte kein Wort. Wieder einmal stand ich ohne Antworten da. Was hatte ich denn erwartet? Plötzlich wurde ich beinahe mit voller Wucht und doch behutsam in eine kleine Gasse und an eine Wand gedrückt. Ich konnte kaum atmen, - im wahrsten Sinne des Wortes.

Er sah blitzschnell von links nach rechts, - vergewisserte sich, dass niemand da war, - und umfasste mich mit beiden Händen und drückte mich bestimmt, aber zärtlich an sich.

„Pscht“, murmelte er beruhigend. „Alles ist gut. Nicht weinen. Ich gehe nirgendwohin“, versicherte er.

Aber es war zu spät; mir war gar nicht aufgefallen, dass sich Tränen in meinen Augen gesammelt hatten, und begonnen hatten, mir über die Wangen zu laufen. Einmal angefangen, schien es unmöglich, aufzuhören. Ich klammerte mich verzweifelt an ihm fest und ließ all die Frustration, die Wut und die Ängste, welche sich in den letzten Monaten in mir angestaut hatten, raus.

Die Tränen wollten kein Ende nehmen, aber er ließ mich gewähren und fuhr mir immer wieder beruhigend über den Kopf während er wiederholt in mein Ohr murmelte: „Alles ist gut. Ich gehe nirgendwohin.“

Nach einiger Zeit hatte ich mich wieder etwas beruhigt, und lehnte meinen Kopf erschöpft an seine muskulöse Brust. Er war so warm und gab mir Sicherheit; solange ich ihn nur dicht bei mir spüren konnte, war es mir fast unmöglich, ihm nicht zu glauben.

„Es tut mir leid“, sagte er, und seine Stimme klang ehrlich. „Ich wusste, wie sehr es dich mitnimmt, - und habe es trotzdem ignoriert.“

Er wusste es? Und hatte trotzdem geschwiegen?

„Ich ertrage es einfach nicht, dass du Geheimnisse vor mir hast, Silvan“, murmelte ich undeutlich in seine Uniform. „Wir hatten doch früher nie Geheimnisse vor einander, erinnerst du dich? Aber was am Wichtigsten ist… Wenn du Probleme hast, - welcher Art auch immer, - will ich dir helfen.“ Ich hob den Kopf ein Stück und sah ihn an. Hellblaue Augen blickten schuldbewusst zurück. „Nimm mich heute Nacht mit“, forderte ich.

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, - verbannte die Schuld hinter einer Maske von Starrköpfigkeit.

„Das kann ich nicht tun“, erklärte er entschlossen. „Zumindest nicht sofort. Emma, ich…“ Er brach kurz ab, schien mit sich zu hadern. „Bitte“, erklärte er mit brennendem Blick. „Lass mich eine Weile darüber nachdenken, okay?“

Ich nickte sacht. Erleichtert drückte er mich wieder an sich, - vermutlich um sein Gesicht vor mir zu verbergen.

Es war nicht mehr weit nach Hause. Schweigend machten wir die letzten Schritte und als wir die Haustür hinter uns verschlossen hatten, schien Silvan fröhlich und unterhielt sich mit meinem Dad über das Essen, - als hätte das vergangene Gespräch niemals stattgefunden. Ich sagte, ich hätte keinen Hunger und lief in mein Zimmer; ich wollte nicht, dass meine Schwester oder Paige mich so sahen.

Silvan hatte versprochen, darüber nachzudenken. Das sollte mir vorerst einmal genügen. Ich wusste, wenn ich versuchen würde, ihn zu zwingen, würde ich nicht sonderlich weit kommen. Deshalb war es, - auch wenn es nur ein kleiner Fortschritt war, - in Ordnung so wie es war. Aber wie lange würde er mich warten lassen?

Kapitel 3

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 8, Abschnitt 6

 

Ein Hunimal darf in der Abwesenheit und ohne die Erlaubnis seines Besitzers nicht seine tatsächliche, animalische Gestalt annehmen; das Vorführen von Schaukämpfen zwischen Hunimals ist selbst mit Erlaubnis oder auf Wunsch des jeweiligen Besitzers verboten; Streitereien unter Hunimals betreffen keine Menschen und sind damit zu ignorieren()…

 

 

„Emma?“, rief mir Marcus vom anderen Ende des Ganges aus zu; seine Stimme klang angespannt und sein Gesichtsausdruck war ernst. Seine weiße Uniform hatte ein paar dunkle Flecken und auf seinem Rücken hatte er seinen üblichen Rucksack. Wir waren wieder in der Schule. Es waren ein paar Tage vergangen und heute war endlich Freitag. In wenigen Wochen war Silvans siebzehnter Geburtstag, - und ich war gerade am überlegen, was ich ihm wohl schenken könnte. Die Hälfte des Schultages hatten wir bereits überstanden. Ich lief zu ihm.

„Hey“, begrüßte ich Marcus. „Was ist denn los?“

„Komm mit“, sagte er nur und zog mich unsanft an meinem freien Arm Richtung Treppe. Er hatte seine Stärke nicht ganz im Griff, denn mein Arm schmerzte furchtbar.

„Ich bin sehr wohl in der Lage dir zu folgen, - du kannst meinen Arm jetzt gerne wieder loslassen“, erinnerte ich ihn ein klein wenig verärgert. Unvermittelt blieb er stehen und ließ meinen Arm sofort wieder los.

„En-Entschuldige“, murmelte er. „Aber wir haben es eilig.“ Er führte mich die Treppe zum Keller hinunter. Dort gab es nicht viel zu sehen; einen Raum zum heizen, ein paar Garderoben, Spinde und das Zimmer des Hausmeisters.

„Was machen wir hier unten?“, fragte ich ihn interessiert; ich war eine Abenteuerin. Außerdem kam mir jede Gelegenheit den Unterricht zu versäumen gerade Recht.

„Wir suchen - “, begann Marcus seine Erklärung während wir um eine Ecke bogen. „ – dieses Zimmer.“ Wir kamen vor einer dunkelblauen Tür zum stehen, an der >>Nur für Personal, - Kein Zutritt<< stand. Ungläubig stieß ich Marcus mit dem Ellenbogen an.

„Bist du jetzt der neue Schulwart hier?“, zog ich ihn auf. „Ich hätte mir nie gedacht, dass du dich sowas traust“, fügte ich anerkennend hinzu.

„Das ist eine Ausnahme“, verteidigte er sich unnötigerweise und seine Stimme wurde zu einem Murmeln als er weiter sprach. „Leider nicht die erste.“ Er ging auf die Tür zu, holte einen silbernen Schlüssel aus seiner Hosentasche und sperrt auf.

„Woher hast du den Schlüssel?“, fragte ich ihn erstaunt. Er hielt mir die Tür auf und wir traten in das dunkle Zimmer. Keine Fenster, kein Licht war zu sehen.

„Mein Hunimal“, war alles was er antwortete, während er sich gekonnt durch den dunklen Raum tastete. Ich versuchte, es ihm gleichzutun, stieß aber immer wieder schmerzhaft gegen irgendwelche Gegenstände.

„Und warum sind wir hier?“, fragte ich ihn nun endlich. Ich gab es ungern zu, aber ich bekam es langsam mit der Angst zu tun. Nicht vor Marcus, - aber vor der Dunkelheit und vor dem Erwischt-werden. Die nächste Stunde hatte bestimmt schon begonnen.

„Mein Hunimal“, antwortete er wieder. Als er hörte, was für Schwierigkeiten ich mit dem Vorankommen hatte, nahm er behutsam meine Hand und steuerte mich sicher an das andere Ende des Raumes.

„Gibt es hier keinen Lichtschalter?“, fragte ich missmutig.

„Doch, natürlich“, erwiderte er. „Aber wir wollen doch nicht, dass jemand erfährt, dass wir hier sind, oder?“ Er blieb stehen und tastete mit seinen Fingern die, - für mich vollkommen schwarze Wand, - ab.

„Suchst du etwa eine Art Durchgang?“, fragte ich endlich verstehend. „Zur >>anderen Seite<<?" Es gab tatsächlich eine geheime Verbindung zwischen der Seite der Hunimals und unserer. Aber warum? Und woher wusste Marcus von alldem?

Fragen über Fragen kreisten in meinem Kopf, bis Marcus allem Anschein nach gefunden hatte, was er gesucht hatte. Eine kleine Öffnung, - in etwa der Größe eines Fensters, - erschien und brachte endlich wieder Licht in die Finsternis.

„Wenn ich bitten darf?“, sagte er höflich und wies mit der Hand auf die Öffnung.

„Wir werden sowas von Ärger kriegen“, meinte ich Kopfschüttelnd und kletterte hindurch in den hellen Raum. Marcus folgte mir, und verschloss den Durchgang wieder vorsichtig, während ich mich im Raum ein wenig umsah. Alte Schränke. Bücher. Kisten. Staub. Spinnweben. Kaputte Tische. Übereinander gestapelte Sessel.

„Du errätst es doch nie, was für ein Zimmer das hier einmal war“, sagte mir Marcus über den Kopf hinweg. Überrascht sah ich ihn an.

„Das hier war einmal das Krankenzimmer“, erklärte er. „Jetzt ist es eine Abstellkammer. Hunimals der Unterschicht stehen keine ärztliche Versorgung zu. Wenn du nicht kurz vorm Abkratzen bist, kümmert sich kein Schwein um dich“, erklärte er mit harter Stimme. Ich zuckte bei seinem heftigen Tonfall ein wenig zusammen. „Entschuldige die Ausdrucksweise“, fügte er ein wenig weicher hinzu. „Aber es gibt keinen Grund die Fakten zu leugnen.“ Ich wusste, er hatte Recht, aber es so auszudrücken, kam mir ein wenig hart vor.

„Hier, probier die mal“, sagte er und reichte mir eine schwarze Uniform.

„Was zum…?“, entfuhr es mir überrascht. Er hielt seinerseits eine schwarze Uniform in seinen Händen. Neben ihm stand eine Kiste, aus der noch mehr schwarzer Stoff heraus schaute. Dann begriff ich. „Woher zum Teufel hast du die?“

„Beruhige dich, - das sind die alten Schuluniformen“, erklärte er gelassen. „Sie weisen nur minimale Unterschiede zu den neuen auf. Niemandem wird etwas auffallen.“

Seine gelassene Haltung brachte mich langsam um den Verstand. Er sagte das alles, als hätte er es schon hunderte Male gemacht. Als er plötzlich anfing sich auszuziehen, wurde ich rot und drehte mich blitzschnell in die andere Richtung.

Ich mochte Marcus, und er war durchaus attraktiv gebaut, aber ich hatte kein wirkliches Interesse an ihm. Außerdem hatte ich erst einen Mann halbwegs nackt gesehen, - und ich wollte das es dabei blieb.

„Du kannst dich meinetwegen hinter dem Kasten umziehen, wenn du willst“, schlug er vor. „Hauptsache es geht schnell.“ Jaja, wir hatten es eilig. Wie oft hatte er das heute schon zu mir gesagt?

Drei Minuten später waren wir fertig und gingen herzklopfend, - zumindest bei mir war es so, - durch die Tür in uns verbotenes Gebiet. Es war mitten in der Stunde, weshalb die Gänge leer und verlassen waren. Es sah alles so anders aus, als auf unserer Seite.

Die Wände waren von einem schmutzigen Hellgrau, die aussahen, als wären sie einmal ursprünglich weiß gewesen, und der Boden war uneben und bestand aus nicht-zusammen-passenden Teppichen. Wenn man das überhaupt als Boden bezeichnen konnte. Wenn ich dabei an unsere Seite dachte, die der Menschen…

Die Wände, - unsere Wände, - waren von einem angenehmen Creme-Ton, und der Boden in den Gängen bestand aus schönen, rot-orangenen Fließen und in den Klassenzimmern aus hochwertigem Holz. Überall waren Lampen und Lichter angebracht, Schilder, Pfeile zur Orientierung. Aber hier auf der Seite der Hunimals waren überhaupt keine Lampen oder ähnliches zu sehen.

Silvan verbrachte fünf Tage die Woche an diesem düsteren Ort. Und ich hatte keine Ahnung davon gehabt.

„Schau nicht so geschockt“, flüsterte mir Marcus leise zu. „Wir sind jetzt Hunimals, - und an dieses Umfeld gewöhnt. Alles klar?“ Ich schluckte einmal und nickte dann zustimmend. Marcus führte mich von Gang zu Gang und schien sich hier auch ohne Schilder bestens auszukennen. Immer wieder sah er dabei auf seine Armbanduhr, die ihm den Weg zu weisen schien. Ich wollte gar nicht wissen, wie oft er sich hier schon eingeschlichen hatte. Irgendwann standen wir vor den Turnsälen.

„Und was jetzt?“, fragte ich neugierig.

„An den Türen ist teilweise verschwommenes Glas angebracht. Du übernimmst die linke Seite der Turnsäle, und ich die Rechte. Wenn einer von uns beiden eine verschwommene Gruppe Hunimals entdeckt, sagt er dem anderen sofort Bescheid. Verstanden?“, fragte Marcus und sah mich abwartend an. Ich bejahte. „Eines noch, - die Turnsäle sind der einzige Ort an der Schule, an der du Hunimals auch in ihrer tierischen Gestalt siehst. Nur, damit du Bescheid weißt, und mir nicht gleich in Ohnmacht fällst.“

„Haha“, spottete ich und huschte zur ersten Doppeltür. Ich war die Hälfte der Türen schon fast durch, - alle ohne Erfolg, - als ich ein leises, aufgeregtes „Emma!“ von der Seite vernahm. Mit zitternden Händen und klopfendem Herzen eilte ich zu Marcus und sah, - wie er, - gespannt durchs Glas; viel mehr als ein paar Schatten konnte ich nicht ausmachen.

„Und jetzt?“, fragte ich ihn interessiert. Er stöhnte genervt.

„Dass du immer so viele Fragen stellen musst!“, murmelte er in sich hinein. „Jetzt, - jetzt kommt der schwierigste Teil.“ Zweifelnd sah ich ihn an. Wenn das der schwierigste Teil war, wie nannte er dann die letzte Stunde, in der wir uns durch verschlossene Türen, verbotene Räume, Dunkelheit und abgelegten Schuluniformen gekämpft hatten?

„Ich bin mir sicher, dass das der richtige Raum ist“, fuhr er in seiner Überlegung leise fort. „Hier haben sie Igor schon einmal aufgelauert. Aber wir können nicht einfach rein gehen und es unterbinden, - es sei denn, wir wollen auffliegen.“

„Ihm aufgelauert?“, widerholte ich fragend seine Worte. „Sowie ein Löwe der Gazelle auflauert?“ In meiner Stimme stand purer Unglaube.

Ich fragte mich, was Silvan wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass ich hier war. Mich bestrich das leise Gefühl, dass es ihn wohl ziemlich wütend machen würde; demnach sollte ich, - wenn ich nicht gerade vor hatte, ihn zu sehen, - Silvan lieber nichts von der ganzen Sache hier erzählen. Nur um sicher zu gehen.

„Oder wie ein Puma der Eule auflauert“, stimmte er zu und warf mir einen bedeutenden Blick zu. Ich brauchte einen Moment bevor ich es verstand.

„Nein“, entfuhr es mir dann ein wenig zu laut. Erschrocken hielt ich mir den Mund zu.

„Pst!“, ermahnte er mich, aber die Schatten schienen uns weiterhin keinerlei Beachtung zu schenken. Immer noch schockiert sah ich ihn an. Betrübt senkte er ein wenig den Kopf.

„D-Dein Hu-Hunimal, er - “, stotterte ich.

„Ja, ich weiß“, unterbrach er mich. „Igor ist einfach nicht stark genug, um sich gegen einen Puma, - geschweige denn eine ganze Gruppe Hunimals, - zu wehren.“ Er klang ein wenig verzweifelt. „Seit seinem ersten Schultag an, hat Vincents Hunimal, - du weißt schon, Mr. Oberschicht, - ein Auge auf Igor geworfen. Ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, aber alles was er dazu zu sagen hatte war >>Ist nicht meine Sache, was Ezra tut<<. Ezra ist Vincents Hunimal. Also hat Igor die Verbindung zwischen der Seite der Hunimals und der Menschen gefunden und mit einem Abdruck vom Schloss, einen Schlüssel nachgebaut. Das erste Mal, die Öffnung zu finden und aufzumachen war eine ziemliche Herausforderung, aber nach ein paar Malen hatte ich den Dreh draußen. Diese Armbanduhr-“, erklärte er und krempelte seinen Ärmel ein wenig zurück. „-zeigt mir, wo in etwa sich Igor gerade befindet. Und wenn er Hilfe braucht oder verletzt ist, dann bewegen sich beide Zeiger, - und nicht nur einer. Siehst du?“ Und tatsächlich. Beide Zeiger lagen aufeinander und zeigten ein wenig wirr Richtung Tür. „Aber meistens komme ich zu spät und kümmere mich bloß um seine Verletzungen“, erklärte er weiter. „Du hast selbst gesehen, wie es mit der ärztlichen Versorgung aussieht. Deshalb habe ich in meinem Rucksack jederzeit alles Nötige dabei. Es ist nicht viel, was ich tun kann, aber zumindest meinen Freund verarzten, das kann ich.“ Obwohl er versuchte es zu verstecken, war sein Blick traurig.

„Also warten wir jetzt einfach darauf, dass sie mit ihm fertig sind?“, fragte ich; zu spät bemerkte ich, dass mein Ton verurteilend klang. Dazu hatte ich kein Recht, denn ich wusste, wie kompliziert die ganze Sache war. Und wie schwierig.

„Wenn wir da einfach reingehen“, erklärte er Aufgrund meines Tonfalls hart, und deutete Richtung Tür. „Dann wissen sämtliche Hunimals da drinnen, was wir sind. Ein Lehrer mag uns zwar nicht von den anderen unterscheiden, aber ein Hunimal erkennt an Hand des Geruches, die Millisekunde in der wir eintreten, dass wir nicht wie sie sind. Das mag an sich nicht so schlimm klingen, da man ihnen das vermutlich, - wenn sie es weitererzählen würden, - niemals glauben würde. Aber welchen Grund hätten sie, auf uns zu hören, wenn wir ihnen befehlen würden, aufzuhören? Da war ja theoretisch nicht einmal hier sein dürften?“ Er sah mich abwertend an und ich senkte den Kopf. Nach einer kurzen Pause fragte er mich etwas versöhnlicher: „Nur mal so ganz nebenbei, was für ein Tier ist dein Hunimal eigentlich?“

Ich seufzte leise und erklärte niedergeschlagen: „Er könnte nichts gegen Ezra ausrichten, - wenn es das ist, was du wissen wolltest.“ Zumal er sich nicht vor den Augen aller verwandeln dürfte. Aber das konnte ich Marcus ja wohl schlecht sagen.

„Hm“, meinte Marcus nur enttäuschend. „Das ist schade.“

„Ja“, antwortete ich nur knapp und starrte schuldbewusst auf den Boden.

Ich hasste es, zu lügen. Aber manchmal hatte man eben keine Wahl. Wenn die Tatsache, dass ich einen Weißen Löwen als Hunimal hatte, durchsickerte, würde ich Silvan nie wieder sehen. Und mein Vater würde vermutlich ins Gefängnis kommen, - oder noch schlimmer. Daran wollte ich gar nicht denken.

Wir lebten in einer parlamentarischen Demokratie. Das Königshaus of Surrey, - vom Volk bloß >>Die Goldene Krone<< genannt, - regierte das Land jetzt schon fast seit dreihundert Jahren. Und seit etwa hundert Jahren, regierte das Königshaus in Zusammenarbeit mit dem Parlament. Es war ein offenes Geheimnis, dass das Königshaus schon seit längerer Zeit ziemlich wenig zu sagen hatte, und die eigentlichen Drahtzieher hinter der Sache das Parlament, genannt >>Die Silberkrone<< waren.

Der wirklich wichtige Teil war aber folgender: Nur die engste, königliche Familie behielt sich das Recht, den König der Tiere als Hunimal zu besitzen, vor. Wohingegen die Silberkrone sich das Recht vorbehielt, den Weißen, - und nur den Weißen, - Löwen als Hunimal zu halten. Niemand anderer, - nicht einmal der König selbst, - dürfte einen Weißen Löwen sein Eigen nennen. Da hatte ich als Tochter eines Schreiners bedenklich schlechtere Karten.

„Und wenn wir doch einfach reingehen?“, überlegte Marcus laut. „Und sehen was passiert?“ Fragend sah er mich an; eine andere Idee schien er nicht zu haben.

„Deinen Heldenmut in Ehren“, antwortete ich. „Aber das wäre ein reines Selbstmordkommando.“

„Dann, - was schlägst du vor?“, erwiderte er ungehalten, aber ich war ihm deswegen nicht böse; er war einfach besorgt.

„Es war mir eine Freude, dich kennen gelernt zu haben“, antwortete ich grinsend. „Und dir ist hoffentlich bewusst, dass wenn wir das überstanden haben, du mir einen Gefallen so groß wie ein Haus schuldest“, zog ich ihn auf.

„Dessen bin ich mir vollends bewusst.“ Er legte eine Hand an den Türgriff.

„Bei drei“, erklärte ich und begann den Countdown zu zählen. „Eins.“ Einmal tief durchatmen. „Zwei.“ Nicht über die Konsequenzen nachdenken. „Drei.“ Silvan in Gedanken um Verzeihung bitten. Marcus stieß die Tür auf und im Nu waren wir drinnen.

Der Raum war leer.

Nun ja, nicht ganz leer. Unter einem Basketballkorb ohne Netz lag ein schmächtiger, kreideweißer Junge mit dunkelbraunem Haar und einer runden Brille. Er hielt sich schmerzverzerrt den Arm.

„Igor“, rief Marcus und lief sofort auf den Jungen zu. Ich schaute in alle Richtungen des Turnsaales, - drehte mich zwei Mal, - konnte aber niemand anderen entdecken. Vermutlich hätte ich erleichtert sein müssen, aber das Gegenteil war der Fall. Die Tatsache, dass ich niemanden sah, machte mich nervös und hinzu kam, dass ich das Gefühl hatte beobachtet zu werden; ich fühlte mich mehr als unbehaglich.

„Marcus“, rief ich mit angespannter Stimme, den ganzen Saal im Auge behaltend. „Nimm Igor und dann verschwinden wir hier.“ Mir gefiel das hier nicht. Was war passiert? Wo waren die Hunimals, die Igor so zugerichtet hatten?

Marcus stützte Igor und unterhielt sich murmelnd mit ihm über seine Verletzungen, - und schien dabei meine angespannte Haltung gar nicht zu bemerken. Das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, ließ auch dann nicht los, als wir den Turnsaal weit hinter uns ließen und auf das Krankenzimmer zusteuerten.

„Marcus“, sprach ich langsam. „Weißt du einen anderen Ort, wo wir hin könnten?“ Bei meinem Tonfall horchte er auf; er schein zu überlegen.

„Wenn wir hier nach links abbiegen, kommen wir zu den Jungs-Toiletten…“, meinte er.

„Perfekt“, erklärte ich lächelnd; ich wollte unseren Beobachter auf keinen Fall zu unserem geheimen Durchgang führen. Als wir gerade durch die Tür gehen wollten, hielt mich Marcus plötzlich am Arm fest. Fragend sah ich ihn an.

„Ähm“, begann er zögerlich. „Emma, das ist das WC für Jungs…“

„Ich weiß“, erwiderte ich, nicht verstehend, worauf er hinaus wollte. Er schien ein wenig mit sich zu hadern.

„Ich denke, es wäre besser, du wartest hier“, erklärte er vorsichtig und sah mich lange an.

„Okay, okay“, stimmte ich zu. „Hast ja Recht.“ Die beiden verschwanden hinter der Tür und ich blieb alleine zurück. Da das Ganze allerdings eine Weile dauern würde, beschloss ich mich noch ein wenig umzusehen. Schließlich hatte man nicht jeden Tag eine solche Gelegenheit.

 

Kapitel 4

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 10, Abschnitt 6

 

Ein Hunimal ist verpflichtet jeder Zeit und mit allen Mitteln einem Menschen, unabhängig von dessen Verbindung, behilflich zu sein. Ein mutwilliger Verstoß, welcher dem Menschen irgendeine Art Schaden zufügen könnte, wird streng gefahndet und kann im äußersten Fall zu einem Zivilprozess führen()…

 

 

Ich hätte mich nicht von meinem Platz entfernen sollen. Ich wusste weder, wo ich war, noch wie ich zu Marcus und Igor zurückfinden sollte. Und das Schlimmste: Es hatte gerade zur Mittagspause geläutet und überall auf den Gängen und Treppen strömten Hunimals durch die Gegend. Hunimals, mit erstklassigem Geruchssinn und einem verbesserten Hörvermögen. Während ich mich in einem Schrank mit allerlei Putzmitteln im Flur versteckt hielt.

Rette mich!

Am liebsten würde ich auf meinen strahlenden Ritter warten, meinen ganz persönlichen Superhelden. Aber wem machte ich etwas vor? Niemand würde wie aus dem nichts kommen und mich hier rausholen. Ich hatte mich in diesen Schlamassel gebracht, - und ich brachte mich auch wieder raus. So einfach war das.

Soviel zur Theorie.

Ich spähte wieder durch einen kleinen Schlitz und beobachtete die umhergehenden schwarzen Uniformen. Einzelne Wörter oder Satzteile gelangten an mein Ohr, aber die meisten entfernten sich so schnell, dass ich kaum den Sinn hinter dem Gesagten verstand.

Jedes Mal, wenn jemand mir und dem Kasten zu nahe kam, fing mein Herz vor Panik an wie wild zu rasen, - was mich wiederum nur noch panischer machte. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass ich diese Situation unbeschadet überstand.

Wieder näherten sich zwei Hunimals bedenklich nahe dem Schrank und ich hielt die Luft an; beinahe genau vor mir blieben sie stehen. Der eine Junge war recht muskulös gebaut und hatte längeres, braunes Haar und schien sehr aufgebracht, während der andere sehr groß, vom Körperbau eher schmal und sehr bleich war. Er hatte außerdem schwarze Haare und einen gestutzten Bart, - etwas, was man bei Hunimals erstaunlich selten sah, weil es ein Zeichen der Oberschicht war. Ich konnte gar nicht anders, als ihr Gespräch zu belauschen.

„Was fällt diesem Stinktier ein, sich einzumischen?“, fragte der braunhaarige Junge aufbrausend. „Es hat ihn bis jetzt doch auch nie gekümmert, was wir tun. Aber jetzt auf einmal den Moralapostel spielen! Zuerst uns blöd anmaulen, - und dann wie vom Erdboden verschwinden. Na, warte, wenn ich den in die Finger kriege…“

„Beruhige dich, Fernand“, erwiderte der schwarzhaarige kühl. „Das war doch interessant heute. Und der Tag scheint immer besser zu werden.“ Er lächelte leicht, aber es war kein sehr freundliches Lächeln.

„Was bitte war daran denn interessant?“, fragte der andere Junge geringfügig. „Verarscht hat uns dieser Idiot. Dumm da stehen lassen. Wenn der mir das nächste Mal über den Weg läuft…“ Der Schwarzhaarige unterbrach ihn mitten im Satz.

„Du wirst ihm nichts tun“, erklärte er, und murmelte etwas, das ich nicht ganz verstand. „Hast du verstanden?“ Sein Blick war ruhig, aber er ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Der andere nickte unglücklich, und meinte, er hätte noch etwas zu erledigen. Dann verschwand er, den Schwarzhaarigen zurücklassen.

>>Nimm ihn mit, nimm ihn mit!<< schrie eine Stimme in meinem Kopf, aber mein Wunsch wurde nicht erfüllt. Stattdessen lächelte der Junge wieder unheimlich, und schien sich in meine Richtung zu drehen.

„So, und wen haben wir denn da?“, fragte er sarkastisch. Seine gelb-grünen Augen trafen meine durch den Schlitz hindurch und es fühlte sich an, wie ein Stromschlag; es tat auch genauso weh.

Wo war Silvan, wenn man ihn brauchte?

„Kommst du freiwillig raus, oder muss ich erst ein wenig nachhelfen?“ Sein Tonfall verhieß nichts Gutes. Trotzdem weigerte sich mein Körper sich auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu rühren. Ich war wie gelähmt, - ob vor Schock oder Angst konnte ich nicht sagen. Ungeduldig seufzte er und riss dann eine der zwei Türen auf.

„Hi“, murmelte ich ein wenig eingeschüchtert. Als er mein Gesicht sah, schienen sich seine Augen ein wenig vor Überraschung zu weiten. „Also, ich war auf der Suche nach den Toiletten, und habe mich verirrt. Als mir zufällig ein Lehrer über den Weg lief, hab ich mich aus Angst, - weil es Mitten in der Stunde war, - hier versteckt. Aber jetzt ist ja Pause, demnach vielen Dank für deine Hilfe, aber ich glaube von jetzt an komme ich allein zu Recht“, log ich das Blaue vom Himmel hinunter.

Nicht meine beste Lüge, aber ich stand unter Stress und sein Blick taxierte mich wie die hungrige Schlange die gefangene Maus. Ich wollte gar nicht wissen, was seine wahre Gestalt war.

„Aha“, meinte er überheblich. „Und das soll ich dir glauben?“ Als Antwort versuchte ich das hübscheste Lächeln, das ich in einer solchen Situation zu Stande brachte, aber das schien ihn kalt zu lassen.

Autsch; das kratzte an meinem Ego.

„Dass mit dem mich-verirrt-haben, stimmt“, stellte ich klar. „Könntest du mir zufällig den Weg zum WC der Jungen erklären? Von dort aus, weiß ich den Weg.“ Ich machte Anstalten, aus dem Kasten zu steigen, und er heilt mir helfend eine Hand hin; ich war so überrascht, dass ich sie zuerst nicht nehmen wollte, aber da ich ja etwas von ihm wollte, schien es äußert ungeschickt, ihn jetzt zurückzuweisen. Also nahm ich seine Hand; sie war überraschend warm. Schwungvoll, - ein wenig zu schwungvoll, - zog er mich aus dem Kasten und ließ mich dann sofort wieder los.

„Was bekomme ich dafür, wenn ich dir helfe?“, fragte er ein wenig gelangweilt.

„Meine Dankbarkeit?“, schlug ich nicht gerade überzeugend vor.

„Davon habe ich nichts“, meinte er bloß und fuhr sich überlegend durch seinen kurzen Bart.

„Gut. Was willst du?“, fragte ich gerade heraus. Ich hatte das Gefühl, damit mehr Erfolg bei ihm zu haben. In seine Augen trat ein merkwürdiges Blitzen. Anders als bei Silvan, machte mir dieses Blitzen ein wenig Angst.

„Einen Gefallen“, erwiderte er nicht gerade informativ.

„Welchen?“, wollte ich wissen.

„Das wirst du sehen, wenn es soweit ist“, sagte er. „Und jetzt komm, - Ich führe dich hin.“ Ich wollte widersprechen, aber er ging so schnell, dass meine Füße beinahe nicht mitkamen und aus meiner Kehle wollte kein Laut kommen. „Wir sind hier“, erklärte er kurz darauf, während ich nach Luft rang. „Vergiss nicht unsere Abmachung, Emma.“

„Wo-Woher…?“, begann ich meinen Satz, konnte ihn aber aus Sauerstoff-fehlenden Gründen nicht beenden.

Woher zum Teufel wusste er meinen Namen?

Leise hörte ich ihn lachen und sah aus den Augenwinkeln wie er sich unauffällig entfernte.

„Hier bist du, Emma“, rief Marcus und lief auf mich zu. „Verdammt, ich war überall auf der Suche nach dir. Wir müssen zurück. Wir sind schon viel zu lange weg. Wo zum Donnerwetter warst du? Hatte ich dir nicht gesagt, dass du hier warten sollst?“

„En-Entschuldige“, erwiderte ich. Langsam bekam ich wieder ein wenig Luft. „Aber jetzt bin ich ja wieder da.“

„Mach so etwas nicht wieder“, wies er mich ein wenig versöhnlicher zurecht, und zog mich in Richtung des ehemaligen Krankenzimmers. „Ansonsten kann ich dich nicht mehr mitnehmen.“

„Du nimmst mich nochmal mit?“, fragte ich überrascht und sah ihn an. In seinen Augen stand noch immer Sorge, aber sein Mund verzog sich zu einem Grinsen.

„Nur, wenn du das nächste Mal brav bist“, erklärte er. Ich nickte begeistert.

Es mochte seltsam erscheinen, dass ich nach all dem Stress und den Schwierigkeiten trotzdem wieder herkommen wollte, aber um ehrlich zu sein, war es pures Adrenalin. Aufregung. Freiheit. Das wollte ich mir doch nicht entgehen lassen.

Kapitel 5

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 4, Abschnitt 2

 

Ein Hunimal ist gleichzusetzten mit dem Tier in ihm; ein Mensch hat das Recht, seinen Hunimal so zu erziehen, wie er es für richtig hält; er darf bei einem Hunimal, anders als dem eigenen, nicht Hand anlegen, tut er es aber doch, so hat dessen Besitzer das Recht Gleiches mit Gleichem zu vergelten()…

 

 

Unser Fehlen im Unterricht stellte sich als weniger problematisch heraus, als ursprünglich angenommen.

Offenbar hatte Marcus im Vorfeld mit einem Lehrer darüber gesprochen, dass er mich zur Schulärztin bringen wollte und sogar die Erlaubnis erhalten, mir die ganze Zeit über Gesellschaft zu leisten. Auf meine Frage, warum denn ausgerechnet ich der Patient hatte sein müssen, meinte er nur, er hätte diese Ausrede einfach schon zu oft bei sich selbst benützt.

Und voila, wurde mir der Sinn meiner Aufgabe klar: Ich war seine Rückendeckung bei den Lehrern. Nicht gerade das Schmeichelhafteste, aber jetzt verstand ich wenigstens, warum er mich mitnahm.

In der letzten Stunde kehrten wir zurück in den Unterricht; ich mied Silvans Blick ganz bewusst. Ich war überrascht, Igor auf der anderen Seite zu sehen. Aber wenn man bedachte, dass er Marcus‘ Hunimal war, dürfte es mich eigentlich nicht wundern.

Sein ganzer linker Arm war in eine Schlinge gebunden und auf seiner rechten Schläfe klebte ein großes Pflaster; er sah erschöpft aus. Ich blickte durch die Reihen und bemerkte, dass ich den anderen Hunimals noch nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Alles, was ich immer gesehen hatte, war Silvan.

Ich stutzte. Bildete ich mir das nur ein, oder waren weit mehr Menschen in diesem Raum als Hunimals? Wo waren die übrigen?

Die Stunde hatte, - zumindest für mich, - kaum begonnen, da war sie auch schon aus. Ich verabschiedete mich von den anderen, - beteuerte immer wieder, dass es mir gut ginge, - wich dabei gezielt Vincents Todesblicken aus und machte mich auf den Weg zum Parkplatz. Er lehnte wieder unter der alten Eiche und stieß sich in dem Moment vom Baumstamm ab, in dem ich direkt vor ihm stand.

„Können wir?“, erkundigte er sich. Ich nickte zustimmend. Den ersten Teil der Strecke verbrachten wir schweigend, - und da ich viel zum Nachdenken hatte, war mir das nur recht, - aber als wir ungefähr bei der Hälfte waren, schnaubte er plötzlich. Überrascht sah ich ihn an.

„Du warst heute also auf der Seite der Hunimals“, erklärte er und sämtliche Farbe wich aus meinem Gesicht. „Sehr interessant. Wie hat es dir gefallen?“

„Wo-Woher weißt du davon?“, stotterte ich vollkommen überrumpelt. Er blieb stehen und sah mich abschätzend an. „Was?“, fragte ich.

„Ist es nicht offensichtlich?“, konterte er. Ich schluckte.

„Du hast mich gesehen“, vermutete ich.

„Das auch“, erklärte er verärgert. „Zuerst einmal habe ich dich gerochen. Dachtest du wirklich, ich wüsste nicht in dem Moment in dem du Hunimal-Territorium betrittst, dass du es bist?“ Ja. Eindeutig verärgert. Deshalb wollte ich nicht, dass er es erfährt.

„Ich hatte es gehofft“, gestand ich und fixierte einen Punkt auf dem Boden. Er trat näher und legte seine Hand an meine Wange. Überrascht sah ich auf. Sein Gesicht war näher als erwartet und seine Augen bestanden aus flüssigem Silber.

„Könntest du bitte aufhören, mir ständig Sorgen zu bereiten?“, bat er mich intensiv. Seine Augen bohrten sich in meine, schienen dabei jeden meiner Gedanken lesen zu können. Mein Herz schlug mir viel zu laut gegen meine Brust, aber ich beachtete es überhaupt nicht, - ich war zu sehr damit beschäftigt, mich auf meinen zitternden Beinen zu halten. „Emma, für mich“, fügte er hinzu.

„Ich – Das kann ich dir nicht versprechen“, stammelte ich unbeholfen. Wenn Marcus mich morgen fragen würde, ob ich wieder mit ihm auf die andere Seite gehen wollte, wusste ich, meine Antwort würde keine andere als >>Ja<< lauten. Silvans Hand wanderte von meiner Wange zu meinem Hals, hinterließ eine heiße Spur auf meiner Haut.

„Emanuela“, begann er zögernd; er war der einzige der mich noch gelegentlich bei meinem richtigen Vornamen nannte. Es fühlte sich jedes Mal so an, als wäre es unser beider Geheimnis, - gab mir das Gefühl, dass wir eine ganz besondere Verbindung teilten. „Auf der Seite der Hunimals ist es nicht sicher für dich“, redete er leise auf mich ein. „Das Gesetz sagt, ein Hunimal darf einem Menschen keinen Schaden zufügen, - aber wenn du ihnen in ihrem Territorium die Gelegenheit bietest, - ohne Aufsicht, ohne Möglichkeit erwischt und bestraft zu werden, - dann kann niemand mit Sicherheit sagen, was passieren wird. Das heute muss dir doch eine Lehre gewesen sein.“ Seine Augenbrauen hoben sich fragend.

„Inwiefern?“, murmelte ich nicht-verstehend, was er meinte.

„Hast du deine Begegnung mit Ezra so schnell vergessen?“, fragte er mich ungläubig. Immer noch lag seine Hand an meinem Hals, sein Gesicht nur wenige Zentimeter über mir. Bei der Erwähnung des schwarzen Pumas horchte ich allerdings überrascht auf.

„Du meinst, der Hunimal, der-“

„Genau der, dem du einen Gefallen schuldest, ganz Recht“, berichtigte er mich. Ich verzog das Gesicht; der Gedanke daran verursachte mir Übelkeit. „Ein bisschen länger, und ich hätte dich persönlich zu Marcus zurückführen können, - aber ich kann nicht überall gleichzeitig sein, Emma. Ich kann mich nicht um eine verärgerte Gruppe Hunimals kümmern, - ohne mich zu verwandeln und sie dann auch noch möglichst weit von euch, wo auch immer ihr drei herumgeistert, fern halten, - und gleichzeitig jeden deiner Schritte überwachen, weil du nicht bei den anderen beiden bleiben konntest. Ich. Kann. Einfach. Nicht. Überall. Gleichzeitig. Sein.“ Mit großen Augen blickte ich ihn an, - und sah den vergangenen Tag plötzlich in einem völlig anderen Licht. Das war… alles er?

„Ich verlange ja gar nicht, dass du nie wieder die Seite der Hunimals betrittst“, lenkte er ein. „Nur lass es bitte nicht zur Gewohnheit werden.“

„Aber Igor-“

„Um Igor kümmere ich mich schon“, versicherte er mir. „Ich passe auf, dass ihm nichts mehr passiert.“ Tief sah er mir in die Augen.

Ich nickte ein wenig ergeben, und er gab mir einen sanften Kuss auf die Stirn; ein Kribbeln ging von der geküssten Stelle aus und ließ meine Wangen rosa färben.

„Danke“, verkündete er sichtlich erleichtert und trat ein wenig zurück. „Wenn du das nächste Mal in einer gefährlichen Situation eine Entscheidung treffen musst, dann denk einfach an mich“ – Das dürfte mir nicht weiter schwer fallen, mein Kopf war ohnehin mit nichts anderem gefüllt, - „Und dass du es mir nicht zumuten kannst, dir etwas zustoßen zu lassen.“ Er grinste verschlagen, und die Farbe an meinen Wangen verwandelte sich von zart rosa in dunkelrot.

„Ich werde es versuchen“, versprach ich und hakte mich bei ihm unter, ohne ihn bis wir endgültig Zuhause waren auch nur einmal loszulassen; ich brauchte seine Nähe so sehr, wie die Luft zum Atmen, - und in letzter Zeit fühlte ich mich dem Ersticken so nahe, dass ich mehr und mehr seine Nähe suchte, und bedauernd feststellen musste, dass es immer noch nicht genug war.

Kapitel 6

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 12, Abschnitt 6

 

Ein Hunimal hat kein geltendes Mitspracherecht, was seine Partnerwahl anbelangt; hat ein Mensch den Wunsch, die Ahnenreihe seines Hunimals fortzusetzten, so muss er ein Wissenschaftliches Institut aufsuchen, das sich auf animalische Fortpflanzung beruht oder privat den Besitzer eines gewünschten Hunimalpartners aufsuchen und um dessen Einverständnis bitten; der gewünschte Nachwuchs darf nur dann in der Familie bleiben, wenn sich ein passender Besitzer nach Paragraf 9, Abschnitt 1 unter ihr befindet()…

 

 

Silvan hatte sich an sein Versprechen gehalten, Igor zu beschützen, sodass es für Marcus und mich längere Zeit überhaupt nicht notwendig war, uns auf die >>andere Seite<< zu schleichen. Marcus Lehrer lobten seine Anwesenheit und beglückwünschten ihn zu seinem verbesserten Gesundheitszustand und alles schien wieder seinen gewohnten Gang zu gehen. Um es anders auszudrücken: Es war stinklangweilig.

Ich wollte Spannung und Abenteuer erleben, wollte mein Herz so laut gegen meine Brust schlagen hören, dass es beinahe weh tat und vor allem, wollte ich etwas Verbotenes tun, die Regeln brechen. Unbegrenzte Freiheit spüren, - wenn auch nur für einen einzigen kurzen Moment. Aber… ich hatte es Silvan versprochen; und ich würde mich daran halten.

Auch, wenn es mich förmlich in den Fingern juckte, - halb um den Verstand brachte, - ich würde mein Versprechen halten.

„Emma“, sprach mich die hübsche Vivien über den Tisch hinweg an. Es war Mittagspause und wir saßen gerade alle in der Aula.

Ich kritzelte gelangweilt auf einem Blatt Papier herum, und sah zu, wie meine Finger wie von selbst anfingen, zuerst ein markantes Kinn, dann hohe Wangenknochen, ein faszinierendes Paar Augen und schließlich ein ganzes Gesicht zu zeichnen. Frustriert musste ich feststellen, dass es mir unmöglich war, seinen intensiven Blick einzufangen und auf Papier zu bringen. Ich stoppte kurz, um Vivien mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

„Das ist wirklich gut“, erklärte sie mit einem bedeutenden Blick zu meinen Händen und der Zeichnung, die ich jetzt mit rotem Kopf versuchte zu verstecken.

„Naja, Ansichtssache“, murmelte ich ausweichend und verdeckte Silvans Portrait-Zeichnung mit meiner Englischmappe. Sie lächelte, und kam zu ihrem wirklichen Anliegen.

„Hättest du vielleicht mal Lust mit mir in die Stadt zu fahren? Das neue Einkaufszentrum hat seit zwei Wochen geöffnet, und ich hatte noch keine Gelegenheit mir das mal anzusehen. Was sagst du, bist du dabei?“ Ein warmes, einladendes Lächeln zierte ihr Gesicht.

Ich war überrascht von der plötzlichen Einladung, freute mich aber viel zu sehr, um irgendwelchen Bedenken Platz zu machen; ich sagte sofort zu.

„Schön“, erwiderte sie glücklich und ihre dunklen Augen strahlten. „Wann hättest du Zeit?“, fragte sie mich sofort.

„Eigentlich fast immer“, erklärte ich ein wenig schüchtern; meine Antwort schein sie zufrieden zu stellen.

„Wie wär’s mit heute?“, schlug sie vor.

„Sicher, warum nicht“, stimmte ich lächelnd zu. „Ich müsste nur vorher Silvan Bescheid geben.“ Ich fragte mich, ob es ihr etwas ausmachen würde, ihn mitzunehmen…

„Geht ihr ins neue Einkaufszentrum?“, mischte sich Marcus fragend ein.

„Gut aufgepasst, Schlaumeier“, zog ihn die orientalische Schönheit auf. „Wieso? Willst du auch mit?“

„Naja, ich könnte ein neues Paar Socken gebrauchen“, erwiderte er grinsend. „Es wird langsam kalt draußen.“

„Ins neue EZ?“, mischte sich jetzt auch die blond-gelockte Beth ein und erklärte gleich: „Dann komm ich auch mit.“ Sie stieß den braunhaarigen Brillenträger, der neben ihr gerade in ein Buch vertieft war, leicht mit dem Ellbogen an. „Du doch auch, oder Thomas?“

Dieser legte sein Buch zur Seite und sah nur Vivien an als er fragte: „Wenn das in Ordnung geht, dass wir alle mitkommen? Ich meine, eigentlich hattest du doch nur Emma gefragt.“ Vivien winkte ab.

„Mehr Leute, - mehr Spaß“, erklärte sie fröhlich. „Nein, wirklich. Es kann jeder mitkommen“, versicherte sie ihm, er schien aber nicht sonderlich interessiert.

„Kann ich Grace mitnehmen?“, fragte Thomas, wieder sein Buch aufschlagend. Es dauerte eine Minute, bis Vivien ihm antwortete.

„Ich denke, dass das keine so gute Idee ist, Thomas“, begann sie vorsichtig. „Sei nicht böse, aber ich weiß aus Erfahrung, dass…“

„Du wirst doch mal einen halben Tag ohne deine heiß geliebte Gracie aushalten“, stöhnte Marcus genervt. Das hieß dann wohl ich konnte mir meine Frage, ob Silvan vielleicht auch mitkommen dürfte sparen. Ich unterdrückte ein Seufzten.

„Gut, dann vielleicht nächstes Mal“, erklärte Thomas und verschwand ganz hinter den Seiten seines Buches. Marcus verdrehte seine Augen und Vivien war nicht die einzige, die ihren Kopf schüttelte.

Aber es stimmte schon. Ich war noch nicht oft mit Silvan in der Innenstadt gewesen, aber jedes Mal, wenn wir es doch waren, wurden wir pausenlos kontrolliert, - Ach, was sagte ich da, - wurde Silvan pausenlos kontrolliert. Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass das keinesfalls etwas Ungewöhnliches war.

Wohin gingen wir? Wo kamen wir her? Was wollten wir tun, wenn wir da waren. Wie lange würden wir dort bleiben… Fragen über Fragen standen einem in einem solchen Fall bevor, weshalb man in der Innenstadt sowieso kaum Hunimals, - vor allem, wenn sie zur Unterschicht gehörten, - sah.

„Also nur wir hier am Tisch, ohne Thomas“, fasste die blonde Bethany zusammen.

„Mhm“, stimmten Vivien und Marcus im Chor zu. Überrascht sahen sie sich an. Vivien sah als erste weg, - aber nur um Beth eine Frage zu stellen.

„Oder wolltest du noch jemanden einladen?“, erkundigte sie sich.

„Nein, nein“, erwiderte Bethany fast schreiend und hob abwehrend ihre Hände, um das auch deutlich zu machen. „N-Niemanden, ich wollte nur zusammenfassen.“ Sie lächelte leicht verkrampft.

„Okay“, antwortete Vivien gedehnt; sie klang nicht gerade überzeugt. Aber das war keiner von uns, wenn ich in die Gesichter der anderen schaute. Naja, bis auf Thomas. Aber den schienen wir restlos an seine Fantasiewelt verloren zu haben.

Ich fragte mich, wen sie gerne gefragt hätte, aber nach der Reaktion die sie soeben gezeigt hatte, war nur zu erahnen, wie Beth reagieren würde, wenn ich sie darauf ansprechen würde. Und ich konnte es nicht verantworten, ihrem Herzen noch mehr Stress zu bereiten.

Als die Schule zu Ende war, traten wir alle gemeinsam durch den Schuleingang. Ich bat die anderen kurz auf mich zu warten, - ich musste schließlich noch Silvan Bescheid sagen, - und ich war überrascht, nicht die einzige zu sein, die sich kurz aus dem Staub machen wollte. Einzig Vivien blieb wartend am Fuße der Eingangstreppe stehen; ihr Hunimal ging generell nicht zur Schule.

Er war wieder vor mir da, - auf mich wartend stand er unter der alten Eiche auf dem großen Parkplatz. Mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck eilte ich auf ihn zu. Fragend sah er mich an.

„Lass mich raten“, begann er, mich musternd. „Ich werde heute alleine nach Hause gehen müssen.“ Ich nickte.

„Vivien, Marcus, Beth und ich wollen ins neue Einkaufszentrum“, erzählte ich ein wenig kleinlaut. Ich wollte ihm gerade gestehen, dass ich ihn gerne mitnehmen würde, aber die anderen dagegen wären, als er auch schon glücklich lächelte und mir zärtlich den Kopf tätschelte. Was war ich, ein Hund?

„Dann wünsche ich dir viel Spaß“, verkündete er ehrlich. „Du kommst sowieso viel zu wenig raus. Ich bin überrascht, dass du so lange gebraucht hast, die anderen einzuladen. Du musst doch halb am Durchdrehen sein vor Langeweile.“ Ich wich ein wenig zurück und er nahm seine Hand wieder runter.

„Vivien hat mich gefragt“, stellte ich klar. Seine Worte und vor allem seine Reaktion machten mich aus irgendeinem Grund wütend. „Und ich komme so oft hier raus, wie ich will. Nichts hält mich auf, - ich hatte bis jetzt einfach noch keine Lust dazu. Aber jetzt habe ich Lust, deshalb warte heute lieber nicht auf mich, es könnte spät werden.“ Mit diesen Worten drehte ich mich um und ließ ihn stehen.

„Emma“, rief er mir nach, aber ich drehte mich nicht um.

Wieso war ich so wütend? Weil es ihm nichts auszumachen schien, dass ich ohne ihn ging? Weil selbst er erkannte, wie langweilig mein Leben war, und ich den Gedanken nicht unterdrücken konnte, dass Silvan mit dem Versprechen, das er mir abgerungen hatte, einen wesentlichen Teil dazu beigetragen hatte? Oder weil ich das Gefühl hatte, dass er mich von oben herab angesehen hatte, wie ein kleines Kind? Weil er sich mehr nach einem Vater statt einem Freund angehört hatte? Obwohl er doch derjenige gewesen war, der mich dazu brachte, dieses langweilige Leben zu führen und keine Schwierigkeiten zu machen?

Was auch immer der wahre Grund war, als ich zu den anderen zurückkehrte, hatte ich meine Wut sicher hinter einem Lächeln verbarrikadiert.

„So, seid ihr alle einverstanden, wenn wir den 74-er nehmen?“, fragte Marcus in die Runde und auf dem Weg zur Haltestelle erörterten er und Vivien die Vor- und Nachteile, wenn wir diesen und jenen Bus nehmen würden. Ab und zu mischten sich Beth und ich ein, - wir waren beide der Meinung, dass es keinen großen Unterscheid machen würde, welchen Bus wir nahmen, da uns die meisten sowieso ans Ziel führen würden.

Die nächsten Stunden waren eigentlich ganz lustig. Das neue Einkaufszentrum hielt was es versprach, und ich verstand mich bestens mit den anderen, - auch wenn Beth manchmal etwas ungeschickt war und mehrmals mit Fremden zusammen stieß oder anders durch die Gegend stolperte und so manchen Ärger verursachte, und Marcus und Vivien nicht aufhören konnten, sich gegenseitig sarkastische Kommentare zuzuwerfen. Trotz alledem hatte ich wirklich Spaß.

Als wir uns verabschiedeten, war es allerdings erst halb sechs, - und ich wollte auf keinen Fall so früh Zuhause sein, nachdem ich Silvan ziemlich unhöflich erklärt hatte, es würde spät werden. Da die anderen aber schon müde waren, wollte ich niemanden zwingen, mir Gesellschaft leisten zu müssen, und so fragte ich erst gar nicht nach, ob jemand länger bleiben wollte und setzte mich allein in eine Buchhandlung.

In der Welt der Bücher fühlte ich mich wohl und erfreut musste ich feststellen, dass das Geschäft in dem ich mich nun befand, eine Mischung aus Café und Buchhandlung war. Eine Art Literaturcafé.

Mehrere Bücher im Arm und eine heiße Tasse Tee in der Hand setzte ich mich zufrieden auf ein bequem aussehendes Sofa in einer versteckten Ecke der Buchhandlung. Tief versunken in der Welt von Jane Austen und Alexandre Dumas merkte ich erst ziemlich spät, dass sich jemand mir Gegenüber auf den Sofasessel setzte. Als mein Blick aber doch einmal auf ihn fiel, ließ ich vor Schreck fast meine Tasse fallen. Aschblondes Haar, unbewegte Züge und Augen von denen ich wusste, dass sie so grün und so kalt wie Smaragde waren.

Mein stiller Klassenkamerad aus der Oberschicht saß vermutlich nicht einmal zwei Meter von mir entfernt in Freizeitklamotten ruhig vertieft in ein dünnes Buch. Wie von selbst hoben sich meine Hände und schützten mich mit der großen Ausgabe des >>Der Graf von Monte Christo<< vor meiner Entdeckung; ich hatte es schon einmal gelesen, und genoss es immer wieder, mit ein - zwei Kapiteln mein Gedächtnis aufzufrischen.

Was machte er hier? Hier, in dieser Buchhandlung, zur selben Zeit wie ich und dann auch noch so nahe? Hatte er mich nicht bemerkt? Oder war es ihm vielleicht egal? Seinen hasserfüllten Blicken im Unterricht zu urteilen, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ihm meine Anwesenheit kalt ließ. Aber vielleicht hatte er mich auch gar nicht richtig erkannt? Vielleicht war er, - so wie ich, - viel zu vertieft in sein Buch, dass er mich gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Wäre doch möglich. Aber wenn es so war, was sollte ich dann tun?

Mir weiter das Buch vors Gesicht halten, hoffen, dass er mir keine Aufmerksamkeit schenkt und darauf warten, dass er geht? Oder lieber gleich flüchten? Aber dann würde er mich doch sicher erkennen… Ein einziger Satz ließ mich vor Schreck fürchterlich zusammen zucken.

„Liest du immer so langsam oder verstehst du den Inhalt nicht?“, fragte Vincent ein wenig zu hart, als dass es beiläufig klingen konnte, und ohne von seinem Buch aufzusehen. Es war gut, dass er mein Gesicht hinter dem Buch nicht sehen konnte, denn jeder Idiot hätte die Überraschung und den Schrecken in meinen Zügen erkennen können.

Hatte er mich gerade wirklich angesprochen? Der Vincent aus meiner Klasse, der mich auf eine Art und Weiße ansah, die keinen Zweifel daran ließ, dass er meine bloße Existenz verwünschte. Ich räusperte mich leise, - auf der Suche nach meiner Sprache, die es mir verschlagen hatte.

„Weder noch“, antwortete ich leise, als ich meine Stimme wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. „Ich denke bloß nach.“ Ich schob >>Der Graf von Monte Christo<< ein winziges Stück zur Seite und wagte einen kurzen Blick auf meinen Gegenüber. Er sah mich immer noch nicht an und ich kehrte in meine Ausgangsposition, - aus Angst, er könnte plötzlich doch aufsehen und meinen Blick begegnen, - zurück. Ich wartete nervös auf eine Reaktion von ihm, aber nichts kam.

Nach einiger Zeit beschloss ich endlich aufzubrechen, - er hatte mich sowieso schon erkannt, - und alles schien mir in diesem Moment besser, als verkrampft gegenüber von Vincent auf dieser Couch zu sitzen. Da wollte ich doch lieber die leichte Demütigung in Kauf nehmen, so früh nach Hause zurück zu kehren. In dem Moment, in dem ich leise seufzend aufstand, sah er plötzlich auf und bei seinem Blick hatte ich alle Mühe, locker zu bleiben und nicht einfach davon zu laufen.

„Ich geh dann mal“, verkündete ich leise, alles bereit zum gehen. „Aber ich wünsche dir noch einen schönen Abend.“ Ich achtete extra darauf, meine Stimme freundlich klingen zu lassen und ging auf die Tür zu.

„Emanuela“, hörte ich seine Stimme hinter mir. Die Erwähnung des Namens >>Emanuela<< aus seinem Mund ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. Bei jedem anderen Wort wäre ich vermutlich einfach weiter gegangen, als hätte ich ihn nicht gehört, aber mein richtiger Vorname… Es gab nur drei Personen, die berechtigt waren mich so zu nennen. Zum einen meine verstorbene Großmutter, von der ich den Namen überhaupt geerbt hatte. Mein Vater, den ich aber seit ihrem Tod vor fünf Jahren nie wieder den Namen hatte aussprechen hören, - und mein Hunimal. Und Vincent war keiner davon.

„Bitte, nenn mich nicht so“, verlangte ich gezwungen freundlich und drehte mich zu ihm um.

Interessiert und mit einem unheimlichen Blitzen in den Augen sah er mich an, sagte aber nichts. Ich drehte mich wieder um und ging zwei Schritte, als ich wieder ein >>Emanuela<< hinter mir hörte. Wütend drehte ich mich um.

„Ich habe dich gerade gebeten, mich nicht so zu nennen“, wies ich ihn zu Recht. „Du bist doch von der Oberschicht. Solltest du da nicht bessere Manieren haben?“ Wieder keine Reaktion. Nicht einmal ein finsterer Blick. Wütend ging ich wieder auf die Tür zu.

„Emanuela.“ Jetzt hatte ich aber genug.

„Vincent, du glaubst wohl, nur weil ich keine reichen und berühmten Eltern habe wie du, dass du mich behandeln kannst, wie du willst“, begann ich verärgert meine Rede und sah ihm dabei tief in seine grünen Augen. „Aber ich will dir mal was sagen, Mister Todesblick. Mir ist sowas von egal, wer du bist, was du machst oder wo du herkommst. Ich bin ich und du bist du. Ich habe dir noch nie irgendetwas getan. Und wenn ich dich höflich bitte, mich nicht so zu nennen, dann sei verdammt noch einmal so anständig, das auch zu tun.“ Mir ging es besser, als ich mir etwas Luft gemacht hatte, - solange bis ich sah, dass sich seine Lippen ansatzweise zu einem Lächeln verzogen. Ein wenig verstört von dieser ungewöhnlichen Reaktion drehte ich mich fassungslos um und stürmte aus der Buchhandlung.

Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals lächeln gesehen zu haben. Und gerade in solch einer Situation traf es mich völlig unvorbereitet. War so eine Reaktion auf eine Zurechtweisung für ihn denn normal?

Nach diesem langen Tag und der anstrengenden Begegnung, die ich hinter mir hatte, wollte ich nichts anderes mehr als nach Hause und zu Silvan. Zuhause angekommen, ging ich sofort, - und ohne anzuklopfen, - auf Silvan und mein gemeinsames Zimmer und schloss meinen überraschten Hunimal in meine Arme. Er war so warm und sicher. Vorsichtig legte er seine Arme um mich und hielt mich zärtlich fest.

„Was ist passiert?“, fragte er besorgt. „Hattest du keinen Spaß so ganz ohne mich?“ Sein Tonfall wurde neckend, aber ich ging nicht darauf ein.

„Doch“, erwiderte ich ehrlich und legte meinen Kopf erschöpft an seine Brust. „Es war nur ein sehr langer Tag.“ Endlich bei ihm schloss ich zufrieden meine Augen, und genoss die angenehme Wärme, die sein Körper ausstrahlte und die Gewissheit, dass er hier bei mir war. Ich war gerade dabei, im Stehen einzuschlafen, als er leise lachte.

„Hast du vor, so die ganze Nacht zu verbringen?“, fragte er leicht amüsiert.

„Mhm, warum nicht“, murmelte ich als Antwort und drückte mich noch näher an ihn, - falls das überhaupt möglich war.

„Dann bekommt deine Schuluniform aber Falten“, erklärte er das erste Problem.

„Hat sie sowieso schon“, nuschelte ich, ohne von ihm abzurücken. Er nahm meine Arme, die ich um ihn geschlungen hatte, in seine und schaffte ein wenig mehr Abstand zwischen uns. Verschlafen öffnete ich meine Augen und versuchte ihn vorwurfsvoll anzusehen.

„Ach, Emma“, seufzte er und schob mich in Richtung meines Bettes, wo er mich sanft aber bestimmt an der Kante absetzte. „Zieh dich um und geh schlafen. Ich gehe derweil Zähne putzen.“ Als er sich umwandte, griff ich nach seiner Hand.

„Hast du dich schon entschieden?“, fragte ich ihn jetzt wieder vollkommen munter.

Ich wusste, wie schlecht meine Chancen standen, dass er mich heute Nacht mitnehmen würde, aber ich fragte trotzdem. Sein Blick als er sich umdrehte, sagte alles. Trotzdem lehnte er sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Stirn, bevor er sich abermals abwandte und das Zimmer verließ. Enttäuscht ließ ich mich nach hinten in meine Matratze fallen.

Wenn er mich schon als Entschuldigung küsste, dann aber bitte wenigstens richtig.

Meine Hand wanderte zu meinem Mund und einen Augenblick lang fragte ich mich, wie es sich wohl anfühlen würde, Silvans Lippen auf meinen zu spüren. Allein der Gedanke verursachte in mir ein Ziehen und eine Sehnsucht, die beinahe unerträglich waren. Ich hatte noch nie einen Jungen geküsst, - und konnte es mir auch überhaupt nicht vorstellen, es sei denn, dieser Junge war Silvan.

Mein Silvan.

Von einem plötzlichen Drang mich zu bewegen sprang ich auf, lief zu meinem Kasten und zog mir in Windeseile meinen Schlafanzug an. Ich knipste das Licht aus und legte mich in mein Bett. Mir war schon länger klar, wie meine Gefühle in Bezug auf Silvan aussahen, aber ich hatte immer gedacht, ich wäre halbwegs zufrieden, so wie es war. Aber ich lag falsch. Ich wollte mehr. Viel mehr. Mehr als ich verdiente. Und was vielleicht am Wichtigsten war: Mehr als ich bekommen würde.

Kapitel 7

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 17, Abschnitt 2

 

Ein Hunimal lebt im Schatten seines Besitzers und darf abhängig davon, welche Rasse er inne hat, teilweise einen Beruf ausüben, wenn dessen Besitzer es wünscht; sollte der arbeitende Hunimal nicht die gewünschten Ergebnisse bringen, steht es dem Arbeitgeber jederzeit frei diesen fristlos zu entlassen; es steht jedem Besitzer frei für seinen Hunimal eine für ihn gerechte Strafe zu vollziehen()…

 

 

„Marcus!“, hörte ich Viviens unverkennbare Stimme aufgeregt flüstern. „Komm sofort zurück!“ Obwohl sie flüsterte, war ich mir ziemlich sicher, dass Marcus sie zumindest teilweise verstanden hatte, - obwohl er sich meterweit entfernt befand.

Wir, - das hieß, Thomas, Beth, Vivien und ich, -  standen am Ende eines Flurs und sahen Marcus dabei zu, wie er versuchte sich an dem Lehrerzimmer vorbei und in das Zimmer der Direktorin zu schleichen.

„Jemand sollte dem Jungen schleunigst beibringen, dass man nicht mit dem Feuer spielt“, murmelte Vivien verärgert. Da konnte ich ihr nur halb zustimmen. Immerhin hatte Marcus seine Gründe, warum er tat was er tat. Auch, wenn sie, - zugegeben, - manchmal äußerst lächerlich oder kindisch waren.

„Oh mein Gott, hoffentlich wird er nicht erwischt“, flüsterte Beth entsetzt.

„Hoffentlich werden wir nicht erwischt“, murmelte Thomas, - sah aber im Gegensatz zu seiner Aussage nicht sonderlich ängstlich aus. „Wir gelten doch mindestens als Mittäter, oder?“

„Quatsch“, widersprach ich leise. Um uns machte ich mir weniger Sorgen. „Marcus ist doch derjenige, der sich unerlaubt ins Zimmer der Direktorin schleicht. Wenn jemand Probleme bekommt, dann er.“ Was musste er auch seine Aufsätze vertauschen.

Vor einiger Zeit hatten wir die Aufgabe erhalten, einen Aufsatz über uns und unser Leben mit unserem Hunimal zu schreiben. Das klang an sich nicht sonderlich schwierig, aber bei diesem Thema musste man äußerst vorsichtig sein, - und genau das schreiben, was andere hören wollten. Ansonsten würde man große Schwierigkeiten bekommen.

Und Marcus, - schlau wie er war, - hatte nicht seinen richtigen Aufsatz, sondern seinen Probeaufsatz abgegeben, den er eigentlich aus Spaß mit Igor geschrieben hatte. Darin standen alle möglichen Dinge, die Marcus mit Igors Hilfe angestellt hatte. Mit darunter, seine zahlreichen Ausflüge auf die >>andere Seite<<.

Wahnsinnig witzig.

Da der Inhalt wichtige Informationen über unser Leben enthielt, wurden wir informiert, dass nur die Direktorin persönlich diese ansehen dürfte, - und dass dies Zeit bräuchte. Durch einen Zufall fand Marcus heute seinen richtigen Aufsatz wieder und fiel aus allen Wolken, als ihm klar wurde, was er angerichtet hatte. Um das Schlimmste zu verhindern, hatte er beschlossen, den Aufsatz eigenhändig wieder auszutauschen.

Ein verrückter, und leider nicht sonderlich gut durchdachter Plan, zugegeben.

„Wenn er sich erwischen lässt, dann verzeihe ich ihm das nie“, hörte ich Vivien flüstern; ihre Arme waren verschränkt und ihr Blick lag starr auf der Tür, durch die Marcus verschwunden war. Ich legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

„Wird er schon nicht“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Du weißt doch: Der Junge hat mehr Glück als Verstand.“ Ich lächelte zuversichtlich, und sie nickte leicht.

„Da hast du allerdings Recht“, gab sie trocken zu.

„Seht doch“, flüsterte Beth erschrocken. „Die Direktorin kommt.“ Sie zeigte mit ihrer Hand aufgeregt zum linken Flur in der die alte Freundin meines Vaters, - Direktorin Eleanor Chain, - zum Vorschein kam. Sie hatte einen Stapel Akten in den Armen und einen Becher, - von dem ich wusste, dass es schwarzer Kaffee war,- in der Hand und ging zielstrebig auf ihr Büro zu.

Vivien stockte der Atem. Ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, lief ich auf die blonde Frau zu und rief nach ihr.

„Frau Direktorin“, erklärte ich laut, und sie blieb überrascht stehen und drehte sich zu mir um. Ihre langen, blonden Haare flogen ihr dabei ums Gesicht und als sie mich erkannte, zeichnete ein kleines Lächeln ihr Gesicht. Sie wirkte zwar oft sehr streng, war aber im Grunde nett, wie ich wusste.

„Emma. Was für eine Freude“, begrüßte sie mich freundlich, und während ich verzweifelt nach einem Grund suchte, warum ich sie angesprochen haben könnte, lieferte sie ihn mir auch schon in ihrer nächsten Aussage. „Wie geht es deinem Vater?“

„Gut, sehr gut, danke“, antwortete ich aufgeregt. Wie lange würde ich sie wohl ablenken müssen? An der Tür hinter der blonden, hübschen Frau tat sich nichts. „Ich soll Ihnen von ihm schöne Grüße ausrichten.“

„Das ist sehr nett von ihm“, erklärte sie und ihre ozeanblauen Augen schienen eine Spur wärmer zu werden. „Grüß ihn doch bitte für mich zurück.“ Ich nickte eifrig.

„Das werde ich. Natürlich“, versprach ich und überlegte fieberhaft, was ich ihr noch zu sagen haben könnte.

Komm schon Emma, lass dir was einfallen, - irgendwas.

„Ist das alles, oder wolltest du mit mir noch über etwas Bestimmtes reden?“, fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

„Nein, da ist noch etwas“, log ich mich immer weiter in Schwierigkeiten bringend. Sie lächelte.

„Dann lass uns doch besser in mein Büro gehen und dort in aller Ruhe reden“, schlug sie vor und wollte sich schon umdrehen.

„Nein“, schrie ich sie fast an und hob abwehrend die Hände. „Das ist überhaupt nicht nötig, - so wichtig ist es nicht.“ Überrascht von meiner heftigen Reaktion sah sie mich an. Ich konnte nur hoffen, dass sie mir den Stress, den ich gerade empfand nicht ansah.

„Na, schön“, erklärte sie sich nicht vom Fleck bewegend; erleichtert atmete ich aus. Zum meinem großen Glück und inneren Seelenfrieden öffnete sich die Tür des Zimmers der Direktorin einen Spalt breit und ein angespannt aussehender Marcus huschte heraus.

Als er mich sah, wedelte er zufrieden mit seinem Probeaufsatz durch die Gegend. Am liebsten hätte ich ihm gedeutet, dass er schleunigst verschwinden sollte, aber Eleanor Chains Adleraugen ließen mich nicht einen Moment lang aus den Augen. Ich hüstelte.

„Nun ja…“, begann ich zögerlich. Mir war eine Idee gekommen. „Mein Vater lässt fragen, ob Sie… nicht vielleicht einmal zu uns zum Abendessen kommen möchten. Natürlich nur, wenn sie auch Zeit haben“, lenkte ich schnell ein. Ich hoffte, sie würde ablehnen, denn ich wusste nicht, wie ich meinem Vater das Ganze erklären sollte.

Er und sie hatten sich nach all den Jahren aus den Augen verloren, - und nachdem beide geheiratet und eine Familie gegründet hatten, schien keiner von beiden ein sonderliches Problem damit zu haben. Als sie schließlich antwortete, war ihr Gesichtsausdruck schwer zu deuten.

„Das würde ich sehr gerne“, erklärte sie zögerlich. Marcus hatte es indessen sicher geschafft, sich an uns vorbei zu schleichen und war wie der Wind hinter der nächsten Ecke verschwunden. „Sag ihm, dass er mich unter dieser Nummer anrufen soll“, fuhr sie fort und reichte mir eine kleine Karte mit ihrem Namen und ihrer Telefonnummer drauf. Ich nickte.

„Das mache ich“, versicherte ich ihr und erwähnte gespeilt nebenbei, dass ich jetzt wieder los müsste, - die Pause würde nicht ewig dauern. Sie wünschte mir viel Erfolg in der Schule und verschwand dann wieder in ihrem Büro. Mir fiel ein riesen Stein vom Herzen.

Plötzlich legten sich zwei Arme von hinten um mich. Vor Schreck stieß ich einen stummen Schrei aus.

„Danke, danke, danke“, erklärte Beth dicht an meinem Ohr. „Du bist die beste.“ Ich entspannte mich wieder. Sie ließ mich los und zog mich Richtung Aula. „Ich fasse es nicht, dass er das getan hat, - dass du das getan hast, - und dass ihr damit durchgekommen seid!“, erklärte sie kopfschüttelnd, aber mit Bewunderung in der Stimme.

„War halb so schlimm im Nachhinein“, versicherte ich ihr als wir fast bei den anderen an unserem Stammtisch ankamen.

„War wohl schlimm“, berichtigte sie mich und wir setzten uns. Marcus grinste wie ein Honigkuchenpferd, und sogar Thomas ließ sich zu einem kleinen Lächeln herab, - einzig Vivien sah ein wenig eingeschnappt aus.

„Ach, komm schon, Vivien“, redete Marcus auf sie ein. „Du musst doch zugeben, dass das äußerst geschickt von mir war.“

„Noch geschickter wäre es allerdings von dir gewesen, wenn du deinen richtigen Aufsatz von Anfang an abgegeben hättest. Du bist heute nur knapp einem Schulverweis entgangen“, erinnerte sie ihn sarkastisch.

„Tz“, erwiderte er, und machte eine wegwerfende Handbewegung. „War’n Klacks.“

„Ach ja?“, erwiderte Vivien streitlustig. „Das sah für mich aber ganz anders aus.“ Ihr Blick fiel auf mich. „Hätte Emma nicht so schnell reagiert, - Danke übrigens, - hätte dich die Direktorin auf frischer Tat ertappt! Außerdem würde ich jede Wette eingehen, dass als du in diesem Zimmer warst, du dich fast in die Hose ge…“

„Leute“, stöhnte Beth genervt. „Lasst es gut sein, bitte. Streit habe ich Zuhause genug. Es ist doch alles gut gegangen. Sicher, es war dumm, aber jetzt ist ja wieder alles in Ordnung.“

Beth hatte drei kleine Geschwister im Volksschul- und Kindergartenalter, - und jeder davon hatte bereits einen Hunimal. Dass sie mit sechs aufgedrehten, kleinen Kindern im Haus von Streitereien genug hatte, konnte ich mir lebhaft vorstellen. Marcus und Vivien offenbar auch. Denn statt sich weiter zu zanken, gingen die beiden dazu über den Augenkontakt zu meiden und sich anzuschweigen. Ich verdrehte die Augen.

„Kommt, lasst uns zurück zur Klasse gehen“, schlug ich vor und erhob mich. „Es läutet bestimmt jeden Moment zur Stunde.“

Der restliche Schultag verging wie immer. Die Hälfte der Lehrer die durch unsere Tür des Klassenzimmers trat, konnte es nicht lassen, die ein oder andere abfällige Bemerkung in Bezug auf Hunimals zu machen, welche den Rest der Klasse geflissentlich kalt ließ, - und das nicht nur, weil heute Freitag war; wir waren es gewöhnt.

Vivien und Marcus ignorierten sich weiterhin, Beth starrte ins Leere, Thomas war hinter seinem Schulbuch in ein richtiges Buch vertieft und ich… Ich versuchte schon den ganzen Tag über, mich auf die Lehrer, den Unterricht, oder wenigstens auf meine armseligen Zeichnungen zu konzentrieren, und dabei weder nach links zu Silvan, noch nach rechts zu Vincent zu blicken und zu überprüfen, ob Letzterer mir wieder Löcher in den Rücken starrte mit seinen üblichen, bösen Blicken. Eigentlich brauchte ich mich auch gar nicht groß umzusehen, um festzustellen, ob mein stiller Klassenkamerad mich ansah, - ich spürte seinen Blick sowieso die ganze Zeit in meinem Rücken.

Das Gefühl verursachte bei mir eine Gänsehaut und umso mehr Zeit verging, desto stärker wurden das Gefühl und der Drang in Silvans Augen Schutz und Trost zu finden.

Ich hielt es nicht sonderlich lange aus, und warf einen Blick durch die Glasscheibe. Er erwidere meinen Blick und mein Herz begann eine Spur schneller und kräftiger zu schlagen. Zum wahrscheinlich hundertsten Mal fragte ich mich, ob er es wohl hören konnte. Der Gedanke ließ mich erröten, und ich wandte den Blick ab. Wenn er es tatsächlich hören konnte, dann würde das doch heißen, das er wüsste, dass ich…

Unsinn. Man konnte niemandes Herzschlag hören, - zumindest nicht auf diese Entfernung hin. Aber dennoch... Abermals wagte ich einen kurzen Blick auf ihn. Seine hellblauen Augen blickten interessiert in meine, - und ich sah wieder weg. Wenn er mich so ansah, hatte ich immer das Gefühl, er könnte jeden meiner Gedanken lesen. Ich dagegen durchschaute ihn kein bisschen.

Wir waren beide miteinander aufgewachsen. Wieso aber wusste er dann so unendlich viel mehr über mich, als ich über ihn? Und wohin er nachts verschwand, hatte er mir auch immer noch nicht erzählt. Inzwischen war ich sogar davon überzeugt, dass er es überhaupt nicht mehr tun würde, - geschweige denn mich mitnehmen würde. Als es schließlich zum Unterrichtsende läutete, sprach mich mein blonder Sitznachbar auf meinen Gesichtsausdruck an.

„Du siehst aus, wie sieben Tage Regenwetter“, sagte er mir auf den Kopf zu. „Alles okay bei dir?“ Marcus Ton war oberflächlich, aber in seinem Blick erkannte ich wirkliche Sorge hinter seiner Frage. Ich nickte und rang mich zu einem Lächeln durch.

„Natürlich“, versicherte ich ihm. „Ich war nur etwas in Gedanken versunken, - der Unterricht war so langweilig“, scherzte ich augenzwinkernd. Hinter Marcus entdeckte ich Vincent, der mir erst einen nicht einzuschätzenden Blick zuwarf und dann einfach zur Tür raus verschwandt. Ich schluckte.

Marcus hatte mein Verhalten bemerkt und warf einen Blick nach hinten, - erhaschte gerade noch einen Blick auf Vincents Rücken.

„Emma, was ich dich eigentlich schon länger fragen wollte…“, begann Marcus vorsichtig und sah mich wieder an. Ich konnte förmlich fühlen, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. „Ach, weißt du was?“, erklärte er jetzt plötzlich abwinkend. „Ist nicht so wichtig. Vielleicht ein anderes Mal.“ Ich nickte dankbar und wir machten uns gemeinsam auf zum Haupteingang der Schule. Er wünschte mir noch ein schönes Wochenende und dort trennten sich unsere Wege dann.

Als ich kurz darauf auf dem Weg zum Parkplatz war, hatte mein Gesicht, - dank des mittlerweile kalten Windes, - wieder dieselbe rote und gesunde Gesichtsfarbe, wie immer.

Bevor ich Silvan aber erreicht hatte, geschweige denn überhaupt ausmachen konnte, wurde ich plötzlich zur Seite und hinter ein schwarzes Auto gezogen. Ich war so überrascht, dass mir gar keine Zeit zum Schreien blieb. Eine dünne, aber doch kräftige Gestalt, bleiche Haut, schwarzes Haar, ein gestutzter Bart und ein unheimliches Lächeln auf den Lippen.

„Ezra“, entfuhr es mir überrascht. „Was…?“

„Sei still und hör zu“, unterbrach er mich ziemlich forsch, während er beinahe brutal meinen linken Arm festheilt. „Ich habe nicht viel Zeit. Du erinnerst dich an den Gefallen, den du mir schuldest? Ich will ihn jetzt einlösen.“ Geschockt sah ich ihn an. Meinte er das ernst?

„Ja, du hast richtig verstanden“, fuhr er hektisch fort. „Folgendes: Du wirst dich von dem heutigen Tag an jeden Montag und Freitag um genau 18 Uhr allein in dem Literaturcafé des neuen Einkaufszentrums in der Thornstraße einfinden. Du wirst dich immer an denselben Platz setzten, - dort wo du letztes Mal gesessen bist, - und sollte auf deinem Platz zufällig schon jemand sitzen, wirst du diese Person ohne zu zögern verscheuchen. Wie lange du dort tatsächlich bleibst, spielt für mich keine Rolle. Mir ist egal, ob du dort drei Minuten oder drei Stunden bleibst. Hauptsache, du bist um 18 Uhr dort. Du wirst außerdem niemanden, - absolut niemanden, - von dieser Abmachung hier erzählen. Hast du das alles verstanden?“ Ein wenig überfordert, rutschte mir ein hysterisches Lachen heraus.

„Das ist ein Scherz, richtig?“, lachte ich erstickt. Sein Griff um meinen Arm wurde fester.

„Keineswegs“, versicherte er mir, und mein Lachen erstarb. „Und um dir zu beweisen, wie ernst es mir ist, könnte ich gerne gleich morgen in der Früh als erstes jagt auf Eulen machen“, drohte er mit kalten Augen und einem gefährlichen Lächeln. Igor!

„Du-Du würdest nicht weit kommen“, widersprach ich, meinen Mut zusammen kratzend. „Igor hat jemanden, der ihn beschützt. Dein-Deine Drohung be-besteht aus leeren Worten.“ Meine Worte hätten sicher überzeugend gewirkt, wenn ich nicht so stark gestottert hätte.

„So, meinst du?“, fragte er bedrohlich, und verdrehte schmerzhaft meinen rechten Arm hinter meinem Rücken, während er den anderen immer noch viel zu fest umklammert hielt. Ich unterdrückte ein Aufstöhnen und versuchte mich zu befreien. Ohne Erfolg. Ganz nahe an meinem Ohr vernahm ich plötzlich seine bedrohliche Stimme.

„Ich bin stark, mächtig, und ich habe meine Augen überall“, erklärte er flüsternd. „Dein Hunimal mag zwar auch nicht der Schwächste sein, - aber er ist allein. Und niemand hat ihn bis jetzt verwandelt gesehen. Was hat er zu verbergen?“ Sein eisiger Tonfall brachte mich zum zittern und seine Worte fühlten sich an, als würden mir tausend Eiszapfen durchs Herz fahren. Ich bekam kaum noch Luft. „Und irgendwann, - vielleicht wenn er gerade abgelenkt ist, weil er… sagen wir mal, mit dir beschäftigt ist, - irgendwann haben wir ihn, deinen geliebten Hunimal. Ihn und Igor.“ Unvermittelt ließ er mich plötzlich los und hätten mich nicht zwei warme Hände aufgefangen, wäre ich bestimmt auf den Boden gefallen.

„Silvan“, stieß ich sowohl voller Überraschung, als auch Erleichterung aus. Er half mir, mich gerade aufzurichten, und schob mich dann hinter sich, um mich zu schützen, - und verbarrikadierte mir damit die Sicht.

„Ezra“, knurrte er gefährlich, sein ganzer Körper war angespannt; selten hatte ich ihn so wütend gesehen. „Lass deine Finger bei dir und zieh sie gefälligst nicht in unsere Streitigkeiten hinein“, drohte er. Ich lugte an Silvans großer Gestalt vorbei und sah wie Ezra abwehrend die Hände hob.

„Ganz ruhig, Silvan“, erwiderte er spöttisch.

„Von jetzt an lässt du Emma in Frieden“, verlangte Silvan kalt. „Du wirst dich ihr nicht nähern, und auch sonst nicht irgendwie Kontakt zu ihr aufnehmen.“ Sein Tonfall klang absolut, - Widerstand zwecklos.

„Keine Sorge, meine Angelegenheiten hier sind erledigt“, versicherte er der wütenden Person vor ihm, und warf mir einen kurzen, bedächtigen Blick zu.

Silvan schob mich wieder sanft hinter sich. Die Berührung seiner Haut tat so gut, dass ich mich zuerst nicht währte, - denn eigentlich wollte ich ja genau beobachten, was passiert. Das einzige, was ich jetzt zu sehen bekam, waren Silvans muskulöser Rücken, verdeckt von seiner schwarzen Schuluniform und seine weiß-schwarzen Haare, die in alle Richtungen abstanden. Selbst von hinten sah er einfach unwiderstehlich aus.

Ich war so mit meinen Gedanken um Silvans Gestalt beschäftigt, dass ich erst realisierte, dass Ezra gegangen war, als Silvan sich plötzlich umdrehte, und meine Hand in seine nahm. Ein heißer Blitz durchfuhr meinen Körper bei der überraschenden Berührung.

„Tut mir leid, dass er dich belästigt hat“, erklärte er gezwungen ruhig; ich konnte nur ahnen, wie es in seinem Innersten wirklich aussah. „Hat er dir weh getan?“ Ich schüttelte den Kopf. „Was hat er zu dir gesagt?“, fragt er und fixierte aufmerksam meine Augen. Flüssiges Silber.

„Ich-Er, also…“, begann ich zu stottern. „Ich bin nicht sicher“, log ich ausweichend. „Ich glaube, er wollte mir bloß ein wenig Angst machen. Vermutlich wollte er sogar, dass du es siehst.“

„Um mich zu provozieren?“, murmelte Silvan. Ich nickte und sah zu Boden. Das war vermutlich nicht einmal gelogen. Und was den Rest anging, hielt ich es für besser, die Drohung und die daraus resultierende Abmachung für mich zu behalten. Mich zwei Mal in der Woche, - aus welchem Motiv heraus auch immer, - in eine Buchhandlung zu begeben, hielt ich für einen Preis, der meinen Seelenfrieden und den meiner Mitmenschen Wert war.

Kapitel 8

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 5, Abschnitt 8

 

Neunzig Prozent der Hunimals haben die unkontrollierbare Angewohnheit, beim Schlafen ihre wahre Gestalt anzunehmen; die ungewollte Verletzung eines Menschen in diesem Zustand zieht die gleiche Strafe nach sich, als wenn der Hunimal bei vollem Bewusstsein wäre()…

 

 

Auf dem Heimweg sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Silvans Körper war immer noch angespannt und seine Stirn lag vertieft in Gedanken in Falten. Jeder Fremde hätte Silvans brodelnde Wut erkannt, - aber nur ich erkannte auch die Sorge darunter.

Ich meinerseits war froh darüber, dass er offensichtlich nicht weiter über Ezra sprechen wollte; ich hatte Angst, er könnte meine Lügen durchschauen.

Vermutlich sollte ich es ihm erzählen. Aber Ezra hatte überzeugende Argumente gehabt, - und selbst Silvan hatte vor gar nicht einmal langer Zeit zugegeben, dass er nicht überall gleichzeitig sein konnte. Nein, ich würde es ihm nicht erzählen, - und wieder in dieses Literaturcafe gehen. Genauso, wie Ezra es mir aufgetragen hatte. Die wirklich wichtigere Frage war allerdings: Wieso?

Welchen Vorteil hatte Ezra, wenn ich tat, was er verlangte? Wieso dort, - wieso zu dieser Zeit? Als ich das letzte Mal dort war, war es… ein Montag. 18 Uhr. Ich war mit den anderen in der Stadt, hatte aber noch nicht nach Hause gewollt und war länger geblieben. Allein bin ich in diese Buchhandlung gegangen, - welche sich als ein Literaturcafé herausstellte. Und in diesem Café traf ich…

Natürlich, Vincent! Ob das sein Werk war? Aber Ezra hatte doch gesagt, ich dürfte es niemanden erzählen. Hieß das etwa, dass Vincent überhaupt nicht Bescheid wusste? Das konnte nicht sein. Er musste eine Ausnahme sein. Ezra war Vincents Hunimal, und es war unmöglich ein Zufall, dass ich genau an den Ort zurückkehren sollte, an dem ich Vincent rein zufällig getroffen hatte. Zufällig? War es wirklich rein zufällig? Die bedrohliche Art, wie er mich manchmal ansah, - und sein verändertes Verhalten, als wir beide alleine in der Buchhandlung waren… Noch dazu schien er weder etwas gegen meine Anwesenheit gehabt haben, noch schien er sonderlich überrascht, mich dort zu sehen.

Ab >>dem heutigen Tag an<< hatte Ezra gesagt. Heute war Freitag.

„Hallo Schwesterherz“, begrüßte mich meine kleine Schwester. Auf ihrer rechten Schulter erkannte ich Paige, - Leonies Hunimal. Die Lemurin kletterte auf ihren Schultern herum, als wäre sie ihr ganz persönlicher Kletterbaum. Wir waren mittlerweile Zuhause angekommen, und begannen das Mittagessen aufzutischen. Meine Gedanken wollten nicht aufhören, über die Abmachung mit Ezra und Vincents Einfluss darauf nachzudenken.

„Silvan“, quengelte Leonie seinen Namen in die Länge ziehend. „Hast du schon irgendwelche Wünsche wegen deines Geburtstages?“ Augenblicklich verlagerte sich mein Aufmerksamkeitszentrum um ein Vielfaches. Silvan lächelte milde.

„Nicht wirklich“, erklärte er. „Hättest du einen Vorschlag?“ Meine Schwester strahlte ihn an.

„Ein neuer Fernseher“, entfuhr es ihr, wie aus der Pistole geschossen. Typisch meine Schwester. Sie mochte zwar aussehen wie eine reife Vierzehnjährige, tief in ihrem Inneren war sie aber immer noch die verwöhnte Neunjährige mit den Kulleraugen. Silvans Lächeln wurde jetzt echter, - überhaupt schien er viel entspannter als noch eben zuvor. Dankbar warf ich meiner Schwester einen Blick zu, - auch wenn sie es nicht sah.

„Ich werde sehen, was sich tun lässt“, versprach er augenzwinkernd, was den ein- oder anderen Freudensprung bei meiner Schwester und dem Lemurenmädchen auf ihrer Schulter auslöste. Sie war immer schon ziemlich einfach zufrieden zu stellen gewesen.

Ich wollte ihn küssen.

Vollkommen unerwartete traf mich dieses Gefühl am Esstisch, zwischen dem lauten Jubel meiner Schwester und einer Portion Spaghetti. Ich wollte ihn küssen. Ich wollte ihm meine unendliche Dankbarkeit, für all die Dinge, die er für uns tat, ausdrücken. Ich sah seine einladenden Lippen und wollte nichts mehr auf der Welt, als diese auf meinen spüren. Wollte seine Wärme und seinen Geruch ganz in mich aufnehmen und nie wieder hergeben. Mein Blick traf seinen.

„Komm, Paige“, erklärte Leonie und entfernte sich vom Esstisch, - Silvan und mich alleine zurück lassend. „Lass uns Dad holen.“

Immer noch sahen wir uns an. Sein Blick war unergründlich und seine Augen schienen von blau zu grau zu wechseln, zogen mich in ihre Bann. Spannung lag in der Luft, drohte jeden Moment zu platzen.

„Ich liebe dich, Silvan“, erklärte ich mit fester Stimme. Einen Moment lang sah er überrascht aus, dann wurde sein Gesichtsausdruck weicher.

„Ich liebe dich auch“, antwortete er wie selbstverständlich. Ich wandte den Blick ab. So hatte ich es nicht gemeint.

In dem Moment kamen Leonie, Paige, - in ihrer menschlichen Form, - und mein Vater auf seinen alten Krücken angetrabt. Ihrem normalen Verhalten zufolge, hatten sie unsere letzten Worte nicht mitbekommen. Hungrig hatten nun alle am Tisch Platz genommen und begannen zu essen. Wenn es zeitlich zusammenpasste, aßen wir immer gemeinsam. Meine Schwester ging mit Paige auf eine andere Schule, - speziell für die Unterstufe. Mit Sechzehn würden beide in meine und Silvans Schule wechseln.

Als ich sagte, dass ich ihn liebte, da meinte ich nicht so, wie ich meine Schwester, Paige oder meinen Dad liebte. Nicht so, wie man ein Familienmitglied liebte oder einen besten Freund.

Oder vielleicht doch. Das auch. Aber nicht nur. Da war mehr, - viel mehr. Und es war schwer, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Ich hatte gedacht, mit einem >>Ich liebe dich<< würde er die Botschaft hinter diesen Worten erkennen, aber dem war offensichtlich nicht so.

Wenn ich ehrlich war, - und länger darüber nachgedacht hätte, statt es einfach heraus zu posaunen, - hätte ich seine Reaktion bestimmt genauso voraussagen können.

Er war Silvan. Was sonst, außer >>Ich liebe dich auch<< hatte ich erwartet? Die Erinnerung an diese Worte aus seinem Mund ließ mein Herz schneller schlagen. Wenn ich eigentlich auf etwas anderes gehofft hatte, wieso war ich dann so glücklich? Nichts hatte sich verändert. Aber andererseits… Warum Freude unterdrücken, wo Freude war?

Er liebte mich. Vielleicht nicht auf dieselbe Weiße, wie ich ihn, aber er liebte mich.

„Ich fahre nachher nochmal in die Stadt“, verkündete ich, als alle bis auf mich aufgegessen hatten; ich hatte kaum Appetit. „Braucht jemand etwas?“

„Wohin genau?“, wollte mein Vater wissen, und faltete seine Hände zufrieden über seinem kleinen Bauch, den er immer nach dem Essen hatte.

„In die Thornstraße. Dort gibt es seit einiger Zeit ein neues Einkaufszentrum“, erzählte ich. „Ich war dort mal mit meinen Freunden, du erinnerst dich?“ Er nickte verstehend.

„Triffst du dich diesmal auch wieder mit deinen Freuden?“, fragte er nach, während er mühevoll aufstand und seinen Teller zur Spüle trug. Leonie und Paige taten es ihm gleich. Einzig Silvan blieb weiterhin sitzen und sah mich aufmerksam an. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, als ich antwortete.

„Nicht ganz“, log ich mit einem falschen Lächeln. „Ich habe letztes Mal ein Buch bestellt, - und heute sollte es spätestens angekommen sein, - deshalb fahre ich nur hin, um es zu holen.“ Mein Vater stand jetzt wieder gelehnt an ein Küchenkästchen und sah mich an. Silvan zog nicht gerade überzeugt eine Augenbraue nach oben.

„Ganz allein?“, erkundigte sich mein Vater noch einmal; sein Tonfall war weder missbilligend noch überrascht, - er fragte einfach. Langsam bekam ich wirklich ein schlechtes Gewissen.

„Eine Freundin aus der Klasse begleitet mich“, log ich und ignorierte dabei gekonnt Silvans Wir-wissen-beide-dass-das-nicht-stimmt-Blick. Ich sah meinen Vater nicken und nach seinen Krücken greifen. Er war fast den ganzen Tag, - und manchmal auch die ganze Nacht, - in seiner Werkstatt; er hatte sein Hobby Holz zu verarbeiten zu seinem Beruf gemacht. Ich erhob mich jetzt auch und kümmerte mich um den restlichen Abwasch. Schweigend stand Silvan auf und leistete mir Gesellschaft.

Kaum dass wir fertig waren, schnappte ich mir meine Tasche aus dem Vorraum und trug sie in mein Zimmer, um mir meine Schuluniform auszuziehen. Meistens tat ich das gleich, wenn ich nach Hause kam, aber da morgen keine Schule war, und die Uniform sowieso zur Wäsche musste, gab ich mir keine Mühe sie unnötig sauber zu halten. Ich war gerade umgezogen, und hatte meine Tasche fertig gepackt, als es an der Tür klopfte.

„Komm rein, Silvan“, sagte ich; seine leisen Schritte und die Art, wie er anklopfte, verrieten sofort, dass er es war. Ohne ein Wort trat er ein und wartete darauf, dass ich ihn ansah. Mir fielen meine Worte von vorhin ein und ich begann unter seinem Blick zu erröten.

„Wann fährst du?“, fragte er beiläufig. Ich sah auf die Uhr.

„In einer dreiviertel Stunde“, meinte ich schulterzuckend und schmiss mich müde in den kleineren der beiden Drehstühle beim Schreibtisch und schaltete den Laptop ein.

Während ich schnell meine E-Mails checkte, - und dabei nur Werbung und eine E-Mail meiner Brieffreundin aus einem anderen Land entdeckte, - machte es sich Silvan auf seiner XXL-Matratze auf dem Boden gemütlich. Da er in seiner Löwenform zu schwer und zu groß für unser Bett geworden war, schlief er schon seit langem dort. Er schnappte sich eines seiner Bücher von einem Stapel und fing gemächlich an zu lesen.

Mein Vater sagte immer, ein großes Lebewesen bräuchte mehr Kraft, - und auch mehr Ruhe. Ich war der Meinung, er war einfach faul. Selbst der Löwe in der freien Natur ließ sich kaum zur Jagd herab und überließ alles den Löwinnen; demnach lag es wohl einfach in seiner Natur.

Gelegentlich blinzelte ich in seine Richtung, aber er tat stets so, als ob er es nicht bemerkte, - ich hatte das Gefühl, er ignorierte es absichtlich. Seine vorwiegend weißen Haare fielen ihm leicht ins Gesicht, versperrten mir ein wenig die Sicht auf seine wunderschönen blauen Augen.

Er sollte überhaupt nicht hier sein. Es musste an ein Wunder grenzen, dass er es doch war. Hier. Bei mir. Bei uns, - mir und meiner restlichen Familie. Er war ein Weißer Löwe. Einmal ganz davon abgesehen, dass er so gut wie ausgestorben war, war es ganz und gar verboten für uns, ihn zu… ihn zu >>halten<<.

Wie ich diesen Ausdruck hasste. Jemanden halten, besitzen. Was war er, ein Tisch? Der Vergleich machte mich immer wütend. Aber genau das waren Hunimals für die meisten Menschen und vor allem für das Gesetz, - Gegenstände. Ich warf wieder einen kurzen Blick auf ihn; er saß immer noch in derselben Position, wie vorhin.

Silvan mochte vielleicht in der Lage sein, seine Gestalt ändern zu können, aber jetzt gerade in diesem Augenblick wirkte er sehr menschlich auf mich. Er dachte und fühlte auch wie ein Mensch. Zumindest hatte es den Anschein, dass er das tat.

Aber wer bestimmte eigentlich, ab wann man ein Mensch war? Waren es nicht unsere Sprache, unsere Möglichkeit selbst zu denken und zu entschieden, die Dinge, die uns zu Menschen machten? Silvan, - und auch jeder andere Hunimal, - war bestens in der Lage beides zu tun. Und wenn das nicht die Eigenschaften waren, die uns zu Menschen erklärten, dann war ich mir gar nicht so sicher, dass ich diesen Titel überhaupt tragen wollte. Ein seltsames Surren brachte mich wieder unsanft in die Realität. Es kam eindeutig aus Silvans Richtung. Doch bevor ich auch nur den Mund öffnen konnte, lenkte er das Thema auf etwas anderes.

„Emma“, erklärte er mich ernst fixierend; eisblaue Augen. „Möchtest du, dass ich dich begleite?“ Sein intensiver Blick verursachte mir eine Gänsehaut. Beinahe hätte ich gefragt >>Wohin<<, als es mir blitzartig wieder einfiel. Ich musste los!

„Das, - ähm, - ist nicht nötig, danke“, stammelte ich, und während ich geschwind den PC ausschaltete, mich erhob und meine Tasche auf meine Schulter schwang, versuchte ich das Gespräch auf das Geräusch zurück zu lenken, was ich vorhin gehört hatte. „Sag mal, Silvan, war das ein Handy?“, fragte ich mehr als erstaunt, - und das war nicht mal gespielt, -und nicht nur um damit von mir abzulenken; nicht einmal ich hatte so eins.

„Ja, aber das ist nicht weiter von Belang. Was allerdings diese Verabredung in der Stadt betrifft…“, begann er langsam. „Die hat nicht zufällig etwas mit deiner Begegnung heute mit Ezra und diesem Gefallen zu tun, oder doch?“ Ich erstarrte. Meine nächste Lüge müsste überzeugend sein; alles hing von dieser einen Reaktion ab. Ansonsten würde er mich unmöglich gehen lassen.

„Silvan“, erklärte ich seufzend und sah ihm bewusst in die Augen. „Ich bin nicht so dumm, um auf Ezra hereinzufallen. Und ich habe auch keinen Grund ihm irgendeinen Gefallen zu tun. Der Vorfall heute hatte meiner Ansicht nach ziemlich wenig mit mir zu tun. Es ging vorwiegend um dich und ihn, - ich war nur Mittel zum Zweck um deine Aufmerksam zu gewinnen.“ Ich machte eine kurze Pause. „Was hast du ihm eigentlich getan?“, fragte ich jetzt lauernd und trat einen Schritt auf ihn zu. Angriff war ja bekanntlich die beste Verteidigung. Nichtsahnend zuckte er mit seinen Schultern. Ich zog fragend eine Augenbraue hoch. „Bist du sicher?“, erkundigte ich mich noch einmal.

Seine blauen Augen sahen ernst in meine, als er antwortete: „Absolut.“ Wenn er mich so überzeugend ansah, wusste ich nie, ob er wirklich meinte, was er sagte, oder ob er sich wieder hinter seiner ernsten Maske versteckte, um die Wahrheit vor mir zu verbergen.

Ich stieß ein wenig genervt Luft aus. „Wenn du meinst“, erwiderte ich augenverdrehend, und näherte mich der Tür. „Ich muss jetzt wirklich los, - ich will Beth nicht warten lassen“, log ich mit fester Stimme.

Ich wurde langsam richtig gut darin. Ob das gut oder schlecht war, konnte ich im Moment nicht sonderlich gut beurteilen. Wollte ich überhaupt gut in so etwas sein?

„Weißt du schon, wann du wieder kommst?“, hielt er mich abermals zurück. Der größte Teil seiner Aufmerksamkeit widmete sich wieder seinem dunkelgrünen Buch in seinen Händen.

„Ich, - Ähm, - werde nicht lange brauchen“, erwiderte ich kleinlaut. Zumindest hoffte ich, dass es so sein würde. Ezra hatte mir versichert, es wäre egal, wie lange ich mich dort aufhalten würde, solange ich um Punkt 18 Uhr dort war. „Eine Stunde“, setzte ich ein wenig zuversichtlicher nach. „Höchstens zwei.“

„Hm“, murmelte Silvan abgelenkt. „Dann viel Spaß.“

„Danke“, erwiderte ich zur Tür und war schon halb aus dem Zimmer geflüchtet, als er mir noch ein „Bis später“ zurief.

Kapitel 9

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 18, Abschnitt 4

 

Die Art des Hunimals ist proportional abhängig vom Stand seines Besitzers; noble Familien, als solche geltend nach Paragraf 7, Abschnitt 1, die über mehrere Generationen einzig eine Hunimal-Rasse aufnehmen, sind berechtigt, wenn sie dies nicht ohnehin schon tun, die selbige Rasse in ihrem Familienwappen zu tragen; die nächsten Generationen, insofern beide Elternteile mindestens den selben Stand inne halten, haben das unanfechtbare Anrecht diese Tradition weiterzuführen; sollte es doch einmal vorkommen, und ein Elternteil ist vom niederen Stand, so erhält nur der Erstgeboren, dass Anrecht auf die Erbklausel()…

 

Der Weg in die Thornstraße kam mir schrecklich kurz vor. Es war, als hätte ich mich gerade einmal umgedreht, und schon stand ich mitten im Einkaufszentrum. Um mich herum zahlreiche Gesichter; lachend, weinend, verärgert, gestresst, ausgelassen, müde. Zu welchem ich gehörte vermochte ich nicht zu sagen.

Es war zehn vor sechs. Ich war pünktlich, - zu pünktlich für meinen Geschmack. Ich vertrödelte noch ein, zwei Minuten vor dem Eingang des besagten Literaturcafés, bis ich schließlich tief durchatmete und eintrat; ich wollte es einfach nur hinter mich bringen.

Mit langsamen Schritten, - ich hatte es nicht sonderlich eilig, ans Ziel zu kommen, - ging ich an Regalen, gefüllt mit Büchern, bequem aussehenden Sofas und Stühlen, sowie einigen Leseratten vorbei, welche mit ihren Gesichtern dicht hinter dem Rücken ihres Buches vergraben waren. An dem Regal mit der Aufschrift >>Klassiker<< bleib ich kurz stehen und zog mit gezieltem Griff denselben Einband des >>Der Graf von Monte Christo<< aus den Reihen, wie bei meinem letzten Besuch in der Buchhandlung. Ohne weitere Verzögerungen machte ich mich weiter auf in den hinteren Teil der Buchhandlung.

Wildes, wasserstoffblondes Haar bestätigte meinen Verdacht, dass Ezra gar nicht der Kopf hinter dieser seltsamen Sache war.

Vincent saß wieder auf dem dunklen Sofasessel und hob nicht einmal den Kopf als ich dicht neben ihm vorbeihuschte, und meinen alten Platz auf dem Sofa einnahm.

„Hallo“, murmelte ich leise in den stillen Raum, als ich meine Tasche abstellte. Ich hörte ihn umblättern und warf einen kurzen Seitenblick auf ihn; er nickte begrüßend, sagte aber kein Wort.

Ein wenig unbehaglich versuchte ich es mir auf dem, - zugegeben, - weichem Sofa bequem zu machen, aber es schien mir nicht sonderlich gut zu gelingen. Meine Muskeln waren vollkommen verkrampft und mein Körper angespannt. Ich konnte mich kaum auf das konzentrieren, was ich las, und brauchte ewig, um gerade mal eine Seite durchzulesen, - und am Ende hatte ich dessen Inhalt sowieso wieder vergessen. Es war lächerlich, aber so sehr ich mich auch bemühte, es schien auch nach ein paar Minuten nicht besser zu werden.

„Wenn es dir hier nicht gefällt, geh doch woanders hin“, schlug er ohne Regung vor. Überrascht, plötzlich angesprochen zu werden, zuckte ich ein wenig zusammen. „Niemand hat dich gezwungen herzukommen“, fuhr er fort und mein Gesichtsausdruck verwandelte sich in Unglauben. Meinte er das ernst? „Außerdem denke ich, die Buchhandlung ist groß genug für uns beide, wenn du verstehst, was ich meine.“ Ein wenig sprachlos sah ich ihn an und versuchte meine Gedanken zu ordnen.

Log er mich gerade an oder hatte er wirklich keine Ahnung davon, warum ich hier war? Ezra konnte doch unmöglich ohne Vincent… Und warum…

Nachdem ich nicht mehr das Gefühl hatte, dass meine Gedanken wirr durch meinen Kopf flogen, stellte ich ihm eine Gegenfrage.

„Und warum bist du wieder hier?“, fragte ich ihn argwöhnisch mit hochgezogenen Augenbrauen. Sein monotoner Gesichtsausdruck verrutschte einen Moment, - zeigte Überraschung, - bis er sich wieder im Griff hatte.

„Ich bin oft hier“, erklärte er langsam und sah mich abschätzend an. „Meinem Vater gehört das Einkaufszentrum.“ Ich dachte, mich verhört zu haben.

„Ist das ein Scherz?“, rutschte es mir ungläubig heraus. Er schien mich genau zu mustern, jede meiner Reaktionen wahrzunehmen, als er mit ernster Stimme verneinte.

„Warum sollte ich lügen?“, fragte er mich sichtlich gekränkt.

„Vielleicht hast du mich nicht richtig verstanden“, antwortete ich ihm ausweichend. „Ich hab dich gefragt, ob das ein Scherz war, - nicht, ob du mich anlügst.“

„Ist das nicht das Gleiche?“, fragte er abwertend und die Heftigkeit in seiner Stimme ließ mich erschrocken verstummen. Ich schluckte und mein Griff um das Buch auf meinem Schoß wurde stärker.

„Nein“, erklärte ich bestimmt. „Ist es nicht.“ Sein Blick war schwer zu deuten. Ein wenig unwohl senkte ich den Blick und wandte mich wieder meinem Buch zu. Ich spürte dabei ununterbrochen seinen Blick auf mir. Nach einigen Minuten hielt ich es nicht mehr aus und sprach ihn wieder an.

„Wo ist eigentlich Ezra?“, fragte ich ihn interessiert; zu spät bemerkte ich, dass mein Tonfall missbilligend klang. Da Vincent zur hohen Oberschicht gehörte, dürfte es nicht allzu schwierig sein, sich von seinem Hunimal in die Stadt begleiten zu lassen.

Irritiert sah er mich an. Jedenfalls glaubte ich, dass es >>irritiert<< war; es war im Allgemeinen schwer, seine Blicke richtig zu deuten. Zumindest eine Eigenschaft, die er mit Silvan gemeinsam hatte. Vincents Gesichtsausdruck wurde hart.

„Gibt es einen bestimmten Grund, dass du mich das fragst?“, äußerte er misstrauisch. Ich brauchte einen Moment, um zu antworten.

„Ja“, gestand ich wahrheitsgemäß; ich wusste selbst nicht, warum ich ihm die Wahrheit sagte. „Den gibt es. Aber ich werde ihn dir nicht verraten.“ Aus irgendeinem Grund wollte ich ihn nicht anlügen. Er sah mich immer noch misstrauisch an, aber der kalte Ausdruck in seinen grünen Augen verschwand beinahe vollkommen.

„Dann nehme ich an, wirst du mir auch nicht verraten, was du hier machst“, sagte er mir auf den Kopf zu. Ich lächelte leicht.

„Ganz im Gegenteil“, erklärte ich widersprechend. „Allerdings hatte ich gedacht, dass es einleuchtend ist.“ Abwartend sah er mich an, und mein Lächeln wurde zu einem regelrechten Grinsen. „Vincent, warum geht man denn in eine Buchhandlung?“, fragte ich ihn seufzend. Als er nichts erwiderte, fügte ich noch hinzu: „Ein kleiner Tipp: Es hat mit Büchern zu tun.“ Belustigt sah ich ihn an, - von Unwohlsein keine Spur mehr, - als er plötzlich seinen Kopf in seine Hände legte und leise zu lachen begann. Es war vermutlich das erste Mal, dass ich ihn lachen hörte und ich stimmte sofort mit ein; er hatte ein sehr schönes Lachen, das ihm ein wenig das Bedrohliche nahm. Anders, als bei Silvan, flogen mir aber keine Schmetterlinge im Bauch herum.

„Das war vermutlich der armseligste Versuch, sich über jemanden lustig zu machen, den ich je gehört habe“, verkündete er sich vor leisem Lachen gar nicht mehr einkriegend.

Mein Lachen erstarb. Seine Worte, - aber vor allem sein abwertender Tonfall, der bewies, dass er tatsächlich über mich lachte, - verletzten mich. Ich nahm meine Tasche und mein Buch und stand auf.

„Wir sehen uns in der Schule“, verabschiedete ich mich kühl und entfernte mich beinahe mechanisch von der Couch und ihm. Mein Kopf glühte, - ob vor Scham oder Wut konnte ich nicht sagen.

„Emanuela, wo gehst du hin?“, hörte ich ihn beinahe erschüttert hinter mir fragen. Meine Füße verweigerten mir meinen Befehl und blieben stehen. Als hätte er nicht schon genug gesagt. Wollte oder konnte er es nicht verstehen?

„Emma“, berichtigte ich ihn eisig, immer noch mit dem Blick zur angelehnten Tür. Weißes Holz und ein nicht vorgeschobener Eisenriegel. „Nenn mich Emma, - so wie jeder andere auch.“ Damit verließ ich schnell den Raum, ich rannte beinahe, und bekam nur mehr schemenhaft mit, dass er noch etwas erwiderte; ich war aber so wütend, dass es mir egal war. Das Buch in meinen Händen legte ich, ohne stehen zu bleiben einfach bei dem Regal ab, aus dem ich es herausgenommen hatte und verließ ohne Umschweife die Buchhandlung.

Zwölf Stationen und einen Fußmarsch von sieben Minuten später hatte ich mich immer noch nicht vollständig beruhigt, und setzte mich mit meiner Tasche aufgewühlt auf die Veranda vor unserem Haus.

Es war Oktober und dementsprechend kalt um diese Jahreszeit, - besonders abends. Bereits nach wenigen Minuten begannen meine Hände von dem eisigen Wind zu zittern und meine Zähne verräterisch zu klappern. Mit einem Seufzten und der Befriedigung, mich wieder einigermaßen beruhigt zu haben, stand ich umständlich auf und öffnete die Haustür. Der Fernseher lief und meine Schwester Leonie saß mit Paige, in deren Menschengestalt, auf der Couch und unterhielt sich kichernd mit ihr.

„Hallo“, begrüßte ich die beiden und erntete zwei synchronische >>Hallos<<, bevor sie wieder die Köpfe zueinander steckten und erneut anfingen belustigt zu kicherten. Ich verdrehte meine Augen und zog mir Jacke, Schal und Schuhe aus, und machte mich auf, in die Werkstatt meines Vaters.

Ich fragte meine Schwester erst gar nicht, ob Dad dort zu finden war, - jeder im Haushalt wusste, dass wenn er zu unserem Vater wollte, er den Tischler beinahe immer in seiner geliebten Werkstatt vorfand. Und ich hatte noch ein äußerst unangenehmes Gespräch mit ihm zu führen.

Bis jetzt hatte ich es aufgeschoben, ihm von meinem Gespräch mit der Direktorin zu erzählen, denn ich wusste einfach nicht, wie ich es ihm erklären sollte. Mein Vater war nicht dumm. Er würde merken, dass etwas >>im Busch war<< wie man so schön sagte. Aber ich trug diese verdammte Visitenkarte schon viel zu lange mit mir herum, und wollte sie, - und die Verantwortung, die auf ihr lag, - endlich loswerden.

Vor der Tür zur Werkstatt blieb ich kurz stehen. Die Laute von Jazzmusik und ein leises Schleifen drangen durch den Türspalt zu mir durch, und zaghaft, aber doch laut, klopfte ich an der Tür.

„Herein“, hörte ich die angenehm ruhige Stimme meines Vaters. Ich öffnete die Tür und trat ein. Die Musik lief weiter, allerdings ein wenig leiser.

Mein Vater saß mit einer Fernbedienung in der linken Hand auf einem etwas unbequem aussehenden Hocker und hatte das einzelne Bein eines Tisches zwischen zwei Platten eingeklemmt. Neben ihm auf einem kleinen Tisch lagen allerlei Materialien zur Bearbeitung von Holz und ein Schleifgerät.

Die Werkstatt meines Vaters war riesengroß, - größer als unser Wohn-und Esszimmer zusammen, - und überall lagen Holzbretter, alte Möbel, Werkzeuge und Skizzen herum. Trotzdem schien alles einem System, wenn nicht gar Ordnung zu folgen, die ich aber Zeit meines Lebens nie verstand und wohl auch nie verstehen würde.

„Dad, hast du kurz Zeit?“, fragte ich ihn und sah wie er einen Stuhl in seiner Reichweite hervorholte und mit etwas Abstand neben ihn stellte, - das alles, ohne seine Krücken aufzuheben und aufzustehen.

„Setz dich“, erklärte er lächelnd und ich nahm nervös neben ihm Platz. Interessiert blitzten seine warmen, braunen Augen mich an.

„Ja, - also, - ich will dich nicht bei der Arbeit stören“, begann ich fast schüchtern.

„Du störst mich kein bisschen“, versicherte Dad mir und lächelte zuversichtlich. „Ich sollte sowieso mal eine kleine Pause einlegen. Ich werde langsam alt“, meinte er ächzend und hob sein Bein, welches nur noch bis zu seinem Knie reichte ein wenig hoch. „Und das Ding ist auch keine sonderliche Hilfe“, scherzte er locker. Fürsorglich legte ich meine Hand auf seine.

„Du musst doch nicht so viel arbeiten, Dad“, versicherte ich ihm. Sein Gesichtsausdruck wurde weich und liebevoll, als er seine andere Hand auf meine, die auf seiner lag, legte und dankbar drückte.

„Ach, Emma“, erwiderte er. „Wenn es doch nur so einfach wäre. Aber ich liebe nun einmal meine Arbeit, - und ich liebe es, euch damit versorgen zu können.“ Die nächsten Worte murmelte er in sich hinein, als wären sie gar nicht an mich gewandt. „Auch, wenn wir mehr schlecht als Recht durchkommen.“ Ich schluckte.

„Schon in Ordnung, Dad“, versicherte ich ihm. „Wir haben mehr als genug, - dank dir.“ Abermals drückte er meine Hand und ließ mich dann los. Ein wenig peinlich berührt von meinen Worten lehnte er sich zurück und seufzte einmal.

„Aber du bist nicht nur hergekommen, um mir Komplimente zu machen, hab ich Recht?“, vermutete er und traf den Nagel auf den Kopf. „Egal, was es ist-“, begann er scherzend. „-Das ist jetzt vermutlich der beste Moment, um es mir zu sagen. Das, und alles was du in den letzten Jahre noch so alles ohne mein Wissen ausgefressen hast.“ Er lachte unbeschwert, und ich stimmte mit ein. Ausgefressen; damit hatte er gar nicht so Unrecht.

„Nun ja“, setzte ich an und zögerte.

Wie sollte ich beginnen?

Ein Bild sagte ja bekanntlich mehr als tausend Worte, also warum nicht damit anfangen? Ich nahm meine Umhängetasche auf meinen Schoß und öffnete den Reißverschluss einer kleinen Innentasche und zog die Visitenkarte mit den persönlichen Kontaktmöglichkeiten der Direktorin hervor.

„Hier“, sagte ich zu meinem Vater und überreichte sie ihm. Zuerst sah er überrascht aus, aber als er den Namen auf der Karte las, schien er regelrecht zu versteinern vor Schock.

„Hast du Probleme in der Schule, Emma?“, fragte er mich voller Sorge.

„Nein, nein“, erklärte ich sofort und hob abwehrend die Hände. „Das geht nicht um mich, sondern um dich.“ Die Stirn meines Vaters legte sich in Falten. „Also, weißt du, da ist dieser Junge“, begann ich zu erzählen. „Ein ziemlich guter Freund von mir, der in Schwierigkeiten war, und… er, also, ich musste die Direktorin kurz ablenken, damit er seinen Fehler beheben konnte, weil er sonst, wie gesagt in ernsten Schwierigkeiten gewesen wäre, aber mir fiel in der kurzen Zeit einfach keine passende Ausrede ein, warum ich dringend mit der Direktorin sprechen hätte müssen, und naja… Da dachte ich, weil du und sie ja alte Freunde seid, und ich, - wie gesagt, unter ziemlich viel Druck stand, - habe ich ihr wohl gesagt, du würdest sie mal zum Essen einladen wollen.“ Ich lachte nervös und schuldbewusst. „Sie hat mir ihre Karte für dich mitgegeben und du sollst sie mal anrufen. Ich weiß, wie das kling…“, erklärte ich und hob wieder beschwichtigend meine Hände. „Aber jetzt mal ehrlich, ihr seid alte Freunde, und du warst schon so lange nicht mehr wirklich aus, also vielleicht…“ Ich ließ den letzten Satz wie eine Frage ausklingen und hob meine Augenbrauen. Mein Vater stieß ein amüsiertes Brummen aus.

„Ich soll mich wieder mit einer Freundin aus meinen Schultagen treffen? Deswegen der ganze Aufstand?“, fragte er amüsiert und meine Wangen färbten sich rot. „Das ist wirklich süß von dir, Emma“, meinte er, legte seine Finger unter sein Kinn und tat so, als müsste er überlegen. „Hm, ich könnte die Gute mal wieder anrufen, - das ist ja bestimmt erst fünfzehn Jahre her oder so.“ Er lachte wieder und ich senkte schuldbewusst den Kopf. Auf einmal umarmte er mich halb und zog mich ein wenig zu sich. „Das hast du gut gemacht, Kleines“, versicherte er mir jetzt in einem ernsteren Tonfall. „Ich hatte durchaus schon mal daran gedacht, sie anzurufen, aber feige, wie ich war, habe ich mich lieber in meiner Werkstatt vergraben…“

„Du bist nicht feige“, widersprach ich. „Es ist keine Schande, wenn man auf eine Gelegenheit wartet. Eine, wie diese“, erklärte ich mit einem vieldeutigen Blick. Er lachte und ließ mich wieder los.

„Wenn du meinst“, erwiderte er freundlich brummend. „Aber man sollte sich nicht immer darauf verlassen, dass eine passende Gelegenheit dahergelaufen kommt. Wenn man etwas wirklich will, muss man es schon einfordern.“ Seine Worte brannten sich tief in mein Gedächtnis ein und liefen in meinem Hinterkopf unaufhörlich auf und ab, - wie ein Flüstern im Hintergrund.

Bald darauf machte sich mein Vater wieder an die Arbeit, und nachdem ich ihm ein Paar Sandwiche gebrachte hatte, ging ich in Silvan und mein Zimmer um mich bettfertig zu machen. Es war zwar gerade erst zehn Uhr vorbei, aber der Tag war sehr anstrengend gewesen, und ich freute mich auf mein warmes Bett und Silvans Nähe.

Ich konnte seine Wärme zwar nicht mehr direkt spüren, da wir nicht mehr gemeinsam in einem Bett schliefen, aber ich hörte immer noch seine Atemzüge, als wären sie meine eigenen, und ich spürte seine Anwesenheit, die mir das Gefühl von Sicherheit gab. Zumindest, bis er mitten in der Nacht plötzlich aufstand und ohne ein Wort verschwandt.

Als ich nach leisem Klopfen eintrat, - ich wusste selbst nicht, warum ich immer klopfte, schließlich konnte Silvans feines Gehör meinen Aufenthalt sicher millimetergenau heraushören, - fand ich Silvan in derselben Position wieder, in der ich ihn verlassen hatte; er lag auf seiner Matratze am Boden und las ein Buch, - diesmal aber ein anderes, - und begrüßte mich mit einem kleinen, aber schier umwerfenden Lächeln. Mein Herz schien kurz einen Schlag auszusetzten, nur um dann in einem viel schnelleren Tempo weiterzuschlagen.

„Willkommen Zuhause“, begrüßte er mich warm lächelnd. „Warst du erfolgreich?“ Keine Spur von Zweifel war ihm anzusehen. Er hatte mir wirklich geglaubt; allein diese Tatsache brachte mich dazu, mich unendlich schuldig zu fühlen.

„Nicht, wirklich“, erklärte ich ein wenig verlegen, als ich ihn schon wieder anlog. „Das Buch kommt wohl doch erst nächste Woche, - dann fahre ich noch mal hin“, erzählte ich und stellte meine Tasche ab. Zumindest der letzte Teil, - der, mit dem wieder zur Buchhandlung fahren, - war nicht gelogen.

„Hm“, erwiderte er und warf das Buch beiseite. „Das ist ärgerlich. Hattest du sonst wenigstens Spaß?“, erkundigte er sich und streckte seine steifen Glieder. Die Bewegung sah so anziehend aus, dass ich peinlich berührt den Blick abwenden musste.

„Könnte man so sagen“, wich ich seiner Frage aus, schritt zum Kasten und suchte mir einen Pyjama aus.

Man sollte sich nicht immer darauf verlassen, dass eine passende Gelegenheit dahergelaufen kommt. Wenn man etwas wirklich will, muss man es schon einfordern. Die Worte meines Vaters kamen mir plötzlich durch den Sinn, als ich so mit meinem Schlafanzug in der Hand dastand, den Seitenblick auf die große Liebe meines Lebens. Zum Greifen nahe, - und doch unendlich weit weg.

Bisher, hatte ich versucht mir einzureden, dass es gut war, so wie es ist. Oder hatte versucht, mich wenigstens mit dem zufrieden zu geben, was wir hatten, - oder hatte versucht jedes aufkommende Gefühl in diese Richtung zu unterdrücken. Aber ich wollte ganz sicher nicht den Rest meines Lebens auf diese Art und Weiße verbringen. Und ich war es leid, zu warten. Darauf zu warten, dass er meine Gefühle auf dieselbe Weiße erwiderte, darauf, dass er den ersten Schritt machte.

Aber wenn ich nicht bereit war, als erstes auf ihn zuzugehen, wie konnte ich da dasselbe von ihm erwarten?

„Silvan“, kam es selbstbewusst aus meinem Mund, und meine Stimme war mir selbst fremd. Sofort um einiges munterer, sah er mich mit eisblauen Augen neugierig an. „Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“

Kapitel 10

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 22, Abschnitt 5

 

Ein Hunimal, der seine wahre, bösartige Natur verbirgt und einen anderen Menschen absichtlich glauben lässt, er wäre ein Artgenosse, hat mit einer Strafe zu rechnen, die bis zum Tode führen kann()…

 

 

Silvans Augen weiteten sich ein wenig vor Überraschung, und ich glaubte etwas in seinem Blick zu erkennen, das mir den Atem stocken ließ, und ein merkwürdiges Ziehen im Bauch verursachte, - aber im nächsten Moment war es schon wieder fort, verborgen hinter einer Maske der Emotionslosigkeit. Ich begann mich zu fragen, ob ich es mir möglicherweise nur eingebildet hatte.

„Ich halte das für keine so gute Idee“, erklärte er langsam. „Im Schlaf verwandle ich mich manchmal vom Mensch zum Tier, - und wieder zurück. Ungewollt. Das weißt du. Eine falsche Bewegung hier, eine Verwandlung da, und du drohst zu ersticken. Es hatte schon seine Gründe, warum uns dein Vater damals getrennt hat“, erinnerte er mich.

„Ich weiß“, erwiderte ich in einem sturen Tonfall. „Aber ich will es trotzdem.“ Mein Tonfall wurde etwas weicher. „Bitte, Silvan“, flehte ich und trat näher. Vor ihm ging ich auf die Knie, legte meinen Schlafanzug achtlos zur Seite und begab mit damit auf dieselbe Höhe wie er. „Nur für heute Nacht“, versicherte ich ihm und legte meine Hand auf seinen Unterarm. Die Berührung war so angenehm, dass sie beinahe schmerzte.

„Emma“, seufzte er. Er hob eine Hand und strich mir damit behutsam über meine Wange und ließ sie dort liegen, rückte dann mit seinem Gesicht näher an meines und hielt meinen Blick gefangen.

Was gebe ich dafür, wenn er mich jetzt küssen würde. Ich schluckte.

„Ist das ein >>Nein<<?", flüsterte ich fragend. Sein warmer Atem strich über mein Gesicht und verursachte mir eine Gänsehaut. In seinen hellen Augen glaubte ich dasselbe Verlangen zu erkennen, wie das, welches unzweifelhaft auch in meinen stehen musste.

„Es ist ein >>Vielleicht<<“, wisperte er rau, und abermals traf mich sein süßer Atem. „Das kommt auf den Grund an, weshalb du es möchtest.“ Abwartend sah er mich an.

„Ich…“, begann ich ein wenig überfordert; bei seinem intensiven Blick wurde mir schwindelig. „Ich vermisse dich“, gestand ich ehrlich, und versuchte weg zu sehen. Er ließ es nicht zu und zwang mich, ihn weiter anzusehen. Fragend hatten sich seine Augenbrauen gehoben.

„Aber ich bin doch hier“, widersprach er leise. Nur noch wenige Zentimeter trennten ihn von mir; es hätte genauso gut die Entfernung zwischen der Erde und dem Mond sein können.

„Das heißt, du vermisst mich kein bisschen?“, fragte ich und konnte nicht verhindern, dass meine Stimme ein klein wenig traurig klang. Ein hungriges Blitzen trat in seine Augen, ansonsten zeigte er keine Reaktion.

„Na, gut“, lenkte er schließlich ein. „Du kannst heute Nacht bei mir schlafen. Aber nur heute“, stellte er klar und sah mich bedachtsam an. Ich nickte schnell und einvernehmend, und versuchte mir das Glücksgefühl, welches dabei war mich zu überwältigen, nicht anmerken zu lassen.

Währenddessen ließ er wieder von mir ab und lehnte sich seufzend zurück. Mit rosa Wangen tat ich es ihm gleich, nahm meinen Pyjama wieder in die Hand und erhob mich, um ins Badezimmer zu gehen. Kaum, dass ich die Tür des Badezimmers zugesperrt hatte, versagten mir beide Beine und zitternd vor Glück und mit einem breiten Lächeln rutschte ich mit der Tür im Rücken zu Boden. Mein Herz schlug so schnell, als wollte es jeden Moment aus meiner Brust springen.

Nachdem ich fertig war mit Zähne putzen, duschen und umziehen hatte ich es plötzlich sehr eilig zu Silvan zurückzukommen, - und zu überprüfen, ob ich mir unser vorheriges Gespräch nicht nur eingebildet hatte. Aber ich hatte Glück; er lag noch genau dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte, - bloß nicht mehr in derselben Gestalt, wie vorhin.

Silvan verwandelt zu sehen, hatte auf mich immer schon eine äußerst beruhigende Wirkung gehabt. Das war von klein auf so. Seine majestätische Größe in Kombination mit seiner Trägheit und seinem warmen Blick vermittelten mir das Gefühl von innerer Ruhe und Zufriedenheit, - was auf mich abzufärben schien. Hinzu kommt, dass sein langes weißes Fell unglaublich warm und kuschelig war; ich könnte ewig neben ihm liegen.

Das Zimmer wurde nur mehr durch das hineinscheinende Mondlicht und Silvans kleiner Nachttischlampe beleuchtet.

Als er mich sah, klopfte er auffordernd mit einer seiner großen Pfoten neben sich auf die Matratze und die darauf für mich liegende Decke. Starr blickte er mich dabei an, - bannte mich mit seinen leuchtenden, hellblauen Augen. Eine stumme Aufforderung mich neben ihn zu legen. Nur zu gern kam ich der Aufforderung nach und näherte mich lächelnd seinem, - und heute Nacht auch meinem, - Schlafplatz und schlüpfte unter die Decke.

Silvans Körper strahlte eine angenehme Wärme aus, die mich dazu brachte, mich automatisch an ihn zu drücken. Er gähnte ausladend und offenbarte dabei eine ganze Reihe spitzer, blanker Zähne; er ermahnte mich oft, niemals zu vergessen, dass er trotz allem immer noch ein gefährliches Raubtier war.

Aber ich hatte keine Angst. Eher im Gegenteil. An seiner Seite fühlte ich mich so sicher, wie sonst nirgends.

Er bewegte sich ein wenig und löschte das Licht, - und bannte das Zimmer damit fast in vollständige Dunkelheit. Plötzlich legte sich eine große Tatze um mich und zog mich näher an seinen Körper. Ich grub meine Finger genüsslich in sein weiches Fell und lehnte meinen Kopf zufrieden an seine Halsbeuge. Ich hörte ihn seufzen, - was in seiner Löwenform immer besonders lustig klang.

„Emma“, murmelte er rau und ich spürte seine Kehle bei jedem Wort beben.

„Mhm?“, gab ich äußerst müde, aber zufrieden von mir. Es war wunderbar so dazuliegen.

„Weck mich auf, wenn ich mich verwandle.“

„Wieso?“, flüsterte ich irritiert; als Kind hatte ich eigentlich fast immer neben seiner Löwen- oder Menschenform geschlafen. Uns war beides einerlei gewesen, - denn Silvan war Silvan, - ob Mensch oder Löwe war mir gar nicht mehr aufgefallen.

„Tu es einfach“, murmelte er wieder mit belegter Stimme in mein rechtes Ohr und ich erschauerte. „Und jetzt schlaf“, fügte er zärtlicher hinzu.

„Gute Nacht, Silvan“, flüsterte ich.

„Gute Nacht, Emma“, antwortete er leise und zog mich kaum merklich noch ein wenig näher an sich.

Ich lag lange wach und genoss es einfach nur, hier mit ihm zu liegen. Wer wusste schon, wann ich wieder einmal die Gelegenheit hatte, Silvans Wärme auf diese Art und Weiße zu spüren? Irgendwann schlossen sich aber doch meine Lieder und ich fiel, mit Silvans beschützenden Körper, in einen sanften und ruhigen Schlaf.

Ein leises Geräusch und der plötzliche Verlust von Wärme weckten mich. Ich wusste nicht, wie spät es war, aber es war immer noch äußerst dunkel draußen. Ich tastete mit meiner rechten Hand nach Silvan, fand aber nur seinen warmen Platz vor. Das Geräusch, das mich geweckt hatte, musste die Tür gewesen sein; Silvan war wieder verschwunden.

Müde und mit geschlossenen Augen rollte ich mich ein wenig nach rechts, und versuchte weiterhin Silvans Wärme und seinen verführerischen Duft, welche immer noch in seinem Kissen und dem Matratzenboden waren, in mich aufzunehmen.

>>Bleib<< war alles was ich denken konnte, dabei war er schon längst weg.

Das restliche Wochenende verlief nicht besonders ereignisreich. Wir machten Pläne für Silvans Geburtstag, der am nächsten Freitag sein sollte, und diese Tatsache brachte mich in eine äußerst verzwickte Lage; ich konnte unmöglich an Silvans Geburtstag ohne ihn weg fahren. Und dann müsste ich ihn auch noch anlügen. Er würde mir niemals glauben, egal, welche Lüge ich ihm auftischen würde. Er würde mich sofort durchschauen.

Was sollte ich nur tun? Ihn vielleicht mitnehmen? Oder selbst nicht gehen? Aber dann würde Ezra Igor etwas antun, - oder Silvan. Es war, - wie gesagt, - verzwickt.

Der Samstag war bald vorüber und der Sonntag folgte sogleich und endete mit einem Spiele-Abend; ich war allem Anschein nach, nicht die interessanteste Sechzehnjährige, die man sich vorstellen konnte. Aber ich verstand mich gut mit meiner Familie und hatte Spaß, also konnte es mir eigentlich egal sein, wie es auf andere wirkte. Zumal, ich es sowieso niemanden auf die Nase binden würde, wie ich meine Freizeit so verbrachte. Der Montag kam, wie er kommen musste, und mit ihm ein neuer Schultag.

„Hey, ist euch eigentlich bewusst, dass in zwei Monaten Weihnachten ist?“, fragte Marcus aufgeregt in die Runde. „Nur noch zwei Monate, dann sind endlich Ferien!“ Es war große Pause und er, Vivien, Beth, Thomas und ich saßen wieder mal in der Aula und unterhielten uns.

„Ach, ja“, stimmte Beth fröhlich mit ein. „Heute ist der Vierundzwanzigste, - genau zwei Monate nur noch.“ Sie und Marcus strahlten um die Wette, was ihnen eine augenverdrehende Vivien und einen skeptisch-dreiblickenden Thomas einbrachte.

„Ich würde sagen es sind noch zwei Monate“, warf Thomas widersprechend ein. „Das ist kein sonderlich guter Grund sich zu freuen, finde ich.“ Marcus Blick verfinsterte sich, - und im selben Moment begann sich Viviens Gesicht aufzuhellen. Ihm fiel es auch auf, und statt Thomas zurechtzuweisen, wandte er sich an sie.

„Darf ich fragen, worüber du dich so amüsierst?“, fragte er sie lauernd. Sie grinste.

„Na, über dich“, antwortete sie ganz selbstverständlich. „Du bist immer für einen Lacher gut“, scherzte sie. Für einen Moment sah es so aus, als würde er zum Gegenschlag ausholen, überlegte es sich aber scheinbar im letzten Moment anders und sein Gesichtsausdruck entspannte sich sichtlich.

„Wenn du damit meinst, dass ich einen guten Sinn für Humor habe, dann danke ich vielmals für das Kompliment“, sinnierte er gespielt stolz. „Menschen zum Lachen zu bringen ist meine Berufung.“ Jetzt musste auch ich lachen. Überrascht sah er mich an.

„Ja, aber du bist nur unfreiwillig komisch“, klärte ich ihn lachend auf. „Als du zum Beispiel aus dem Zimmer der Direktorin geschlichen kamst, und deine Miene von Nervös bis Ängstlich zu Glücklich-wie-ein-Clown gewechselt hat, war das zum Schießen“, zog ich ihn auf. „Einen Witz erzählen habe ich dich dagegen noch nie gehört.“

„Witze kann jeder erzählen“, konterte er fast ein wenig gekränkt. „Aber nur der wahre Künstler versteht Situationskomik“, verkündete er grinsend, und Vivien und ich verdrehten gleichzeitig unsere Augen.

„Ganz wie du meinst“, sagte ich und beendete damit die Diskussion. Der restliche Schultag war überraschend anstrengend. Wir hatten eine spontane Lernzielkontrolle in Geometrie, und ich grübelte noch viel zu sehr darüber nach, was ich am Freitag tun sollte, als das ich mich eingehend auf die gestellten Angaben konzentrieren konnte.

Auf dem Nachhauseweg hakte ich mich wieder bei Silvan unter und unterhielt mich mit ihm über seine Geburtstagswünsche, - er war viel zu bescheiden. Er versicherte mir, dass er mit einem Stück Kuchen, - wobei er eigentlich keine süßen Sachen mochte, - rundum glücklich war, und dass ich ihm auf keinem Fall irgendetwas Teures schenken sollte; er wüsste sowieso nichts damit anzufangen. Ich seufzte ergeben und grübelte im Geheimen weiter. Ich hatte ihm bis jetzt noch jedes Jahr etwas geschenkt, und das würde sich, wenn es nach mir ginge, auch so bald nicht ändern! Später am Abend hatte ich damit auch gleich die perfekte Ausrede noch einmal in die Stadt fahren zu müssen.

Die Fahrt kam mir bei Weitem nicht so kurz vor, wie letztes Mal. Immer wieder grübelte ich über diesen verflixten Freitag nach und ignorierte komplett die Tatsache, dass heute Montag war und ich in wenigen Minuten unzweifelhaft wieder Vincent gegenüber stehen würde, - oder besser, sitzen würde.

Die Realität holte mich erst ein, als ich die Buchhandlung betrat und sich die automatische Tür hinter mir schloss, als wollte sie mich hier drinnen einsperren. Langsam ging ich auf mein Lieblingsregal zu und suchte sorgfältiger als nötig schließlich Jane Austens >>Northanger Abbey<< aus und atmete tief durch, bevor ich weiterging.

Mit einem bemüht freundlichen Gruß, - ich hatte unser letztes Gespräch noch nicht vergessen, und war dementsprechend immer noch sauer, - ging ich gespielt selbstsicher an ihm vorbei und setzte mich an meinen üblichen Platz.

„Hallo, Emanuela“, erwiderte er meinen Gruß, und bei der wie selbstverständlichen Erwähnung meines richtigen Vornamens begann es wieder in mir zu brodeln, und ich beschloss ihn heute mal komplett zu ignorieren; niemand, - nicht einmal Ezra, - hatte mir befohlen, mich mit ihm zu unterhalten, und nach seinem ungebührlichen Verhalten war ich der Meinung, er verdiente meine Höflichkeiten nicht mehr. Ich war gerade beim dritten Kapitel angekommen, - dem Kapitel, in dem die Protagonistin Catherine den etwas ungewöhnlichen, aber faszinierenden Mr. Tilney kennen lernte, - als er wieder das Wort an mich richtete.

„Heißt deine heutige Anwesenheit, dass ich auch weiterhin damit rechnen kann, dich zweimal in der Woche hier begrüßen zu dürfen?“, fragte er interessiert. Ich hob störrisch mein Kinn und antwortete ihm nicht, immer darauf bedacht, meine Augen nicht von meinem Buch abzuwenden. „Ich weiß zwar, wie man dich erzogen hat, aber ich denke, es ist allgemein bekannt, dass es unhöflich ist, jemanden zu ignorieren“, wies er mich mit unterdrückter Wut in der Stimme zu Recht. Meine Hände begannen leicht zu zittern, - aus Wut, nur um das klar zu stellen - aber ich weigerte mich weiterhin ihm meine Aufmerksam zu schenken. „Typisch Unterschicht“, erklärte er wütend schnaubend.

„Du bist doch derjenige, der immer alle ignoriert“, entfuhr es mir, bevor ich es verhindern konnte. Wütend biss ich mir auf die Lippe, als könnte ich die eben gesprochenen Wörter damit zurück nehmen.

„Du sprichst also doch wieder mit mir“, stellte er zufrieden fest und verschränkte seine Arme voreinander. „Und dann auch gleich so emotional. Habe ich dich etwa verärgert?“, fragte er gespielt düster. In seinen Augen stand wieder dieses unheimliche Blitzen. Ich schluckte.

„Nein“, log ich. „Ich weiß, dass du es nicht ernst meinst.“ Ein wenig ungläubig sah er mich an.

„Ach ja?“, fragte er, und Wut mischte sich unter seinen Ton; er war viel zu reizbar, fiel mir nicht zum ersten Mal auf. „Woher willst du das wissen?“, fragte er nun gefährlich. Ich legte mein Buch ein wenig zur Seite und sah ihn direkt an.

„Du bist nicht so schwer zu durchschauen, wie du vielleicht denkst“, erklärte ich angriffslustig. Er atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen. Bei dem Anblick musste ich mich zusammenreißen, um ein aufmüpfiges Lächeln zu unterdrücken; es wäre nicht sonderlich hilfreich gewesen. Eher im Gegenteil.

„Wie zum Beispiel?“, verlangte er sichtlich beherrscht zu wissen. Ich stieß geräuschvoll Luft aus.

„Wie zum Beispiel die Tatsache, dass du mich zwar versuchst, mit Blicken loszuwerden, aber trotzdem nicht aufhörst, zur selben Zeit wie ich hier aufzutauchen. Vermutlich, weil du sonst niemanden hättest, der mit der redet“, sprach ich selbstsicher eine bloße Vermutung aus. Als ich seinen Blick sah, bereute ich meine Worte sofort.

„Das gleiche könnte ich von dir behaupten, Emanuela“, erwiderte er mit eisigem Lächeln und zog meinen Vornamen bewusst in die Länge; ich schien ihn wirklich getroffen zu haben, - denn er benutzte meinen Namen anscheinend um mich seinerseits auch zu verletzen.

„Touché“, gestand ich und verzog mein Gesicht zu einer Grimasse. „Allerdings mangelt es mir nicht im Geringsten an Gesprächspartnern“, fügte ich für meine Verhältnisse ein wenig zu arrogant hinzu.

„Das kann ich mir vorstellen“, murmelte er finster. Der Blick in seinen kalten, Smaragd-grünen Augen war beinahe verurteilend.

„Wie meinst du das?“, wollte ich ein wenig geschockt wissen; meine selbstbewusste Maske bröckelte gefährlich. Er stieß ein kleines, böses Lachen aus.

„Genau so, wie du es verstanden hast“, erklärte er hart und sah mich direkt an. Verständnislos erwiderte ich seinen Blick. Er zögerte nur einen kurzen Moment, als er begann zu erklären: „Findest du nicht, dass du ein Paar zu viele…“ Er schien nach dem richtigen Wort zu suchen. „-Gesprächspartner hast?“ Der zweideutige Ton, in welchem er das sagte, ließ keinen Zweifel, an seiner eigentlichen Aussage zu. Ich schnappte ungläubig nach Luft.

„Wie“, begann ich atemlos. „Wie kommst du zu so einer Annahme?“ Ich versuchte wirklich, mich zu beruhigen, aber um die Wahrheit zu sagen, war ich viel zu geschockt, um meine wahren Gefühle zu verbergen. Er zuckte unbedeutend mit den Schultern.

„Man hört dieses und jenes“, wich er meiner Frage gezielt aus.

„Hast du es von einer oder mehreren Personen gehört?“, fragte ich innerlich einem Verdacht nachgehend. Er zuckte bloß wieder gelangweilt mit den Schultern.

„Ist das wichtig?“, fragte er äußerst genervt und machte eine aggressive Handbewegung. „Immerhin bestreitest du es ja auch nicht gerade.“ Bei meiner nächsten Aussage sah ich ihm tief in die Augen.

„Ich wüsste nicht, dass ich mich vor dir rechtfertigen müsste“, erklärte ich ihm hart. „Selbst wenn es so wäre, wie du gesagt hast, hättest du kein Recht mich zu verurteilen. Und nur um das klar zu stellen, mit Gesprächspartner meinte ich Freunde, - Menschen mit denen man gerne zusammen ist und auch wirklich reden kann. Aber davon scheinst du ja herzlich wenig zu verstehen.“ Ich nahm mein Buch und meine Tasche und stand auf. „Du kannst Ezra ausrichten, dass ich ihm für seine vielen Komplimente dankbar bin“, bemerkte ich sarkastisch. „Aber in Zukunft sollte er sich besser mit seinen Aussagen zurück halten.“ Ich warf ihm einen längeren Blick zu, um zu sehen, ob er auch verstanden hatte, und verabschiedete mich dann in demselben Tonfall. „Einen schönen Abend noch.“

Es dauerte merklich, bis ich eine Antwort bekam. Zum wirklich ersten Mal schien Vincent sprachlos zu sein. Als er sich wieder halbwegs gesammelt hatte, waren seine nächsten Worte bloß ein Flüstern.

„Bis bald, Emanuela“, hörte ich ihn schlussendlich wispern, als ich eiligst den Raum verließ.

Kapitel 11

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 19, Abschnitt 7

 

Ein Hunimal ohne einzelnen Besitzer ist automatisch Besitz des Königshauses und über seinen Verbleib darf einzig dieses und das Parlament entscheiden; nach dem Tod seines Besitzers wird ein Hunimal, sofern er dessen Tod überlebt, automatisch wieder öffentliches Eigentum und wird binnen weniger Tage persönlich von seinem alten Zuhause abtransportiert()…

 

 

Der Freitag kam, noch ehe ich zu einer Lösung meines Problems gekommen war. Allem Anschein nach, würde mir auch so schnell keine akzeptable Strategie mehr einfallen, weshalb ich mich entschloss, einfach abzuwarten und mich, sobald der Zeitpunkt gekommen war aufzubrechen, spontan entscheiden.

Nach der Schule schickte meine kleine Schwester Silvan sofort in unser Zimmer hinauf; er dürfte erst wieder in das untere Stockwerk kommen, wenn alles fertig vorbereitete wäre, sprich, die Torte gebacken und der Tisch gedeckt war.

Obwohl man meinen könnte, meine quirlige, kleine Schwester und die aufgeweckte Paige würden es niemals schaffen, die Küche nicht in einen Saustall zu verwandeln, waren die beiden doch, wenn es darauf ankam, durchaus sehr zielstrebig. Sie waren eine perfekte Einheit, und führten jede meiner Anweisungen geschwind und ohne Probleme durch, sodass Silvans Torte bald gebacken, die Küche aufgeräumt und der Esstisch gedeckt waren.

„Leonie, Paige“, forderte ich die beiden auf. „Holt ihr bitte Dad aus der Werkstatt? Dann sage ich Silvan Bescheid.“ Die beiden nickten und hüpften aufgeregt davon. Aufgrund der bevorstehenden Mehlspeise hatten wir noch nicht zu Mittag gegessen, und alle waren dementsprechend erwartungsvoll. Ein wenig vor mich hin summend, schlenderte ich das Treppengeländer nach oben und klopfte schließlich an unsere gemeinsamen Zimmertür.

„Silvan?“, fragte ich gegen die Holztür. „Wir wären dann soweit“, verkündete ich lächelnd, als plötzlich die Tür aufging und Silvan in einem von seinen schöneren, weißen Hemden vor mir stand, welches seine muskulöse Figur verführerisch betonte und einen dazu veranlassen wollte, mit seinen Fingern darüber zu streichen und sämtliche Muskeln darunter zu erkunden. Seine schwarz-weißen Haare standen nicht wie sonst in alle Richtungen ab, als wäre er gerade aufgestanden, sondern waren ein wenig mit Gel in Form gebracht, gaben den Blick besser auf seine markanten, leuchtend blauen Augen frei. Mir blieb merklich die Luft weg bei seinem Anblick.

„Na, dann bin ich mal gespannt, was ihr mir wieder Gutes gezaubert habt“, verkündete er verschmitzt lächelnd, hob mich unerwartet hoch und warf mich über seine Schulter, noch ehe ich wieder Luft holen konnte, und machte sich glücklich lachend mit mir auf den Weg nach unten.

„Silvan“, protestierte ich mit hochrotem Kopf und klopfendem Herzen. „Lass mich sofort wieder runter.“ Ich konnte nur hoffen, dass er nicht mitbekam, wie stark ich auf seine Berührungen reagierte.

„Zu Befehl“, verkündete er lachend und vollendete die letzten Schritte zum gedeckten Esstisch, bevor er mich dort auf meinen üblichen Stuhl niederließ. Als ich versuchte ihn böse anzublinzeln, erinnerte er mich lächelnd, dass heute sein Geburtstag war, und ich machte eine gute Miene zum bösen Spiel.

Im nächsten Moment kamen auch schon Leonie, Paige und mein Vater herein, und es regnete Glückwünsche. Meine Schwester konnte es kaum abwarten, und überreichte Silvan sogleich ihr Geschenk an ihn; es war eine neue Fernbedienung. Silvan schien nicht sonderlich überrascht und umarmte sie lächelnd. Paige schenkte ihm einen silbernen Schlüsselanhänger mit einem seltsamen Wesen, welches irgendwie einem Drachen glich.

„Es ist bloß ein Greif“, entschuldigte Paige sich. „Ein altes, mythologisches Mischwesen zwischen Löwe und Vogel, ein Fabelwesen. Einen richtigen Löwen hatten sie leider nicht.“ Er bedankte sich trotzdem herzlich bei ihr, und es schien, als würde ihr ein riesen Stein vom Herzen fallen. Ich sah, wie ihr meine Schwester beruhigend einen Arm um die Schultern legte und musste bei der Szene ungewollt schmunzeln. Als Nächstes war ich dran.

Ein wenig schüchtern trat ich vor, umarmte ihn und flüsterte ihm dabei „Alles Gute zum Geburtstag, Silvan“, ins Ohr. Viel zu schnell ließ ich ihn wieder los und überreichte ihm einen weißen Umschlag. Darin befanden sich eine Karte und mein Geschenk. Er lächelte glücklich, während er sie aufmachte. Mitten im Lesen veränderte sich sein Gesichtsausdruck; wurde beinahe ernst. Er musste an der Stelle angekommen sein, in der ich ihm mein Geschenk verkündete: Einen Ausflug aus der Stadt raus.

Vor nicht allzu langer Zeit hatten wir eine kleine Auseinandersetzung, die bei mir in Tränen endete, in der es darin ging, Hals über Kopf die Stadt zu verlassen. Ich war damals viel zu aufgewühlt und unsicher gewesen, als dass ich klar denken hätte können und war nicht auf Silvans Wunsch eingegangen. Aber jetzt war es anders.

Ich wusste jetzt, dass es egoistisch von mir gewesen war, ihm seinen Wunsch zu versagen. Denn Silvan war zumindest zum Teil ein Löwe, - ein wildes Tier, - und brauchte nun mal seine Freiheit. Es musste furchtbar für ihn sein, immerzu eingesperrt zu sein, - noch viel schlimmer, als es für mich war.

Seine Reaktion folgte sofort; stumm ging er auf mich zu und drückte mich fest in seine Arme. Ich bekam kaum noch Luft, aber ich würde mich hüten, mich zu beschweren.

„Danke“, flüsterte er eindringlich, und verursachte mir damit eine Gänsehaut.

„Keine Ursache“, versicherte ich ihm. „Aber denk daran, dass wir warten müssen, bis es etwas wärmer wird.“ Immerhin fing der Winter gerade erst an.

„Im Frühling dann“, stimmt er nachdrücklich zu. Ich nickte.

„Was ist?“, hörte ich Paige fragen.

„Was ist los? Worüber reden die?“, fragte jetzt auch Leonie. Silvan und ich lösten uns wieder voneinander, - berührten uns aber immer noch an den Fingerspitzen, - und sahen zu, wie mein Vater, der bereits eingeweiht war, den beiden die ganze Sache erklärte.

„Dürfen wir auch mitkommen?“, hörte ich meine Schwester bittend fragen.

„Das ist kein Familienausflug“, klärte sie mein Vater auf. „Außerdem muss doch irgendjemand zu Hause bleiben und das Haus hüten, nicht wahr?“

„Aber das kannst doch du machen, oder Dad?“, versuchte sie es weiter. Mein Vater lachte.

„Und wer passt dann auf mich auf?“, konterte er fröhlich und strich ihr behutsam über den Kopf, als sie enttäuscht den Blick senkte. „Da fällt mir ein“, fuhr er fort. „Ein Geschenk hätten wir fast vergessen.“ Sein Blick fiel auf Silvan. Im selben Moment ließ er meine Hand wieder los und ich versuchte meine Enttäuschung darüber zu verbergen. Mein Vater trug ihm auf, ein Paket aus seiner Werkstatt zu holen. Kurze Zeit später kehrte Silvan mit dem besagten Paket zurück und stellte es auf dem Boden ab. Fragend zog er eine Augenbraue nach oben.

„Das ist jetzt aber nicht, was ich denke, das es ist, oder?“, fragte er zweifelnd.

„Mach es auf, dann siehst du es“, klärte ihn mein Vater auf. Als das erste Papier von der Schachtel verschwand, war sofort zu erkennen, was es war: Ein neuer Fernseher. Mein Blick fiel zu Leonie und Paige, die auf unseren Dad zustürmten und ihm um den Hals fielen.

„Danke, danke, danke“, teilten sie ihm unaufhörlich mit. Auch Silvan bedankte sich bei meinem Vater; dieser nickte nur, froh über das Glück, das er seiner Familie mit einem einfachen Kauf beschwert hatte.

„So, jetzt wollen wir aber mal die Torte anschneiden“, verkündete ich in das Durcheinander, und meine Worte scheinen beinahe eine magische Wirkung zu haben, denn sofort hatten sich alle wieder beruhigt und zum Tisch begeben. Zwei davon, mit einem breiten Lächeln, welches außer Konkurrenz stand. Ich wollte Silvan das Messer in die Hand drücken, aber er wehrte ab und bedeutete mir, es selbst zu tun. Noch so eine Tradition von uns.

Nach der Torte und einem längeren Gespräch drängten meine kleine Schwester und Paige unseren Vater, den neuen Fernseher sofort anzuschließen, - und mein Vater, gutmütig wie er war, konnte den beiden keinen Wunsch abschlagen. Silvan gesellte sich zu ihm, nachdem ich ihn mit den Worten >>Nicht an deinem Geburtstag<< aus der Küche verscheucht hatte, als er mir beim Abwasch helfen wollte.

Zum ersten Mal seit Stunden allein, sah ich auf die Uhr. Es war kurz vor halb sechs. Ich könnte es noch schaffen, rechtzeitig um sechs in der Buchhandlung zu sein. Die Frage war bloß: Wollte ich das auch?

Ja. Ezra und ich hatten eine Abmachung, - und ich wollte mich daran halten. In einem Tempo, das ich mir selbst nicht zugetraut hätte, und ohne auch nur einen Teller fallen zu lassen, machte ich mich daran, den Abwasch zu machen und schlich mich dann an den anderen, die fleißig mit der Montage von Silvans Geschenk beschäftigt waren, vorbei nach oben in mein Zimmer.

Ich warf ein, zwei Sachen in meine übliche Umhängetasche, flitzte zwei Sekunden ins Bad, um mir einmal kurz mit dem Kamm durch die Haare zu fahren und lief weiter zum Treppenabsatz. Dort angekommen, ging ich extra langsam die Treppe runter, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Sollte ich mich wirklich raus schleichen? Ohne Zettel oder sonstige Nachricht? Was, wenn es ihnen auffällt, und sie sich Sorgen machten und nach mir suchten? Abgesehen von dem mordsmäßigen Ärger der mir in dem Fall blühte, würde ich ihnen unnötige Sorgen bereiten. Immerhin wusste ich ja, dass mir nichts passieren würde.

Leise zog ich mir meine Jacke und Stiefel an und grübelte über die vielen Möglichkeiten nach. Letztendlich trat ich dann doch ins Wohnzimmer zu den anderen. Leonie und Paige saßen auf der Couch und überlegten sich, was sie als erstes ansehen wollten, sobald der Fernseher lief, und mein Vater und Silvan saßen mit Schraubenziehern bewaffnet auf dem Boden und unterhielten sich leise darüber, was zu tun war.

„Dad“, sprach ich ihn an und bemühte mich um einen lockeren Ton. Er murmelte etwas zu Silvan und antwortete mir dann etwas lauter, ohne mich anzusehen.

„Ja, Emma?“, fragte er und schraubte etwas an dem alten Fernsehgerät herum. Silvan sah sich indessen noch einmal die Bedienungsanleitung des neuen Geräts an.

„Ich geh noch mal für ein paar Minuten nach draußen Luft schnappen“, erklärte ich gespannt. Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu.

„Klar, mach nur“, verkündete er laut und schenkte seine Aufmerksamkeit wieder anderen Dingen. Niemand schien zu protestieren, also beeilte ich mich aus dem Haus zu kommen und rannte den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Ich war erstaunt, so einfach davon gekommen zu sein, aber ich war mir fast sicher, dass die aufmerksamen Augen meines Vaters mich sehr wohl durchschaut hatten, - und auch Silvan hatte sich viel zu interessiert anderen Dingen zugewandt, als das ich ihm seine Show abgenommen hätte.

Vollkommen außer Puste kam ich gerade noch in dem Moment an, in dem der Bus zur Haltestelle einbog. Glücklich, ihn noch erwischt zu haben, stieg ich ein und lehnte mich für einen weiteren, kurzen Moment zurück, bis es auch schon Zeit war, auszusteigen und den Rest der Strecke zu rennen. Wieso beeilte ich mich eigentlich so?

Vincent schien keine Ahnung von Ezras und meiner Abmachung zu haben, demnach sollte es doch eigentlich keine Rolle spielen, wenn ich mich verspätete, oder? Ezra würde es nie erfahren. Vermutlich. Und das war der Punkt.

Alles was ich glaubte zu wissen, stützte sich nur auf Vermutungen. Wer wusste schon, ob ich mit meiner Theorie überhaupt richtig lag? Möglicherweise war Vincent doch nicht der, für den ich ihn hielt.

Endlich schnaufend in der Buchhandlung angekommen, war es genau Punkt und ich zog im Vorbeirennen wahllos ein Buch mit einem beigen Einband aus einem der umher stehenden Bücherregale und bleib erst stehen, als ich den hintersten Teil der Buchhandlung erreicht hatte und eine weiße Tür vor mir sah. Ich holte einmal tief Luft, trat mit schnellen Schritten ein und setzte mich auf meinen Platz. Es war eins nach. Nahe genug dran.

„Aber hallo“, begrüßte mich Vincent sarkastisch. „Wir haben es ja eilig.“

„Hallo“, begrüßte ich ihn leise, legte meine Tasche ab und setzte mich ein wenig gemütlicher hin. Ich hatte allerdings nicht sonderlich viel Zeit und sollte in spätestens zehn Minuten wieder aufbrechen. Wenn ich zu lange fehlte, würde meine Abwesenheit daheim zu sehr auffallen.

„Bist du wegen mir so in Eile?“, fragte er spöttisch und hob eine seiner blonden Augenbrauen in die Höhe, aber er sah ein wenig so aus, als hoffte er es. Genau wie ich, trug er nicht mehr seine Schuluniform, sondern einen grünen Sweater. Ich unterdrückte ein Seufzten, als mir die Ähnlichkeit auffiel.

„Ja und nein“, gestand ich immer noch ein weniger außer Atem. „Und ich hab auch nicht sonderlich viel Zeit.“

„Warum sich dann die Mühe machen und überhaupt kommen?“, fragte er lauernd.

„Das frage ich mich langsam auch“, murmelte ich und senkte meinen Blick auf das Buch in meinen Händen. >>Der Schatten des Windes<< hieß es. Davon hatte ich noch nie etwas gehört. Es klang ein wenig kitschig, wenn man mich fragte. Sollte ich jemals ein Buch schreiben, - was ich aber stark bezweifelte, - würde ich bestimmt einen ansprechenderen Titel wählen. Dem Klappentext zu urteilen nach, schien die Geschichte aber trotzdem interessant zu sein.

„Bist du die Klassiker langsam leid?“, erkundigte er sich mit einem Blick auf das Buch in meinen Händen. Meine Antwort kam prompt.

„Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Und ich kann mir nicht vorstellen, es jemals zu werden. Aber es schadet auch nicht, gelegentlich ins Jetzt zurück zu kehren.“ Ein Blick fiel auf das Buch in seinen Händen; ich konnte den Titel nicht erkennen. „Und du?“, erkundigte ich mich. Er kniff ein wenig misstrauisch die Augen zusammen, bevor er langsam antwortete. Warum sah er mich immer so an?

„Ich lese alles“, erklärte er. „Solange es auch interessant genug ist.“ Das klang irgendwie merkwürdig. Wenn jemand wirklich alles las, dann war es Silvan; ich hatte mehrere Bücherstapel als Beweis zu Hause anzuführen. Aber einfach zu sagen, man las alles, solange es interessant war, hieße zu behaupten, alles andere, was man nicht las, wäre uninteressant, schlecht. Die Aussage gefiel mir nicht sonderlich und ich verzog ein wenig das Gesicht.

„Und wer bestimmt, welches Buch interessant genug ist, um von dir gelesen werden zu dürfen?“, erkundigte ich mich zweifeln von der Aussagekräftigkeit dieser Idee.

„Ich“, bestätigte Vincent wie selbstverständlich meine Theorie.

„Das dachte ich mir“, murmelte ich. „Dir ist aber schon klar, dass du damit niemals über den Tellerrand hinausblicken wirst, oder? Denkst du nicht, dass dir dabei eine Menge Epochen und Themengebiete verloren gehen?“, fragte ich ihn. „Oft sind es auch gerade die Bücher, die am Anfang ein wenig schwieriger zu lesen sind, als andere, die einen später in seinen Bann ziehen und uns unser ganzes Leben lang begleiten.“ Er schnaubte.

„Das ganze Leben begleiten?“, wiederholte er bissig meine Worte. „Wie alt bist du? Sechzehn, siebzehn? Was zum Teufel weißt du denn schon vom Leben, dass du glaubst mir Ratschläge erteilen zu können?“ Aufgebracht stand er auf und ging bedrohlich nahe auf mich zu. Ich wich ein wenig zurück, verkroch mich in der Rückenlehne der Couch.

„Ich-Ich wollte nicht…“, begann ich stotternd mich zu entschuldigen.

„Ja?“, fragte er gefährlich und lehnte sich zu mir herunter. „Was wolltest du nicht?“

„Dich belehren“, erklärte ich leise und versuchte noch weiter nach hinten zu rücken. „Es war bloß ein Ratschlag, - von einem Freund zum anderen.“ Urplötzlich veränderte sich sein Gesichtsausdruck und er wich ein wenig zurück, ließ mir mehr Freiraum.

„Von einem Freund zum anderen?“, murmelte er überrascht, und ich nutzte seine momentane Verwirrung, um mir meine Tasche zu schnappen und mich schleunigst an ihm vorbei zur Tür zu mogeln.

„Ich… muss jetzt wirklich gehen“, erklärte ich herzklopfend. Verwirrt, wie Vincent in diesem Augenblick war, vergaß er wohl zum ersten Mal mich zum Abschied bei meinem Vornamen zu nennen und ich konnte nicht sagen, ob mir diese Tatsache gefiel oder nicht.

Kapitel 12

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 4, Abschnitt 11

 

Einem Hunimal ist es verboten an einer Versammlung teilzunehmen, an der mehr Seinesgleichen als Menschen anwesend sind; jedweder Verstoß oder nicht sofortige Meldung wird streng gefahndet()…

 

 

Nach meiner Rückkehr sprach mich weder mein Dad, noch Silvan auf mein plötzliches Verschwinden an, - meiner kleinen Schwester Leonie und Paige schien mein Verschwinden nicht einmal wirklich aufgefallen zu sein.

Die nächste Zeit verging wie im Flug. Ich ging brav zur Schule, verließ nicht ein einziges Mal mehr mit Marcus die Seite der Menschen um zur >>anderen Seite<< zu gelangen und um nach Igor zu sehen, - vorwiegend, weil sich Ezra wirklich an sein Versprechen hielt. Ich sprach Silvan auch nicht mehr auf sein nächtliches Verschwinden, - welches mit der Kälte immer seltener zu werden schien, - oder die Tatsache, dass er als einziger in der Familie ein Mobiltelefon besaß, an, und ging auch sonst tüchtig meinen Pflichten nach.

Mein Vater hatte sich indessen bei seiner alten Freundin Eleanor Chain, - Silvans und meiner momentanen Direktorin, - gemeldet, und war bereits zwei Mal mit ihr ausgegangen. Ihm zufolge, verlief es relativ gut, und seine Ohren glühten jedes Mal, wenn er von ihr sprach. Es tat gut, ihn so glücklich zu sehen, auch wenn er weiterhin beteuerte, dass er und sie nur Freunde wären.

Mir war es egal, wie er es nannte, solange es ihn glücklich machte. Manchmal brach ich heimlich mit Silvan über die beiden, und er sah das ganz ähnlich.

Mit Hilfe von Silvan, Leonie und Paige erledigte ich außerdem den Haushalt und ging ab und zu mit meinen Freunden aus der Schule in die Stadt. Ich traf mich auch weiterhin zweimal in der Woche mit Vincent in jener Buchhandlung, und langsam schien sich sein harter, misstrauischer Blick in Vertrauen und beinahe echte Zuneigung zu verwandeln; er sprach mit mir ein wenig über sein Elternhaus, und dass auch er seine Mutter früh verloren hatte. Ich freute mich, dass unsere Gespräche jetzt viel entspannter waren, und mich sein Blick im Unterricht nicht mehr vor Angst frösteln ließ, aber gleichzeitig bekam ich große Angst davor, wie er reagieren würde, wenn er erfuhr, weshalb ich mich ihm angenähert hatte.

Er würde mich wieder hassen. Ich wusste, es war egoistisch, und es war falsch, aber ich hatte nicht die leiseste Absicht, ihn aufzuklären. Nicht, wenn ich damit durch kam.

Der Dezember kam schließlich ohne Vorwarnung, - und mit ihm die Adventzeit und der erste Schnee. Ich liebte diese Jahreszeit. Die Dächer waren weiß, als hätte sie jemand mit Puderzucker bestäubt und die Kälte lieferte mir eine passende Ausrede mich dichter an Silvan zu schmiegen, der das ganze Jahr über eine sehr warme, angenehme Körpertemperatur ausstrahlte. Außerdem lebten meine kleine Schwester und das Lemurenmädchen Zuhause richtig auf, und halfen mir beim Plätzchen backen und montieren der Weihnachtsdekoration, - genau wie Silvan. Und wenn er sich dann nach oben streckte, um die Lichterketten anzubringen und mit dem Rücken zu mir stand, hatte ich immer den besten Blick auf seinen verführerischen Körper und traute mich ihn ganz offen und ehrlich genauso anzusehen, wie ich es heimlich eigentlich schon das ganze Jahr über tat.

Schnee, Plätzchen, Geschenke und obendrein auch noch eine perfekte Aussicht auf Silvans anregende Gestalt. Ja, die Weihnachtszeit war eine schöne Zeit!

Neben all diesen wunderbaren Vorzügen, die man nur einmal im Jahr genießen durfte, hatten wir auch noch zwei Wochen Weihnachtsferien. In der Mitte dieser Ferien lag Silvester, - und dieses Jahr mein siebzehnter Geburtstag; ganz Recht, ich war ein Neujahrskind.

Ich kam gut eine Stunde nach Mitternacht des 31. Dezembers zur Welt und wurde mit tosendem Feuerwerk in diese Welt begrüßt. Dass der ganze Rubel nicht für mich veranstaltet wurde, erzählten mir meine Eltern erst, nachdem ich ein gewisses Alter erreicht hatte; ich war aber eigentlich nicht wirklich enttäuscht, - immerhin hatte ich geahnt, dass an der ganzen Sache ein Haken war. Denn was wäre an mir denn so besonders, dass eine ganze Nation einen Tag lang an mich dachte?

Zurück zur Gegenwart wurde es die Woche vor Weihnachten. Ich hatte meine Weihnachtseinkäufe eigentlich alle schon erledigt, erklärte mich aber trotzdem bereit, mit Beth einkaufen zu gehen, da sie nach eigenen Angaben vollkommen überlastet und verzweifelt war; sie hatte noch kein einziges Geschenk. Es war Montag und wir verabredeten, nach der Schule in das Einkaufszentrum zu gehen, - welches, wie sie mir Vincents Angabe bestätigte, wirklich seinem Vater gehörte, - und wenn wir dort nicht fündig würden, der Reihe nach die Geschäfte in der Stadt abzuklappern.

„Was meinst du“, fragte Beth mich skeptisch, und hielt mir eine Schneekugel mit kleinen Kindern, die einen Schneemann bauten, mitten vors Gesicht. „Ist das angemessen für eine Fünfjährige?“ Ich zögerte ein wenig bei meiner Antwort.

„Na, ja“, begann ich ebenso skeptisch dreinblickend wie sie. „Wie wär’s mit etwas weniger Zerbrechlichem?“, schlug ich lächelnd vor. Tief seufzend stellte sie die Schneekugel wieder an seinen Platz.

„Ich hasse Weihnachten“, erklärte sie deprimiert mit hängenden Schultern. Ich lachte.

„Also erstens glaube ich dir kein Wort, und zweitens pass lieber auf, dass dich der Weihnachtsmann das nicht sagen hört“, warnte ich sie.

„Ach, so ein Quatsch“, murmelte sie. Ich hielt sie sachte am Arm fest und mit überraschtem Gesichtsausdruck sah sie mich an.

„Nein, wirklich“, erklärte ich lachend. „Im Einkaufszentrum soll irgendwo ein Weihnachtsmann herumlaufen, und Süßigkeiten verteilen. Wenn du nicht brav bist, bekommst du keine“, erklärte ich und sie verdrehte ihre Augen.

„Ich nehme keine Süßigkeiten von Fremden“, erklärte sie grinsend, als ich sie wieder los ließ. „Sieh mal, das wäre doch etwas!“, meinte sie plötzlich begeistert und ging mit eiligen Schritten auf das Objekt ihres Begehrens zu. Seufzend folgte ich ihr; ich hatte diese Worte heute schon viel zu oft gehört. Während mich Beth von Geschäft zu Geschäft schleifte, auf der Suche nach dem perfekten Geschenk für jedes einzelne Mitglied ihrer Familie, - wobei mir unbegreiflich war, wie man so viele Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins haben konnte, ihre Verwandten schienen gute Arbeit geleistet zu haben, - hörte ich plötzlich, wie sie geschockt die Luft anhielt.

„Oh, mein Gott“, zischte sie panisch und zog mich grob mit ihr in die Hocke. Ihr Atem ging stoßweiße. „Bleib unten, nicht aufsehen“, befahl sie leise und ihr Gesicht nahm die Farbe von reifen Kirschen an.

„Wieso? Was ist los?“, erkundigte ich mich neugierig. „Wieso verstecken wir uns?“ Sie antwortete nicht, und ich folgte ihrem nervösen Blick aus dem Schaufenster. Auf den ersten Blick erkannte ich nichts Ungewöhnliches. Menschen gingen mit Einkaufstüten vorbei, unterhielten sich und spähten in die verschiedenen Geschäfte. Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, wieso… Oh, mein Gott.

Automatisch duckte ich mich noch ein wenig tiefer. Was tat er hier?

Dumme Frage, - abgesehen davon, dass heute Montag und damit unser üblicher Verabredungstag war, gehörte seinem Vater schließlich das ganze Einkaufszentrum.

Wäre ich allein hier, würde ich mich niemals vor ihm verstecken, - zumindest jetzt nicht mehr. Aber niemand wusste bis jetzt von meiner… meiner Freundschaft, - oder was auch immer es war, - mit Vincent. Und Beth hatte sich als Erste versteckt. Da fiel mir ein, dass er vermutliche der einzige war, dem ich kein Weihnachtsgeschenk besorgt hatte. Ich war nicht sicher, ob ich das überhaupt sollte. Aber dringender als die Antwort auf diese Frage, war eine andere.

Warum hatte Beth solche Angst, von Vincent entdeckt zu werden? Der Vincent, den sie kannte, würde sie, - wenn er sie überhaupt erkennen würde, - sowieso ignorieren. Wieso reagierte sie dann so panisch?

Mein Blick lag immer noch auf Vincent. Sein langer, schwarzer Wintermantel war offen und er stand vor dem Schaufenster des Ladens, in dem wir waren, und betrachtet emotionslos einen kleinen Gegenstand in seiner Hand. Mein Blick glitt zu Beth und ich sah, wie sie sich nervös auf die Lippe biss, und ihren hochroten Kopf nicht von dem Jungen vor dem Schaufenster abwandte, bis er schließlich aus unserem Blickfeld verschwunden war. Ihre Haltung entspannte sich sichtlich.

„Beth?“, fragte ich sie vorsichtig. Ein wenig erschrocken, als hätte sie vergessen, dass ich auch da war, erwiderte sie meinen Blick. „Wieso verstecken wir uns… vor einem unserer Mitschüler?“, fragte ich, und sie wandte das Gesicht verziehend ihren Blick ab.

„Das ist eine lange Geschichte“, antwortete sie ausweichend und erhob sich.

„Diese Art von Geschichten sind bekanntlich die Besten“, scherzte ich und tat es ihr gleich. „Wenn du willst, höre ich dir zu“, schlug ich ernster vor. Ich war durchaus neugierig, wollte mich aber nicht aufdrängen. Sie schüttelte dankbar den Kopf.

„Jetzt nicht“, erwiderte sie leise und lächelte leicht. „Aber vielleicht ein anderes Mal.“

„Jederzeit“, erklärte ich und erwiderte ihr Lächeln. Als sich wenig später unsere Wege trennten, kehrte Beth mit etlichen Einkaufstüten nach Hause zurück, und ich begab mich in das Literaturcafé im ersten Stock.

Es war erst halb sechs, demnach war ich etwas zu früh dran. Ich kaufte mir eine schöne Tasse warmen Kakao und setzte mich trotzdem schon mal an meinen üblichen Platz mit einem meiner Lieblingsbücher in der Hand. Vincent war ausnahmsweise einmal noch nicht da, und anstatt mich auf mein Buch zu konzentrieren, warf ich immer wieder einen verstohlenen Blick auf die Tür, und konnte nicht aufhören, über Vincents mögliche Verbindung mit Bethany nachzudenken. Aber so sehr ich mich auch anstrengte, ich kam einfach nicht darauf. Als Vincent endlich kam, - im schwarzen Mantel und Umhängetasche, ebenfalls mit einer Tasse in der Hand, - verwandelte sich mein angestrengt konzentrierter Gesichtsausdruck in ein aufrichtiges Lächeln.

Es war schwer zu sagen, wann ich begonnen hatte, Vincents Anwesenheit als angenehm zu empfinden. Es war immer noch ohne Zweifel schwierig zwischen uns, - wie zum Beispiel die Tatsache, dass er mir gegenüber ab und zu noch immer misstrauisch war, und sich akribisch weigerte mich Emma zu nennen, - aber etwas in der Art, wie er mit mir sprach und wie er mich anschaute, hatte sich so entschieden verändert, dass ich mich mittlerweile fast gerne mit ihm traf. Ihm schien es ähnlich zu gehen, denn er machte keinerlei Andeutungen mehr, dass das Einkaufzentrum groß genug für uns beide war, oder Vergleichbares. Trotzdem war es, wie gesagt, immer noch schwierig zwischen uns. Vor allem, weil er meist ganz bewusst Streit suchte.

„Hallo Emanuela“, begrüßte er mich, als er sich an seinen üblichen Sessel setzte. Mein Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse.

„Hallo Vincent“, gab ich ein wenig zerknirscht zur Antwort. Ich beließ es dabei, - zu oft hatte ich ihm bereits erklärt, er sollte mich so nicht nennen, - dass ich es mittlerweile aufgegeben hatte.

„Wie war dein Tag?“, fragte er beiläufig und nahm seine Tasse in seine Hände. Allem Anschein nach, war es wieder Tee. Ich seufzte.

„Kann nicht klagen“, erwiderte ich. „Er war ein wenig anstrengend, aber trotzdem lustig. Eine Freundin hat mich quer durch das ganze Einkaufszentrum geschleppt, auf der Suche nach den passenden Weihnachtsgeschenken“, erzählte ich und beobachtete bei meiner nächsten Aussage genau seine Reaktion. „Wer hätte gedacht, dass Beth einen so großen Familienstammbaum hat.“ Nichts. Keine Reaktion bei der Erwähnung ihres Namens. Vielleicht interpretierte ich zu viel in Beths Reaktion von vorhin hinein.

„Hm“, meinte er desinteressiert ohne mich anzusehen. „Und du hast nichts gefunden?“

„Doch“, gab ich ausweichend zu. „Das ein oder andere, was mir noch gefehlt hat. Aber ich war hauptsächlich da, um Beth bei der Auswahl zu helfen. Sie hatte bis vor ein paar Stunden noch überhaupt keine Geschenke.“ Kurz sah er mir in die Augen, interessiert, warum ich ihn so eingehend musterte. Ich seufzte leise, und beschloss ihn nicht weiter auszuhorchen. Seinem Blick zu Folge, klingelte es bei dem Namen >>Beth<< nicht sonderlich, was wohl so viel hieß wie, dass er ihr nicht mehr Aufmerksamkeit schenkte, wie allen anderen. Im Gegensatz zu Beth. Sie schien ihn nur zu bewusst wahrzunehmen.

„Gibt es einen bestimmten Grund, dass du mich so ansiehst?“, fragte er eindringlich. Seine Smaragd-grünen Augen blitzten interessiert. Ich erwiderte selbstbewusst seinen Blick.

„Möglich“, erwiderte ich wage. „Aber das mal beiseite…“ Ich biss mir auf die Lippe, und stellte dann eine andere Frage, als ich vorgehabt hatte. „Wie war dein Tag?“ Er zog ein wenig skeptisch eine seiner blonden Augenbrauen in die Höhe.

„Ich würde sagen, er wird langsam besser“, meinte er dezent lächelnd.

„Das ist schön zu hören. Freust du dich schon auf Weihnachten?“, fragte ich fröhlich und sein Lächeln verschwand wieder so schnell, wie es gekommen war.

„Nein“, betonte er hart, sah weg und schlug sein Buch auf. Überrascht davon, wie sehr er mich vor den Kopf gestoßen hatte, konnte ich zunächst nicht antworten. Ich räusperte mich leise.

„Wi-Wieso nicht?“, fragte ich zaghaft. Er antwortete nicht, starrte weiterhin stur auf sein Buch, und blätterte dabei einmal um. Ich ließ ein wenig traurig den Kopf hängen. „Ich liebe Weihnachten“, erklärte ich leise, mehr zu mir selbst als zu ihm. „Die vielen Menschen, die beschäftigt durch die verschneiten Straßen laufen, auf dem Weg um Geschenke für ihre Liebsten zu kaufen, oder auf dem Weg nach Hause zu ihrer Familie. Der Duft von frisch gebackenen Plätzchen und das aufgeregte, erwartungsvolle Strahlen in den Augen meiner kleinen Schwester und von Paige.“ Ich stoppte kurz. „Zwei Wochen Frieden und Freiheit, wo dir niemand sagt, was du zu tun hast oder nicht. Keine unnützen Regeln oder Vorschriften. Freiheit. Für mich ist das vermutlich die schönste Zeit des Jahres“, murmelte ich schließlich, nachdem ich immer leiser geworden war.

Da Vincent allem Anschein nach nicht vorhatte, unsere Konversation weiter zu führen, veränderte ich ein wenig meine Sitzposition und schlug ebenfalls mein Buch auf und versank in der Welt des 18. Jahrhunderts.

Als es langsam spät, meine Tasse leer und meine Augen müde wurden, beschloss ich aufzubrechen. Kaum machte ich Anstalten zu gehen, hatte ich plötzlich wieder seine volle Aufmerksamkeit. Doch bevor er etwas sagen konnte, hatte ich mich auch schon verabschiedet, sodass ihm nichts weiter übrig blieb, als es hinzunehmen.

„Komm gut nach Hause, Emanuela“, bemerkte er ein letztes Mal, und ich nickte und biss frustriert die Zähne aufeinander, während ich mich aus dem Zimmer begab.

Zuhause angekommen warteten schon zwei ungeduldige Vierzehnjährige auf mich, die mich mit Fragen löcherten, mit wem ich so lange einkaufen war, und was ich denn alles gekauft hätte, und wo, - und das noch ehe ich meine Jacke und Schuhe ausgezogen hatte. Sie fragten mich auch, ob ich einen besonderen Wunsch für Weihnachten hätte, und ich sagte ihnen, dass ich mit einer Kleinigkeit vollends zufrieden wäre und gab ihnen ein paar Beispiele; ich wollte nicht, dass sie sich ewig den Kopf darüber zerbrachen, was sie mir schenken sollten, zumal ich mich sowieso über alles freuen würde. Ich war froh, meine Geschenke schon alle gekauft zu haben. Naja, bis auf das von Silvan und Vincent.

Denn Silvans Geschenk war etwas Besonderes; es war als einziges Geschenk selbst gemacht und stellte ein Kohleportrait von ihm da, wie er gerade in eines seiner vielen Bücher vertieft war. Ich hatte längere Zeit daran gearbeitet, und obwohl ich immer noch nicht ganz zufrieden war, - und es auch bestimmt nicht mehr werden würde, - war es in meinen Augen abgeschlossen. Ob ich mich trauen würde, es ihm zu schenken, war allerdings eine andere Sache. Und Vincent…

Ich beschloss, ihm zumindest eine Kleinigkeit zu schenken. Sonntag war Weihnachten, was bedeutete, dass ich ihn Freitag das letzte Mal vorher sehen würde. Er hatte zwar zumindest angedeutet, er würde Weihnachten nicht sonderlich mögen, aber über Geschenke freute sich doch bekanntlich jeder, oder?

Kapitel 13

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 21, Abschnitt 5

 

Ein Hunimal hat kein Recht, den Wunsch seines Besitzers abzuschlagen, selbst dann nicht, wenn dieser ihm selbst Schaden zufügen sollte; einzige Ausnahmen stellen ein Verstoß der Menschenrechte oder der Verhaltensregeln zwischen Mensch und Hunimal nach Paragraf 2, Abschnitt 4 dar()…

 

 

Die letzten Schultage vor den zweiwöchigen Weihnachtsferien hätten nicht besser sein können, - im Unterricht standen Filme auf dem täglichen Programm, und sobald Marcus, Vivien, Beth, Thomas und ich das Schulgebäude verließen, stand eine Schneeballschlacht oder der Bau eines Iglus beinahe an der Tagesordnung, - bis die letzte Unterrichtsstunde schlussendlich vorbei war.

Ich hatte jedem sein Geschenk, einen individuellen Christbaumanhänger, bereits in der großen Pause gegeben und dabei von Vivien ebenfalls einen Anhänger, - allerdings in der Form eines Engels, - eine kleine Spieluhr von Marcus, eine kleine Tafel Schokolade von Thomas und eine feste Umarmung von Beth bekommen, die vor Freude und der Tatsache, dass sie für uns kein einziges Geschenk hatte, zum Weinen begonnen hatte und nicht aufhören hatte können, sich gleichzeitig zu bedanken und zu entschuldigen; es war wirklich süß.

Aus der Ferne entdeckte ich Vincents gespielt teilnahmslosen Blick, und ich war froh, auch für ihn etwas besorgt zu haben.

Als ich mich wenig später auf dem Weg zum Parkplatz machte, begann es zum zweiten Mal in diesem Winter zu schneien, und überglücklich lief ich die letzten Meter auf Silvan zu, der mir jetzt seinerseits entgegen ging.

„Silvan!“, rief ich aufgeregt, und ignorierte dabei die missbilligenden Gesichter um mich herum. „Es schneit, es schneit!“, verkündete ich voller Freude. Die Tatsache, dass zwar bereits etliches an Schnee auf dem Boden lag, dämpfte meine Freude nicht ein bisschen. Immerhin hatte es erst einmal wirklich geschneit dieses Jahr und wenn heute wieder Schnee fiel, bedeutete das, dass es weiße Weihnachten geben würde. Niemals würde der Schnee innerhalb von zwei Tagen komplett wegschmelzen.

Vor lauter Aufregung machte ich leider den Fehler, nicht sonderlich gut auf meine Beine zu achten, und ich spürte, wie mir der Boden unter den Füßen drohte zu entgleiten. Ich war so überrascht, dass mir der Schrei, den ich auf den Lippen hatte, im Hals stecken blieb. Doch noch ehe ich unsanft auf dem kalten Boden aufkommen konnte, hatten sich zwei starke Arme bereits um mich geschlungen und drückten mich bestimmt an sich. Immer noch sprachlos vor Überraschung sah ich zu Silvan auf.

Sein Gesicht lag nur wenige Zentimeter über meinem und in seinen schwarz-weißen Haaren zeichneten sich die ersten Schneeflocken ab. Die Nähe und die Wärme, die er ausstrahlte, waren mir nur zu sehr bewusst.

„Vielleicht solltest du dir von jetzt an abgewöhnen, immer überallhin zu rennen“, schlug er locker vor. „Zumindest, solange Winter ist und die Möglichkeit von Eisplatten besteht“, fügte er hinzu und lächelte umwerfend, - zumindest aus meiner Perspektive, und die war äußerst gut, fand ich. Als ich mich langsam aus meiner Starre löste, ließ er mich vorsichtig los und stellte mich auf Armeslänge vor sich, die Hände immer noch an meinen Schultern, um mich zu stützen; ich musste allem Anschein nach geschockter aussehen, als ich gedacht hatte.

„Alles in Ordnung, Emma?“, fragte er mich leise. Sein besorgter Tonfall ließ mich sofort wieder aus meiner Starre auftauen.

„Natürlich“, erklärte ich jetzt wieder kraftvoll und lachte. „Immerhin schneit es“, erklärte ich mehr als zufrieden und er ließ meine Schultern los. Bei der Entziehung seiner warmen Hände unterdrückte ich ein Frösteln.

„Das sagtest du bereits“, erinnerte er mich lächelnd.

„Na, und?“, konterte ich. „Meiner Meinung nach, kann man das nicht oft genug sagen. Let it snow, let it snow, let it snow!“, sang ich zum Schluss und er lachte wieder.

„Komm, lass uns nach Hause gehen, bevor die Straßen zugeschneit sind“, scherzte er und zupfte kurz an meinem Ärmel herum, bevor er sich in Bewegung setzte.

„Das ist durchaus im Bereich des Möglichen“, klärte ich ihn lächelnd auf und diesmal lachte er sogar noch lauter, weil mein Ton so ernst klang. Ich konnte nicht verhindern, dass sich meine Wangen rosa färbten; ein Zustand, den man auch der Kälte zuordnen konnte, - ein weitere Grund dafür, dass ich den Winter liebte.

„Silvan“, fragte ich ihn beiläufig, als wir schon einige Schritte gegangen waren, und das Schulgebäude lange hinter uns gelassen hatten. Er hatte seine Hände in seinen Jackentaschen vergraben und ging im gemächlichen Tempo voraus. Ich tat es ihm gleich und starrte dabei gedankenverloren auf den Gehweg.

„Hm?“, antwortete er in demselben, gelassenen Tonfall. Ich nahm meine mittlerweile warmen Hände aus meinen Jackentaschen und hakte mich bei ihm unter. Er reagierte überhaupt nicht, und ging einfach cool weiter, während ich mich an ihn lehnte und meinen Kopf glücklich auf seiner Schulter abstützte. „Nichts. Ich habe mich nur gefragt, ob du… hier sein wirst, die nächsten Tage, - oder doch wohl eher Nächte“, erzählte ich leise. Er antwortete länger nicht. Schließlich strich er mir zärtlich übers Haar und lachte leise.

„Ich denke schon“, meinte er sanft und zog seine Hand zurück. „Wir werden sehen.“ Obwohl seine Antwort eher wage ausfiel, merkte man Silvan seine Zuversicht doch deutlich an, - und damit war die Frage für mich erledigt.

Zuhause angekommen, stürmten sofort meine kleine Schwester und Paige auf mich zu und überredeten mich, noch weitere Weihnachtskekse mit ihnen zu backen, - diesmal sollten es aber ausgefallenere werden. Wir suchten in verschiedenen Kochbüchern und im Internet nach Rezepten, - und die beiden waren angeregt am feilschten, welche Mehlspeisen eher ausschieden und auf welche sie auf keinen Fall verzichten wollten. Auch Silvan beteiligte sich dabei ab und an der Diskussion. Meist, um Kompromisse vorzuschlagen, und ein Mal, um selbst scherzhaft einen Vorschlag einzubringen, - welchen ich mir klamm heimlich im Hinterkopf behielt, während die zwei anderen weiter stritten.

Ich wusste, dass Silvan nicht so gerne süße Sachen aß, und sein Wunsch, welchen er zwar nur im Scherz geäußert hatte, war vermutlich die am wenigsten gezuckerte Süßspeise, die ich kannte. Wir schrieben einen langen Einkaufszettel, welcher meinen späteren Gang in die Stadt rechtfertigte.

Obwohl die Geschäfte Rund um die Uhr geöffnet waren, beschloss ich die Einkäufe noch vor meinem Abstecher ins Literaturcafé zu erledigen. Als ich mich dann, - zugegeben etwas gestresst, da ich wesentlich länger an der Kassa anstehen musste, als ich gedacht hatte, - ächzend und mit vollen Einkaufstüten gegenüber von Vincent auf das Sofa schmiss, erntete ich einen überrascht-skeptischen Blick von dem Blondschopf.

„Hi“, begrüßte er mich langsam, das Wort in die Länge ziehend. „Die letzten Weihnachtseinkäufe erledigen?“

„Sieht ganz danach aus, ja“, erwiderte ich erschöpft meine Augen schließend, und genoss es, endlich wieder zu sitzen; um die Weihnachtszeit herum, waren die Leute auf den Straßen und in den Geschäften meist noch fahriger und gestresster unterwegs, als sonst.

„Und du behauptest immer noch, dass dir dieser ganze Trubel gefällt?“, bemerkte er ein wenig abfällig. Ich öffnete meine Augen und sah ihn an.

„Natürlich“, kam es wie aus der Pistole geschossen aus meinem Mund. „Ich liebe Weihnachten.“ Meine Wangen färbten sich rosa und ich sah peinlich berührt weg; ich hörte mich an, wie eine Vierjährige. Wenigstens lachte er mich nicht wieder aus.

„Hm“, war alles, was er dazu sagte. Wir unterhielten uns noch ungefähr eine Stunde, wobei ich den wesentlichen Teil unsere Kommunikation übernahm, mit ein paar, - wie ich mittlerweile wusste, - scherzhaft gemeinten Kommentaren seinerseits. Als ich gerade aufbrechen wollte, fiel mir gerade ein, dass ich ihm noch gar nicht sein Geschenk gegeben hatte.

„Hier“, erklärte ich, und hielt ihm ein kleines, blaues Päckchen mit goldenen Sternen hin. „Frohe Weihnachten, Vincent“, wünschte ich ihm lächelnd, - und ich meinte es aufrichtig. Längere Zeit rührte er sich überhaupt nicht, und ließ mich ganz schön blöd aus der Wäsche stehen. Mein Lächeln wurde schließlich immer nervöser, bis er sich endlich entschied, seine Hand auszustrecken und das kleine Päckchen entgegen zu nehmen. Ich unterdrückte ein erleichtertes Seufzen. „Es ist nur eine Kleinigkeit“, entschuldigte ich mich, während seine Finger sich geschickt daran machten, das blaue Papier zu entfernen. „Ich weiß ja, dass du keine sonderlich schönen Gefühle mit Weihnachten verbindest“, fügte ich hinzu. Mit starrem Blick und ohne zu erkennen, um was für einen Gegenstand es sich handelte, drehte er ihn in seiner Hand. „Es sind zwei Taschenwärmer. Ohne Weihnachtsmotiv, keine Sorge“, hörte ich mich scherzhaft sagen, als ich nach meinen Einkaufstüten griff. „Es war gar nicht so leicht, solche zu finden.“ In den Geschäften wimmelte es nur so von Taschenwärmer in Sternform, oder bedruckt mit Schneemännern oder Rentieren. „Bis nächste Woche“, verabschiedete ich mich, und wie vom Blitz getroffen erhob er sich.

„Wartest du denn gar nicht auf dein Geschenk?“, entfuhr es ihm und erstaunt drehte ich mich wieder zu ihm um.

Hast du denn ein Geschenk für mich?“, fragte ich überrascht. Er schwieg.

„Vincent, es ist doch nur eine Kleinigkeit“, erklärte ich sanft lächelnd. „Ich habe es gesehen, und gedacht, ich könnte dir damit eine kleine Freude machen. Mehr nicht“, versicherte ich ihm. „Du brauchst mir im Gegenzug wirklich nichts zu schenken. Ich mache mich dann mal wieder auf den Weg“, verkündete ich.

„Bis bald, Emanuela.“ Sein Tonfall war unergründlich; ich hatte ihm mit meinem Geschenk allem Anschein nach wirklich überrascht. Wieder Zuhause, stellte ich als allererstes einmal die eingekauften Zutaten entweder auf die Küchenablage oder wenn nötig, in den Kühlschrank. Die Mehlspeisen mussten bis morgen warten.

In dieser Nacht brachte ich kaum ein Auge zu. Immerzu schweiften meine Gedanken zu Silvan, und es kostete mich beinahe übermenschliche Kraft, nicht die Augen zu öffnen, mich aufzusetzen und ihn anzustarren. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich seinen Atemzügen mehr Aufmerksamkeit schenkte, als meinen eigenen, bis ich schließlich doch endlich erschöpft in einen traumlosen Schlaf fiel.

Den nächsten Tag verbrachte ich im Kreise meiner Familie mit Mehlspeisen-backen, und Christbaum schmücken. Es hatte die Nacht über durch geschneit und zwischenzeitlich schneite es auch jetzt noch vereinzelt, weshalb wir nicht widerstehen konnten, und einen Schneemann und eine Schneefrau im Garten bauten.

Am Abend spielten wir Brettspiele, - was umso amüsanter wurde, desto mehr Eierpunsch wir konsumierten. Als es spät wurde, beschlossen die anderen schlafen zu gehen. Einzig Silvan und ich blieben allein im Wohnzimmer zurück, und ich erhob mich umständlich und zog ihn wortlos mit mir am Arm zur Couch, wo er gemütlich niedersank, und ich mich direkt neben ihn hinplumpsen ließ. Im Fernsehen lief die Wiederholung von >>Das Wunder von Manhattan<<, einer meiner liebsten Weihnachtsfilme, wegen seinem weihnachtlichen Zauber und der Schauspielerin, die auch das Mädchen in >>Matilda<< spielte. Ich rückte näher an Silvan ran und genoss seine Wärme, bis ich irgendwann einschlief.

Am nächsten Morgen erwachte ich in meinem Bett. Einen kurzen Moment lang orientierungslos, kam ich zu dem Schluss, dass mich Silvan wohl oder übel ins Bett getragen haben musste. Peinlich berührt steckte ich meinen Kopf unter mein Kissen und unterdrückte ein frustriertes Brummen, welches mir nur noch mehr Grund zum Verstecken gegeben hätte, wäre Silvan anwesend gewesen. Als ich kurze Zeit später aufstand, mich duschte und anzog, war es bereits Mittag.

Ich traf stundenlang die letzten Vorbereitungen für das große, jährliche Weihnachtsessen, und teilte meine kleine Schwester, sowie Paige zu allerlei kleinen Arbeiten ein, während Silvan meinem Vater in dessen Werkstatt zur Hand ging bei Arbeiten, die meinem Vater mit seinem abgetrennten Bein schwer fielen. Als ich schließlich mit allem fertig war, stellte ich mich noch einmal unter die Dusche, wusch und föhnte mir meine Haare, trug behutsam etwas Make-up auf und holte mein bestes Kleid zum Vorschein. Zumindest einmal im Jahr durfte man sich richtig schick machen, fand ich. Anschließend ging ich die Treppe herunter.

Das Licht war aus, und die einzigen Beleuchtungen waren Kerzen, die überall herum, - auf dem Treppengeländer, den Regalen, dem Esstisch, und dem Weihnachtsbaum- verteilt waren. Silvan stand mit erhobenem Arm vor dem Christbaum und hatte gerade die letzte Kerze angezündet, als ich am unteren Treppenabsatz ankam.

Seine muskulöse Gestalt wurde nur noch mehr von einem schwarzen Anzug betont, seine schwarz-weißen Haare fielen ihm verführerisch ins Gesicht und seine hellblauen Augen blitzten gefährlich im Schein der Kerzen. Krawatte trug er keine, und die ersten Knöpfe seines weißen Hemdes hatte er leger geöffnet, zeigten ein wenig von seiner einladenden Haut. Ich hatte immer gedacht, dass Silvan Anzüge hasste, aber wenn er manchmal doch einen anhatte, haute es mich fast um. Meine Lippen zitterten leicht und ich schluckte.

„Du siehst sehr hübsch aus“, sagte er und sah mich an. Allein der Klang seiner Stimme ließ meine Knie weich werden. Ich hatte ihn noch nie so sehr gewollt; seine rauchige Stimme, sein faszinierender Verstand, sein warmes Herz, seine fesselnden Augen, sein verführerischer Mund. Ich wollte es alles und noch mehr.

„Danke“, antwortete ich mit trockenem Hals. „Du siehst auch sehr gut aus“, brachte ich gerade noch über die Lippen. Die Untertreibung des Jahrhunderts. Er zeigte ein umwerfendes Lächeln. Meine Schwester Leonie rettete mich, indem sie hinter Silvan zum Vorschein kam und meine ganze restliche Familie im Schlepptau hatte. Mit klopfendem Herzen und gesenktem Blick setzte ich mich an den Tisch.

Das restliche Abendessen und die anschließende Bescherung vergingen wie im Traum und vergeblich versuchte ich mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, aber alles woran ich denken konnte, war Silvan.

Als er mein Geschenk an ihn entgegennahm und betrachtete, ließ mich der Ausdruck in seinen eisblauen Augen nach Luft schnappen, und verursachte ein Kribbeln in meinem ganzen Körper. Ich wandte schnell den Blick ab und konzentrierte mich angestrengt, - was mir allerdings nicht sonderlich schwer fiel, da ich wirklich neugierig war, - meinerseits auf sein Geschenk an mich. Es war unförmig verpackt, und ließ nicht viel Aufschluss auf den Inhalt. Mit zitternden Fingern öffnete ich es. Zum Vorschein kam ein moosgrüner Schal; genau meine Augenfarbe. Zärtlich strich ich darüber, sah mir genau das Muster und den Stoff an, bevor ich schließlich Silvans Blick, der die ganze Zeit auf mir geruht hatte, erwiderte.

„Vielen Dank“, erklärte ich leise und er nickte nur stumm. Der Ausdruck in seinen Augen ließ mich wieder den Blick abwenden. Lächelnd tasteten meine Finger die ganze restliche Zeit über den angenehmen, grünen Stoff auf meinem Schoß, bis Leonie und Paige mit ihren Geschenken im Arm auf ihr Zimmer spazierten und mein Vater verkündete, er würde sich nun seinerseits auch in seine Werkstatt zurück ziehen. Silvan und ich trugen schweigend das Geschirr vom Tisch und brachten alles in die Küche. Wir machten uns aber nicht die Mühe, es abzuwaschen, - immerhin war heute Weihnachten.

„Was hältst du von einem Film?“, wollte er wissen. Ich nickte zustimmend.

„Vielleicht >>Der kleine Lord<<?“, schlug ich lächelnd vor.

„Ich bin gleich wieder da“, erwiderte er, und machte sich auf den Weg in unser Zimmer, um die DVD zu holen. Einem plötzlichen Impuls nachgehend, folgte ich ihm. Er zog gerade an der obersten Schublade des Kästchens, in welchem wir unsere Filme verstauten, als ich einfach so zur Tür rein kam. Überrascht sah er mich an; nicht, weil er mich nicht kommen gehört hatte, sondern weil er sich wunderte, was ich hier machte.

Mein Herz klopfte wie wild gegen meine Brust und tosendes Adrenalin rauschte durch meinen Körper. Ich fixierte ihn mit meinen Augen und konnte die Worte nicht länger zurück halten. Sie brannten in meinem ganzen Körper, und schienen mich mit jedem weiteren unausgesprochenen Moment förmlich aufzufressen.

„Silvan“, stieß ich feurig seinen Namen aus. „Ich liebe dich“, gestand ich ihm nicht zum ersten Mal, aber diesmal um einiges leidenschaftlicher. „Und damit meine ich nicht so, wie ich Dad liebe, oder Leonie oder Paige…“, beeilte ich mich stürmisch klarzustellen und ging dabei unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu. „Silvan, ich liebe dich wie… eine Frau einen Mann liebt. Ich liebe dich und ich will dich. Und das mehr als alles andere auf dieser Welt“, erklärte ich entschlossen, und ein Teil von mir fragte sich ernsthaft, woher verdammt noch einmal ich den Mut für all das aufbrachte. „Wie empfindest du?“, fragte ich mit klopfendem Herzen und leichtem Zittern in der Stimme.

Silvans Gesichtsausdruck veränderte sich von überrascht, zu undefinierbar, bis hin zu sanft. Seine Augen durchlebten den Wandel mit, und schienen im ersten Moment ein faszinierendes Silber anzunehmen, dass in mir das Bedürfnis wieder zum Vorschein holte, ihn küssen zu wollen, aber auf den zweiten Blick erkannte ich, dass sie grau waren. Grau und voller Sanftmut, - und nicht voller sprühender Freude oder Flammen, wie ich eigentlich gehofft hatte. Ich spürte, wie etwas in mir drin zerbrach.

„Emanuela“, sprach er kontrolliert meinen Namen aus, und der Blick in seine sanften Augen war kaum zu ertragen. „Du weißt, dass ich dich auch liebe“, begann er langsam und konzentriert. Das Brennen, das eben noch durch meinen ganzen Körper geflossen war, sammelte sich, und wütete nun mit geballter Kraft in meiner linken Brust. Ich konnte spüren, wie ich ununterbrochen den Kopf schüttelte, ohne dass ich es verhindern konnte; mir war klar, was kommen würde, und mit einem Male wollte ich es gar nicht mehr hören. Das Brennen wurde immer stärker, schnitt mir die Luft ab, hinderte mich am atmen. „Aber ich möchte nicht mit dir auf diese Weise zusammen sein“, stellte er viel zu beherrscht seinen Standpunkt klar, und ich biss mir bei dem Versuch mich zusammen zu reißen, fest auf die Lippen. Ich zitterte am ganzen Körper und heiße Tränen fanden ihren Weg über meine Wangen, wollten gar nicht mehr aufhören, ohne dass ich irgendetwas dagegen tun konnte. Er öffnete die Lippen, um noch mehr zu sagen, aber ich fiel ihm ins Wort, noch ehe er einen Ton sagen konnte.

„Glaubst du…“, begann ich erstickt, aber meine Stimme brach. Ich versuchte es erneut. „Gibt es vielleicht…“, wollte ich meine Frage anders ausdrücken, musste aber wieder abbrechen. Ich atmete einmal tief durch und riss mich ein letztes Mal zusammen. „Besteht auch nur… die geringste Möglichkeit, dass sich deine Gefühle im… im Bezug auf mich verändern werden?“, wollte ich unbedingt wissen und konnte es nicht lassen, ihm dabei direkt in seine hellgrauen Augen zu sehen, die mir in diesem Moment so wunderschön vorkamen, dass es nur noch mehr schmerzte.

Er schien zerrissen; etwas an seinem Gesichtsausdruck und dem Ausdruck seiner Augen stimmte nicht. Aber vielleicht redete ich mir das auch nur ein, weil ich die Wahrheit nicht akzeptieren wollte.

„Nein“, hörte ich ihn sagen, und mein letztes Stück an Hoffnung ging elend zu Bruch, - und mit ihm meine kurze, wiedergewonnene Selbstbeherrschung; mir entfuhr ein lautes Schluchzen und die heißen Tränen auf meinem Gesicht versperrten mir die Sicht. „Meine Gefühle für dich werden sich niemals ändern“, erklärte er schließlich und wollte auf mich zugehen, aber ich hob abwehrend eine Hand, - während die andere auf meiner Brust lag, und mir dabei half, nicht vollends zu ersticken, - und machte ein, zwei Schritte zurück. Immer noch zitterte ich am ganzen Körper.

„Dann… wäre das ja geklärt“, beendete ich das Gespräch und meine Stimme war mir selbst fremd. Eiligst flüchtete ich aus dem Zimmer und lief ins angrenzende Bad und verriegelt die Tür hinter mir. Trotz zitternden Händen und verschleierter Sicht, schaffte ich es noch, das Wasser in der Duschkabine anzustellen, bevor ich schließlich kraftlos auf den Boden sank und einfach nur weinte und weinte, ohne Rücksicht darauf, dass ich dabei Unmengen an Wasser verschwendete und mir mein einziges, wirklich schönes Kleid ruinierte.

Kapitel 14

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 11, Abschnitt 2

 

Ein Hunimal, welcher den (respektlosen) Augenkontakt mit einem Menschen ohne dessen Erlaubnis aufnimmt, verschlimmert seine Tat nur noch, wenn er sie abstreitet; es steht dem Beleidigten frei, bei dessen Besitzer eine für die Tat angemessene Bestrafung auszuhandeln und diese in Anwesenheit seines Besitzers selbst durchzuführen()…

 

 

Jene Nacht wurde zu einer der schlimmsten Nächte, die ich je erlebt hatte. Einzig vergleichbar mit den Nächten nach dem Tod meiner Mutter, und übertroffen von den Nächten nach dem Ableben meiner Großmutter und Namensgeberin. Aber dort hatte ich wenigstens jemanden, an dem ich mich festklammern konnte, jemanden mit dem ich weinen und trauern konnte. In dieser Nacht war ich allein. Das einzige, was ansatzweise einer Art von Trost nachkam, war das stete, warme Wasser auf meiner Haut.

Ich wollte an absolut nichts mehr denken. Die Erinnerung benebelte meine Sinne und jede Faser meines Körpers schrie vor Schmerzen laut auf, ließ mich taub und doch so verletzt und allein wie noch nie zurück.

Als ich es in den frühen Morgenstunden endlich aus der Dusche und aus dem Badezimmer schaffte, war ich mehr als froh, Silvan nicht in unserem gemeinsamen Zimmer vorzufinden. Erschöpf ließ ich mich auf meinem Bett nieder, zog die Decke über meinen Kopf, und versteckte mich vor der Welt. Ein Teil von mir wusste, dass es irgendwann wieder aufwärts gehen würde, aber der weitaus größere Teil in mir hielt sich stur seine Ohren zu und wiederholte unaufhörlich, dass es sich aber nicht so anfühlte. Es war derselbe Teil, der sich wünschte, es würde alles einfach nur zu Ende gehen.

Ich konnte nicht sagen, wie viel Zeit ich im Bett verbrachte. Mein Schlaf wurde immer wieder von Unruhe geprägt und lies mich unsanft aufwachen, sodass ich bald jegliche Art von Zeitgefühl verlor.

Man hätte meinen können, meine Schwester würde irgendwann in mein Zimmer kommen und nach mir sehen, - oder wenigstens, um mich aus dem Bett zu werfen, um Mittagessen zu kochen, weil sie Hunger hatte, - aber nichts dergleichen geschah. Niemand kam. Nicht einmal Silvan. Und darüber war ich mehr als froh. Irgendwann stand ich aber doch auf, legte eine andere CD in die Stereoanlage und drückte auf Play, nur um mich dann wieder unter meine Bettdecke zu verkriechen.

Es war Montag, der 25. Dezember und ich würde das Haus heute nicht mehr verlassen. Ich konnte einfach nicht. Das würde das erste Mal sein, dass ich Vincent versetzte. Aber ich konnte mich ohnehin nicht mehr schlechter fühlen, als jetzt. Die paar Schuldgefühle verkraftete ich auch noch. Zumindest dachte ich das.

Ich erwischte mich dabei, wie meine Gedanken immer wieder zu Vincent und der Frage, was wohl geschehen würde, wenn ich ihn wirklich versetzte, wanderten. Würde Ezra seine Drohung wahrmachen? Würde Igor verletzt werden? Und könnte ich Marcus dann je wieder in die Augen schauen? Vielleicht war es ja noch nicht zu spät…

Mit wesentlich mehr Schwung, als ich dachte zu besitzen, sprang ich aus dem Bett, überprüfte die kleine Uhr auf meinem Nachttisch, stellte fest, dass es nach dreiviertel war und zog mich in Windeseile an, bevor ich hinunter stürmte, einen Zettel auf den Esstisch knallte, darauf schrieb, dass ich noch einmal kurz in die Stadt fuhr, mir Jacke und Stiefel schnappte und in die Kälte hinauseilte.

Ich lief so schnell, wie es mir der rutschige Boden unter meinen Füßen erlaubte, und fühlte mich das erste Mal seit Stunden wieder lebendig.

Körperlich am Ende, aber emotional wesentlich stabiler als vorher, stieg ich in den 23-er und ignorierte die vielen Gesichter, die mich entweder anstarrten oder peinlich berührt den Blick abwandten, einfach. Als ich einen Sitzplatz fand und aus dem Fenster sah, erblickte ich mein Spiegelbild, und musste unwillkürlich lachen. Es war ein schrilles, hysterisches Lachen.

Ich sah vollkommen fertig aus; meine hellbraunen Haare standen in alle Richtungen ab, meine Augen lagen tief in ihren Höhlen und waren glasig rot und geschwollen, meine Haut war weißer als Schnee, meine Wangen trugen eine ungesunde rote Farbe und ich zitterte wie Espenlaub. Ich sah aus, wie eine Hexe, - und ich lachte auch genauso. Jetzt verstand ich die Reaktion der anderen.

Ich lachte noch eine Weile, wurde dann immer leiser und lehnte mich kraftlos zurück in den Sitz. Meine Augen schlossen sich wie von selbst, und bis ich schlussendlich aussteigen musste, kreuzte nicht ein Gedanke meinen mittlerweile müden Geist.

Er war noch da, als ich ankam, sah aber nicht auf, als ich einfach an ihm vorbeiging und mich auf das Sofa setzte. Ich zog meine Knie an und schlang meine Arme um sie, bevor ich einfach die Augen schloss und alles um mich herum ausblendete.

Es tat erstaunlich gut, aus dem Haus zu sein, hier, bei Vincent, wo mich nichts an ihn erinnerte. Mit Vincent zusammen zu sein, konnte manchmal erstaunlich einfach sein. Wenn man nicht reden wollte, tat man es nicht. Auch jetzt sagte er kein Wort, und ließ mich in Ruhe rasten. Ich sollte mich fragen, ob er wütend auf mich war, weil ich viel zu spät gekommen war, aber eigentlich war es mir egal. So wie vieles mir momentan egal war.

Gefühlte zwanzig Minuten saß ich da, als ich plötzlich hörte, wie er sich aus seiner Starre löste, aufstand und einige Schritte machte. Ich machte mir aber nicht einmal die Mühe, meine Augen zu öffnen und saß einfach weiter so da.

„Ich geh dann mal“, teilte er mir monoton mit, und ich konnte nur leicht nicken, und darauf warten, dass seine Schritte im Gang verklangen. Kurz war es ruhig; er schien zu zögern. Ein leises Rascheln und fünf energische Schritte später lag der Raum dann aber doch in vollkommener Stille. Die Leere und Unsicherheit die seine Abwesenheit hinterließ, brachte mich dazu, meine brennenden Augen seufzend zu öffnen. Der Druck in meiner Brust kehrte zurück und mein Seufzen wandelte sich in ein Schluchzen, dass ich versuchte zu dämpfen, indem ich meinen Kopf in meinen Knien vergrub, die Tränen aber nicht mehr länger zurück halten konnte.

Wie lange würde ich mich noch so fühlen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich jemals >>darüber hinwegkommen<< würde. Denn das würde bedeuten, dass ich meine Liebe zu Silvan aufgeben müsste, - und das konnte ich nicht, würde ich nie können. Wollte ich auch gar nicht. Selbst jetzt, wo es mir die Luft zum Atmen nahm, mich von Innen aus auffraß, zerstörte, konnte ich mir nicht einmal vorstellen, ihn nicht zu lieben. Er war mein Silvan, würde er immer bleiben. Ich musste nur einen Weg finden, mit der neuen Situation klar zu kommen. Wenn ich zu lange brauchte, würde unsere Beziehung vielleicht nie wieder so werden, wie sie früher war. Ich musste mich zusammenreißen. Es war ja erbärmlich, wie ich mich aufführte. Meine Familie würde sich Sorgen machen meinetwegen.

Ich war selbstsüchtig genug, ihm meine Gefühle zu beichten, - obwohl ich wusste, wie schlecht meine Chancen standen, - da musste ich es auch aushalten zu hören, wie seine Gefühle aussahen. Die ganze Lage war meine Schuld, aber…

Warum, warum liebte er mich nicht? Warum konnte er mich nicht auch so lieben, wie ich ihn? Wie ich ihn immer schon geliebt hatte? Wie ich manchmal dachte, dass er mich liebte?

Wieder Zuhause, war es wesentlich später, als ich angenommen hatte. Kaum, dass ich meine Schuhe und Jacke ausgezogen hatte, entdeckte ich meinen Vater am Esstisch. Sein Gesichtsausdruck war angespannt, und in seiner linken Hand lag ein Glas, - wahrscheinlich gefüllt mit Rotwein.

„Emma“, sagte er bedächtig und ich zuckte zusammen. Ich fixierte den Boden, als ich mit hängendem Kopf näher trat. „Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht“, erklärte er sich mit der rechten Hand in den Nasenrücken zwickend. Auf einmal kam er mir vor, wie ein alter Mann. „Silvan meinte, du seist krank“, fuhr er fort und die Erwähnung seines Namens schnitt mir durch Mark und Bein. „Aber dann hinterlässt du plötzlich einen Zettel, auf dem nur stand, du müsstest kurz weg. Dass ist jetzt Stunden her“, stellte er fest. Ich ließ den Kopf noch ein wenig tiefer hängen. „Wo warst du?“, wiederholte er seine Frage.

„Draußen“, erklärte ich mit leiser, rauer Stimme; ich hatte in letzter Zeit so viel geweint, dass mir jedes Wort schmerzhaft in die Kehle schnitt. „In der Stadt. In einem Café“, fügte ich leise hinzu.

„Du siehst furchtbar aus“, bemerkte er plötzlich erschrocken. „Am besten legst du dich gleich wieder hin, und wickelst dich in mehrere Decken ein.“ Der Schrecken und die Sorge in seiner Stimme waren unüberhörbar. „Ich bringe dir dann einen Tee hinauf“, meinte er und stand auf, um mich Richtung Treppe zu dirigieren. „Hast du Fieber auch? Und hast du schon Tabletten genommen?“

„Ich…“, begann ich und hob abwehrend meine Hände. „Nein, ich… habe noch keine Tabletten genommen. Ich muss mich nur eine Zeit lang hinlegen, dann…“ An der Treppe angekommen, löste ich mich ein wenig von ihm. Mein Vater hatte so schon Probleme mit nur einem Bein und Krücken die Treppe hoch zu schaffen, da konnte ich ihm nicht auch noch mir dabei helfen lassen. Ich war ja nicht sterbenskrank.

„In Ordnung“, antwortete er zwar ergeben, aber alles andere als überzeugt. „Hast du vielleicht hunger? Willst du was essen?“, erkundigte er sich wieder.

„Nein, aber danke, Dad “, bemerkte ich ehrlich und schlich mit müden Knien die Treppe nach oben. „Ich will eigentlich nur mehr ins Bett“, murmelte ich rau.

Einige Zeit später klopfte es äußerst sacht an meiner Zimmertür. Ich schloss meine Augen, und tat so, als würde ich bereits schlafen. Mein Vater trat ein, - unverkennbar an seinem schwerfälligen Gang mit den Krücken, - und versuchte möglichst leise etwas an meinem Nachtkästchen abzustellen. Daraufhin schnappte er sich einen Sessel und setzte sich vor mein Bett. Lange Zeit war es still. Schließlich seufzte er.

„Es ist mehr, als einfach Krank sein, oder?“, hörte ich ihn leise fragen. Zuerst wollte ich nicht darauf eingehen, aber sein besorgter Tonfall machte es mir äußerst schwer.

„Silvan und ich haben uns gestritten“, erklärte ich deshalb rau in meine Bettdecke.

„Willst du darüber reden?“, fragte er vorsichtig.

„Nicht wirklich, Dad“, schlug ich sein Angebot mich bei ihm auszuheulen aus.

„Hm“, erwiderte er überlegend. „Bist du damit einverstanden, wenn er eine Weile im Hinterzimmer meiner Werkstatt schläft?“

„Na-türlich“, erklärte ich mit brüchiger Stimme und schluckte. Obwohl ich mehr als froh über diese Nachricht war, begannen sich trotzdem heiße Tränen in meinen Augen zu sammeln. „Gute Nacht, Dad“, verkündete ich angestrengt nicht weinerlich zu klingen.

„Gute Nacht, Schatz“, erwiderte mein Vater, stand mühsam auf, strich mir einmal übers Haar und ging zur Tür. Die zärtliche Berührung reichte nicht aus, um den Strom an leisen Tränen, der mir über die Wange lief, zu stoppen. Als mein Vater dabei war, die Zimmertür hinter sich zu zuziehen, vernahm ich die fragende Stimme meiner kleinen Schwester.

„Geht‘s ihr schon besser?“, wollte sie wissen.

„Scht“, erklärte mein Vater sanft und schloss die Tür. Ich drehte mich einmal und versuchte, das Gemurmel vor meiner Zimmertür, das sich langsam zu entfernen schien, zu ignorieren und schloss die Augen, während sich immer noch Tränen ihren Weg über meine Wangen und auf mein Kopfkissen bahnten.

Kapitel 15

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 24, Abschnitt 3

 

Eine Familie darf die Höchstanzahl an verschiedenen Rassen (zwei) im Bezug auf ihre Hunimals nur mit einer Sonderregelung überschreiten; da in den meisten Fällen Person A einen anderen Hunimal hat, als Person B, und damit eine angemessene Artenzahl von Hunimals in einer Familie haben, steht einer (ehelichen) Verbindung beider Personen nichts im Wege()…

 

 

Die nächsten Tage waren ziemlich trostlos von meiner Seite her, aber es hätte weitaus schlimmer sein können. Ich riss mich zusammen, verließ mittlerweile auch wieder mein Zimmer und bemühte mich, mehr Fröhlichkeit, - oder zumindest Gleichgültigkeit, - an den Tag zu legen. Vorwiegend widmete ich mich dem Alltag: Kochen, Putzen, Wäsche waschen, ab und zu meine kleine Schwester und Paige unterhalten, Dad bei seiner Arbeit zusehen, - wobei ich die Werkstatt aber eher mied, - und nicht nachdenken.

Ich vermied es bewusst, mir zu viel Zeit zum Nachdenken oder für Schlaf zu geben, und war von einem Tatendrang beseelt, das es mich selbst erstaunen würde, hätte ich Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Ihn sah ich dagegen kaum.

Er hielt Abstand, gab mir etwas Zeit mich zu fangen, und verbrachte den Großteil seiner Zeit bei meinem Vater in dessen geliebter Werkstatt. Da zwei Wochen Weihnachtsferien waren, schien jeder seinem eigenen, individuellen Rhythmus nachzugehen; man stand auf, wann er oder sie wollte, aß, wann man wollte, und ging zu Bett, wann man wollte. Zwar machte ich jeden Tag Frühstück, - ich konnte es neuerdings kaum abwarten, endlich aufzustehen, - und kochte auch weiterhin zu Mittag und zu Abend, aber jedem schien es frei, sich zu bedienen, wann er oder sie wollte.

Mein Vater schien über seine Arbeit allerdings immer wichtige Mahlzeiten zu vergessen, und so war ich froh, dass er zumindest über die Ferien jemanden hatte, der ihn regelmäßig an lebenswichtige Tätigkeiten erinnert, wie essen oder schlafen.

Manchmal begegneten wir uns aber doch, - da wir in einem Haus wohnten, war das unumgänglich, - aber dann nur ganz kurz, - und dabei war stets er derjenige, der eiligst wo anders hin musste, - und nach einigen, wenigen kurzen Begegnungen musste ich überrascht feststellen, dass es weit weniger weh tat ihn zu sehen, als angenommen. Es tat weh, das stand außer Frage, aber gleichzeitig… War ich jedes Mal aufs Neue erleichtert, wenn ich ihn sah. So, als wäre ich froh, dass er überhaupt noch da war. Was natürlich völliger Unsinn war. Er würde auch so nirgendwohin gehen. Selbst wenn wir nicht… wir wären.

Die offizielle Version war immer noch, dass wir uns gestritten hatten. Offenbar über sein Verschwinden nachts. Ein triftiger, und ziemlich glaubhafter Grund, wie ich zugeben musste. Immerhin hatten wir uns deswegen schon einmal in die Haare bekommen. Er hatte mich damals tröstend im Arm gehalten, warm und sicher, und mir immer wieder… Stopp. Die bloße Erinnerung daran wäre zu viel.

Ich verbot mir, weiter darüber nachzudenken, schnappte mir Putz und Scheuermittel und machte mich an die Arbeit die Küche Blitz und Blank auf Vordermann zu bringen, bis jede Fließe, jede Platte und jeder Schrank auf Hochglanz poliert war, und meine Hände rot und meine Knie geschwollen waren. So in etwa, lief das jenen Tag ab.

Gegen Ende der Woche war das Haus so rein und sauber, wie ich es Zeit meines Lebens noch nie erlebt hatte. Das Ganze fiel auch meinem Dad, und Leonie und Paige auf, aber bis auf ein paar besorgte Blicke allseits und den ein oder anderen belustigten Kommentar Seitens meiner Schwester zeigten sie keine sonderbaren Reaktion. Auf bestimmte Weise schienen sie die Lage zu verstehen, und schienen besonders vorsichtig mit ihren Aussagen zu sein. Selbst bei den Kommentaren meiner kleinen Schwester klang Vorsicht und ein Hauch von Sorge mit.

Es war wieder einmal Freitag. In zwei Tagen war Silvester, - die Nacht meines siebzehnten Geburtstags, - und ich traf mich wieder mit Vincent. Den größten Teil der Einkäufe hatte ich dabei schon erledigt und zum zweiten Mal in dieser Woche stellte ich fest, wie angenehm es war, das Haus zu verlassen. Als würde ich, sobald ich unser Zuhause hinter mir ließ, damit auch die Erinnerung und meine Probleme hinter mir lassen.

„Hallo Vincent“, begrüßte ich ihn leise, ging an ihm vorbei, stellte meine Taschen ab und setzte mich. Er erwiderte nichts, schien mich aber neugierig zu mustern. Ich zog wieder meine Knie zu mir auf das Sofa und schlang meine Arme schützend darum, bevor ich wieder meinen Kopf darauf abstützte und die Augen schloss. Ich fühlte mich frei, weil ich zum ersten Mal seit langem wieder das Gefühl hatte, mich nicht verstellen zu müssen. Vincent schien mein Verhalten etwas anders zu deuten.

„Wenn du mich nicht sehen willst, wieso machst du dir dann die Mühe selbst in den Ferien zu kommen?“, fragte er zischend. Fast hätte er mich dazu gebracht, meine Augen zu öffnen, aber etwas in mir, weigerte sich.

„Du hast Recht“, erklärte ich gleichgültig. „Ich sollte wirklich nicht mehr kommen.“ Ich hörte, wie er geschockt den Atme anhielt. „War doch nur Spaß“, meinte ich mit immer noch geschlossenen Augen und lächelte das erste Mal seit einer Woche wieder. Es war zwar nur ein kleines, beinahe mildes Lächeln, aber es war da. „Ich war nicht ganz ehrlich zu dir“, gab ich ernst zu, und mein Lächeln verschwandt. „Oder besser gesagt, ich habe dir einiges verschwiegen.“ Meine Augen blieben immer noch geschlossen. „Vor allem, was die Gründe meines Kommens anbelangt. Kurz gesagt, hätte mir nicht jemand gedroht und aufgetragen, hierherzukommen, immer um diese Zeit, hätten wir nie so viel Zeit miteinander verbracht. Und ich würde auch bestimmt nicht hier sitzen, in diesem Augenblick. Ich verstoße gegen die Regeln, indem ich dir davon erzähle, aber ich will, dass du es erfährst. Am Anfang dachte ich sogar, dass du der Grund wärst, - dass du mich hier festhieltst, - aber du hast mir sofort und ohne Umschweife klar gemacht, dass du auf meine Anwesenheit gerne verzichten hättest können. Aber trotzdem bist du jeden Montag und Freitag wieder gekommen, genau wie ich. Nur, dass ich es aus egoistischen Gründen tat, die ich dir nicht erklärte. Mit der Zeit wurden unsere Treffen entspannter, - aber wem erzähle ich das, du warst ja dabei, - und mittlerweile wage ich zu behaupten, das wir Freunde sind. Und nachdem du jetzt weißt, auf welchem Fuße diese Freundschaft begonnen hat, könnte ich es sehr gut nachvollziehen, wenn du dich einfach umdrehen würdest, und nie wieder mit mir sprechen würdest.“ Meine Stimme nahm einen schmerzvollen Klang an, den ich zu unterdrücken versuchte. Schließlich wollte ich ihm nicht auch noch Schuldgefühle für etwas bereiten, an dessen Ursache er gar nicht Schuld war.

Die ganze Zeit über, hatte ich meine Augen geschlossen gehalten, und ich würde sie auch so bald nicht mehr öffnen; ich wollte nicht sehen, wie er aus dem Raum ging, ohne sich umzudrehen und ohne die feste Absicht, je wieder zurück zu kommen. Aber anstatt, dass sich seine Schritte wegbewegten, schien er energisch auf mich zuzugehen. Dicht vor mir blieb er stehen. Ich klammerte mich immer noch blind an meinen Beinen fest, nicht wissend, was jetzt passieren würde. Plötzlich spürte ich seine überraschend weichen Hände auf meinen Wangen, die mein Gesicht hochhoben, dann aber sofort wieder freiließen. Ich spürte die Wärme seiner Arme, als er sie mit einigem Abstand neben mir platzierte und spürte unerwartet die Kälte einer kleinen Kette, die er mir um den Hals legte.

„Alles Gute zum Geburtstag, Emanuela“, verkündete er leise und beinahe sanft. Nun, es war für Vincents Verhältnisse sanft. Jetzt musste ich doch die Augen öffnen.

Den Ausdruck in seinem Gesicht werde ich niemals vergessen; seine sonst so kalten, Smaragd-grünen Augen blitzten freudig, erinnerten an die eines Kindes und sein Mund zeigte ein ehrlich-glückliches Lächeln, beinahe ohne jeglichen Sarkasmus. Meine Finger wanderten suchend zu dem Anhänger um meinen Hals. Ein Medaillon. Ich sah nach unten und betrachtete es mit großen Augen.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht, nach so einem großen Geständnis. Nicht mit einem Geschenk, - und erst Recht nicht mit so einer Reaktion von ihm. Die leichte Kette um meinen Hals war aus purem Gold, genauso wie der zarte Anhänger, der die Form einer etwas größeren, durchlöcherten Münze hatte, die von Schneeflocken zusammen gehalten wurde, daran. Sie war atemberaubend schön, aber…

„Vincent, du m-musst mir doch-h nichts schenken“, stotterte ich ein wenig überfordert. „Und erst Recht nicht, so etwas Schönes, wirklich, ich…“ Noch ehe ich zu Ende gesprochen hatte, schüttelte er auch schon den Kopf und war bei seinem Couchsessel angekommen, und hatte sich gesetzt.

„Emanuela, ich weiß schon seit einer Weile, warum du dich mit mir hier triffst“, erklärte er lächelnd, aber es war wieder dieses gefährliche, herausfordernde Lächeln.

„Du“, brach es ein wenig atemlos aus mir heraus. Meine Finger lagen immer noch auf dem Medaillon, meine Augen lagen in seinen. „Wusstest es? Seit wann?“, wollte ich wissen. Er legte den Kopf ein wenig schief.

„Seit ungefähr einer Woche“, gestand er desinteressiert. „Vermutet habe ich es schon länger. Ich bin nicht blöd, weißt du“, erklärte er, und in seine reinen, grünen Augen trat ein wenig von der gewohnten Härte zurück, die er aber abwandte. Sein Mund verzog sich unzufrieden, als er begann vor sich hin zu murmeln. „Deshalb ist das auch nicht dein Weihnachts- sondern Geburtstagsgeschenk“, hörte ich ihn undeutlich sagen, und mich überfiel ein Gefühl der Wärme, als ich diese Worte vernahm. Nicht nur, weil es mich berührte, dass er, - obwohl er Weihnachten nicht sonderlich mochte, - mir ein winterliches Geschenk besorgt hatte, sondern viel mehr, weil mir in dem Moment, indem er so da saß und vor sich hin murmelte, ich mir seiner wirklichen Zuneigung für mich bewusst wurde.

Er wusste von meinen unlauteren Motiven unserer Treffen, und trotzdem akzeptierte er mich und meine Freundschaft.

„Danke, Vincent“, erklärte ich eindringlich. „Dafür, dass du mein Freund bist.“ Ich drehte das Medaillon wieder in meinen Händen und lächelte zart. „Und auch danke für die Kette. Sie ist sehr schön. Und wenn du versprichst, mir in Zukunft keinen weiteren Schmuck mehr zu kaufen, werde ich sie sogar annehmen.“ Ich lachte leise; es klang seltsam ungewohnt. Er stimmt mit ein.

„Du kannst sie ohne Bedenken tragen“, informierte er mich und zog ungläubig über meine Forderung eine Augenbraue in die Höhe. Meine Finger ließen von dem Medaillon ab und sanken schlaff neben meinem Körper zu Boden.

„Ich dachte, du magst Weihnachten nicht sonderlich“, sagte ich ehrlich irritiert.

„Tue ich auch nicht“, bestätigte er. „Aber zumindest verbinde ich jetzt eine gute Sache damit.“ Meine Wangen färbten sich zart rosa und ich musste peinlich berührt den Blick abwenden.

„Ach, so“, murmelte ich leise; nicht gerade die geistreichste Antwort. „War dieses Weihnachten denn so schlimm?“, wollte ich wissen. Er suchte sichtlich nach den richtigen Worten.

„Naja, es …“, begann er zögernd. „Unterschied sich nicht sonderlich von den Jahren davor“, brachte er den Satz nicht gerade glücklich über das Thema zu Ende. Seine Augen verloren sich ein wenig ins Leere, schienen Bilder, Erinnerungen vor sich zu sehen, die ich nicht einmal erahnen konnte.

„Hm“, erwiderte ich erstaunlich sachlich. „Mein Weihnachten war mit Abstand das Schlimmste, das ich je erlebt habe.“ Mein Blick glitt zur Decke, stellte sich vor, ich wäre unter freiem Himmel. „Immerhin habe ich den Schnee als Trost. Und in Zukunft…“ Ich sah ihm wieder in die Augen. „Muss es draußen nicht einmal wirklich schneien. Jetzt habe ich den Schnee immer bei mir“, erklärte ich, bevor ich mir wieder kurz das Medaillon ansah. Die goldenen Schneeflocken blitzten im Licht.

„Zuerst war ich ziemlich wütend auf dich“, gestand er ernst. „Aber dann…“ Er brach ab. Neugierig sah ich ihn an.

„Aber dann…?“, erkundigte ich mich gespannt.

„Als ich gesehen habe, wie…“, begann er zu erzählen, stoppte aber sofort wieder. „Weißt du was? Am besten wir vergessen einfach, was geschehen ist“, überlegte er es sich plötzlich anders, und weckte damit nur umso mehr meine Neugier, aber der Ton, in der er das sagte, ließ keinen Einspruch zu.

„O-Okay, wenn du das möchtest“, zwang ich mich einzulenken, und ich sah, wie er merklich nickte. „Aber dafür musst du mir eine andere Frage beantworten“, forderte ich jetzt als Ausgleich. „Du kannst mich nicht einfach neugierig machen, und dann bestimmen, es mir doch nicht zu erzählen.“ Abermals zog er ungläubig eine seiner blonden Augenbrauen in die Höhe.

„Ach, ja?“, antwortete er überheblich. „Ich muss also?“ Meine Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln.

„Etwas, dass ich schon länger gerne wissen möchte“, gestand ich leise. Erwartungsvoll sah er mich an. „Naja, warum… Warum montags und freitags? Warum nicht an einem Donnerstag oder irgendeinem anderen Tag in der Woche? Warum heute?“, platzte ich einfach heraus. Er verzog ein wenig das Gesicht.

Das ist deine Frage, wirklich?“, fragte er geringschätzend. Ich ging nicht darauf ein, und nickte.

„Ja“, bestätigte ich ihm klar. Er seufzte.

„Du kannst nicht von mir erwarten, dass ich jeden Tag der Woche im Einkaufszentrum verbringe. Ich habe auch ein Leben, Emanuela“, zog er mich auf.

„Das beantwortet noch nicht meine Frage“, kommentierte ich weiter abwartend. Er wandte den Blick ab und murmelte etwas für mich Unverständliches.

„Was war das?“, erkundigte ich mich und sah ihn mit Adleraugen an. Wütend erwiderte er meinen Blick.

„Ich habe montags und freitags Musikschule“, erklärte er verärgert; offenbar war es ihm unangenehm. Verblüfft starrte ich ihn an.

„Du spielst ein Instrument?“, fragte ich überrascht.

„Ja“, antwortete er nicht gerade informativ. Mit großen Augen sah ich ihn weiterhin an.

„Welches?“, verlangte ich nähere Auskunft. Er verschränkte seine Arme; wie ein kleines Kind.

„Cello und Violine“, murmelte er wieder missmutig.

„Wow“, staunte ich. „Wie lange schon?“ Er zögerte und öffnete seine Arme.

„Seit ich alt genug bin, um selbst ein Instrument zu halten“, meinte er vorsichtig. Ich lachte.

„Das will ich unbedingt hören“, erklärte ich ihm. „Spielst du mir vielleicht mal etwas vor? Bitte“, bat ich ihn. In seine Augen trat ein Blitzen.

„Meine Instrumente sind Zuhause“, erwiderte er nur abwehrend. Als ich ihn weiterhin bittend ansah, fragte er ungläubig: „Du würdest dich in die Höhle des Löwen wagen?“

„Mit dir als Begleiter, - natürlich“, versicherte ich ihm. Zugegeben, er hatte nicht gerade einladende Dinge über sein Zuhause erzählt, - wenn er überhaupt einmal davon sprach. Seine Mutter war wie meine früh gestorben, und seit dem lebte er alleine mit seinem Vater, - über den er kaum ein Wort verlor, - und mit Ezra, sowie einigen Bediensteten in einem großen Anwesen. Ezra. Ihm würde ich unzweifelhaft begegnen. Trotzdem waren die Neugierde das Haus zu sehen, in dem er aufgewachsen war und die Verlockung Vincent spielen zu hören größer. „Aber wenn deine Instrumente Zuhause sind, wie…?“

„Mein zweites Paar befindet sich in der Musikschule – ich verwende es nur für den Unterricht“, erklärte er wie selbstverständlich, als wäre so etwas ganz normal.

„Aber natürlich“, konnte ich mir eine kleine Bemerkung nicht verkneifen. Er lachte.

Ich blieb noch eine Weile. Wir unterhielten uns noch über dieses und jenes, bis ich schließlich aufbrechen musste. Ich wollte meinem Vater nicht schon wieder Sorgen bereiten. Er wusste zwar, dass ich einkaufen gefahren war, aber wie lange brauchte man dafür denn schon?

Als die Einkäufe sicher verstaut und die meisten Familienmitglieder begrüßt waren, setzte ich mich zu Leonie und Paige auf das Sofa und sah gemeinsam mit ihnen fern. Mit der Zeit schwankten meine Gedanken allerdings immer weiter zu einer gewissen Person ab, sodass ich bald gezwungen war, aufzustehen und mir eine andere Beschäftigung zu suchen, bis es allmählich so spät war, dass alle anderen schon lange im Bett waren. Zu müde, um zu denken, - und wie ich hoffte, auch zu träumen, - schlurfte ich die Treppe hoch, machte mich Bettfertig und schlief bereits nach wenigen Minuten ein.

Unglücklicherweise war mein Schlaf, wie die letzten Nächte auch, alles andere als ruhig und erholsam. Ich war mehr als erleichtert, als es draußen endlich hell genug war, um aufzustehen.

Der Samstag verging wie im Flug und der Sonntag kam. Und mit ihm, Silvester, mein siebzehnter Geburtstag und die beste Nacht meines Lebens.

 

Kapitel 16

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 17, Abschnitt 5

 

Ein Hunimal hat die Grenzen seiner Rechte zu akzeptieren und die aufgestellten Regeln ohne Ausnahme zu befolgen; ein Verstoß des Besitzers gegen das Gesetz muss sofort gemeldet werden; die darauf folgenden Anklage des Hunimals wegen >>Verrat am Eigentümer<< sowie das >>Mitwissen an der Tat<< wird den Umständen entsprechen gemildert()…

 

 

Ohne großes Engagement, aber doch großem Aufwand, - einfach, um meine Zeit mit Aufgaben zu füllen – bereitete ich mit meiner kleinen Schwester und Paige das diesjährige Silvesteressen zu. Es gab gebackenen und gefüllten Truthahn, unzählige Beilagen und zwei verscheiden Nachspeisen. Während dem Zubereiten trat Paige öfter mal an mich heran, und versuchte das Gespräch auf meinen >>Streit<< mit Silvan zu lenken, aber ich wehrte immer ab, und irgendwann gab sie es auf.

>>Das würde schon werden<<, versuchte ich mir immer wieder einzureden. Ich bräuchte einfach noch ein wenig mehr Zeit. Andere brauchten Jahre um über die Liebe ihres Lebens hinweg zu kommen. Ich hatte gerade einmal eine Woche zur Verfügung gehabt. Dafür hielt ich mich meiner Meinung nach echt gut. Und ich wollte auch gar nicht >>über ihn hinwegkommen<<. Ich wollte lediglich den Schmerz auf ein Niveau runter pegeln, dass es erträglich wäre. Dazu brauchte ich keine Hilfe; es war etwas, mit dem ich alleine zu Recht kommen musste.

Das Abendessen war ein Fest. Mein Vater griff richtig zu, und Leonie und Paige waren ganz aus dem Häuschen als sie das Ausmaß unserer gemeinsamen Kochkünste vor sich sahen. Auch Silvan schien beeindruckt, und sein Blick bescherte mir Schmerz und Glück zugleich. Das Essen zog sich erheblich, - zumindest kam es mir so vor. Ich hatte selbst kaum Hunger und jedes Mal, wenn ich mich an den Gesprächen beteiligte, kostete es mich meist immer mehr Kraft, als ich eigentlich hatte.

Um zehn vor zwölf zogen wir uns dann alle dick an und gingen nach draußen auf die Veranda. Ich schluckte einmal schwer, nahm den grünen Schal, den Silvan mir geschenkt hatte, schlang ihn um meinen Hals und trat nach draußen zu den anderen. Das Feuerwerk, das in der Stadt veranstaltete wurde, war von unserer Terrasse aus sehr gut sichtbar, und alle außer Silvan und mir gingen nach unten auf den Rasen, um einen besseren Blick zu erhaschen. Wie jedes Jahr war das Feuerwerk gerade zu spektakulär. Aber ich hatte keine Augen dafür. Alles, was ich sah, war Silvan.

Er lehnte an dem weißen Geländer unserer Terrasse und hatte den Blick erwartungsvoll nach oben gestreckt. Der kalte Wind wähnte durch seine schwarz-weißen Haare, von denen ich wusste, wie weich und seidig sie sich anfühlten, und die verschiedenen, färbigen Lichter der Raketen spiegelten sich auf seiner Jacke und seiner weißen Haut wieder. Seine silbernen Augen blitzten freudig und seine verführerischen Lippen zierten ein umwerfendes Lächeln. Er war so wunderschön. So nahe und doch viel zu weit weg. Plötzlich drehte sich sein Kopf in meine Richtung und sah mich direkt an. Es war mir unmöglich, den Blick abzuwenden, noch konnte ich meine Gesichtszüge kontrollieren.

Als er meinen Blick sah, weiteten sich seine Augen. Ich konnte nur noch an eines denken: Flucht.

Ich rannte so schnell ich konnte zurück ins Haus, schmiss Jacke und Schuhe ungeduldig auf den Boden und lief im Laufschritt die Treppe hoch und in mein Zimmer. Vergeblich versuchte ich mein Herz zu beruhigen und den Schmerz nicht die Oberhand gewinnen zu lassen, aber die Wahrheit war, ich bekam kaum noch Luft. Plötzlich öffnete sich die Tür und Silvan schlüpfte herein und kam auf mich zu. Auch er trug jetzt weder Schuhe noch eine dicke Winterjacke. Sprachlos sah ich ihn an.

„So kann das nicht weiter gehen“, verkündete er ohne Umschweife. „Sag mir, was ich tun muss, damit es wieder wie vorher her ist“, verlangte er von mir zu wissen und sah mich brennend an. Ich öffnete zweimal den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn dann aber wieder.

„Du kannst gar nichts tun“, sagte ich dann ehrlich. „Das ist mein Problem, ich werde damit schon fertig. Gib mir nur etwas Zeit.“ Flehend sah ich ihn an, und sein Gesicht wurde hart. Der Ausdruck in seinen Augen brachte mich beinahe zum Frösteln.

„Was…Was genau meinst du damit?“, fragte er todernst und ich hielt den Atem an. „Das ist genauso mein Problem“, erklärte er heftig, das letzte Wort zischend. „Wie deines. Wie gedenkst du, damit fertig zu werden?“

„Ich könnte mich zum Beispiel in jemand anderen verlieben“, log ich ihn mit leiser Stimme an. „Vorzugsweise in einen Menschen. Das würde bestimmt helfen.“ Er antwortete nicht. Ich war mir sicher, dass er meine Lüge auf Anhieb durchschaut haben müsste.

„Hast du von diesem Menschen auch die Kette bekommen, die du neuerlich um den Hals trägst?“, verlangte er zu wissen. Erstaunt sah ich ihn an. Nahm er mir das wirklich ab?

„Er-Es war ein G-Geburtstagsgeschenk“, antwortete ich stotternd, und in meinem Kopf drehte sich alles. „E-Er ist nur ein guter Freund“, erklärte ich. „Ein sehr guter“, fügte ich leise hinzu und umfasste unwillkürlich das goldene Medaillon mit meiner rechten Faust. Er ging einen Schritt auf mich zu.

„Er muss dich ziemlich gerne haben, um dir so etwas zu schenken“, riet er, und sein Gesicht war wieder eine eisige Maske; ein perfektes Pokerface. Einzig seine blitzenden Augen verrieten Interesse. Er war doch nicht allen Ernstes eifersüchtig? Mein Herz machte einen glücklichen Sprung, als mir der Gedanke kam.

„Meinst du?“, fragte ich mit einem kleinen Lächeln. Er kam noch etwas näher, bis er meine Hand nehmen konnte, und beugte sich zu meinem Ohr vor, um mir etwas zuzuflüstern.

„Du kannst dir von mir auch etwas zum Geburtstag wünschen“, erklärte er, und der leise Klang seiner rauen, sinnlichen Stimme ging mir durch Mark und Bein, bereitete mir eine Gänsehaut im Nacken. „Alles was du willst.“

„W-Wirklich?“, wollte ich leise wissen, als er sich wieder ein wenig von mir weglehnte. Er nickte ernst und lächelte dann.

„Ja“, erklärte er und ließ mich wieder komplett los. Wie parallelisiert sah ich ihn an, konnte meinen nächsten Worten kaum glauben.

„Da es mein Geburtstag ist“, begann ich seine grauen Augen fixierend meinen Wunsch auszusprechen. „Glaubst du, dass du nur einmal im Jahr vergessen könntest… dass du du bist, und ich ich bin… Und mich küssen könntest?“ Die letzten Worte brachte ich fast nicht heraus. Mit pochendem Herzen wartete ich auf seine Antwort.

Ganz langsam beugte er sich zu mir herunter, und ich hielt ungläubig den Atem an. Seine großen, und doch sehr zarten Finger umfingen mein Gesicht und hielten mich fest. Nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht blieb er stehen. Sein warmer Atem streifte meine Lippen, entfachte ein Prickeln und ein heißes Feuer in meinem Inneren. Mein Blick wanderte von seinen verführerischen Lippen zu seinen Augen. Prickelndes Silber, das mich gebannt festhielt. Selbst wenn ich gewollt hätte, wäre es mir unmöglich gewesen, mich zu rühren. Sein intensiver Blick fesselte mich, brachte meine Muskeln dazu sich anzuspannen und voller Ungeduld auf das zu warten, worauf ich solange gehofft hatte. Langsam öffneten sich seine Lippen.

„Wenn wir das tun, gibt es kein Zurück mehr“, hauchte er sanft, und mein Magen begann sich vor Ungeduld und Erwartung zu verknoten, während seine Hände an meinen Wangen zu meiner Kehle hinab wanderten und eine heiße Spur hinterließen. „Emanuela, du bist ein Mensch. Ich bin halb Tier“, versuchte er mich zur Vernunft zu bringen, aber ich war weit weg davon, logisch über die ganze Situation nachzudenken, und was für Folgen dieser eine Kuss für uns haben könnte. Ich wollte nur ihn. Und das jetzt gleich. Seine Lippen rückten wenige Zentimeter näher, waren nur noch hauchdünn von den meinen entfernt.

„Muss ich dich erst festbinden, bevor du mich endlich küsst?“, raunte ich sehnsuchtsvoll und im nächsten Moment lagen seine Lippen bereits auf meinen und mein Körper dich an den seinen gepresst. Automatisch schlossen sich meine Augen.

Seine Hände wanderten in meinen Nacken und meinen Rücken hinab, hielten mich besitzergreifend und doch äußerst liebevoll fest. Seine weichen Lippen an meinen bewegten sich zuerst zärtlich, dann immer leidenschaftlicher. Er küsste mich, als wäre ich die Luft zum atmen und mir entwich ein leises Stöhnen in seinem Mund. Meine Hände landeten auf seiner Brust, fanden wie von selbst ihren Weg unter seinen Sweater und fuhren sehnsüchtig über seine nackte, stählerne Brust. Er gab ein leises Knurren von sich ohne seine Lippen von den meinen zu lösen und ein erregter Schauer lief durch meinen Körper. Ich hätte nie gedacht, dass sich ein Kuss so gut anfühlen könnte. Hitze durchströmte jede einzelne Zelle meines Körpers und ließ mich alles und jeden vergessen. Alles was zählte, war das Hier und Jetzt und die Gefühle, die Silvan in mir auslöste.

Ehe ich mich versah, bewegten wir uns rückwärts auf mein Bett zu, ohne dass sich unsere Lippen auch nur einmal trennten; der Sauerstoff kam zu kurz, aber das war meine geringste Sorge. Mein Herz konnte nicht aufhören zu rasen, als mir bewusst wurde, dass er mich immer noch küsste. Das war mehr, als mit dem ich gerechnet hatte, - unendlich mehr.

Mein Fuß stieß auf ein Hindernis, - unzweifelhaft mein Bett, - und er drückte mich zart, aber bestimmt nach unten und folgte mir, bis ich vollständig auf der Matratze und er auf mir lag. Sein Körper war überall, verursachte eine Sehnsucht, die beinahe schmerzhaft war, und eine Welle des Glücks, die mich erzittern ließ. Als sich seine Lippen überraschend von meinen lösten und sein Blick auf meinen traf, musste ich mit aller Kraft ein weiteres Aufstöhnen unterdrücken. Allein der Blick in seine hungrigen Augen, die seine animalische Herkunft verrieten, brachte mich um das letzte bisschen Verstand, das ich noch hatte.

Einen Moment schien es, als würde er wieder zur Besinnung kommen und zurück weichen wollen, aber ich streckte meine Hand aus und legte sie auf seine Wange, bevor ich mich ein wenig nach oben streckte, und ihm einen kurzen, schüchternen Kuss gab. Ich dachte, es wäre bestimmt der letzte für ein ganzes Jahr, - aber ich irrte mich gewaltig. Denn blitzschnell und um einiges heftiger, als noch eben zuvor pressten sich seine Lippen wieder auf meine, unterstützt von seinem ganzen Körper, der mich gefangen hielt, wie der Löwe die Gazelle. Es war, als hätte ich eine Art Schalter bei ihm umgelegt.

Seine Lippen bewegten sich so unglaublich wild und verlangend auf meinen, und doch so voller Zärtlichkeit und Hingabe, dass ich nicht verhindern konnte, dass Hoffnung in mir aufkeimte. Darauf, dass er und ich vielleicht doch eine Chance hatten. Dass er mich vielleicht doch so lieben könnte, wie ich ihn. Ich machte mir sogar die unerhörte Hoffnung, dass er es jetzt schon tat. Jetzt, in diesem Augenblick, indem er mich halb wahnsinnig machte, mit seinem Mund und seinem Körper.

Ich wusste nicht, wie lange wir uns schon so >>küssten<<, - es kam mir viel mehr, als bloßes Küssen vor, - und obwohl seine Hände meinen ganzen Körper zu streicheln und liebkosen zu schienen, genau wie ich seinen Körper berührte und voller Sehnsucht erkundigte, überschritten wir doch keine zu große Grenze. Erst, als er seine Position ein wenig veränderte, konnte ich spüren, wie erregt er in Wirklichkeit war, und mein Körper wurde siedend heiß. Das Glück, dass ich allein in diesem Augenblick empfand, schien für ein ganzes, weiteres Leben auszureichen. Ohne darüber nachzudenken, drückte ich mich, - wenn das überhaupt möglich war, - noch enger an ihn und begann mich an ihm zu reiben. Mir entwich ein leises Stöhnen aufgrund dieser Berührung, und ich konnte fühlen, wie er erstarrte.

„Emma“, raunte er erregt an mein Ohr. „Übertreib es nicht.“ Sein heißer Atem streifte mein Ohr und ich erschauerte.

„Und was, wenn doch?“, erwiderte ich stockend. Einen Moment bewegte er sich nicht, und im nächsten machte er auch schon Anstalten sich zu erheben. „Nicht, ich bin brav“, rief ich geschockt aus, packte ihn am Kragen und versuchte ihn wieder zu mir runter zu ziehen. „Ich versprech’s“, fügte ich hitzig hinzu und sah ihm bittend in die Augen.

Kapitel 17

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 1, Abschnitt 7

 

Ein Hunimal, ganz gleich welcher Gesellschaftsschicht er angehört, hat sich dem Menschen zu unterwerfen, auch wenn dieser Gesellschaftlich unter dessen Besitzer stünde; ein niederer Mensch ist immer mehr Wert als das Leben eines Hunimals; spezielle Ausnahmen stellen Hunimals (Löwen) der Königsfamilie und das Parlaments dar()…

 

 

„So war das nicht abgemacht“, lachte er ein wenig unglücklich, und ich war drauf und dran meine Hand von seinem Sweater zu lösen. Seine Worte klangen, als würde ich ihn zwingen; sie durchbohrten mein Herz auf eine äußerst unangenehme Weise. Hatte ich zu früh Hoffnung gefasst? Seine Hände drückten mich wieder auf die Matratze, gleichzeitig folgte er mir aber auch.

„Sieh mich bitte nicht so an“, flehte er eindringlich und legte seine Hände an meine Wangen, versuchte mich zu trösten. Eisblaue Augen blickten mich eindringlich an. Meine Hände lagen immer noch verkrampft an seinem Kragen, schienen nicht los lassen zu wollen, aber keiner von uns beiden nahm sie weg. „Emanuela…“, begann er sanft, brach aber ab. Eine seiner Hände wanderte von meinem Gesicht zu meiner Kehle, nahm das kleine Medaillon, das mir Vincent geschenkt hatte zwischen die Finger. Unbewegt betrachtete er es von allen Seiten. Umso länger wir so dalagen, desto roter wurde ich.

„Silvan, du hast mir doch nicht wirklich geglaubt, als ich gesagt habe, ich könnte mich in jemand anderes verlieben, oder?“, fragte ich nervös lachend, und ich konnte fühlen, wie seine Finger, das Medaillon losließen, aber weiterhin auf meiner Haut lagen und ganz langsam und äußerst zart meine Kehle hinauf fuhren. Ich zitterte.

„Gut“, verkündete er und zog seine Hände zurück. Seine unerwartete Antwort ließ mein Herz vor Glück um einige Schläge schneller schlagen. „Aber die Kette war trotzdem ein Geschenk.“ Es war weniger eine Frage, als eine Feststellung. Ich nickte leicht und sah auf den Boden. Seine Hand wanderte wieder zu meinem Kinn und zwang mich, ihn anzusehen. „Darf ich fragen, von wem?“, erkundigte er sich mit erhobener Augenbraue. Ich biss mir zögernd auf die Lippe.

„Ich glaube nicht, dass dir die Antwort gefallen wird“, gestand ich ausweichend. In seine Augen trat ein Blitzen.

„Umso mehr will ich es wissen“, erwiderte er ernst. Ich zögerte immer noch. Silvan war mit Vincents Hunimal auf dem Kriegsfuß. Und soweit ich wusste, hatte er auch nicht die beste Meinung von Vincent selbst… „Soll ich lieber raten?“, fragte er plötzlich amüsiert; die Idee schien ihm zu gefallen. Mein erster Impuls war es, seinen Vorschlag abzulehnen, aber dann entschied ich mich doch anders.

„Nur zu“, erlaubte ich ihm ein wenig überfordert. „Wenn du willst.“ Er rückte ein wenig von mir ab, auf das wir mehr nebeneinander, als aufeinander lagen. „Du hast drei Versuche“, scherzte ich.

„Hm“, überlegte er laut. „Das ist gar nicht so leicht, - bei der Auswahl.“ Ich klopfte ihm missbilligend auf den Oberarm, und er lachte. Seine Worte erinnerten mich ein wenig an das Gespräch, das ich vor einiger Zeit mal mit Vincent hatte. Auch er war der Meinung, ich hätte zu viele männliche Freunde, - dabei stimmte das gar nicht.

„War es vielleicht-“, begann er mit gespielter Begeisterung. „-Marcus?“ Ich lachte.

„Nein“, musste ich ihn enttäuschen.

„Wirklich nicht?“, entgegnete er überrascht. „Er war eigentlich mein Favorit. Immerhin muss die ganz schön teuer gewesen sein“, erklärte er und sein Blick fiel kurz auf meinen Hals und die goldene Kette darum, und ließ mir wieder die Röte in die Wangen treiben. „Da Marcus Eltern sich ihren Stand in der Gesellschaft mehr mit Geld, als mit Herkunft sichern, dürfte der Preis weniger eine Rolle spielen. Außerdem verbringst du die meiste Zeit in der Schule mit ihm.“

„So, meinst du?“, erkundigte ich mich ein wenig skeptisch, und gab dann nach. „Vielleicht hast du Recht. Aber er war es nicht“, erklärte ich lächelnd. Silvans Stirn legte sich in Falten und aus einem inneren Verlangen heraus, fuhr meine Hand auf die Stelle und glättete sein Gesicht. Seine Augen wurden vor Überraschung größer, und schnell zog ich meine Hand wieder zurück, und räusperte mich. „Ähm, ja. Sonst noch eine Idee, wär es gewesen sein könnte? Sonst lassen wir das Thema lieber, und…“

„Was ist mit Igor?“, unterbrach er mich lachend, - allem Anschein nach amüsiert über den Gedanken. „Das muss doch bestimmt Eindruck auf ihn gemacht haben, als du dich ganz allein mit Marcus auf die >>andere Seite<< geschlichen hast um ihn vor diesen bösen Schlägern zu retten und zu verarzten.“ Er lachte wieder, und ich wurde rot.

„Also, erstens“, verkündete ich mit erhobenem Kinn. „Wurde Igor gar nicht von uns gerettet, - als wir endlich bei ihm ankamen, war von seinen Peinigern keine Spur zu sehen. Zweitens, habe nicht ich seine Wunden versorgt, sondern Marcus. Und drittens, - jetzt muss ich dich leider enttäuschen, - war Igor es auch nicht.“ Nachdenklich legte sich Silvans Gesicht in Falten.

„Hätte mich auch gewundert“, hörte ich ihn leise mehr zu sich selbst murmeln. Ich lachte.

„Warum dann überhaupt fragen?“, erkundigte ich mich und legte neugierig meinen Kopf schief. Er hob den Kopf und sah mich direkt an.

„Weil es mir lieber wäre, wenn er es war“, erklärte er mit fester Stimme. Seine Augen wirkten brennend. Ich schluckte.

„Warum denn das?“, fragte ich mit klopfendem Herzen. Ich verlor langsam meine Fähigkeit, klar zu denken. Er wandte den Blick ab.

„Igor scheint nicht den Typ zu sein“, erklärte er langsam. „Und selbst wenn er es wäre, müsste ich mir bei ihm keine Sorgen machen.“

„Sorgen machen wovor?“, erkundigte ich mich nicht verstehend. Er hob eine Hand und fuhr mir langsam über meine Wange. Ich bekam eine Gänsehaut. Mit zärtlichem Blick folgte er seinen Fingern auf meiner Haut. Ich war wie erstarrt, traute mich nicht zu bewegen, aus Angst, ich könnte diese so sanfte, so zärtliche Berührung seinerseits damit unterbrechen.

„Davor, dass er dir vielleicht weh tut“, erklärte er leise, während seine Finger zu meinen Lippen strichen. Ich unterdrückte mit aller Gewalt ein Zittern. Ein leises Lachen und ein anschließender Seufzer von Silvan rissen mich aus meiner Selbstbeherrschung. Ich nahm seine Hand in meine und beugte mich weiter nach vorne; er rührte sich nicht, als unsere Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander getrennt lagen.

„Würdest du es denn zulassen, dass man mir weh tut?“, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits wusste. Er sah mich nicht an, als er antwortete.

„Nein“, bestätigte er meine Gedanken. „Und trotzdem lasse ich es zu, dass ich dir weh tue“, fügte er betrübt hinzu. Ich zog ungläubig die Augenbrauen hoch.

„Jetzt gerade geht es mir doch sehr gut“, versicherte ich ihm und lehnte mich noch ein wenig näher. „Mehr als gut“, wisperte ich und gab ihm einen kurzen Kuss. Meine Lippen brannten von der kurzen Berührung. „Du hast übrigens nur noch einen Versuch“, erinnerte ich ihn an unser eigentliches Thema, als ich mich wieder von ihm abwandte. „Aber es ist auch eigentlich gar nicht wichtig“, versuchte ich ihm begreiflich zu machen. Seine grau-blauen Augen blickten mich ein wenig skeptisch an. „Du kennst ihn mit Sicherheit nicht so, wie ich ihn kenne“, versuchte ich es weiter. „Demnach würde dir ein Name auch nicht weiter helfen. Man sieht jemanden, spricht ein paar Male mit ihm, - hat Auseinandersetzungen, - und schon glaubt man diese Person zu kennen, aber das ist nicht der Fall.“ Eindringlich sah ich ihn an; ich wollte wirklich, dass er es verstand. Eine plötzliche Eingebung huschte über sein Gesicht und ließ seine Züge versteinern.

„Ezra?“, schnaubte er plötzlich todernst, und ich hielt überrascht die Luft an. Sein Blick sah mit einem Male richtig gefährlich aus.

„W-Wie kommst du au-ausgerechnet auf ihn-n?“, fragte ich entgeistert, und nur zu deutlich stiegen Bilder unserer wenigen Begegnungen wieder in mir auf. Wie er mir drohte, und mich festhielt, so sehr, dass es weh tat. Das eisige Lächeln auf seinen Lippen und der kalte, angsteinflößende Ausdruck in seinen Katzenähnlichen Augen. Silvans Blick war immer noch hart und erbittert, aber auf eine andere Art und Weise.

„War er es?“, wiederholte er seine Frage. Dass er mich das überhaupt fragen musste!

„Nein“, stellte ich deutlich klar. „Natürlich nicht. Ezra und ich Freunde, - ich kann mir nichts Abwegigeres vorstellen.“ Allem Anschein nach, schien er mir zu glauben. Er atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen und sah mich ein wenig sanfter an.

„Entschuldige“, sagte er leise. „Ich wollte nur sicher gehen. Die Vorstellung, dass du Gefühle für Seinesgleichen haben könntest, - welcher Art auch immer, - treibt mich zur Weißglut.“ Ich konnte spüren, wie mir mein Gesicht entglitt.

„Wieso? Was ist das zwischen dir und Ezra?“, fragte ich eindringlich. „Und was genau meinst du mit Seinesgleichen?“, wollte ich wissen, und sprach das letzte Wort mehr als Schimpfwort aus, als sonst irgendetwas. Diese Art zu Reden war mir an Silvan neu. Noch nie hatte ich ihn fremdenfeindliche Worte wie >>Seinesgleichen<< aussprechen hören.

„Das ist kompliziert“, antwortete er ausweichend. „Alles, was du wissen musst ist, dass er gefährlich ist, - und das er nicht allein ist.“ Seine Augen bohrten sich tief in meine, schienen auf ein Zeichen meines Einverständnisses zu warten.

„Das ist alles?“, erwiderte ich lauernd. „Mehr verrätst du mir nicht?“ Er antwortete nicht, aber der Blick auf seinem Gesicht war Antwort genug. „Ich finde das richtig unge…“ Weiter kam ich nicht, denn plötzlich lagen seine warmen Lippen wieder auf meinen, leicht und zärtlich, und hinderten mich am Sprechen. Das Kribbeln und die Hitze von vorhin kamen erneut zurück, als wären sie nie weg gewesen. Genauso schnell, wie die sanfte Berührung kam, war sie auch schon wieder vorbei. „…recht“, vollendete ich baff meinen Satz, der jeglichen sich beschwerenden, verärgerten Tonfall verloren hatte. Er lachte leise.

„Und ich dachte, ich hätte endlich eine Möglichkeit gefunden, dir den Mund zu stopfen“, scherzte er rau, und erneut durchfuhr es mich siedend heiß bei dem Klang seiner rauchigen Stimme. „Aber das war wohl nichts, wenn du danach einfach weiter sprichst“, ergänzte er leise lachend. Ich lehnte mich näher zu ihm.

„Nein, du hast Recht“, erwiderte ich ernst und lehnte mich immer weiter in seine Richtung. Skeptisch sah er mich an. Ich biss mir auf die Lippe. „Es ist schwer dabei auch nur zu denken“, raunte ich leise. „Geschweige denn sprechen.“ Ich sah ihm ununterbrochen in seine eisblauen Augen, während ich seinen Lippen immer näher kam. „Wenn du mich wirklich vom Thema ablenken willst, dann…“, ließ ich den Satz neckend in der Luft hängen. Mein heißer Atem streifte sein Gesicht. Ich konnte sehen, wie sich die Farbe seiner Augen in leuchtendes Hellgrau verwandelte und seine Animalischen Instinkte dabei waren, wieder die Oberhand zu gewinnen. „Ansonsten wirst du mir noch einige Fragen beantworten müssen“, drohte ich mit verführerischer Stimme. „Dein Konflikt mit Ezra und anderen Hunimals. Wohin du nachts verschwindest. Warum du mich abweist, wenn du doch offensichtlich…“ Schon lag sein Mund wieder auf meinem, verschluckte die vielen Fragen die ich noch im Kopf hatte, mit einer einzigen Berührung.

Sanft, aber bestimmt, küsste er mich und ließ mir kaum genug Zeit, um Luft zu holen. Meine Hand wanderte wie von selbst zu seinem Bauch, wollten nach oben zu seiner Brust streichen, aber er heilt sie bestimmt fest, und legte sie beiseite, ohne unseren Kuss zu unterbrechen. Sonst berührte er mich kaum; er schien diesmal wesentlich bedachter zu sein, nicht die Kontrolle zu verlieren. Aber auch so flatterte mein Herz von seinem süßen Kuss, wie das eines Kolibris, und Wärme erfüllte meinen ganzen Körper, während meine Brust sich von dem Schmerz, den seine Zurückweisung verursacht hatte, erholte und in meinem Kopf ein einsames Chaos herrschte.

Kapitel 18

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 20, Abschnitt 5

 

Ein Hunimal hat definiert nach Paragraf 2, Abschnitt 1 das Recht auf eine artgerechte Behandlung; mit der Beglaubigung eines Menschen und einem ärztlichen Attest darf über die bessere Behandlung eines Hunimals debattiert werden()…

 

 

Ich vergaß alles um mich herum.

Wir verbrachten auf diese Weise fast die ganze Nacht; küssten und sahen einander an. Immer mal wieder, stoppten wir, und ich legte mich irgendwann müde mit etwas Abstand neben ihn, seine Hand in meiner und sein Gesicht dicht vor meinem, sodass wenn ich ihn küssen wollte, ich meinen Kopf nur wenige Zentimeter nach vorne bewegen musste.

In meinem Kopf schwirrten so viele Fragen herum, aber ich stelle in jener Nacht keine einzige mehr, - und wenn ich doch einmal den Mund öffnete, um eine zu stellen, versiegelte Silvan sofort meine Lippen und ich schob das eben Gedachte in die hinterste Ecke meines Gehirns. Nicht ein Wort sprachen wir, - weder er noch ich, - bis ich schließlich morgens mit einer zusätzlichen Decke und ohne Silvan aufwachte.

Kurz darauf klopfte es an meiner Tür, und mein Herz machte einen hoffnungsvollen Hüpfer, als ich ein nervöses „Herein“ vor mir gab. In der Tür erschienen Leonie und Paige mit einem Frühstückstablett.

„G-Guten M-Morgen“, begrüßte ich die beiden stotternd.

„Guten Morgen, Schwesterherz“, antwortete meine kleine Schwester und trat zu mir, gefolgt von Paige. Überrascht sah ich beide an.

„Morgen“, verkündete auch Paige lachend, - vermutlich über meinen verdatterten Gesichtsausdruck, - während Leonie mir besagtes Tablett in die Hand drückte, das sie auf meinem Schoß platzierte. Sprachlos sah ich es an; ein kleiner Korb mit Brot und einem Weckerl, ein weiches Ei, Butter, Käse, diverse Aufstriche und eine kleine Vase mit einer rosa Rose darin. Frühstück ans Bett.

„Wie komme ich denn zu der Ehre?“, fragte ich die beiden verblüfft. Ich sah, wie Leonie Paige einen ungläubigen Blick zu warf.

„Hast du vergessen, was heute für ein Tag ist?“, fragte sich mich amüsiert. „Geburtstagskind?“, half sie mir auf die Sprünge. Ich merkte, wie mir der Mund aufklappte. Schnell schloss ich ihn wieder. Ich war so mit Silvan beschäftig, dass ich…

„Jedenfalls wünschen wir dir alles Gute“, unterbrach Leonie meinen Gedanken, und umarmte mich umständlich, da ich ja immer noch lag. Leise flüsterte sie mir >>Ich hab dich lieb<< in mein Ohr, bevor sie sich wieder mit rotem Kopf löste und Paige mir stürmisch um den Hals fiel.

„Alles, alles Gute“, verkündete sie lachend und schaukelte mich wie eine Puppe hin und her, - und brachte dabei das Tablett auf meinem Schoß gefährlich ins Wanken. Ihre dunkelbraunen bis rötlichen Haare streiften meine Schultern; sie waren lang geworden.

„Vorsicht“, erklärte ich, und sie löste sich wieder von mir.

„Und wie fühlt man sich so mit siebzehn?“, wollte meine Schwester wissen und setzte sich zum mir auf die Matratze; Paige zog sie mit sich, die aus Platzmangel auf der anderen Seite von mir Platz nahm. Ich verdrehte die Augen.

„Ganz gut“, murmelte ich, und wurde bei dem Gedanken an die letzte Nacht rot. Die beiden lachten. Ich fing an, mir ein Weckerl auszusuchen und in der Mitte durchzuschneiden. Zum ersten Mal seit langem hatte ich wieder einen wirklichen Appetit.

„Eine Frage, Schwesterherz“, meinte da plötzlich Leonie misstrauisch und legte eine Hand an meinen Oberarm. „Wieso sind Silvan und du gestern Nacht so schnell verschwunden? Ihr habt uns nicht einmal gesagt, dass ihr schlafen geht. Außerdem habe ich bemerkt, wie dir Silvan in euer Zimmer gefolgt ist, obwohl er jetzt doch eigentlich in Dads Werkstatt schläft? Er hat die Nacht hier verbracht, oder?“ Sie kniff ihre Augen zusammen und verzog missmutig den Mund. Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Eine unangenehme Stille entstand.

„Nimm es ihr nicht übel“, erklärte Paige neben mir plötzlich natürlich lachend. „Sie ist immerhin nicht die einzige, die lieber zu zweit schläft. Richtig, Leo?“ Leonie schüttelte den Kopf.

„Das ist nicht dasselbe“, erklärte sie seufzend. „Ich laufe immerhin nicht Gefahr, im Schlaf von einem zentnerschweren Tier zerquetscht zu werden“, fügte sie im scherzhafteren Tonfall hinzu, und die schwere Atmosphäre lüftete sich. Sie lachten und ich lachte möglichst natürlich mit. Ich warf Paige einen dankbaren Blick zu, aber sie lächelte nur verstehend. Irgendwie nahm sie immer ein wenig zu viel wahr; ausnahmsweise kam mir das einmal zu Gute.

„Sag ihm lieber nicht, dass du das gesagt hast“, erklärte ich lachend. „Ich habe gehört, seine Art ist sehr sensibel was ihr Gewicht anbelangt.“ Wir kicherten. Nicht, dass sich Silvan wirklich Gedanken um so etwas zu machen bräuchte, aber trotzdem.

„Ein bisschen eitel sind ja die meisten Menschen oder Tiere“, fügte Paige hinzu. „Ich bin bloß froh, dass Silvan das nicht so eng sieht. Könnt ihr euch noch erinnern, als Silvan in der Unterstufe ständig gefragt worden ist, was er alles angestellt hat, weil er trotz weißer Haare noch immer in der Schule sitzt?“ Ich versuchte mein Lachen durch ein Husten zu tarnen. Und wie ich mich erinnerte! Silvan, der zwölfjährige, alte Mann.

„Oder als Silvan und du“, warf Leonie mit einem Blick auf mich ein. „Uns mal von der Schule abgeholt habt, und Ben aus unserer Klasse dachte, er wäre unser Vater?“ Wir prusteten alle samt los, und konnten gar nicht mehr aufhören zu lachen.

Silvans wahre Identität geheim zu halten, war nicht immer leicht gewesen, - war es immer noch nicht. Außer mit meiner Familie konnte ich mit niemandem darüber reden. Aber auch sie wollte ich nicht mit meinen Ängsten belasten und direkt darüber sprechen. Und das Wort Löwe war in diesem Haushalt mit Bezug auf eine Person strengstens untersagt. Vor allem meine kleine Schwester und Paige schienen sich nicht wirklich Gedanken darum zu machen, was passieren würde, wenn die Wahrheit ans Licht kommen würde. Sie wussten zwar, dass die Lage ernst war, und sie unter gar keinen Umständen jemandem von Außerhalb davon erzählen dürften, aber meiner Meinung nach, waren sie sich des Ausmaßes unseres Geheimnis nach all den Jahren immer noch nicht richtig bewusst.

Etwas, dass ich mich eigentlich noch nie wirklich gefragt hatte, - vielleicht, weil es für mich einfach selbstverständlich war, - stellte die Frage dar, warum Silvan eigentlich schwarz-weißes Haar hatte. Immerhin war er ein Weißer Löwe. Und in den wenigen Bildern, die ich von Weißen Löwen gesehen hatte, war nicht ein einziger vergleichbarer Löwe zu sehen gewesen. Nicht einer. Auch nicht bei den >>normalen<< Löwen in der Königlichen Familie. Wieso war Silvan anders? Was verschwieg man mir?

„Wie ist dein Frühstück?“, erkundigte sich Leonie bei mir und wir wechselten das Thema auf das letzte und das kommende Jahr, die Schule, Freunde, Ferien und angehende Ziele. Leonies Wunsch nach einem festen Freund ließ ich mal unkommentiert.

Als große Schwester wollte ich zwar, dass sie glücklich war, dennoch behagte mir der Gedanke, sie schon in einer Beziehung zu wissen, nicht ganz. Paige hingegen sprach von einem weiteren lustigen Jahr mit Freunden. Dem konnte ich mich nur anschließen. Das, und weitere Momente mit Silvan wie in der letzten Nacht.

Es stimmte zwar, dass das so nicht abgemacht war, aber allein die letzte Nacht hatte doch wohl alles verändert, oder?

Kapitel 19

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 29, Abschnitt 2

 

Ein Hunimal ist verpflichtet, Auskunft über alle seine Tätigkeiten beim Besitzer abzugeben; Informationen über die Umstände seines Besitzers, welcher Art auch immer, an Dritte weiter zu leiten ist strengstens untersagt und wird schwer gefahndet()…

 

 

Die >>Änderung<< auf die ich eigentlich gehofft hatte, blieb mehr oder weniger aus. Es war beinahe, als hätte die letzte Nacht niemals stattgefunden, - wenn auch nur beinahe. Vor unserer Familie benahm sich Silvan wie immer, - so wie früher, bevor ich mit meinem Geständnis beinahe alles zerstört hätte, und wir uns in Folge dessen dermaßen gemieden hatten. Einzig, wenn wir alleine waren, las ich etwas in seinem Blick und seinem Verhalten, das mir eine Gänsehaut bescherte und mich in der Hoffnung ließ, dass sich sehr wohl etwas geändert hatte, - und zwar zum Guten.

Vincent schien mein verändertes Verhalten aufgefallen zu sein, aber er sah nicht besonders glücklich darüber aus. Ich hatte ihm nichts über meine komplizierte Beziehung mit Silvan erzählt, weshalb es mich ein wenig wunderte, warum er so missmutig dreinblickte, wenn ich lächelnd in Gedanken versank.

An jenem Tag nach Silvester hatte ich noch einige Anrufe erhalten von meinen Freunden, - allesamt Glückwünsche zu meinem Geburtstag. Ich hätte nicht erstaunter sein können; ich hatte niemanden gesagt, wann ich Geburtstag hatte.

Auch Zuhause feierten wir noch richtig mit einer selbstgebackenen Torte von Leonie und Paige, - die erste, die sie alleine geschafft hatten, weshalb sie trotz steinhartem Boden und wackelnder Cremefüllung überaus stolz darauf waren, - sowie einer Flasche Sekt. Von Silvan bekam ich ein Paar goldene Ohrringe, und von Leonie und Paige war sowohl das Frühstück ans Bett, als auch die Schokotorte. Über das Geschenk meines Vaters hätte ich nicht erstaunter sein können: Ein eigenes Handy.

Er hatte immer gesagt, bis ich Volljährig war, bräuchte ich keines. Ich erinnerte mich, an das kleine schwarze Handy in Silvans Hand, und überlegte mehr als einmal, ob es womöglich mit dem plötzlichen Sinneswandel meines Vaters zu tun haben könnte.

Die Weihnachtsferien waren beinahe zu Ende. Es hatte unaufhörlich geschneit und jeder Baum, jedes Haus und jede Straßenlaterne war bedeckt von einer weißen Schneemasse. Leonie, Paige, Silvan und ich hatten es uns nicht nehmen lassen, die ein- oder andere Schneeballschlacht zu veranstalten und eine Schneemannfamilie zu bauen.

Manchmal machte Dad eine Pause von seiner Arbeit, und setzte sich wie in Watte verpackt, mit Jacke, Haube, Schal, Handschuhe und einer warmen Decke auf die Bank auf der Veranda und sah uns dabei zu. Mein Blick fiel dabei öfter auf sein Gesicht, das einen so sanften Ausdruck hatte, dass ich jedes Mal schnell den Kopf abwandte und einem Schneeball auswich, bevor er meinen Blick bemerken konnte.

Gelegentlich ging er auch aus, - überwiegend mit Eleanor Chain, unserer Direktorin. >>Über alte Zeiten reden<< nannte es mein Vater, aber entweder war damals wirklich so viel passiert, auf dass ihnen der Gesprächsstoff mittlerweile immer noch nicht aus gegangen war, oder aber er war zu schüchtern, um mehr preiszugeben.

Freitag lud mich Vincent für die nächste Woche zu sich nach Hause ein. Sobald die Weihnachtsferien zu Ende waren, und der Alltag wieder da war, könnte ich mich ohne Probleme zu ihm wagen. Es war allem Anschein nach eine Anspielung auf seinen Vater, den ich wohl nicht kennen lernen sollte. Aber nach dem wenigen, das ich bereits von Vincent erfahren hatte, - oder dieser zumindest angedeutet hatte, - legte ich auch keinen sonderlich großen Wert auf ein baldiges Kennenlernen.

Wie meine Familie wohl reagieren würde, wenn ich Vincent zu uns nach Hause einladen würde?

Besuch von der Oberschicht. Meine Familie war wohl eine der wenigen Ausnahmen, die auf Grund dieser Tatsache nicht frohlocken würde. Mein Vater war sehr offen und ehrlich, wenn er wusste, dass sein Gegenüber vertrauenswürdig war. Bei Fremden hingegen, - und vor allem bei Fremden aus den höheren Kreisen, - war er eher skeptisch. Und so jemanden freiwillig in unser Haus zu lassen, obwohl keine wirkliche Notwendigkeit bestand, würde mir unzweifelhaft einiges an Fragen und Probleme bringen. Und dann war da auch noch die Ungewissheit, wie meine Schwester Leonie, Paige und wie … Silvan reagieren würde. Mein Herzschlag beschleunigte sich, als ich daran dachte, wie eifersüchtig sein Tonfall geklungen hatte, als er mich auf meine Kette angesprochen hatte.

Doch, Vincent zu uns nach Hause einzuladen war vielleicht wirklich keine so schlechte Idee. Allerdings sollte ich meine Familie, - und damit dachte ich vor allem an meinen Vater und Silvan, - zumindest vorwarnen. Und das tat ich auch.

Es war Sonntagabend und ich hatte gerade mein Gespräch mit meinem Dad über meine Pläne einen Freund zu besuchen, - und auch zu uns einzuladen, - erfolgreich beendet, und stand nun in der Werkstatt meines Vaters vor der Tür zum Hinterzimmer, - Silvans momentanem Schlafplatz. Auffallend nervös schlug mir mein Herz viel zu heftig gegen meine Brust, sodass ich erst einmal tief durchatmen musste, bevor ich zaghaft eine Hand hob, und anklopfte.

„Ja?“, hörte ich Silvans dumpfe Stimme auf der anderen Seite der Tür. Es war unverkennbar, dass er wusste, wer da vor der Tür stand. Ich holte noch einmal tief Luft und öffnete dann die Tür um einzutreten.

„Hi“, begrüßte ich ihn leise. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine graue Jogginghose und saß im Schneidersitz auf dem alten, beigen Teppich, der seinerzeit von meiner Großmutter in den hinteren Teil des Hauses, - in Dads Werk-und Hinterzimmer, - verbannt wurde.

Das Zimmer war klein, schmal und voller dunkler Regale mit Werkzeugen, Plänen und Farbutensilien. Am Ende des Zimmers befand sich ein kleines Fenster, und darunter Silvans improvisiertes >>Bett<<, - demnach also seine Matratze. Um Silvan herum, sowie auf seinem Schoß lagen Bücher in allen erdenklichen Farben und Größen verstreut. Wache, eisblaue Augen sahen mich abwartend an.

„Darf ich kurz reinkommen?“, fragte ich ihn, um einen lockeren Tonfall bemüht, und er nickte. Ein kleines Lächeln zierte sein Gesicht.

„Was gibt’s, Emma?“, erkundigte er sich und legte sein Buch zur Seite, um sich besser auf mich konzentrieren zu können. Ich schloss die Tür hinter mir, ging an ihm vorbei und setzte mich, - auf Grund der größeren Bequemlichkeit, - auf sein Bett.

„Ich muss mit dir reden“, verkündigte ich ernst. Silvans Lächeln verschwandt, und er nickte verstehend. Keine Minute später saß er schon neben mir. Sein Körper strahlte eine angenehme Ruhe und Wärme aus, sodass ich den Drang unterdrücken musste, mich einfach an ihn zu schmiegen. Ich räusperte mich leise.

„Also das kommt jetzt vielleicht ein wenig überraschend“, begann ich mit meiner Schilderung und sah ein wenig schüchtern zu Boden. „Aber ich kann dir versichern, dass es das keines Falls ist. Eher schon längst überfällig. Ich habe auch schon mit Dad darüber geredet und ihm das Ganze erklärt und er hatte nichts dagegen, also…“ Meine Wangen färbten sich leicht rosa, als ich an das eben geführte Gespräch mit meinem Dad dachte, und dessen Gesichtsausdruck bei der Erwähnung von Vincents Namen. Wobei ihm die Tatsache wesentlich mehr überrascht hatte, dass seine nun siebzehnjährige Tochter das erste Mal einen Jungen mit nach Hause brachte, als der Umstand, wer dieser Junge eigentlich war. Mein Vater war nicht gerade ein sehr Klatsch-interessierter Mensch, aber selbst ihm war Vincents Familienname ein geläufiger Begriff.

„Ich bin mir nicht sicher, von was genau du sprichst“, erklärte Silvan vorsichtig. Überrascht von seinem abwartenden Tonfall hob ich den Blick und sah ihn an. Seine Körperhaltung war recht locker und entspannt, aber ein Blick in seine grauen Augen verriet mir genau das Gegenteil. „Aber würde es dir etwas ausmachen >>das Ganze<<, wie du es so schön bezeichnest, ein wenig ausführlicher zu erklären?“ Sein schöner Mund öffnete sich und ich brauchte einen Moment, um zu realisieren was er überhaupt gesagt hatte. Als es mir endlich klar wurde, beeilte ich mich umso schneller, die Lage aufzuklären.

„Ach so, ja natürlich“, erklärte ich so hastig, dass sich meine Wörter fast überschlugen. „Aber es ist auch eigentlich überhaupt keine große Sache, naja, eigentlich. Es ist nur so, dass wir fast nie Besuch haben, - und vor allem nicht ich, - deshalb wollte ich euch eigentlich nur vorwarnen.“ Ich sah, wie sich Silvans Stirn in Falten legte und sein Mund beinahe amüsiert zuckte, was zur Folge hatte, dass meine Wangen nur noch einen Rotton tiefer annahmen.

„Eigentlich, ja?“, fragte er amüsiert. Lachte er etwa über mich? Ich beeilte mich, mit meinen Anführungen fortzufahren, bevor mir meine Nervosität noch die Sprache verschlug.

„Selbst Leonie hat schon das ein oder andere Mal eine Freundin mitgebracht“, erklärte ich, als müsste ich mich verteidigen. „Und ich wurde zufällig von jemandem eingeladen… Da dachte ich mir, dass es nur höflich ist, wenn ich ihn auch einlade.“ Außerdem wollte ich ihm wirklich gerne zeigen, wo und wie ich wohnte.

„Ihn?“, erkundigte er sich mit erhobenen Augenbrauen. Graue Augen blickten mich neugierig und fast schon ein wenig skeptisch an.

„Ja, ihn“, wiederholte ich schüchtern, ohne den Namen auszusprechen, den er hören wollte. Mein Herz schlug schneller bei der Angst vor seiner Reaktion, wenn er ihn erfuhr.

„Ihn, Marcus, oder...?“, ließ er den Satz in der Luft hängen.

„Ihn, Vincent“, gestand ich leise.

Stille. Absolute Stille. Er zeigte überhaupt keine Reaktion. Von einem Moment auf den anderen war kein Laut mehr im Zimmer zu hören. Silvan war wie zur Eisstatue erstarrt; wenn ich nicht durch einen heimlichen Seitenblick auf ihn wüsste, dass er neben mir säße, hätte ich es nie geglaubt. Ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob er überhaupt atmete, so still war es. Das laute Klopfen meines Herzens schien dagegen den ganzen Raum auszufüllen. Minutenlang saßen wir so da. Unbeweglich. Und ohne ein Wort. Schließlich reagierte er aber doch.

„Wann?“, verlangte er zu wissen. Ich schluckte, war aber gleichzeitig erleichtert, dass er endlich eine Reaktion zeigte.

„Wann ich zu ihm fahre, oder wann er kommt?“, erkundigte ich mich zaghaft.

„Beides“, stieß er hinter zusammen gebissenen Zähnen hervor. Diesmal seufzte ich wirklich. Aber aus einem anderen Grund.

„Also ehrlich gesagt, habe ich ihn noch gar nicht wirklich gefragt, ob er mal zu mir kommen möchte. Er hat mich lediglich für Freitag zu sich nach Hause eingeladen, und wenn alles gut läuft, kommt er vermutlich in der Woche darauf. Montags, vielleicht“, überlegte ich. Die Frage war bloß, ob damit mein um diese Zeit üblicher Besuch im Literaturcafé weg fiel. Aber das könnte ich bei der Gelegenheit doch eigentlich gleich Ezra fragen… Auch wenn ich bei dem bloßen Gedanken daran, alleine mit dem schwarzen Puma zu sein, ein Schütteln unterdrücken musste.

Ein unverbindliches >>Hm<< war alles, was Silvan als Erwiderung vorzubringen hatte.

Eine Weile saß ich noch bei ihm, - in der wir kein Wort mehr miteinander wechselten, - bis ich schließlich aufstand, und verkündete, jetzt besser in mein Zimmer zu gehen. Am Türrahmen hielt ich noch einmal kurz inne und sah zu Silvan. Er saß immer noch in der gleichen Position wie eben auf der Matratze und sah nachdenklich zu Boden. Er sah so seltsam… unglücklich aus.

Ich wollte nicht gehen.

Es kostete mich alle Kraft, nicht zurück zu laufen und mich in seine Arme zu werfen. Ihn nicht anzuflehen, endlich die Karten auf den Tisch zu legen und mir zu offenbaren, was er wirklich dachte oder fühlte. Ihn nicht wieder zu berühren, - überall, - und stürmisch zu küssen, bis dasselbe animalische Glitzern in seine Augen treten würde, welches mir verriet, wie sehr er mich wollte, - und wenn auch nur für diesen einen Augenblick. Es war wirklich unsagbar schwer, den Blick abzuwenden und aus dem Zimmer zu treten, - und das allein.

Als ich mich am nächsten Tag wieder mit Vincent traf, war dieser ungewöhnlich still. Das war er zwar normalerweise auch, - aber nie ohne die ein- oder andere beißende Bemerkung über mich, meine Bücherwahl oder mein Verhalten. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, würde ich sagen, er wäre schüchtern.

Kapitel 20

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 14, Abschnitt 5

 

Ein Hunimal, der nach Einbruch der Dunkelheit ohne seinem Besitzer unterwegs ist, muss einen aktuellen und gültigen Ausweis sowie die unterzeichnete Bestätigung des Auftrages seines Besitzers vorzeigen können; des Weiteren muss dessen Besitzer jeder Zeit telefonisch erreichbar sein und die selbigen Angaben bestätigen können()…

 

 

Ich war überrascht, wie sehr ich mich freute, meine Freunde wieder zu sehen. Die Schule direkt hatte mir nicht wirklich gefehlt, - eher das Gegenteil, - aber doch dessen Begleiterscheinungen. Beth sah ich als erste.

Sie hatte ihre blonden Locken zu einem etwas lockeren Dutt hochgesteckt, und einige ihrer Haarsträhnen fielen ihr dabei in das lächelnde Gesicht. Glücklich umarmte sie mich; allem Anschein nach, wurde auch ich vermisst.

„Hi, Emma“, begrüßte sie mich, immer noch ihre Arme um mich geschlungen. Es war äußerst schwer sich ihr zu entziehen; sie war ganz schön stark.

„Hey, Beth“, prustete ich nach Luft ringend. „Du kannst mich jetzt wieder los lassen“, versicherte ich ihr erstickt lachend. Sofort wurde der Druck geringer.

„Oh, entschuldige“, gestand sie und ließ mich sofort los. „Ich freu mich nur dich zu sehen. Bei unserem Telefonat hast du so… seltsam geklungen.“ Mein Gesichtsausdruck versteinerte sich.

„Wi-Wie meinst du das?“, erkundigte ich mich zaghaft und versuchte das gleiche unbeschwerte Lächeln von vorhin auf mein Gesicht zu zaubern; es wollte mir nicht wirklich gelingen.

„Ach, ich weiß auch nicht…“, wich sie meiner Frage aus. „Aber jetzt erzähl erst mal. Wie waren deine Ferien? Hast du viele Geschenke zu Weihnachten bekommen? Und hat es bei dir auch so viel geschneit…“ Ihre Fragen wollten kein Ende nehmen, aber ich bemühte mich, sie wenigstens im Ansatz alle zu beantworten.

Von Beth erfuhr ich, dass sie ihre Ferien zum größten Teil bei ihren Großeltern verbrachte, um wenigstens ein bisschen Ruhe vor den >>kleinen Monstern<< Zuhause zu haben. Auch ich hatte meine Ruhe in den Ferien; den Grund wollte ich ihr allerdings nicht auf die Nase binden. Wenig später begrüßte ich auch den Rest unserer Truppe und ein paar Klassenkameraden. Vincent entdeckte ich nicht, dafür aber Ezra.

Er stand nur wenige Meter neben mir, - sicher hinter der Glasscheibe, die unser Klassenzimmer trennte. Es war merkwürdig ihn dort stehen zu sehen; er nahm fast nie am Unterricht teil. Sprich, ich hatte ihn bis jetzt kaum hier gesehen. Als er merkte, dass ich ihn anstarrte, fuhr sein Kopf herum und seine Augen blickten starr in meine. Sofort wandte ich den Blick ab. Der harte Blick seiner fast gelben Augen jagte mir auf eine merkwürdige Art Angst ein, und ich traute ihm nicht.

„Beth hat erzählt, du hast jetzt endlich ein Handy“, stieß mich Marcus von der Seite an und lächelte. Ich schüttelte alle erschreckenden Gedanken ab, - oder zumindest versuchte ich das, - streckte mich, und setzte ein fröhliches Gesicht auf.

„Ganz recht“, bestätigte ich ihm. Bei dem Anblick seiner heiteren Miene fiel es mir nicht weiter schwer, das Lächeln echt wirken zu lassen.

„Tja, dann wird es wohl höchste Zeit, dass du mich um meine Handynummer bittest, oder?“, zog er mich auf, und ich gab ihm einen kleinen Klaps auf die Schulter.

„Wohl eher umgekehrt“, berichtigte ich ihn lachend, gab mich aber geschlagen und tippte meine Nummer in sein Mobiltelefon ein, - dem Aussehen zu urteilen, das neueste Modell.

„Ich glaube, da schließ ich mich auch gleich an“, erklärte Vivien und drückte mir ihr blaues Handy in die Hand. Ich seufzte und tippte auch bei ihr meine Nummer ein. „Welches Modell hast du?“, erkundigte sie sich bei mir. Ohne zu antworten zog ich es einfach hervor und zeigte es ihr.

„Oh. Ja, das ist ganz gut“, urteilte sie über meinen neuesten Besitz. „Ein wenig alt, aber gut. Ich hatte dasselbe Modell vor einigen Jahren.“ Plötzlich wurde es mir sanft aus der Hand gerissen. Keine zehn Sekunden später hatte ich es wieder in der Hand und Thomas verzog sich wieder hinter eines seiner Comic-Hefte. Als ich auf den Bildschirm blickte, sah ich, dass auch er mir seine Nummer gegeben hatte.

„Danke“, erklärte ich leise, und er nickte bloß ohne aufzusehen. Es klingelte zur Stunde. Der Unterricht begann und Vincent war noch immer nicht da.

Wo zum Teufel steckte er?

Es war ungewöhnlich, ihn nicht im Unterricht zu sehen oder seinen bohrenden Blick im Rücken zu spüren, - auch wenn dieser über die letzte Zeit einiges an Intensität verloren hatte. Gott sei Dank.

Mein Blick fiel auf Silvan hinter der Glasscheibe. Er wirkte angespannt, und als seine grau-blauen Augen meine trafen, war sein Blick so intensiv, dass ein elektrischer Blitz durch meinen ganzen Körper schoss. Schnell sah ich wieder nach vorne zu unserem Geschichtelehrer. Marcus neben mir sah mich ein wenig besorgt an.

„Alles okay bei dir?“, erkundigte er sich leise. Ich sah zu ihm; seine Stirn lag in Falten und sein Gesicht zierte ein unsicheres Lächeln.

„Ja, klar“, flüsterte ich zurück. „Alles bestens.“ Da ich dem Blick seiner viel zu schlauen Augen nur schwer standhalten konnte, fixierte ich lieber angestrengt den Boden unter mir. Ich bekam das seltsame Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas nicht stimmte.

Silvan wirkte angespannt.

Vincent war nicht da.

Dafür aber Ezra.

Das war doch merkwürdig; die ganze restliche Stunde ließ mich dieses untrügliche Gefühl nicht ein einziges Mal los, und ich begann mich zu fragen, was ich wohl versäumt hatte. Vielleicht wurde ich aber auch nur paranoid und sah Gespenster, wo keine waren. Zuzutrauen wäre es mir. Als es endlich zur Pause läutete, schien es mir, als hätte die Stunde eine halbe Ewigkeit gedauert.

„Gehst du mit zum Buffet?“, erkundigte sich Marcus bei mir und ich nickte eifrig, stand auf und folgte ihm aus dem Klassenzimmer. Bei der Tür angekommen, warf ich noch einmal einen letzten Blick auf die >> andere Seite<<, - doch von Silvan und seinem Lieblingsfeind fehlten jede Spur. Ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Na, was ist? Bist du da hinten festgefroren?“, neckte Marcus aus einigen Metern Entfernung. Ich schnaufte einmal.

„Haha“, erklärte ich grinsend und setzte mich wieder in Bewegung. „Aber ich bin auch hier nicht diejenige, die sich stundenlang anstellen müssen wird, nur um sich am Ende ein simples Pausenbrot kaufen zu können.“ Er warf mir einen gespielt bösen Blick zu.

„Immerhin begleitest du mich“, erinnerte er mich. Ich zuckte nur mit den Schultern. Wo er Recht hatte, hatte er Recht. „Und, wie waren deine Ferien?“, fragte er auf halbem Wege zur großen Aula.

„Kurz“, antwortete ich ihm ein wenig ausweichend; es war anstrengend sich immer wieder an das Geschehene erinnern zu müssen. Wenn nicht an die beinahe körperlichen Schmerzen, die Silvan mit seinen Worten, - seiner Abweisung, - mir bereitete, dann war es die unvergessliche Erinnerung an seine Nähe, seinen Geruch und… sein Verlangen. Schon zog sich mein Magen bei dem Gedanken an die Sehnsucht nach ihm schmerzhaft zusammen.

„Und bei dir?“, versuchte ich mich vergeblich etwas abzulenken.

„Auch. Ich glaube, ich hab die Hälfte der Ferien verpennt“, gestand er lachend. Ein wenig stockend fiel ich mit ein.

„Da bist du nicht der einzige“, versicherte ich ihm, mich zwingend, Silvan wieder aus meinem Kopf zu verbannen, - zumindest solange ich in der Schule war. „Da bist du sicher nicht der einzige.“

Gegen Ende des Tages war ich mir beinahe absolut sicher, dass etwas im Busch war.

Vincent war nicht mehr aufgetaucht. Und nachdem mir Ezra auf dem Nachhauseweg einen langen, nachdenklichen Blick zugeworfen hatte, bis ihn Silvan mit seiner großen Gestalt verdeckt hatte, - was dieser zweifellos absichtlich getan hatte, auch wenn er es sich nicht im Geringsten anmerken ließ, - und sich Silvan nach dem Mittagessen auch noch ohne erwähnbaren Grund verabschiedet hatte, wusste ich, dass etwas passiert war.

Bloß was? Was hatte ich, - wieder einmal, - versäumt?

Und was war die Verbindung zwischen den dreien?

Ezra war Vincents Hunimal. Und er stand im Konflikt mit Silvan.

Aber was hatte das damit zu tun, dass Vincent heute abwesend war?

Oder, dass sich Silvan am helllichten Tag aus dem Staub machte?

Als ein Hunimal der Mittelschicht war es für ihn schwerer, als für viele andere sich in der Stadt zu bewegen, - und vor allem alleine, war es ihm nicht einmal erlaubt. Man würde ihn sofort verhaften. Man würde uns benachrichtigen, und es würde zu einer Anhörung kommen. Ich wusste das alles. Ich hatte es schon ein paar Male bei alten Freunden miterlebt.

Also, was war so schlimm, dass es nicht bis zum Sonnenuntergang warten konnte? Was war Silvan so viel wert, dass er dafür eine Verhaftung riskierte?

Kapitel 21

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 9, Abschnitt 7

 

Die Haltung eines Hunimals, obwohl dies als Norm gilt, entspricht nicht pflichtend der Gesetzeslage; jedem Menschen, der nach Paragraf 1, Abschnitt 3 berechtigt ist, einen Hunimal zu halten, steht es frei, sein nicht in Anspruch genommenes Besitzerrecht auf unbestimmte Zeit zu verlängern()…

 

 

Ich war hin und her gerissen. Marcus war gerade drauf und dran mich dazu zu überreden, ihn auf die >>andere Seite<< zu begleiten.

Es war verlockend, - sehr sogar, - aber mein Gewissen machte mir einen Strich durch die Rechnung; immerzu erinnerte es mich an mein Versprechen an Silvan, - welcher im Übrigen gestern Nacht wohlbehütet wieder nach Hause zurückgekehrt war. Heute Morgen am Frühstückstisch hatte er frustrierender Weise nicht einmal eine Miene verzogen, als ich ihn auf seine Rückkehr angesprochen hatte.

„Komm schon“, redete Marcus leise auf mich ein. „Uns passiert schon nichts. Und wir waren schon so lange nicht mehr drüben.“ Sein Ton klang beinahe sehnsüchtig. Ein wenig unwirsch antwortete ich ihm.

„Dann geh doch alleine. Niemand zwingt dich hierzubleiben“, erklärte ich gepresst; ich war wütend darüber, dass ich nicht einfach ohne wenn und aber mitkommen konnte, - und die Wut darüber ließ ich, - obwohl ich wusste, wie ungerechtfertigt es war, - an ihm aus.

„Nein, Emma“, erwiderte er geknickt, und schüttelte unaufhörlich den Kopf. „Ich kann nicht wieder anfangen >>Krank zu werden<<.“ Die Gänsefüßchen waren nicht zu überhören. „Bei meinem nächsten Ausreißen, verständigen die meine Eltern“, erklärte er und ich senkte frustriert den Kopf. Ich hatte ja durchaus Mitleid mit ihm, - aber nicht genug, um deswegen mein Versprechen zu brechen. „Außerdem will ich nicht mehr alleine gehen, - ohne dich macht das Ganze nur halb so viel Spaß“, gestand er und warf mir ein umwerfendes Lächeln zu. Seine Zähne wirkten unnatürlich weiß und erinnerten mich an die, von Ezra. Mich fröstelte.

„Es ist zu früh“, erklärte ich leise und sah ihn entschuldigend an. „Tut mir leid, Marcus. Vielleicht in ein paar Wochen.“

Oder auch Monaten. Ich schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.

„In Ordnung“, willigte er ein. „Ich werde dich daran erinnern.“ Allem Anschein nach, gab er sich doch noch nicht so schnell geschlagen. Irgendwie freute mich das, und ich lachte befreit auf.

„Tu was du nicht lassen kannst“, erklärte ich glücklich und klopfte ihm auf seine linke Schulter. Manchmal musste man ihn einfach gern haben. Wenn Marcus dermaßen darauf bestand, dass ich ihn begleiten sollte, wäre es doch nicht-zu-verantworten-Unhöflich von mir, wenn ich seinem, - wie ich wusste, eigentlich unbedenklichen, - Wunsch nicht irgendwann einmal nachgeben würde, oder?

Der Freitag kam indessen immer näher. Als Vincent auch am Donnerstag der Schule fern blieb und mir keine Nachricht oder Ähnliches zukommen ließ, befürchtete ich schon fast, er hätte unsere Verabredung vergessen. Oder er tat so, als ob.

Eigentlich müsste Silvan erfreut über diese Nachricht sein, aber das war er nicht. Er mochte sich zwar vor Leonie, Paige oder unserem Vater nichts anmerken lassen, aber ich sah genau, dass etwas nicht mit ihm stimmte. Seine Miene war zu ernst, zu angespannt. Immer wieder schien er in Gedanken versunken zu sein und war wesentlich unaufmerksamer als normalerweise.

War ich denn die einzige, der sein verändertes Verhalten auffiel?

Donnerstagabend hielt ich es nicht mehr aus, und stellte ihn zur Rede.

„Silvan“, erklärte ich ein wenig unsicher und knetete nervös meine Hände. „Hast du kurz Zeit?“ Wir standen in der Küche und er hatte gerade den Kühlschrank geöffnet. Unberührt sah er mich an und machte keine Anstalten die Tür zu schließen. Ich schluckte. „Wir müssen reden.“

Meine Schwester war heute ausnahmsweise einmal bei einer Freundin und Paige hatte sich, - vermutlich aus Frust, nicht auch eingeladen worden zu sein, - in ihr Zimmer zurück gezogen. Dad war dort, wo er immer war: in der Werkstatt. Das Haus war praktisch leer.

„Bitte“, hängte ich leise an und hörte ihn seufzen. Er schloss die Kühlschranktür und drehte sich zu mir um. Seine eisblauen Augen bohrten sich in meine, als er sich gemächlich hinten an die silberne Tür lehnte. Sein Ton war aber alles anders als gemächlich oder sanft.

„Als du das letzte Mal gesagt hast >>Wir müssen reden<<, endete das mit der Offenbarung, dass du bereit bist mein Leben, - unser aller Leben, - zu riskieren, um deines angenehmer zu machen“, erklärte er beinahe hart. Ich riss die Augen auf. Als er meinen geschockten Blick sah, wurde sein Blick weicher und er seufzte einmal tief auf. „Also, was ist es diesmal?“, erkundigte er sich sanft und mit resigniertem Unterton.

„Ich…“, begann ich überfordert, konnte den Satz aber nicht zu Ende sprechen oder auch nur denken. Viel zu geschockt war ich noch darüber, was er mir gerade an den Kopf geworfen hatte.

Er hatte unrecht. Das wusste ich. Meine Freundschaft zu Vincent war nicht gefährlich. Nicht für mich, nicht für unsere Familie, und auch nicht für ihn. Vincent war… Ich konnte ihm vertrauen. Einmal ganz davon abgesehen, dass selbst wenn er, - so unwahrscheinlich es auch war, - tatsächlich Silvans wahre Identität herausfinden würde, er damit bestimmt nicht als Erstes zu seinem Vater rennen würde, um uns zu verpfeifen. So war Vincent nicht. So war ich nicht. Dachte Silvan wirklich, ich würde unser aller Leben, - sein Leben, - riskieren, nur weil…

„Si-Silvan, das…“, brachte ich nach einer halben Ewigkeit stotternd heraus. „So… wie du das darstellst… so stimmt das ni-nicht.“ Meine Kehle war staubtrocken.

„Vergiss es einfach, Emma“, erklärte er locker, aber in seinen Augen lag viel zu viel Ernsthaftigkeit, zu viel Traurigkeit, als das ich einfach darüber hinwegsehen hätte können.

„Nein, i-ich will es nicht vergessen“, stellte ich deutlich meinen Standpunkt klar. Unbewusst war ich einen Schritt auf ihn zu gegangen. „Silvan, ich hatte meine Gründe, warum ich all das tat. Warum ich das kleine, - und zugegeben damals wirklich anwesende, - Risiko einging, aber die Lage ist jetzt eine ganz andere. Und die Gründe von heute sind so grundverschieden von damals, das ich auch nicht aufhören werde, >>alles zu riskieren<< wie du es ausdrückst. Aber ich tue das nur, weil da jetzt gar kein Risiko mehr ist.“ Ich stand jetzt so nahe vor ihm, dass ich nur die Hand ausstrecken müsste, um ihn zu berühren.

„Emma, du kannst nicht vorhersehen, wie andere reagieren“, warf er ein, und ich legte ihm beruhigend eine Hand auf seine linke Brust. Er ließ es zu. Ich spürte seinen Herzschlag bis durch sein schwarzes T-Shirt hindurch. „Das kann niemand“, fügte er hinzu und ich rückte mit meinem Körper noch ein Stückchen näher an ihn heran. Er lehnte inzwischen nicht mehr an der silbernen Kühlschranktür, sondern stand fest wie ein Fels vor mir. Die Stellen, an denen sich unsere Körper berührten, brannten selbst durch die Kleidung hindurch, und jagten heiße Blitze durch meinen ganzen Körper. Ich hob den Kopf und sah zu ihm hoch und in seine Augen. Ein raubtierähnliches Blitzen war in ihnen zu erkennen. Ich bekam eine Gänsehaut und unterdrückte den Drang, ihm mit meiner Hand übers Gesicht zu fahren und ihn zu streicheln.

„Vertrau mir“, erklärte ich inständig. Wie immer, erwiderte er meinen Blick.

„Dir vertraue ich ja“, gestand er leise und küsste mich überraschend auf die Stirn. Meine Wangen färbten sich rosa. Er nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich eindringlich an. „Es ist… dieser Vincent, und der Rest der Welt, welche mir Sorgen bereiten.“ Seine Augen hatten die Farbe von flüssigem Silber. Ich hielt die Luft an.

„Dann vertrau mir, wenn ich dir sage, dass wir Vincent vertrauen können“, flüsterte ich liebevoll.

„Wie gerne würde ich das“, erwiderte er leise, und mit einem kleinen Lächeln, das mein Herz höher schlagen ließ. „Aber es wird immer ein Restrisiko bestehen bleiben.“ Noch ehe ich etwas erwidern konnte, hatte er mich auch schon an ihn gedrückt. Mein Kopf lag unter seiner Halsbeuge, - an seine Brust gepresst, - und ich spürte, wie er mir mit einer Hand sanft durch mein langes Haar fuhr. Es fühlte sich so gut an, ihm nahe zu sein. So natürlich.

„Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen“, versicherte ich ihm so leise, dass ich es selbst kaum verstehen konnte. „Und sollte doch der Fall der Fälle eintreffen… werde ich dich beschützen.“ Sein Brustkorb vibrierte und ich vernahm ein leises Lachen, - rau, männlich und sexy.

„Hast du das jetzt gerade wirklich gesagt?“, lachte er ungläubig und festigte seinen Griff um mich. Ich schluckte.

„Ach, sei still“, erwiderte ich ein wenig eingeschnappt. „Das war mein voller Ernst.“

„Ich weiß“, erwiderte er, immer noch amüsiert. „Aber ich lache lieber darüber, als mir einzugestehen, dass du es tatsächlich ernst meinst.“ Es war mir unmöglich seinen Tonfall auszumachen, aber an meinem rechten Ohr vernahm ich ganz deutlich wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Ohne mich aus unserer verschlungenen Umarmung zu lösen, hob ich eine Hand an sein Kinn, und strich sanft höher bis zu seiner Wange.

„Und was wäre daran so schlimm?“, fragte ich leise. „Wenn ich es tatsächlich ernst meinte?“

„Du vergisst zwei ganz wichtige Dinge“, klärte er mich auf, nahm meine Hand von seiner Wange, hielt sie aber weiterhin fest und drehte mich wie beim Walzer Tanzen aus seinen Armen. Wir standen jetzt wieder Angesicht zu Angesicht.

„Und die wären?“, erkundigte ich mich neugierig.

„Zunächst einmal hast du die Rollen völlig falsch verteilt“, erklärt er und grinste schelmisch. „Immerhin bin ich dein Hunimal und Beschützer, - und nicht umgekehrt.“ Sein Lächeln war umwerfend und offenbarte eine ganze Reihe weißer, eigentlich gefährlicher Reißzähne.

„So, so“, ging ich auf seinen Tonfall ein. „Und das Zweite? Was habe ich noch außer Acht gelassen, Oh-du-großer-Beschützer?“ Seine Augen glitzerten, als ich mich so über ihn lustig machte, und er warf mir einen gespielt angriffslustigen Blick zu. Einzig das gefährliche Glitzern in seinen grauen Augen verriet, dass es sich vielleicht gar nicht um ein Spiel handelte. Unbewusst hielt ich den Atem an, als er sich langsam so weit nach Vorne beugte, dass sein Mund fast mein Ohr berührte. Sein Atem streifte meine Haut und in meinem Bauch begann es ungeduldig zu ziehen.

„Emma, du tust mir keinen Gefallen, wenn du dich bei dem Versuch mich zu beschützen selbst in Gefahr begibst und womöglich auch noch verletzt wirst, - eher das Gegenteil“, raunte er und ich konnte nicht verhindern, dass sich bei seiner rauen, verführerischen Stimme beinahe genießerisch meine Augen schlossen.

Ich wollte mehr. Mehr von ihm. Und das am besten gleich.

Viel zu schnell rückte er wieder von mir ab, wandte sich kurz dem Kühlschrank zu, verließ anschließend die Küche und ließ mich mit meinen Sehnsüchten allein zurück.

Kapitel 22

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 29, Abschnitt 1

 

Die von einem Menschen aufgestellten Gesetze, Verbote und Regeln für die individuelle Behandlung seines Hunimals behalten so lange ihre Gültigkeit, bis sie von dem Besitzer abgeändert oder ausdrücklich aufgehoben werden()…

 

 

Es war jetzt ganz offiziell: Man hatte mich versetzt.

Es war Freitag, der Unterricht zu Ende und von Vincent keine Spur zu sehen. Kein Lebenszeichen von dem aufbrausenden, ungewöhnlichen Klassenkameraden. Nichts, dass darauf hindeutete, er hätte unsere Verabredung nicht vergessen.

Keine Nachricht. Nichts. Noch nicht einmal Ezra war irgendwo aufzufinden. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich mich wirklich auf meinen Besuch bei ihm gefreut hatte, - denn ich machte in der Regel keine Hausbesuche oder lud Freunde zu uns ein, - abgesehen davon, empfand ich es ein klein wenig demütigend einfach so stehen gelassen zu werden. Vergessen. Als wären weder ich noch unser Treffen wichtig genug, als dass er sich daran erinnerte.

Ein wenig frustriert verließ ich das Schulgebäude und war mehr als überrascht, Silvan nicht wie sonst unter der alten Eiche in einiger Entfernung bei den Parkplätzen wieder zu finden, sondern beinahe direkt vor dem Haupteingang. Seine Miene war ein wenig zu ernst für einen gewöhnlichen Freitagnachmittag.

„Silvan“, begrüßte ich ihn überrascht und sah einmal nach links und rechts. Niemand schien sich an einem Hunimal vor dem schulischen Haupteingang der Menschen zu stören. „Was machst du hier? Sind dir die Füße eingeschlafen, oder warum wartest du hier Vorne in der Kälte auf mich?“

„Kalt ist es überall, Emma“, erwiderte er gelassen und verschränkte unsere Arme miteinander, als ich neben ihm zum Stehen kam. Normalerweise ging diese Berührung immer von mir aus. „Es macht keinen großen Unterschied, ob ich hier warte oder in 150 Metern Entfernung.“ Er lächelte und sah mir einen kurzen Moment lang in die Augen, bevor er begann, die ersten Schritte weg vom Schulgebäude zu machen. Da ich jede Hoffnung auf ein Zeichen von Vincent schon aufgegeben hatte und mir kein triftiger Grund einfiel, es nicht zu tun, ließ ich mich von Silvans starken Armen mitziehen.

„Wegen unserem Ausflug…“, begann Silvan und ließ den Satz in der Luft hängen.

„Was ist damit?“, erkundigte ich mich, nicht verstehend, worauf er hinaus wollte.

„Ich dachte da an April, wenn das für dich in Ordnung geht“, erklärte er und hob fragend eine seiner schönen Augenbrauen.

„Es ist erst Jänner, Silvan“, erwiderte ich die Augen verdrehend. „Plan doch nicht so weit im Voraus.“ Ich wusste nicht, ob ich besser lachen oder seufzten sollte.

„Aber sonst hast du keine Einwände, oder?“, erkundigte er sich noch einmal. Ich runzelte die Stirn.

„Nein“, stellte ich ein wenig verwirrt, warum er so sehr darauf beharrte, klar. „Sonst habe ich kein Problem damit. Im April ist es hoffentlich auch schon um einiges wärmer, als jetzt.“ Seine eisblauen Augen blickten mich zufrieden an.

„Das glaube ich auch“, stimmte er lächelnd zu. Es war nur ein sehr kleines Lächeln, aber es war stark genug, um einen ganzen Schwarm tosender Schmetterlinge in meinem Bauch zu verursachen. „Und wenn wir schon einmal aus der Stadt raus sind, könnten wir doch auch gleich länger bleiben“, fügte er leise hinzu. Ich unterdrückte ein erstauntes Japsen.

„Wie viel länger?“, erkundigte ich mich skeptisch. „Vergiss bitte nicht, dass wir Schule haben. Die Welt hört nicht plötzlich auf sich zu drehen, nur weil wir einmal die Stadt verlassen.“ Ein wenig irritiert sah ich ihn an, aber er ging nicht weiter darauf ein.

„Jaja“, tat er die ganze Sache ab. Mein Blick blieb noch ein wenig länger an seinem Gesicht hängen, aber tat so, als bemerkte er es nicht und richtete seinen Blick nach Vorne, als wäre nichts.

Aus unerfindlichen Gründen machte mich seine letzte Aussage nervös.

Wie lange würde >>länger<< tatsächlich bedeuten?

Zuhause half ich Leonie und Paige erst einmal beim Essen kochen. Sie hatten nicht mit mir gerechnet, - ich sollte ja eigentlich um diese Zeit bei Vincent Zuhause sein, - sie waren aber trotzdem froh, dass ich doch normal nach Hause gekommen war, und ihnen beim Kochen und beim Abwasch half.

Es war im Übrigen nicht so, dass unser Vater einfach faul war, und uns Kindern alle lästigen Arbeiten erledigen ließ. Viel mehr hatten Silvan und ich eines Tages selbst, - und zugegeben, mit etwas Anregung meiner Großmutter, - begonnen, meinem Vater ein wenig unter die Arme zu greifen. Nach dem Tod meiner Großmutter und Dads Unfall allerdings, der ihm sein linkes Bein gekostet hatte, tat er sich bereits bei den einfachsten Aufgaben äußerst schwer, obgleich er uns seine Belastung niemals offen spüren ließ.

Mit der Zeit begann ich den Hauptteil aller Hausarbeit selbst zu erledigen, - während Silvan öfters Dad in seiner Werkstatt behilflich war, - und obwohl meine kleine Schwester und deren gleichaltriger Hunimal mit dem steigenden Alter eine zusätzliche Unterstützung bildeten, war es immer noch ich, - ohne mir dabei selbst auf die Schulter zu klopfen, - welche sich um den Haushalt kümmerte. Vermutlich sollte ich Leonie und Paige langsam mehr mit einbeziehen, aber es war schwer plötzlich Arbeit abzugeben. Und ungewohnt. Wenn ich nicht mehr das Familienmitglied war, das dafür sorgte, dass wir nicht alle im Chaos lebten, welchen Nutzen hatte ich dann überhaupt? Und außerdem… was tat ich dann mit all der Zeit?

„Ist deiner Verabredung was dazwischen gekommen?“, erkundigte sich Leonie in einem Tonfall, der fast beißend klang, und den ich beinahe noch nie aus ihrem Mund gehört hatte. Wir hatten gerade fertig gegessen und ich hatte mich erhoben, um die Teller abzuräumen. Ich musste einmal schwer schlucken.

„Sieht ganz so aus“, erwiderte ich mit trockener Kehle und flüchtete in die Küche. Nachdem ich die Teller abgestellt hatte, musste ich mich erst einmal einen Moment an der Küchenteke festhalten, bevor ich wieder genug Kraft hatte, zu den anderen zurück zu kehren.

„Und was war so wichtig, dass er dich dafür versetzt hat?“, vernahm ich wieder Leonies Stimme hinter mir. Blitzschnell fuhr ich herum. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mir folgen würde. Mit verschränkten Armen stand sie vor mir und sah mich verbittert an. „Also?“, verlangte sie eine Antwort von mir. Mir klappte der Mund auf.

„Ich…“, begann ich mich zu erklären. „Ich weiß es leider nicht.“ Hilflos zuckte ich mit den Schultern und wollte an ihr vorbei und wieder ins Esszimmer gehen, um die restlichen Töpfe und Pfannen zu holen. Sie hielt mich am Arm fest.

„Was ist überhaupt so toll an diesem Typ aus den oberen Reihen?“, fuhr sie mich beinahe an. Erstaunt über das ungewöhnlich feindselige Verhalten meiner Schwester starrte ich sie mit großen Augen an.

„I-Ist das dein Ernst?“, erwiderte ich stammelnd und musste mit aller Gewalt den Anflug eines hysterischen Lachens verhindern. „Tut mir ja leid dich zu enttäuschen, Schwesterherz, aber was die Auswahl meiner Freunde anbelangt hast du leider überhaupt kein Mitspracherecht.“ Ich riss mich von ihr los und schlug einen möglichst sanften Tonfall an. „Außerdem kennst du ihn doch überhaupt nicht, Leonie. Sei nicht so voreingenommen. Du könntest ihn mögen.“ Bittend sah ich sie an. Als ihre Miene hart blieb, seufzte ich einmal und ging dann wieder in das angrenzende Zimmer zu den anderen. Meine Wangen begannen zu glühen, als ich mir der Tatsache bewusst wurde, dass wohl jeder in diesem Raum unser Gespräch mitbekommen hatte. Mein Vater hüstelte einmal.

„Ich denke, ich mache mich dann wieder an die Arbeit“, verkündete er und griff nach seinen mittlerweile abgewetzten Krücken. „Danke für das gute Essen, Emma, Paige und…“ Sein Blick wanderte zur Küche. „…Leonie. Es war wie immer köstlich.“ Ich sah wie Paige nickte und lächelte meinerseits warm.

„Keine Ursache, Dad“, verkündete ich und legte eine meiner Hände für einen Augenblick auf seine. Er nickte mir zu und machte sich dann auf den Weg in seine Werkstatt, während ich Silvan einen kurzen Blick zuwarf und mich dann mit zwei Töpfen in die Küche begab und begann abzuwaschen.

Leonie hatte sich indessen zurückgezogen, und nachdem Paige mit Silvan das restliche, schmutzige Geschirr auf den Tresen abgestellte hatte, verzog auch sie sich still und heimlich. Ohne weitere Worte leistete mir Silvan beim Abwasch Gesellschaft. Wir waren ein eingefleischtes Team, was das anbelangte.

„Silvan“, richtete ich das Wort an ihn, als ich ihm einen der nun sauberen Teller zum Abtrocknen hinüber reichte. Er nahm ihn entgegen und sah mich abwartend an. Als ich den durchdringenden Blick seiner eisblauen Augen nicht Stand heilt und auch nicht weiter sprach, wandte er sich wieder dem Teller zu.

Ich hatte ihn eigentlich fragen wollen, ob er etwas mit Vincents plötzlichem Verschwinden zu tun hatte. Und wohin er Dienstagnachmittag alleine hin verschwunden war. Aber aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären konnte, wollten die Wörter nicht so Recht aus meinem Mund kommen. Erst als das Geschirr gewaschen und Silvan das Geschirrtuch in seiner Hand zusammenfaltete und aufhängte, kamen endlich wieder Wörter über meine Lippen.

„Silvan, du…“, brach es aus mir heraus. Fragend zog er eine Augenbraue nach oben. „Du hast nicht zufällig etwas mit…“, fuhr ich fort, brach aber ab. Plötzlich kam es mir unsagbar lächerlich vor, er könnte auch nur irgendetwas mit Vincents unerwartetem Verschwinden zu tun haben.

„Mit…?“, erkundigte sich Silvan. Ich antwortete ihm nicht. Und das obwohl ich damit abgefangen hatte. Ein Seufzen seinerseits ließ mich aufhorchen. Einen Moment lang sah es fast so aus, als würde er etwas sagen wollen, - er öffnete schon den Mund, - aber überlegte es sich dann anscheinend doch wieder anders. Ein wenig enttäuscht senkte ich den Kopf, vernahm aber plötzlich, wie ich dicht an ihn gedrückt wurde. Mein Körper war in Aufruhr und ich riss überrascht über die unerwartete Wendung beide Augen auf.

„Schau nicht immer so hilflos“, erklärte er sanft an mein Ohr und ich war mir sicher, dass mein Gesicht glühte. „Du kannst mich alles fragen“, flüsterte er und bescherte mir damit eine Gänsehaut. Meine Arme schlangen sich wie von selbst um ihn, und erwiderten seine Umarmung. „Ich werde vielleicht nicht immer antworten, aber das heißt nicht, dass du nicht fragen kannst“, fügte er ehrlich hinzu. Das Lächeln in seiner Stimme war unüberhörbar. Mein Griff wurde fester.

„Danke“, erwiderte ich mit brüchiger Stimme und räusperte mich leise. „Ich werde es mir merken.“ Eine Weile standen wir noch so umschlungen dar, bis Silvan plötzlich lachte, und verkündete, er sollte jetzt wohl besser meinem Vater weiter in der Werkstatt behilflich sein.

Sein Lachen erwidern löste auch ich mich von ihm und fuhr mir einmal peinlich berührt durchs Haar. Er sah es und nahm eine meiner hellbraunen Strähne zwischen zwei seiner Fingerspitzen. Gebannt vernahm ich, wie er sie hin und her drehte und dabei genau studierte.

„Deine Haare sind länger geworden“, erklärte er sachlich. „Das war mir gar nicht aufgefallen. Sie sind schön.“ Er lächelte milde und ließ mein Haar wieder los.

„Da-Danke“, stammelte ich ein wenig überfordert. Daraufhin drehte er sich um und wollte gehen. Das Klingeln der Haustür ließ ihn seine einschlagende Richtung ändern.

„Erwartet Dad jemanden?“, fragte ich, und folgte Silvan auf Schritt und Tritt.

„Nein“, erwiderte Silvan beherrscht. „Aber du.“

„Ich?“, widerholte ich erstaunt. „Wen soll ich denn…“ Ein einziger Blick auf Silvans eisigen Gesichtsausdruck genügte, um meine Erinnerung aufzufrischen.

Nein!

Er hatte es nicht vergessen. Er war doch gekommen. Mein Gesicht sprach vermutlich Bände, sodass sich Silvan eine Bemerkung unmöglich verkneifen konnte.

„Scheint, als hättest du heute doch eine Verabredung“, erklärte er monoton, aber mit missbilligendem Unterton und öffnete die Tür.

Kapitel 23

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 14, Abschnitt 9

 

Ein Hunimal sollte sich stets bemühen, die Wünsche seines Besitzers genau zu kennen und erfüllen zu können; ein unnützer Hunimal ist vergleichbar mit einem kaputten Stuhl, - wenig Wert und austauschbar()…

 

 

Er war einfach verschwunden. Und jetzt tauchte er wieder auf. Hier. Vor unsere Haustür. Als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Als hätte er es von Anfang an so geplant.

Ich musste schlucken. Silvans große Gestalt verdeckte mich gänzlich, sodass ich nur einen einzigen kurzen Blick auf Vincent hatte erhaschen können, als er die Tür geöffnet hatte.

Er trug allem Anschein nach wieder seinen langen, schwarzen Wintermantel, der im krassen Kontrast zu seinem hellen Typ stand. Seine wasserstoffblonden Haare standen wie immer wild gelockt von seinem Kopf ab, und wären seine kalten, Smaragd-grünen Augen ein klein wenig wärmer, hätte man ihn durchaus für einen Engel halten können. So vermittelte er aber eher den Eindruck eines gefallenen Engels.

„Ich bin hier, um Emma abzuholen“, informierte er die übermächtige Gestalt vor mir. Da ich nicht einschätzen konnte, wie Silvans Antwort ausfallen würde, beeilte ich mich, meine Anwesenheit deutlich zu machen.

Es war nicht ganz leicht eine Lücke zu finden, - er machte es mir nicht leicht, - die groß genug war, um so viel von mir zu offenbaren, dass es nicht lächerlich aussah. Schließlich nahm ich meine Arme und schob Silvan ein wenig zur Seite. Überraschenderweise gab er mit unbewegtem Gesicht nach; ein perfektes Pokerface.

„Hey“, sagte Vincent überrascht über meine Anwesenheit, und der Tonfall seiner Stimme war so entschieden anders, als vorhin, als er mit Silvan gesprochen hatte, dass ich einen Moment lang unfähig war, zu reagieren. Das nächste, was aus seinem Mund kam, klang allerdings wieder viel zu sehr nach dem alten Vincent. „Du bist ja noch gar nicht fertig angezogen“, folgerte er kritisch, nachdem er meinen Körper eingehend gemustert hatte. Mit hochrotem Kopf antwortete ich ihm.

„Ich hatte dich nicht erwartet“, erklärte ich ein wenig eingeschnappt. Nicht mehr.

„Warum das?“, fragte er unverständlich. Ich blinzelte ein paar Mal.

„Na, weil…“, schoss es aus meinem Mund, aber sein ehrlich verwirrter Blick ließ mich in meinem Vorhaben, ihn über seine Unverschämtheit aufzuklären, inne halten.

Na, weil du mich versetzt hast.

„Würdest du jetzt wohl bitte deine Jacke holen“, forderte er mich auf, nachdem ich nicht weiter sprach. „Ich will hier nicht den ganzen Tag lang in der Kälte rumstehen, Emanuela.“ Ich sah durch einen kurzen Seitenblick, wie Silvan sich versteifte und mein Herzschlag beschleunigte sich.

Lag es daran, dass Vincents Aussage beinhaltete, dass wir jetzt gingen, oder lag es an dem so alltäglich ausgesprochen Emanuela?

„Ich, also“, erwiderte ich ein wenig unsicher. „Möchtest du nicht erst mal reinkommen? Ich muss noch meinem Vater Bescheid geben, dass ich wegfahre.“ Unbewegt nickte er und folgte meiner einladenden Geste. Ich schloss die Tür hinter ihm und warf einen bedächtigen Blick zu Silvan.

Da ich die beiden nicht alleine lassen wollte, hoffte ich, dass er meiner stummen Bitte, Dad in meinem Namen Bescheid zu geben, nachkam. Er tat so, als bemerkte er es gar nicht und fokussierte seinen Blick einzig auf Vincent. Seine Miene war unbewegt, aber seine Augen waren äußerst kalt; sie vermittelten den Eindruck, er würde einen Feind, - einen Eindringling in sein Revier, - nicht aus den Augen lassen wollen. Ich seufzte.

„Entschuldigt mich bitte kurz“, erklärte ich und warf zuerst Silvan einen warnenden, und Vincent einen entschuldigenden Blick zu, bevor ich geschwind in Richtung Dads Werkstatt huschte.

Auf dem oberen Treppengelender erkannte ich das neugierige Gesicht meiner kleinen Schwester Leonie und das von Paige, die unseren unerwarteten Gast interessiert musterten. Zu meiner großen Überraschung, lagen weder Hass noch Abneigung in dem Blick meiner Schwester.

Ganz offensichtlich hatte sie sich meine Wörter doch zu Herzen genommen, dachte ich, als ich im Laufschritt davon eilte. Und nachdem ich meinem Vater die Lage erklärt hatte, musste ich ein wenig geschockt feststellen, dass dieser darauf bestand, Vincent kennen zu lernen.

„Geh schon mal vor, Emma“, verkündete er lächelnd, und legte den Pinsel in seiner Hand zu der Farblackdose am Boden ab. „Ich komme gleich nach, - ich will mir nur ein anderes Hemd anziehen.“

„O-Okay“, erwiderte ich vorsichtig und hielt ihm die Werkstatttür auf, bevor ich wieder im Laufschritt zurück zu den anderen eilte. Mit rosa Wangen und gestresstem Blick musste ich feststellen, dass sich die Situation ein klein wenig verändert hatte.

Vincent saß bei uns am Esstisch. Neben ihm meine kleine Schwester Leonie, und einen Sessel weiter, - am hinteren Ende des Tisches, - saß Paige. Sie schwiegen. Aber es war kein bedrohliches Schweigen. Eher peinlich berührt. Gegenüber an der Wand lehnte Silvan und behielt die drei im Blick. Alle Augen im Raum lenkten sich automatisch auf mich, als ich eintrat. Meine Wangen nahmen augenblicklich einen Rotton tiefer an.

„Dad kommt gleich“, meinte ich nervös. „Er möchte kurz Hallo sagen, wenn das okay ist“, erklärte ich Vincent. Dieser zuckte unberührt mit den Schultern.

„Von mir aus“, willigte er ein. Nicht sicher, was ich jetzt tun sollte, blieb ich einfach stehen, wo ich war und wartete mit den anderen angespannt darauf, dass endlich mein Vater kam.

Wir hörten ihn lange bevor wir ihn sahen. Dadurch, dass das Oberhaupt unserer Familie seit jeher auf Krücken ging, war seine Ankunft immer langsamer, als bei anderen, und beschwerlicher. Er hatte sich eines seiner guten Hemden angezogen und sein Gesicht, sowie seine beiden Hände gewaschen. Einzig seine Hose zierte noch den ein- oder anderen gelblich-braunen Ölfleck.

„Entschuldigt die lange Warterei“, war das Erste, was er zu uns sagte. Automatisch erhob sich Vincent bei seiner Ankunft. Gutes Benehmen der Oberschicht eben. „Leider bin ich nicht mehr der Jüngste.“ Er trat auf Vincent zu und streckte ihm die Hand hin. „Es freut mich, den guten Freund meiner Tochter endlich einmal persönlich kennen zu lernen.“ Seine Worte ließen mich erröten und schienen Vincent ein wenig zu überraschen. „Ich bin Jules Ellis, der Vater dieser Rasselbande.“

„Dad“, fuhr ich mit belehrendem Ton dazwischen. Mein Vater lachte, als Vincent mit etwas verwirrtem Blick seine Hand entgegen nahm.

„Tut mir leid, Schatz“, verkündete er in meine Richtung. „Da musst du jetzt durch.“ Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder unserem Gast zu. „Du kannst mich Jules nennen. Meine Tochter hatte schon nicht mehr mit dir gerechnet, junger Mann. Ich hoffe doch sehr, du lässt sie nicht immer so im Ungewissen.“ Ich wollte im Erdboden versinken.

„Das war nicht meine Absicht, Sir“, versicherte Vincent meinem Vater, der überrascht über diese Anrede einen Seitenblick auf mich warf. Sein Gesichtsausdruck sah aus, als wollte er sagen: Da sieh mal einer an, ich bin ein Sir.

„Dein Name ist Vincent, - habe ich das richtig verstanden?”, erkundigte sich mein Vater noch einmal. Der Nachname schien ihn nicht wirklich zu interessieren. Vincent nickte.

„Ja, Sir. Vincent of Limes“, stellte er sich vor.

„Und du bringst mir meine Tochter wohl behalten wieder zurück“, stellte mein Vater freundlich, aber mit Nachdruck klar.

„Dad“, zischte ich abermals.

„Natürlich, Sir“, bestätigte Vincent meinem Vater über meinen Einwand hinweg. Ich war überrascht davon, wie ernst und ehrlich er klang. Sein Blick fiel zu mir. „Können wir?“, erkundigte er sich, jetzt, wo wir offensichtlich Dads Zustimmung hatten. Da ich keinen Grund sah, noch länger hier zu bleiben, - und mir keine weiteren peinlichen Aussagen meines Vaters anhören wollte, - nickte ich bestätigend.

„Ich bin in ein paar Stunden zurück“, verkündete ich einen Blick in die Runde werfend. Silvan lehnte immer noch unbewegt an der hinteren Wand und erwiderte monoton meinen Blick; mich fröstelte bei der ungewöhnlichen Kälte in seinen grauen Augen.

Meine Schwester Leonie saß immer noch stumm wie ein Fisch am Esstisch, den Blick nicht von Vincent abwendend, während Paige bereits aufgestanden war, und leise versuchte ihre festgefrorene Freundin zu überreden, wieder in ihr Zimmer zu gehen. Dad hingegen sah mich merkwürdig vertrauensvoll an, so als wollte er mir sagen: Mach keine Dummheiten.

Ich musste den Blick abwenden und war heilfroh mit dem Binden meiner Schuhe eine glaubwürdige Ausrede gefunden zu haben.

„Einen schönen Abend noch“, wünschte Vincent beim Hinausgehen. Seine ungewöhnliche Höflichkeit, die er an den Tag legte, versetzte mich regelrecht in Erstaunen. So kannte ich ihn gar nicht.

Wortkarg, scheu, und doch aufbrausend. Das waren die Wörter, die mir als Erstes in den Sinn kamen, wenn ich an seinen Umgang mit Menschen dachte. Der Begriff Höflich war darin niemals aufgetaucht.

„Tschüss“, rief ich allen zu, als ich im Rahmen der Haustür stand. „Bis später.“ Als ich die Tür geschlossen hatte und mich umdrehte, fiel ich vor Schreck fast zu Boden.

„Was…?“, entfuhr es mir stockend. „Du bist nicht mit dem Bus gekommen?“ Er warf mir einen ungläubigen Blick zu.

„Sehe ich so aus, als würde ich den Bus nehmen?“, konterte er abwertend. Ich starrte betreten zu Boden.

„Nein, eigentlich nicht“, gab ich leise zu. Die nächsten Worte flüsterte ich nur. „Aber ich hatte es gehofft.“

Ein Bus hätte mich nicht immer daran erinnert, wer er war, und was seine Familie darstellte. Nicht, dass mir derlei Dinge sonderlich wichtig erschienen, aber es war… anders. Ich betrat hier gerade fremdes Terrain. Und das verunsicherte mich. Erste Zweifel kamen in mir hoch.

Vielleicht hätte ich doch nicht zusagen sollen. Vielleicht war das alles hier ein riesen Fehler.

„Ich bin noch nie Bus gefahren“, erklärte er monoton. „Ich darf nicht.“

„Du“, antwortete ich überrascht. „Darfst nicht?“ Wie durfte ich das verstehen?

„Ein Bus ist zu öffentlich, - jeder hat Zugang“, meinte er seufzend, als langweile ihn das Thema. Diese kleine Offenbarung ließ ich am besten erst mal unkommentiert.

„Ja, aber…“ Mein Blick fiel unbehaglich auf die schwarze Limousine in wenigen Metern vor uns. „Deswegen gleich so etwas?“ Überrascht zog er eine blonde Augenbraue nach oben.

„So etwas?“, wiederholte er ungläubig, aber mit amüsiertem Unterton. „Darf ich fragen, was du gegen Limousinen hast?“ Der Gedanke, auch nur irgendjemand könnte eine Abneigung gegen diese teuren Schlitten haben, schien ihm wirklich zu gefallen.

„Nichts“, murmelte ich mit rosa Wangen. „Sind sind bloß unnötig.“ Außerdem bekam ich Angst, sie in irgendeiner Art und Weise dreckig oder gar kaputt zu machen. Ich wusste es war albern, aber dennoch…

„Das dürfte unser Fahrer ganz anders sehen, - immerhin sichert dieses Gefährt ihm seinen Job“, informierte mich Vincent lachend und öffnete mir, ganz der Gentleman, die Tür.

Es kam äußerst selten vor, dass er in so guter Stimmung war, weshalb ich beschloss, meine Zweifel beiseite zu schieben, und ihm doch noch eine Chance zu geben. Hätte ich geahnt, was noch alles auf mich zukommen würde, wäre ich mit ziemlicher Sicherheit Zuhause geblieben.

Kapitel 24

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 3, Abschnitt 12

 

Der gesellschaftliche Umgang mit Hunimals, anders als dem eigenen, ist nur insofern gestattet, als dass es zwingend notwendig ist, und auch nur mit der Erlaubnis des jeweiligen Eigentümers()…

 

 

Man sollte meinen, nach der Fahrt in der Limousine müsste ich auf den ohne Zweifel noch kommenden Luxus vorbereitet sein, - das war aber nicht der Fall. Als nach dem Halten die Tür für uns geöffnet wurde, erhaschte ich schon den ersten Blick auf einen schwarzen Zaun aus Edelstahl und einen unnatürlich grünen Rasen. Allerdings wurde mir erst, als ich ausstieg, das wirkliche Ausmaß von Vincents Anwesen bewusst. Mir stand der Mund offen.

Wir befanden uns in der vornehmsten Gegend, in der ich je war.

Direkt vor dem großen Eingang des Anwesens, - das so groß war, wie ein Einkaufszentrum plus Parkplätze, - standen wir nun und sahen dabei zu, - zumindest tat ich das, - wie die schwarze Limousine, in der wir eben noch gesessen hatte, den privaten Kreisverkehr verließ und hinter einer von mindestens zwölf silbernen Garagentüren verschwandt.

Die Straße war gut ein Fußballfeld weit von uns entfernt. Ein hoher, schwarzer Zaun, der an Gitterstäbe erinnerte, und ein großes, schweres Tor umgaben einen hier von allen Seiten. Ich war mir nicht ganz sicher, aber die angrenzenden Gebäude an das Eisentor sahen fast ein wenig so aus, wie kleine Wachtürme.

Das weiße Backsteingebäude unmittelbar vor uns, - die Villa, - war so groß, so übermächtig, dass es einem schon fast Angst machen konnte. Mehrere weiße Stufen trennten uns von dem Gebäude, und doch hatte ich das Gefühl, beinahe von dem Gebäude verschlungen zu werden. Die pechschwarzen Fenster und das düstere Dach verstärkten diesen Eindruck nur noch.

Ich wusste nicht, was für einen Gesichtsausdruck ich machte, aber er veranlasste Vincent offenbar dazu, zu versuchen, sein Lachen mit einem amüsierten Hüsteln zu kaschieren.

Wie kam es eigentlich, dass er, - wenn überhaupt, - stets über mich lachte, und niemals mit mir?

Ein wenig verärgert, und dadurch weit weniger ängstlich, funkelte ich ihn an. Dies schien ihn nur noch mehr zu amüsieren, weshalb er ohne ein Wort vorantrat, - vermutlich, damit ich seinen Gesichtsausdruck nicht mehr sah, - und begann die Stufen zum Eingang zu erklingen. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, beeilte ich mich, Schritt zu halten. Oben angekommen war ich etwas außer Puste, - ganz im Gegensatz zu meinem Gastgeber.

„Keine Kondition?“, stichelte er.

„Von wegen“, erwiderte ich schnaufend. „Aber ich hab nun mal kürzere Beine.“ Das Gespräch kam mir bekannt vor. Er zuckte bloß unbeeindruckt mit den Schultern, - mein Blick streifte zwei große Puma-Statuen, - und öffnete das erste Tor.

„Willkommen in der VILLA FELIS“, verkündete er und ging mit zügigen Schritten voran, - ließ mir kaum Zeit, all die vielen Eindrücke zu verarbeiten.

Ein Boden, bestehend aus großen, schwarzen Fließen. Eine weiße Treppe aus Marmor mit zwei gegenüberliegenden Enden. Goldene Verzierungen. Rote Teppiche. Gemälde. Kronleuchter. Goldene Figuren und Statuen. Vorwiegend Raubtiere und Katzen. Immer wieder Katzen. Und dabei war das erst der Vorraum.

Nach einigen Minuten des, - wie mir schien, - sinnlosen Hinterher-Hetzens meines nunmehr stummen Klassenkameraden, wurde mir beinahe richtig schwindelig.

„Vincent“, rief ich leicht ärgerlich und blieb stehen. Der Boden schwankte bedenklich und ich nahm meine Arme zu Hilfe, um meine Haltung zu stabilisieren. „Wo sind nur deine guten Manieren geblieben?“, erkundigte ich mich seufzend, und dachte dabei an sein höfliches Verhalten bei mir Zuhause.

„Das Gleiche wollte ich gerade auch fragen“, hörte ich eine nur zu bekannte Stimme hinter uns sagen. Erschrocken fuhr ich herum. Ezra. „Dein Vater will mit dir sprechen“, verkündete er an Vincent gewandt und ignorierte meine Anwesenheit. Vincent biss die Zähne aufeinander.

„Jetzt sofort?“, fragte er unwirsch, und warf dann einen kleinen Seitenblick auf mich.

„Jetzt sofort“, bestätigte Ezra ihm leicht amüsiert und folgte seinem Blick. Das angedeutete Lächeln an seinen Mundwinkeln ließ ihn für mich aber nur noch bedrohlicher wirken. Vincent schien mit sich zu hadern.

„Ich warte hier“, versicherte ich ihm deshalb aufmunternd. Der Protest kam augenblicklich.

„Nein“, erklärten Vincent und Ezra wie aus einem Mund. Irritiert über diese Meinungsübereinkunft sahen sie sich an. Sie waren aber nicht die einzigen, die langsam nicht mehr verstanden, wo Vorne und wo Hinten war.

Zuerst ließ Vincent sich tagelang nicht blicken. Dann tauchte er einfach bei mir Zuhause auf und möchte mich abholen. Meinem Vater gegenüber war er der perfekte Gentleman. Und kaum waren wir wieder alleine, fiel er in sein altes, gefühlsarmes Benehmen zurück. Bei seinem Zuhause angekommen, welches, - ohne dabei verletzend sein zu wollen, - mehr einem Staatsgefängnis glich, als irgendetwas sonst, schliff er mich förmlich ohne ein Wort der Erklärung von Gang zu Gang. Dennoch wollte ich ihm behilflich sein, - und hier in Ruhe auf ihn warten, bis er mit seinem Vater worüber-auch-immer gesprochen hatte, - aber anscheinend war auch das wieder nicht gut genug für ihn.

Langsam hatte ich wirklich genug.

„Ezra, du bringst sie auf mein Zimmer“, erklärte Vincent und nickte mir zu. Vermutlich sollte es aufmunternd aussehen. Trotzig verschränkte ich meine Arme. Gleich darauf drehte er sich auch schon um, und ging in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren. Plötzlich dämmerte es mir, und ich riss die Augen auf.

Warte, was? Ezra sollte…

Ich warf dem bedrohlichen Raubtier einen skeptischen Blick zu, der hoffentlich nicht zu sehr verriet, wie sehr es mir nicht nur Unbehagen bereitete, sondern auch Angst machte, mit ihm allein gelassen zu werden. Ezra erwiderte meinen Blick und zog spöttisch beide Mundwinkel ein wenig nach oben. Seine gelb-grünen Augen waren hart wie Stein. Ich bekam eine Gänsehaut.

„Die Situation kommt mir bekannt vor“, sprach er mehr mit sich selbst, als mit mir. Seine Augen flogen wieder auf mich. „Folge mir“, erklärte er kalt und setzte sich daraufhin zügig in Bewegung.

Ich stolperte mehr, als dass ich lief, und obwohl ich mir deshalb einige Seitenblicke Ezras einfing, machte er keine Anstalten, mir zu helfen. Einwände, wie >>Nicht so schnell<<, oder >>Haben wir es eilig?<< wurden geflissentlich von ihm überhört.

Wäre es sehr lächerlich, mich einfach irgendwo auf den Boden zu setzen und mich zu weigern, weiter zu gehen?

Plötzlich blieb er stehen. Vor Schreck wäre ich fast in ihn rein gelaufen.

„Du wartest kurz hier“, erklärte er leise, aber doch eindringlich, und streckte eine seiner Hände aus, wie um mir zu demonstrieren, dass es hier nicht weiter ging. Wir standen mitten auf einem Gang. Vor uns lagen links und rechts jeweils große Türen.

„Jaja“, lenkte ich ein und machte Anstalten, mich hinzusetzten. Nach all der Hetzerei, sah der rote Teppich am Boden nicht nur äußerst teuer, sondern auch sehr einladend aus.

„Das würde ich an deiner Stelle lieber nicht tun“, informierte mich Ezra unheilvoll. Ich stöhnte gequält.

„Nur einen Moment“, brach es aus mir heraus. „Darf ich mich wohl bitte nur einen Moment lang hinsetzten? Bitte, danke.“ Doch noch bevor ich Gesagtes in die Tat umsetzten konnte, hatte er mich brutal am Arm gepackt und deutete mit seinem Kopf auf eine kleine Kommode und einen Sessel in einigen Metern Entfernung. Die Stelle an meinem Arm pochte wie verrückt, und mir stiegen Tränen in die Augen, aber ich würde mich hüten, ausgerechnet ihm zu zeigen, wie sehr er mir bereits mit einer kleinen Berührung weh tun konnte.

„Wenn du dich schon hinsetzten musst, dann wenigstens dort drüben“, erklärte er, und schubste mich weit weniger aggressiv, als angenommen in besagte Richtung. Ich wusste nicht, ob ich mich bedanken, oder doch lieber beschweren sollte. Ich entschied mich für Ersteres.

„Danke“, murmelte ich heiser und schleppte mich zu dem Stuhl vor mir. Gerade hatte ich mich hingesetzt, da sah ich noch wie Ezra kopfschüttelnd hinter einer grünen, goldverzierten Tür verschwand. Erschöpft legte ich den Kopf in den Nacken.

Kaum zehn Minuten mit Ezra brachten einen dazu, Vincents Anwesenheit beinahe schmerzlich zu vermissen, - im wahrsten Sinne des Wortes. Stöhnend rieb ich mir den wunden Arm, an dem mich Vincents Hunimal so brutal festgehalten hatte.

Irgendwie hatte ich mir diesen Besuch anders vorgestellt. Weniger… wortkarg, abweisend und vor allem weniger schmerzhaft. Ich zuckte zusammen, als ich abermals über die schmerzende Stelle fuhr. Das Leben hielt leider nicht immer, was es versprach. Das Gleiche war mit Silvan.

Ich sollte verdammt sein, wenn ich jetzt auch noch zum Heulen anfing.

Glücklicherweise, - ich konnte nicht glauben, dass ich dieses Wort tatsächlich im Zusammenhang mit meinem Peiniger verwendete, - kam Ezra bereits nach wenigen Minuten zurück, und eröffnete mir, dass wir unseren Weg fortsetzen konnten. Bei Vincents Zimmertür angekommen, wollte er gleich wieder gehen, doch ich musste ihn unbedingt noch etwas fragen.

„Warte“, hielt ich ihn auf. Mitten in der Bewegung hielt er inne und drehte sich langsam und fast schon bedrohlich zu mir um. „Ja?“ Unter seinem lauernden Blick verließ mich fast der Mut, aber ich musste einfach fragen.

„Warum tust du das alles?“, fragte ich heftig, - begierig darauf, endlich eine Antwort zu erfahren. „Diese Abmachung…“, begann ich aufzuzählen. „Deine Drohungen… Dieses ganze ablehnende, brutale Verhalten…“, stürmte es regelrecht aus mir heraus. „Wozu? Zu was ist das alles gut?“ Meine Stimme klang ungewöhnlich leidenschaftlich, und in meinem Kopf tobte es.

Abwartend sah ich ihn an. Wartete auf eine Antwort. Aber alles was ich bekam, war ein Lächeln. Ohne Boshaftigkeit darin. Einfach ein warmes Lächeln. Damit drehte er sich wortlos um und ging. Ohne Erklärung. Ließ mich genauso unwissend zurück, wie vorher. Die nächste Frage musste er mir aber beantworten.

„Muss ich heute noch einmal in eine Buchhandlung?“, rief ich ihm fragend hinterher. Er schüttelte den Kopf und ging einfach weiter.

„Nein“, rief er ohne sich umzudrehen und verschwand hinter der nächsten Ecke. Ich seufzte tief.

Na, immerhin etwas.

Kapitel 25

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 16, Abschnitt 10

 

Verbrechern und Mittellosen ist es, allerdings mit bestimmten Ausnahmen, strengstens verboten, einen Hunimal zu halten; deren nächste Generation scheidet ebenfalls aus; in der weiteren Generationenabfolge entscheidet, wenn angeordnet, ein Schiedsgericht über etwaige Hunimal-Haltungsberechtigungen()…

 

 

Die folgenden Stunden verliefen nicht sonderlich entspannter, als die letzten. Allem Anschein nach, war die Anwesenheit von Vincents Vater nicht geplant gewesen. Und noch weniger geplant schien dessen Einladung zum Essen, - die mir Vincent nur äußerst widerwillig ausrichtete, - gewesen zu sein.

„Du wirst jetzt sofort gehen“, forderte er mich auf, nachdem er mir von der Einladung erzählt hatte. Ein wenig geschockt sah ich ihn an.

Hatte man mich heute nicht schon genug herum geschupst?

„Das wäre äußerst unhöflich“, wies ich ihn zu Recht.

Wir befanden uns in seinem Zimmer. Es war groß, sauber und überraschenderweise sehr hell und freundlich eingerichtet, - oder zumindest nicht das Gegenteil davon.

Die Wände waren hoch und weiß, genauso wie die Fensterläden und das Meiste der noch übrigen Einrichtung. Das große Bett mit der dunkelblauen Bettwäsche verlor etwas an Größe, wenn man sich das riesen Ausmaß des Schreibtisches daneben ansah. Und die Wände wirkten vielleicht ein wenig leer, aber alles in allem war es eigentlich recht nett. Zumindest, verglichen mit den restlichen, - düsteren, - Räumen der Villa.

„Und?“, fragte er, meinen Einwand nicht verstehend. „Du bist doch von der Unterschicht. Mein Vater wird das verstehen.“ Ich atmete einmal tief durch.

„Also zunächst einmal, Vincent-“, stieß ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hindurch hervor, und versuchte vergeblich, nicht die Geduld zu verlieren. „-Ist Höflichkeit keine Frage des Wohlstands, sondern der Erziehung. Und außerdem…“ Ich warf ihm einen schneidenden Blick zu. „Du bist doch hier derjenige, der mich förmlich rausschmeißt. Ich hätte kein Problem mit einem Abendessen mit dir und deinem Vater“, erklärte ich stur.

Was den letzteren Teil anbelangte, war ich mir nicht wirklich sicher, was ich davon halten sollte, aber wo Vincent so entschieden dagegen war… was konnte ich da anderes tun, als neugierig zu werden?

„Emanuela, wir sind hier nicht bei dir Zuhause“, stellte Vincent zornig fest. „Mein Vater ist nicht wie deiner.“

„Was soll das denn heißen?“, verlangte ich zu wissen. Mein Vater war der beste Mensch, den man sich nur vorstellen konnte. Er war bewundernswert stark, - auf seine Art, - und er war aufopferungsvoll, ehrlich, klug, hatte immer für einen Zeit, wusste stets Rat, würde absolut alles für uns tun und…

„Mein Vater, er…“, begann Vincent, und ich erkannte die Hilflosigkeit in seiner Stimme. Plötzlich wurde mir klar, dass in seinen Augen nicht mein Vater das Problem darstellte. „Ah“, stieß er wutentbrannt aus, schnappte sich einen Stuhl von seinem Schreibtisch, hob ihn hoch und schmiss ihn voller Zorn mehrere Meter weit durch die Luft. Erschrocken fuhr ich zusammen. „Du fährst nach Hause“, verkündete er bestimmt und seine kalten, Smaragd-grünen Augen ließen keinen weiteren Widerstand mehr zu.

Ich blieb.

Die Fahrer, genau wie alle anderen Bediensteten, wurden weitestgehend darüber informiert, bis nach dem Abendessen keinerlei Personen aus dem Anwesen zu entlassen. Ich saß also fest. Für mich stellte das kein so großes Problem dar, - schließlich hatte ich keine Ahnung, was ich von all dem Theater um ein einfaches Abendessen halten sollte, - aber für Vincent hingegen…

Seit ihm bewusst geworden war, dass ich nicht darum herumkommen würde, seinen Vater kennen zu lernen, war sein Gesicht eine eiserne Maske. Keine Gefühlsregung wollte ihm zu entlocken sein, - nicht einmal die altbekannte Wut ließ sich durch kleine, harmlose Bemerkungen hervorlocken.

Es war merkwürdig.

Einen emotionslosen Silvan. Das kannte ich. Aber einen emotionslosen Vincent? Nein. Einen aufbrausenden Vincent. Aggressiv. Kalt. Eigentlich bloß schüchtern. So kannte ich meinen stillen Klassenkameraden. Sein jetziges Verhalten auf der anderen Seite war einfach… schwer mit anzusehen.

„Hey, Vincent“, sprach ich ihn nach längerem Schweigen bemüht locker an. „Erinnerst du dich eigentlich noch an den ursprünglichen Grund meines Besuches? Ich wollte dich spielen hören“, erinnerte ich ihn sanft lächelnd. Keine Regung. „Und ich will es eigentlich immer noch“, versuchte ich es weiter und lächelte ihm vom Schreibtisch aus aufmunternd zu. „Zwingen möchte ich dich natürlich nicht, aber du würdest mir eine große Freude damit bereiten…“ Nervös lächelte ich.

Ich vermisste Silvan.

Er hatte immer eine beruhigende Wirkung auf mich. Und selbst, wenn das Gegenteil der Fall war, und er meine Hände zum Zittern, mein Herz zum Rasen brachte, und meinen Verstand zu einer undefinierbaren Masse von Brei verarbeitete, so war er doch immer für mich da. Ich wünschte, er wäre jetzt hier.

Zu meiner großen Freude erhob sich Vincent von seinem Bett, kniete sich nieder und zog einen Geigenkoffer unter dem Bett hervor. Ich unterdrückte den inneren Zwang ausgiebig in beide Hände zu klatschen, wie ein kleines Kind.

„Welches Stück?“, fragte er immer noch ein wenig zu unbeteiligt, als er begann das Instrument in seiner Hand zu säubern.

„Was, das darf ich mir aussuchen?“, platzte aus mir heraus. Argwöhnisch sah er mich an.

„Hat dir noch nie jemand etwas vorgespielt?“, fragte er abschätzend. Erfreut über die Emotionen auf seinem Gesicht und in seiner Stimme, antwortete ich.

„Doch, schon“, gab ich zu. In der Volksschule einmal. „Aber das ist lange her. Und es war auch nicht auf einer Geige. Außerdem konnte von >>ein Stück aussuchen<< keine Rede sein.“ Eine meiner Klassenkameradinnen hatte mir damals auf dem Klavier etwas vorgespielt. Sie hatte genau zwei Stücke gekonnt, und obwohl ich als Kind wahnsinnig beeindruckt von ihren Fertigkeiten war, erinnerte ich mich heute nicht einmal mehr richtig, welche Stücke sie überhaupt gespielt hatte, - geschweige denn, wie diese geklungen hatten.

„Eine Violine“, sagte er und holte mich damit aus meiner Erinnerung.

„Wie bitte?“, erkundigte ich mich höflich, - wie um ihn von den guten Manieren der Unterschicht zu überzeugen.

„Ich mag das Wort >>Geige<< nicht so gern“, erklärte er mit heruntergezogenen Mundwinkeln und widmete seine Aufmerksamkeit besagter zu. „Ich sage lieber >>Violine<<.“

„Dann weißt du ja jetzt, wie es mir geht, wenn du mich immer bei meinem vollen Namen nennst, statt bei meinem Spitznamen“, murmelte ich. Sein Kopf fuhr hoch.

„Das ist etwas vollkommen anderes“, stellte er überzeugt klar. Ich versuchte, nicht zu lachen.

„Weshalb?“, fragte ich, amüsiert über seinen ernsten Tonfall.

„Im Gegensatz zu bei deinem Namen, sage ich >>Violine<<, weil es schöner klingt“, stichelte er und sah mich vielbedeutend an. „Welches Stück möchtest du jetzt hören?“ Ich weigerte mich, einfach auf seinen Themawechsel einzugehen.

„Immer langsam mit den jungen Pferden“, bremste ich ihn, als er schon den Bogen zum Spielen ansetzte. „Warum nennst du mich eigentlich nicht >>Emma<< wie alle anderen auch?“, fragte ich interessiert.

„Weil ich anders bin, als die anderen“, erklärte er, wie selbstverständlich.

„Anders, im Sinne von merkwürdig?“, erkundigte ich mich skeptisch und amte ein wenig hilflos meine Hände zur nonverbalen Unterstützung in der Luft herum.

„Anders, im Sinne von besonders“, belehrte er mich, setzte seinen Bogen an, und begann die ersten Töne zu spielen. Fasziniert nahm ich meine Arme wieder runter und lauschte gebannt den wunderschönen Klängen.

Er spielte ein Lied nach dem anderen, - und das einfach so von der Hand. Nicht einen Moment lang, schien er über die Noten nachdenken zu müssen. Wenn er mit einem Lied fertig war, öffnete er immer die Augen, warf mir einen kurzen Blick zu den ich erwiderte, und setzte anschließend gleich wieder den Bogen an. Er wirkte so ungewöhnlich friedlich, wenn er spielte. Fast wie ein Kind.

Irgendwann legte er den Bogen aber doch wieder ab und mied meinen Blick, während er sein Instrument sicher zurück in seinem Koffer verstaute.

„Wir sollten uns langsam mal Richtung Speisesaal begeben“, erklärte er sehr ruhig für seine Verhältnisse. „Das Abendessen beginnt sicher bald.“ Ich nickte und erhob mich.

„Du darfst mir übrigens jeder Zeit wieder etwas vorspielen“, gab ich mit erhobenen Kinn bekannt, und warf ihm einen gespielt großzügigen Blick zu. Argwöhnisch erwiderte er ihn.

„Danke“, verkündete er äußerst skeptisch, aber ich war mir sicher, dass er es wieder tun würde. Die ungewöhnliche Ruhe, die ihn umgab, hielt leider nicht sonderlich lange an. Spätestens, als wir mit seinem Vater und, - daran hatte ich gar nicht gedacht, - Ezra am Tisch saßen, war seine Miene fast schon verbittert und ich konnte sehen, dass seine Hand zitterte. Ob aus Wut oder Angst, konnte ich nicht sagen.

„Emanuela, richtig?“, sprach mich Vincents Vater über den Tisch hinweg an. Seine Haltung war äußerst würdevoll, - ich konnte es nicht anders nennen. Der Anzug den er trug, sah aus, als wäre er maßgeschneidert, - das war er vermutlich auch, - und saß perfekt. Seine grauen Augen blickten mich forschend und äußerst aufmerksam an.

Er hatte dieselben wasserstoffblonden Haare, wie sein Sohn, aber Vincents unbändige Locken, hatte dieser ganz offensichtlich von jemand anderen geerbt. Ganz im Gegensatz zu der Kälte in seinen Augen. Ich senkte den Blick, und wich damit dem bohrenden, intelligenten Blick des Hausherrn befangen aus.

Der Speisesaal in dem wir uns befanden war so groß, wie ein Ballsaal, und mit mehreren kristallenen Kronleuchtern versehen; das einzig wirklich schöne, oder einladende im ganzen Raum. Das Licht fiel zu meinem großen Bedauern recht spärlich ein, und zusammen mit den, - wie ich informiert wurde, - schwarzen Marmorfließen und den, - für mich, - schlecht sichtbaren, grau-schwarz verzierten Wänden, bot sich mir eher ein düsteres Bild. Aber das womöglich unangenehmste von allem, stellte der >>Esstisch<< dar.

Es war weniger ein Tisch, als eine Tafel. Sehr lang und sehr schmal. Vorwiegend aus Stein. Eine dünne, schwarze Platte, welche in verschiedensten Farben schimmerte, zierte die Oberfläche. Sie erinnerte mich an die schwarzen Löcher aus dem Weltraum, die alles Leben in sich aufsaugten. Am unangenehmsten war wohl die monströse Länge, und die Tatsache, dass mindestens die Hälfte des >>Tisches<< in beinahe vollkommener Dunkelheit lag.

Ich konnte das Ende nicht einmal richtig ausmachen, und einer der vielen weißen, spitzen Stühle aus Stein versank in nur wenigen Metern Entfernung zur Hälfte im Schatten. Diese Stelle nannte ich still und heimlich >>Die Grenze<<.

Bei dem bloßen Gedanken, jemand könnte stillschweigend während unseres gesamten Abendessen dort hinten, - auf der anderen Seite der Grenze, - verborgen im Schatten sitzen, und unsere Gespräche mit anhören, - uns sozusagen belauschen, - ließ es mir kalt den Rücken runter laufen.

„Emma“, berichtigte ich ihn, und zwang mich, den Augenkontakt wieder herzustellen. „Emma Ellis.“ Seine Miene war freundlich und interessiert, aber ich nahm ihm diese Freundlichkeit nicht ab; sie schien aufgesetzt.

„Oh, wie schade“, verkündete er nun sichtlich betrübt. Noch niemals hatte jemand so auf meinen Spitznamen reagiert. „Ich nahm an, Ihr wärt vielleicht mit Emanuela Westwood-Lorenz verwandt“, erklärte er seine Reaktion. Überraschter hätte ich über die Erwähnung dieses Namens nicht sein können. Dass er mich Siezte nahm ich bei alledem nur am Rande war.

„Sie war meine Großmutter“, offenbarte ich und warf einen flüchtigen Blick auf Vincent. Er wirkte immer noch angespannt. Ezra neben ihm, schien bloß fürchterlich gelangweilt, - und gleichzeitig sichtlich bemüht, es nicht offen zu zeigen.

„Also, doch“, rief er zufrieden aus und lenkte damit wieder meine Aufmerksamkeit auf sich. Der erste Gang wurde serviert und lieferte mir einige Vorwände, den Blick abzuwenden.

Dass wir über meine verstorbene Großmutter sprechen würden, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sprach eigentlich kaum noch über sie, weil ich Angst hatte, dass sonst die Sehnsucht, sie wieder zu sehen und der Schmerz, wenn mir bewusst wurde, dass ich das nie wieder würde tun können, viel zu groß wäre.

„Ihre Mutter ist demnach…“, fuhr er in seiner Überlegung fort.

„Ursula“, half ich ihm leise auf die Sprünge. In seinen Augen erkannte ich die aufblitzende Erinnerung. Meine Kehle fühlte sich staubtrocken an. „Sie hieß Ursula“, fügte ich sanft hinzu; ich war froh, dass mein Ton nicht verriet, wie sehr mich dieses Gesprächsthema schmerzte.

„Richtig“, erwiderte er sachlich. „Das mit ihrem Tod tut mir übrigens leid“, sprach er sein Beileid aus, und ich nickte bloß bestätigend, und starrte auf meine hilflos in einander verschlungenen Hände unter dem Tisch. „Sie war eine bemerkenswert schöne Frau“, erzählte er, und überrascht hob ich den Kopf. Mit einer solchen Aussage hatte ich nicht gerechnet. „Ich muss gestehen, ich habe selten so eine außergewöhnliche Schönheit gesehen“, äußerte er im ernsten Tonfall. Viel zu lange und zu intensiv lag sein Blick auf mir, bis ich schließlich peinlich berührt den Blick abwandte. Nicht einmal Vincent wagte ich anzusehen.

„Eines interessiert mich aber fürchterlich…“, gestand Vincents Vater im geheimniskrämerischen Tonfall. „Ist der Fuchs in der Familie geblieben, oder ist mit dem neuen Namen gleichzeitig eine neue Ära angebrochen?“ In seinen kalten, grauen Augen blitzte es gefährlich.

Die Richtung, die er einschlug, gefiel mir nicht. Ich wusste nicht, ob ich überzeugend genug lügen konnte, - und es an diesem scharfsinnigen, einflussreichen Mann auszuprobieren, erschien mir äußerst unpassend. Noch dazu gefährlich. Um mir mehr Zeit zum Ordnen meiner Gedanken zu geben, stellte ich mich erst einmal dumm.

„Mit Verlaub, - Wie meinen Sie das?“, erkundigte ich mich höflich, und tat so, als verstünde ich die Frage nicht. Er lächelte. Wäre er jemand anderes, - mit vielleicht weniger Autorität, - hätte ich dieses Lächeln wahrscheinlich durchaus als beruhigend empfinden können.

„Ich bin der Meinung, wir haben heute genug über unseren Gast geredet“, kam mir überraschenderweise Vincent zu Hilfe. Ich unterdrückte den Zwang, ihm einen zutiefst dankbaren Blick zuzuwerfen. „Wenn wir sie bei ihrem ersten Besuch schon so aus der Mangel nehmen, wird sie sobald nicht wiederkommen“, prophezeite er.

„Wir haben uns ganz normal unterhalten“, widersprach ihm sein Vater bestimmt; mir gegenüber war sein Tonfall um einiges weicher, und sanfter gewesen. Alles nur gespielt. Nicht, dass mich das sonderlich überraschen würde. „Stimmen Sie da nicht zu?“, richtete er das Wort wieder an mich, - und zog mich in ihre Auseinandersetzung mit rein.

Egal, für wen ich Partei ergriff, - ich konnte nur verlieren. Aber da es sowieso keine Rolle mehr spielte… Warum sollte ich dann nicht auch gleich versuchen, mir den Kopf aus der Schlinge zu ziehen? Der nächste Gang wurde serviert, aber niemand schien dem Aufmerksamkeit zu schenken.

„Um die Wahrheit zu sagen, Sir“, erklärte ich, bemüht um einen verlegenen Tonfall, - was mir nicht weiter schwer fiel. „In den wenigen Stunden, die ich hier verbringen durfte, konnte ich zu meinem großen Bedauern nicht wesentlich mehr in Erfahrung bringen, als dass wir uns hier in der VILLA FELIS befinden, und dass Ihre Familie eine Schwäche für schwarze Katzen und schwarzen Marmor, - vermutlich Marmor im allgemeinen, - hat. Das finde ich, mit Verlaub, dann doch schon etwas Dürftig. Ich hatte eigentlich gehofft, mit meinem Besuch ein wenig mehr über Vincent und seine Familie erfahren zu können.“

Vater und Sohn sahen mich gleichermaßen überrascht an. Der Herr des Hauses sammelte sich als erster.

„Dann müssen wir das unbedingt nachholen“, entschied er, - ganz der perfekte Gastgeber, der er war. „Aber jetzt genießen wir zu allererst einmal das Essen und danach werde ich Ihnen alles über das Haus of Limes erzählen, dass Sie gerne wissen möchten“, versprach er in einem schwer-einordbaren Tonfall und einem ausgedehnten Blick auf mich.

Ich wollte wieder nach Hause.

In den darauffolgenden Stunden erfuhr ich noch etliches mehr über die Villa, in der Vincent aufgewachsen war, und bereits seit Generationen in der Familie of Limes lag, sowie über die benachbarten Anwesen, deren Familien, Stand in der Gesellschaft und Beziehung zu meinem Gastgeber. Man erzählte mir von treuen Bediensteten, die ihr ganzes Leben einzig und allein an diesem Ort verbrachten, sowie Geschichten über Feste und Feiern, die in eben diesem Speisesaal stattgefunden hatten. Weitläufige Informationen über die Familie oder gar Vincents Mutter erhielt ich hingegen kein Stück. Meine mehrmaligen Versuche, die Gespräche in eine etwas persönlichere Richtung zu lenken, wurden geflissentlich ignoriert, und so gab ich es irgendwann auf.

Als es langsam wirklich spät wurde, erinnerte ich Vincent daran, dass sich meine Familie Sorgen machen würde, wenn ich so lange weg blieb. Sein Vater hörte es, und antwortete an Stelle seines Sohnes.

„Sie haben vollkommen Recht“, stimmte er mir zu, ohne mich anzusehen, und winkte einen Bediensteten herbei. „Ich werde sofort einen Fahrer für sie bereit stellen lassen.“ Einen Moment lang war ich versucht, ihm zu sagen, dass das überhaupt nicht nötig war, aber wenn ich in Betracht zog, welche Unsummen mich ein Taxi aus dieser Gegend bis in die Stadt oder gar nach Hause kosten würde, sollte ich sein Angebot lieber nicht ausschlagen.

„Vielen Dank“, erklärte ich ehrlich. „Ich entschuldige mich für die Umstände.“ Er winkte ab.

„Was denn für Umstände?“, konterte er und flüsterte dem etwas älteren Herrn neben ihm etwas ins Ohr und gab ihm dann ein Zeichen, sich wieder zu entfernen. „Was wäre ich für ein Gastgeber, wenn ich Sie einfach um diese Zeit aus dem Haus werfen würde, - ohne Fahrer oder sonstige Möglichkeit sicher nach Hause zu gelangen?“

„Fahren hier in der Gegend keine Busse?“, erkundigte ich mich. Sein Blick wirkte belustigt.

„Nein“, antwortete er schlicht und trank einen Schluck Rotwein aus seinem Glas. Ich hatte den Eindruck, er hielt es für unschicklich, über seinen Gast zu lachen. Vincent schien damit in der Regel keine Probleme zu haben.

Wenig später standen wir zu Viert vor dem großen Eingang, - ich war ein wenig überrascht darüber, dass uns Ezra den ganzen Abend lang ohne Unterbrechung Gesellschaft geleistet hatte, - und sahen zu der schwarzen Limousine im Schatten, die einzig durch die vielen Lichter hinter uns, ausgehend von der Villa beleuchtet wurde, und die bereits auf mich wartete.

„Auf Wiedersehen, Emanuela“, verabschiedete sich Vincent äußerst förmlich und distanziert. Kein Lächeln. Keine Umarmung. Sein Blick war genauso kalt, wie der beißende Wind.

„Vielen Dank für die Einladung“, erwiderte ich und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln; er sah so aus, als könnte er es gebrauchen. Ich dachte daran zurück, wie er mir etwas auf seiner Violine vorgespielt hatte. „Es hat mir eine große Freude bereitet“, fügte ich hinzu, und anhand seines Blickes erkannte ich, dass er genau wusste, wovon ich sprach. „Wir sehen uns dann nächste Woche?“, erkundigte ich mich und sah, wie er nickte. Ich lächelte und wandte mich Ezra zu. Die Tatsache, diesen erst wieder in ein paar Tagen wieder sehen zu müssen, hob meine Laune um ein Vielfaches.

„Auf Wiedersehen, Ezra“, verabschiedete ich mich schlicht.

„Auf ein baldiges Wiedersehen, Emma“, entgegnete er mit bedrohlichem Unterton und sah mich lauernd an; ich schüttelte mich.

„Das will ich nicht hoffen“, murmelte ich leise, und warf noch einen letzten Blick auf Vincent, - der neben Ezra wie ein Engel aussah, - bevor ich die letzten Stufen zu Vincents Vater hinunter eilte.

Eigentlich hatte ich vorgehabt, mich zu allererst von diesem zu verabschieden, aber da der Herr des Hauses in einigen Metern Entfernung wartend vor der Tür der Limousine stand und Vincent auf dem letzten Plateau vor dem Fuße der Eingangstreppe stehen geblieben war, hatte ich keine andere Möglichkeit gehabt, als es Vincent gleichzutun und mich zu allererst von ihm zu verabschieden. Der Blick seiner Smaragd-grünen Augen verfolgte mich auf jeder Stufe. Mr. Limes öffnete mir die Tür.

„Ich hoffe doch, Sie haben Ihren Besuch bei uns genossen“, entgegnete er charmant.

„Ja, Sir“, bestätigte ich ihm, obwohl das Wort >>genießen<< nicht ganz das gewesen wäre, welches ich angewandt hätte, um meinen Besuch hier zu beschreiben. „Vielen Dank“, bemerkte ich höflich. Daraufhin rückte er zur Seite, auf dass ich einsteigen konnte.

In wenigen Minuten würde ich wieder Zuhause sein, und konnte endlich wieder durchatmen. Er hielt mich am Arm fest.

„Miss Ellis“, begann er leise auf mich einzureden. „Emma, Sie werden hier immer erwünscht sein“, erklärte er viel zu intensiv. Nur zu deutlich spürte ich seinen warmen Atem auf meiner Haut und sowohl seine Nähe, als auch sein Tonfall waren mir mehr als unangenehm. „Aber ein Fuchs, ungeachtet seiner schönen Fellfarbe, wird immer ein Fuchs bleiben“, fuhr er überzeugend fort und suchte meinen Blick. Ich konnte nicht weg sehen. „Ich hoffe, Sie verstehen, was ich damit sagen will“, erklärte er mit bedeuteten Unterton und sah mich eine halbe Ewigkeit ernst und intensiv an; das helle Grau seiner Augen wirkte sowohl eiskalt und leblos, als auch beängstigend lebendig. Wirr. Unzurechnungsfähig. Genauso, wie der Rest seines Gesichtes. Eine Gänsehaut machte sich auf meinem Nacken breit und weitete sich über meinen gesamten Körper aus.

„Ich glaube, ich verstehe sehr gut, Sir“, erwiderte ich überraschend gefasst und versuchte ein wenig mehr Abstand zwischen uns zu bringen.

„Gut“, antwortet er leise und lächelte glücklich; es war beinahe widerlich. Er ließ mich wieder los und trat einen Schritt zurück.

Bemüht, mir meinen Schrecken nicht im Geringsten anmerken zu lassen, stieg ich, - wie ich hoffte, - äußerst würdevoll in den Wagen ein. Bevor Vincents Vater allerdings die Tür der Limousine wieder schloss, beugte er sich noch einmal zu mir nach Vorne und warf mir einen verschlagenen Blick zu.

„Das Gleiche gilt im Übrigen auch für Schimpansen“, erklärte er zynisch. Daraufhin lächelte er durchtriebenen, wie man es nur von Leuten kannte, die sich für etwas Besseres hielten, als sie waren, und schlug mir und meinem geschockten Gesicht die Tür vor der Nase zu. Mit einem Ruck setzte sich das Gefährt in Bewegung und brachte mich dazu, mich erst einmal panisch an den Ledersitzen festzukrallen.

Lemuren, dachte ich rasend. Die Hunimals meiner Familie waren seit Generationen größtenteils Lemuren. Keine Schimpansen.

Woher wusste er das überhaupt? Ich dachte, er wüsste nichts über mich und meine Familiengeschichte. Zumindest hatte er das während unserer Gespräche behauptet. Er hatte nicht einmal gewusst, wer mein Vater war, und der Name meiner Mutter war ihm, - obwohl er zugab, sie gekannt zu haben, - sogar regelrecht entfallen.

Alles Show.

Meine Wut steigerte sich ins unerlässliche, als mir bewusst wurde, wie er mit mir und meinen Gefühlen gespielt hatte während des ganzen Abendessens. Er kannte meine Umstände genau. Dennoch hatte er auch noch Salz in Wunden gestreut, die immer noch nicht verheilt waren, - und vermutlich nie ganz heilen würden. Nicht zu vergessen seine unverschämte Andeutung, ich und meine Familie wären nicht gut genug für seinen Sohn.

Jetzt schon. Solange Vincent jung und ungebunden war. Und solange unsere Beziehung nichts Ernstes war, konnte ich, - soweit ich das richtig verstanden hatte, - immer auf die >>Gastfreundschaft<< dieses Hauses bauen.

Im Grunde war es mir vollkommen egal, wie Vincents Vater die freundschaftliche Beziehung zwischen Vincent und mir deutete, oder für wen oder was er mich hielt, aber es war mir nicht egal, dass er bei all dem auch meine Familie beleidigte.

Mein Kopf rauchte immer noch vor Wut, als ich um Mitternacht die Tür der teuren Limousine zu schlug, - und von ganzen Herzen froh, wieder Zuhause zu sein, - Richtung Veranda lief.

Kapitel 26

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 12, Abschnitt 11

 

Im Nachhinein aufgestellte Gesetze, unabhängig davon, ob sie vom Königshaus oder dem Besitzer des jeweiligen Hunimals aufgestellt wurden, wirken nicht zurück; sie haben daher auf vorhergegangene Handlungen und auf vorher erworbene Rechte keinen Einfluss()…

 

 

Samstagvormittag schlief ich mich zur Abwechslung einmal richtig aus. Ich war immer noch aufgewühlt von den Ereignissen des vergangenen Tages, aber gleichzeitig hatten sie mich auch so mitgenommen, dass ich jede Stunde zusätzlichen Schlaf nur zu gut gebrauchen konnte. Zu Mittag herum stand ich dann auf und begann mit den Vorbereitungen für das Mittagessen.

„Morgen“, erklärte Paige und gesellte sich zu mir. Stirnrunzelnd sah sie auf die noch fast leeren Töpfe auf dem Herd und die scharfen Messer und das daneben liegende Schneidbrett.

„Guten Morgen“, antwortete ich und erzählte ihr von meinen Plänen für das Mittagessen. Sie nickte einvernehmend.

„Klingt gut“, bestätigte sie, schnappte sich eine Packung Nüsse, - ihre Lieblingsnascherei, - aus dem Schrank und verzog sich wieder.

Ich krempelte meine Arme nach oben, um meinen weißen Pullover vor etwaigen Flecken zu schützen, band mir eine Schürze um und begann mit der wirklichen Arbeit. Feinsäuberlich schnitt ich das Gemüse, kochte Wasser, brachte den Fisch zum brutzeln und rührte die Schnittlauchrahmsoße an. Plötzlich bekam ich das Gefühl, beobachtet zu werden und warf einen Blick über die Schulter. Silvan stand im Durchgang zum Ess- und Wohnzimmer und musterte mich eingehend.

„Aua“, stieß ich erschrocken hervor und verzog das Gesicht. Unaufmerksam neben einer heißen Herdplatte, - oder wohl eher heißen Pfanne, - zu stehen, stellte sich als keine zu weltbewegend gute Idee heraus. Augenblicklich war er an meiner Seite, schnappte meine verbrannte Hand und hielt sie unter kaltes Wasser. „Ah“, stöhnte ich langgezogen aus.

„Geht es?“, erkundigte er sich leise an meinem Ohr. Seine raue Stimme und sein heißer Atem benebelten meine Sinne. „Entschuldige bitte, es war nicht meine Absicht, dich zu erschrecken“, erklärte er sanft. Augenblicklich vergaß ich jeden Schmerz. Sein Körper berührte meinen, und die Sorge in seinem Blick, als ich zu ihm hochschaute, ließ mein Herz höher schlagen.

„Schon gut. Du kannst ja nichts dafür“, antwortete ich milde und verlor mich in seinen grauen Augen. Wären wir ein Paar, würde ich mich jetzt in diesem Augenblick mit Sicherheit Halt suchend an seine Brust lehnen, - und er würde mich mit seinen Händen schützend festhalten.

Aber wir waren kein Paar.

„Ich hätte aufmerksamer sein müssen“, erklärte ich.

Meinen Blick erwidernd, antwortete er: „Unfälle passieren.“ Immer noch hielt er meine Hand unter den kalten Wasserstrahl, - brachte meine Hand damit an zwei Stellen gleichzeitig zum Brennen. Das war mir die Verbrennung mit der Pfanne beinahe Wert.

„Silvan…“, flüsterte ich eindringlich, während ich ihn weiterhin von unten ansah. Die Farbe seiner Augen wandelte sich in flüssiges Silber, - die schönste Farbe auf der ganzen, weiten Welt. Mein Herz schlug mir wie verrückt gegen meine Brust und das Verlangen danach, seine Lippen auf den meinen zu spüren, schien langsam Überhand zu nehmen. Mein Geburtstag, - unser letzter Kuss, - schien eine halbe Ewigkeit zurück zu liegen, und dies der perfekte Moment für eine Wiederholung.

>>Wenn man etwas wirklich will, muss man es schon einfordern.<<

Mein Vater hatte das einmal gesagt. Und so gut wie immer, hatte er Recht.

Auf die Zehenspitzen stellend näherte ich mich bedenklich nahe Silvans Mund, - überbrückte damit die letzten Zentimeter und hielt dann aber doch noch inne. Mein warmer Atem streifte sein Gesicht, als ich ausatmete. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich die Luft angehalten hatte. Ich hatte nicht inne gehalten, weil ich zu feige war, es zu tun. Aber ich wollte mich nicht aufdrängen. Wenn er es absolut nicht wollte, konnte er mich wegschieben. Ich würde ihn nicht zwingen.

Immer noch hielt er Blickkontakt, - und wie ich Silvan kannte, würde er auch unmöglich als Erster wegsehen. In seine Augen trat etwas Animalisches, als er plötzlich seine Lippen auf die meinen presste und mich, - ausgehend von der Hand, die er unter den Wasserstrahl hielt, - schwungvoll näher zu sich und seinen unwiderstehlichen Körper zog, - ganz nahe, - und mich küsste, als würde er nie wieder damit aufhören wollen.

Meine Haut stand in Flammen und mein Herz schwoll an vor lauter Glück. In meinem Magen zog es sich beinahe schmerzhaft zusammen. Seine Lippen, seine Nähe, sein Verlangen. All das brachte mich halb um den Verstand. Ich klammerte mich an ihn, als wäre er die Luft zum atmen und erwiderte seinen Kuss voller Hingabe. Seine warme Hand wanderte meinen Rücken hinab zu meinem Po und blieb dort liegen, - brachte mich dazu, in unseren Kuss hinein zu stöhnen.

Ich wollte ihn. Ich wollte ihn so sehr. Mehr, als ich je irgendetwas gewollt hatte.

Halb am Rande bekam ich noch mit, wie er mich vollkommen in seinem Element plötzlich hoch- und auf den Küchentresen hob, ohne dabei auch nur einen Moment von mir abzulassen. Eine seiner Hände hielt mich immer noch bestimmend im Nacken fest, während die andere langsam von meinem Rücken zu meinem Bauch wanderte und eine brennende Spur hinterließ. Näher.

Er war mir immer noch nicht nahe genug.

Meine Hände, die sich bis jetzt vollkommen verzweifelt, - aus Angst, er könnte jeden Augenblick diesen wunderschönen Moment wieder zerstören, – an seine starken Schultern festgekrallt hatten, waren noch nicht bereit, sich von ihm zu lösen, wohl aber, weiterzuwandern. Ich hatte keine Ahnung, was genau ich da eigentlich tat, als eine Hand nach oben wanderte, und sich in sein schwarz-weißes Haar krallte, während die andere Hand nach unten wandere. Tiefer und tiefer. Er gab ein animalisches Grollen von sich, bei dem sich mir die Nackenhaare aufstellten.

Um ihm noch näher sein zu können, schlangen sich meine Beine um seine Hüfte. Das Stöhnen in meinem Mund war mir Antwort genug, auf die Frage, wie weit ich bereit war zu gehen. Wie weit ich gehen wollte oder gar konnte.

Und zwar so weit, wie er es zuließ. Ich würde gewiss keinen Rückzieher machen. Dafür genoss ich jede einzelne Berührung viel zu sehr. Und er allem Anschein nach auch, wie mir nicht nur das Stöhnen in meinem Mund verriet, sondern auch die pulsierende Härte, die an meine Mitte gepresst wurde. Schweratmend riss ich mich für einen kurzen Moment lang los, um tief Luft zu holen, und sein Mund wanderte einfach von meinem Mund abwärts meine Kehle entlang.

Er hörte nicht auf mich zu küssen.

Als er an meinen Ausschnitt gelangte, wanderte seine warme Hand von meinem Bauch zu meiner Brust und umfasste diese zärtlich. Vergeblich versuchte ich mein Stöhnen zu unterdrücken. Mein Atem ging stoßweise. Sein Blick fiel auf mein Gesicht und fesselte mich. Seine Augen waren wie flüssiges Silber. So klar und rein, wie noch niemals zu vor. Langsam beugte er sich wieder nach vorne und legte seinen Mund wieder auf den meinen.

Zärtlich küsste er mich. Zuerst länger, dann immer kürzer und mit immer größeren Abständen. Als er sich von mir lösen wollte, hielt ich ihn weiterhin fest. Auf meine stumme Frage antwortend, lächelte er mich sanft an.

„Deine Schwester kommt jeden Augenblick“, erklärte er ein wenig rau, und nahm trotz mangelndem Entgegenkommen meinerseits meine um ihn geschlungenen Beine wieder runter.

„Silvan…“, wollte ich protestieren und hielt ihn fest. Er schnitt mir mit einem kurzen Kuss das Wort ab. Meine Lippen brannten.

„Nicht jetzt“, flüsterte er, machte sich los und half mir vom Tresen. „Wir reden später“, versprach er sanft und brachte meine Wangen damit zu glühen. Er drehte sich um, und war gerade in dem Moment außer Sichtweite, als meine kleine Schwester Leonie im Türrahmen erschien. Ein wenig schüchtern sah sie mich an.

„Morgen, Emma“, begrüßte sie mich nervös. Ich strich mir einmal durchs Haar und erwiderte ihren nervösen Tonfall fiebrig.

„Morgen“, erwiderte ich heißer und drehte mich um zum Herd. Ich riss geschockt die Augen auf, als mir klar wurde, dass ich die eingeschalteten Herdplatten und unser Mittagessen komplett vergessen hatte. Panisch schaltete ich die Temperatur auf null, und versuchte zu retten, was noch zu retten war. Es war nicht viel. Interessiert näherte sich Leonie und sah mir bei meinem Vorhaben zu. Aber ich hatte keine Zeit für sie oder was sie von dieser Situation womöglich hielt.

„Auweia“, verkündet sie den Kopf in meine Richtung streckend, aber mit deutlichem Sicherheitsabstand. Als alles von Hitze befreit und von mir in Sicherheit gebracht wurde, stützte ich mich erschöpft am Tresen ab.

„Das kannst du laut sagen“, gab ich erschöpft von mir und ließ den Kopf hängen. Der Fisch war nicht mehr zu retten gewesen, und obwohl Gemüse und Soße durch allerlei Kräuter und Gewürze halbwegs genießbar gemacht wurden, würde man meine Nachlässigkeit trotzdem schmecken können.

„Was ist eigentlich passiert?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn. „Sowas passiert dir doch sonst nicht.“ Ich warf ihr einen langen Blick zu.

„Jeder hat mal einen schlechten Tag“, sagte ich dann, und machte mich auf die Suche nach einem Ersatz für den verbrannten Fisch. Mein nebensächlicher Ton war nur aufgesetzt, und ich hoffte, dass es ihr nicht auffiel.

„Hm, wenn du meinst“, gab sie nicht gerade überzeugt nach. „Und dieses Missgeschick-“, fügte sie dann aber doch nervös hinzu. „-Das hat nicht zufällig etwas mit Silvan zu tun? Er war eben noch hier.“ Mein Puls beschleunigte sich, als ich seinen Namen hörte. „Immerhin hätte er es doch merken müssen, wenn unser Essen verkohlt, oder etwa nicht?“

„Ich weiß nicht“, antwortete ich ausweichend; ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte und widmete meine ganze Aufmerksamkeit der Pfanne vor mir.

„War er vielleicht zu abgelenkt…?“, fuhr sie überlegend fort, und ich war froh, sie nicht ansehen zu müssen, denn mein Gesicht glühte von einem Ohr zum anderen.

„Vielleicht“, erwiderte ich wage. Eine Weile war es still, bis auf das Brutzeln in der Pfanne.

„Wird-“, begann Leonie unsicher. „Also, was ich dich eigentlich fragen wollte…“ Ihre Stimme wurde immer leiser. „Wird er… Wird Vincent wieder hier her kommen?“ Mir war nicht verborgen geblieben, wie beinahe liebevoll sie seinen Namen gemurmelt hatte. Überrascht drehte ich mich um und sah sie direkt an.

„Ich dachte, du magst ihn nicht“, fragte ich verwirrt. Sie schien mit sich zu kämpfen.

„Da kannte ich ihn ja auch noch gar nicht“, erklärte sie leise und wich meinem Blick aus. „Und?“, wollte sie wissen. „Wirst du ihn wieder einladen?“

„Ich…“, begann ich ein wenig überfordert.

Meine Schwester und Vincent.

Meine kleine Schwester und Vincent.

Meine kleine, hinter den Ohren grüne Schwester und mein Freund Vincent.

„Ich weiß noch nicht so genau“, erklärte ich ausweichend. „Gut möglich.“

„Oh“, erwiderte sie nicht gerade vielsagend. „Okay.“ Mit einem kleinen Lächeln in meine Richtung verließ sie die Küche, und ließ mich, immer noch vollkommen überrascht über diese Wendung, ratlos zurück.

In meinem Kopf herrschte gänzlich Leere. Mein Geist schien nicht in der Lage zu sein, diese neu gewonnene Information aufzunehmen. Erst der Geruch von verbranntem Essen holte mich aus meiner Starre und brachte mich dazu, mich mit einem Ruck wieder dem Herd zu widmen.

„Nicht schon wieder“, seufzte ich entgeistert und kratzte schon zum zweiten Mal an diesem Tag verbranntes Essen aus unserer Pfanne und in den Mülleimer, bevor ich resigniert die Pfanne wieder auf die heiße Herdplatte stellte, die Temperatur ein wenig zurückdrehte, und Eier aus unserem Kühlschrank holte.

Lieber Gott, wenigstens das müsste mir gelingen. Oder ansonsten würde ich nie wieder versuchen, in diesem Haushalt zu kochen.

Und auf die Kochkünste meiner Schwester Leonie, oder Paige wollte ich lieber nicht angewiesen sein. Schwer vorstellbar, - aber bei den beiden verkohlte üblicherweise sogar noch mehr Essen, als bei mir an, - meist von Silvan, - stark abgelenkten Tagen.

Kapitel 27

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 22, Abschnitt 3

 

Jeder Mensch hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen; er darf seinen Hunimal dabei überall hin mitnehmen; beim Einwandern in anderes Land, muss erst eine Mitnehmerlaubnis erlangt werden()…

 

 

Das Wochenende verging so schnell, dass ich keine richtige Gelegenheit hatte, mit Silvan über… den Moment in der Küche zu sprechen. Das lag zum größten Teil dran, dass sich Silvan, - wenn er nicht meinem Dad in der Werkstatt behilflich war, - aus dem Staub machte. Und was den anderen Teil anbelangte… war ich schlicht zu feige. Ich konnte mich ohrfeigen vor Wut über mich selbst.

Doch noch mehr hasste ich es, wenn Silvan plötzlich verschwand. Wenn er von einem Moment auf den anderen das Haus verließ, - allein, - nur um Stunden später wieder aufzutauchen, als wäre er überhaupt nie weg gewesen. Sonntag versuchte ich noch einmal mit meinem Vater darüber zu reden, aber der Erfolg hielt sich in Grenzen.

„Silvan weiß schon, was er tut“, meinte mein Vater, und war gerade dabei, die Lehne eines neuen Stuhles abzuschleifen. Ich setzte mich neben ihn.

„Da bin ich mir nicht so sicher“, gestand ich leise. „Dad, du weißt doch etwas, oder nicht?“, sprach ich meine Vermutung aus. Seufzend unterbrach er seine Arbeit für einen Moment.

„Hab ein wenig Vertrauen, Kleines“, antwortete er sanft und sah mir vertrauensselig in die Augen. Warmes, beruhigendes Braun. Heute schien es aber leider keine Wirkung zu tragen. Ich ließ den Kopf hängen.

„Ich denke nicht, dass die Welt morgen untergehen würde, nur weil mir endlich jemand erzählt, was hier eigentlich gespielt wird“, bemerkte ich frustriert. „Du sagst, ich soll Vertrauen haben, aber wie kann ich das, wenn ihr mir nicht dasselbe Vertrauen entgegen bringt?“ Fragend sah ich ihn an, bis er schließlich den Blick abwandte. Lange Zeit blieb es still; niemand sagte ein Wort, bis jemand an der Tür zur Werkstatt klopfte.

„Ja?“, erkundigte sich mein Vater. Paige steckte den Kopf zur Tür rein.

„Hallo“, begrüßte sie uns leise; sie hatte immer eine sehr sanfte, angenehme Stimme, wenn sie nicht gerade wieder einmal mit Leonie herumalberte. „Tut mir leid, wenn ich störe“, fuhr sie fort uns den Grund ihres Kommens zu erklären. „Aber ich müsste wirklich dringend in die Bücherei, - für ein Referat, - und da Leonie keine Lust hat…“ Ein wenig hilflos sah sie mich an; alleine konnte sie auf gar keinen Fall gehen. Also nickte ich.

„Ich gehe gerne mit dir“, erklärte ich mich bereit, sie zu begleiten. Hier würde ich sowieso nicht weiter kommen.

„Danke“, verkündete sie sanft und sah mich erleichtert an. Seufzend erhob ich mich und ging zu ihr.

„Emma?“, hörte ich die Stimme meines Vaters hinter mir. Ich war gerade bei der Tür angekommen, und warf einen Blick zurück. Er hatte wieder das Schleifpapier in der Hand. „Ich rede mit Silvan“, versprach er und begann das dunkle Holz weiter abzuschleifen. Überrascht sah ich ihn an, aber er achtete gar nicht mehr auf mich; er war völlig auf die Arbeit seiner Hände konzentriert.

„Danke, Dad“, flüsterte ich und verließ ein wenig zuversichtlicher, als noch eben zuvor, den Raum mit Paige.

Sie lächelte leicht.

„Warum kommt Leonie eigentlich nicht mit?“, erkundigte ich mich auf dem Weg in mein Zimmer bei ihr. Ihr Lächeln verrutschte in wenig.

„Sie hat anderes zu tun“, erklärte sie leise; ihr Ton klang verständnisvoll.

„Wie zum Beispiel?“, fragte ich skeptisch nach.

„Das solltest du sie am besten selber fragen“, erwiderte sie und blieb einfach am Fuße der Treppe stehen, während ich schon die ersten zwei Stufen erklungen hatte. „Ich zieh mir schon mal meine Schuhe an und warte hier auf dich“, erklärte sie und bedeutete mir, einfach nach oben zu gehen.

„Ich hole nur meine Tasche“, informierte ich sie. „Dann können wir gehen.“

Wenig später waren wir schon auf dem Weg in die Stadt und unterhielten uns über das Referat, welches Paige für Leonie vorbereitete.

„Wusstest du, dass das Haus of Surrey schon seit fast 300 Jahren an der Macht ist?“, fragte mich Paige, begeistert über das Thema. „Seit 298 Jahren um genau zu sein. Ist das nicht ein Wahnsinn? Eine Familie mit einer dermaßen große Macht, - und das über einen so langen Zeitraum. Immer wieder gab es Anschläge und Umsturzversuche, aber bis auf den einen kurzzeitig-erfolgreichen Umsturz vor 150 Jahren und die „Blaue Revolution“ vor einigen Jahren blieben alle Versuche erfolglos.“ Sie senkte ihre Stimme auf ein ehrfürchtiges Flüstern. „Ich habe gehört, der Palast der Königsfamilie soll sogar noch um einiges größer sein, als der riesige Freizeitpark am Stadtrand.“ Ich verdrehte die Augen.

„Wo hast du denn diesen Unsinn aufgeschnappt?“, erwiderte ich lachend und stieg vor ihr in den Bus ein.

„Das ist kein Unsinn“, verteidigte sie sich. „Das stimmt wirklich alles. Naja, bis auf das mit dem Freizeitpark. Da bin ich mir zugegeben nicht zu hundert Prozent sicher, aber vorstellen könnte ich es mir…“ Ich schüttelte lachend den Kopf.

„Also, nach was genau suchen wir in der Bibliothek?“, erkundigte ich mich und sah aus dem Fenster. Der Bus fuhr los und hüpfte unruhig auf und ab, auf Grund der holprigen Straße. Wir gehörten eindeutig nicht zu den reicheren Vierteln in dieser Stadt. „Bücher über das Königshaus, Politik, Umsturzversuche, Revolutionen, den Palast…?“, begann ich aufzuzählen und sah sie fragend an.

„Das Haus of Surrey und seine Regentschaft“, stellte sie klar. „Und alles was dazu gehört.“ Ich runzelte die Stirn.

„Das ist ein ziemlich ausgedehntes Thema“, machte ich sie aufmerksam. Sie nickte.

„Ich weiß“, erklärte sie nüchtern. „Leonies Wahl.“ Das hätte ich mir denken können.

„Na, zumindest wird uns nicht der Gesprächsstoff ausgehen“, fügte ich aufmunternd hinzu und sie lächelte dankbar.

Der Weg in die Stadtbibliothek war nicht besonders weit. Dort angekommen, machten wir uns augenblicklich auf die Suche nach den richtigen Büchern und verließen kaum eine Stunde später schon wieder vollbepackt mit schweren Wälzern und Nachschlagewerken das Gebäude.

Wir nahmen den ersten Bus, der uns nach Hause bringen würde, und scherzten und lachten auf dem Weg von der Haltestelle bis zur unserer Haustür über die Last der Bücher und deren altmodisch-ausgedrücktem Inhalt. Gerade eben überlegte ich noch, wie wir es schaffen wollte, die Tür zu öffnen, da wurde sie auch schon von Innen aufgerissen. Überrascht sahen Paige und ich in Silvans Gesicht. Er trat ein wenig zur Seite und bedeutete uns, einzutreten.

„Danke“, erklärte ich mit rosa Wangen und schlich mich, einen riesen Stapel Bücher im Arm, an ihm vorbei.

„Vielen Dank“, hörte ich auch Paiges Stimme hinter mir.

„Jederzeit“, erklärte Silvan, während ich mich zum Esstisch hin bewegte und die Bücher abstellte. Als ich mich umdrehte wollte um Silvan etwas fragen, da erhaschte ich gerade noch einen kurzen Blick auf seine muskulösen Beine, bevor er die Haustür hinter sich zu fallen ließ. Es machte einmal Rums und weg war er.

Der Schock hielt nur einen Moment lang an. Ich sah, wie Paige mir einen verwirrten Blick zuwarf, und eilte schnell zum Fenster um hinaus zu sehen. Silvan hatte den Garten schon fast durchquert und steuerte auf die Straße zu. Ohne darüber nachzudenken riss ich die Haustür auf und lief ihm hinterher.

„Silvan“, schrie ich keuchend. Sein Kopf fuhr in meine Richtung und das Eisblau in seinen Augen begegnete mir abweisend.

„Geh wieder ins Haus, Emma“, befahl er leise, aber äußerst eindringlich und ging weiter. Ich blieb stehen.

„Nein“, erklärte ich entschlossen. „Entweder du nimmst mich mit, oder du bleibst hier.“ Mitten in der Bewegung fror er ein. Doch statt mir zu antworten, schüttelte er einmal den Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Bei der Straße angekommen, bog er nach rechts auf den Bürgersteig ab.

Er wollte mich doch nicht allen Ernstes einfach so stehen lassen?

„Verdammt, Silvan!“, beschwerte ich mich und lief ihm hinterher, - wobei ich fast das Gleichgewicht verlor und ausrutschte. Es lag immer noch eine beachtliche Menge Schnee am Boden. Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, eilte ich ihm vorsichtig hinterher.

„Darf ich das als dein Einverständnis nehmen, mich mitzunehmen?“, stichelte ich, als ich ihn endlich eingeholt hatte. Es war nicht nur die Wut, die in meinem Tonfall durchdrang, sondern auch echtes Interesse. Er antwortete nicht.

„Da du nicht widersprichst, sehe ich das mal als ein >>Ja<< an“, verkündete ich warnend und sah mich kurz um, wohin wir gingen. Es war nicht die Richtung zur unserer üblichen Bushaltestelle. Verwirrt runzelte ich die Stirn und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf Silvan.

Mit monotonen, zielstrebigen Blick eilte er auf ein mir unbekanntes Ziel zu. Selbst in seiner ablehnenden Art zog er mich beinahe magisch an. Seine starken Schultern unter der schwarzen Jacke, seine blasse Haut, sein vorgestrecktes Kinn, seine schwarz-weißen Haare, die ihm wild ins Gesicht hingen, seine verführerischen Lippen, und seine zielgerichteten, eisblauen Augen.

Was hatte unser Kuss zu bedeuten gehabt?

Hatte er seine Meinung geändert? Seine Gefühle?

„Silvan…“, begann ich ein wenig hilflos. „Hast du-“. Ich hielt inne. „Sag mal, hat Dad schon mit dir geredet?“, erkundigte ich mich betont beiläufig. Ich brachte es einfach nicht über mich, ihn auf unseren intimen Moment in der Küche anzusprechen.

„Ja“, bestätigte er mir schlicht. Ich wartete auf weitere Information, aber es kam keine.

„Und?“, versuchte ich es weiter.

„Ich habe ihm gesagt, dass ich darüber nachdenke“, erklärte er und warf mir einen missbilligenden Blick zu. Ich senkte den Kopf.

„Das hast du schon einmal versprochen“, rechtfertigte ich mein überstürztes Handeln. „Du hättest mich ja doch nicht freiwillig mitgenommen.“ Manchmal musste man einfach ein wenig nachhelfen.

„Ich nehme dich auch jetzt nicht mit“, informierte er mich beiläufig.

„Oh doch“, widersprach ich heftig, und senkte meine Stimme wieder etwas, nachdem er mir einen anklagenden Blick zugeworfen hatte. Richtig, - wir waren hier nicht Zuhause. „Oder wie nennst du das hier?“, zischte ich ihm zu. Viel zu ruhig erwiderte er meinen herausfordernden Blick.

„Einen Spaziergang“, teilte er mir schlicht mit. Vollkommen baff sah ich ihn an.

„D-Das ka-kann ja wohl nicht dein E-Ernst sein“, entfuhr es mir entgeistert. Er antwortete nicht und sah wieder nach Vorne. Mir links und rechts die Häuser ansehend wurde mir klar, dass wir im Kreis gelaufen waren. In wenigen Metern würde unser Haus zu sehen sein.

„Du. Machst. Dich. Über. Mich. Lustig?“, zischte ich stockend, als ich das kleine Lächeln an seinem rechten Mundwinkel entdeckte. Er warf mir einen entschuldigenden Blick zu.

Ich wollte schreien, so wütend war ich. Mit weiten Schritten eilte ich Silvan voraus ins Haus und schlug heftig die Tür hinter mir zu. Zwei geschockte Gesichter blitzten mir entgegen.

„Was ist passiert?“, erkundigte sich Leonie und stand blitzschnell von ihrem Stuhl auf. Sie und Paige saßen am Esstisch, um sie herum die ausgeborgten Bücher aus der Bibliothek. Ich schüttelte abwehrend den Kopf und begann aus meiner Jacke und Schuhen zu schlüpfen. „Streit mit Silvan?“, versuchte sie es abermals.

„Nur eine kleine Auseinandersetzung“, antwortete ich ihr mit zusammen gebissenen Zähnen, und zwang mich zu einem kleinen Lächeln; sie schein nicht gerade überzeugt.

„Wegen Vincent?“, riet sie vollkommen ahnungslos.

„Was?“, fragte ich überrascht, und beeilte mich den Irrtum aufzuklären. „Nein. Natürlich nicht.“ Ernst sah ich sie an. „Meine Freundschaft zu Vincent hat damit überhaupt nichts zu tun“, stellte ich klar. Scheinbar glaubte sie mir. Ich seufzte einmal tief auf und wollte die Treppe rauf in mein Zimmer gehen, als mir plötzlich etwas auffiel.

Mit einem unguten Gefühl trat ich ans Fenster; es war niemand zu sehen.

Daraufhin öffnete ich vorsichtig die Haustür und steckte meinen Kopf raus. Kalter Wind blies mir entgegen, als ich in alle Richtungen nach Silvans eigentlich unübersehbarer Gestalt suchte. Aber auch auf der Terrasse war keine Spur von ihm zu finden. Leonie trat hinter mich.

„Wo ist Silvan?“, fragte sie und beugte sich ein wenig nach Vorne, um eine bessere Sicht auf die weiße Terrasse haben zu können. „Ich dachte, ihr wärt beide hier draußen gewesen.“ Ich sah sie nicht an, als ich antwortete.

„Spazieren“, erklärte ich mit leiser Stimme; es klang seltsam leblos. „Er geht noch eine Runde Spazieren.“ Mein Blick lag in die Ferne gerichtet. Der Himmel war grau und es würde bald dunkel werden. Dämmerung.

„Ach so“, meinte meine Schwester bloß gleichgültig von mir abrückend, um sich wieder mit anderen Dingen zu beschäftigen, - interessanteren Dingen.

Eine Weile blieb ich noch so stehen, sah in die Ferne und hörte ihre und Paiges leise Stimmen im Hintergrund. Irgendwann löste ich mich wieder aus meiner Starre und schloss seufzend die Tür. Mir meine kalten Gliedmaßen reibend, warf ich nur einen kurzen Blick auf die beiden und huschte dann leise die Treppe nach oben. Die Ereignisse des Tages, - oder besser gesagt, des ganzen Wochenendes, - hatten mich überraschend geschafft.

Kapitel 28

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 3, Abschnitt 8

 

Jeder Mensch hat angeborene, schon durch die Vernunft einleuchtende Rechte, und ist daher als eine Person zu betrachten und vom Rechts wegen geschützt; Hunimals sind keine Personen, aber auch für sie gelten bestimmte Rechte oder auch Pflichten()...

 

 

„Ist es schon so weit?“, erkundigte sich Marcus leise bei mir. Die vierte Stunde hatte gerade begonnen und mein blonder Sitznachbar lehnte sich möglichst nahe in meine Richtung und sah mich mit hoffnungsvollem Blick an.

„So weit, - wofür?“, antwortete ich mich mit gerunzelter Stirn; ich hatte nicht die geringste Ahnung, was er meinte.

„Na, unser Ausflug auf die >>andere Seite<<“, erklärte er mit glühendem Blick. Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich musste einmal schwer schlucken.

„Ich habe dir doch gesagt, dass es noch zu früh ist“, erwiderte ich, seinem brennenden Blick ausweichend.

„Das hast du“, bestätigte er mit einem kleinen, spitzbübischen Lächeln in der Stimme. „Und du hast auch gesagt, irgendwann in den nächsten Wochen wäre es in Ordnung.“

„Habe ich nicht“, widersprach ich heftig. Augenblicklich lagen etliche Blicke auf mir. Mit roten Wangen senkte ich den Blick, und meine Klassenkameraden wandten sich wieder desinteressiert von mir ab. Mein Mund war wie versiegelt. Ich brachte kein Wort mehr raus.

„Hast du wohl“, flüsterte Marcus aufgeregt, aber bemüht leise in mein Ohr. „Emma, Bitte“, hängte er flehend an. „Dieser Alltag bringt mich um, - ich verliere noch den Verstand.“ Seine letzte Aussage brachte mich dazu, den Blick zu heben und ihm ins Gesicht zu sehen; es war schmerzverzerrt.

Ich kannte dieses Gefühl nur zu gut.

Meine Gedanken schweiften zu Silvan und seinem widersprüchlichen Verhalten mir gegenüber, - zu seinen Geheimnissen und seinem Verschwinden. Und zu meinem Versprechen, das ich ihm zuliebe abgelegt hatte. Desto mehr ich darüber nachdachte, desto unfairer kam mir das Ganze vor. Er durfte sich sehr wohl in Gefahr begeben und etwas riskieren; leben und erleben.

Also, nickte ich.

„In Ordnung“, stimmte ich leise zu, und Marcus riss begeistert beide Augen auf. „Aber nicht sofort“, stellte ich im ernsten Tonfall klar, - schien seine Freude damit aber nicht im Geringsten zu dämpfen. „Und es muss gut durchdacht sein“, versuchte ich ihm begreiflich zu machen. Aufmerksam hörte er mir zu. Würde er doch nur im Unterricht so aufmerksam sein. Es fiel mir schwer, nicht die Augen zu verdrehen, als ich fort fuhr. „Außerdem wirst du dich um alles kümmern, verstanden? Du bestimmst den Zeitpunkt, lässt dir eine geeignete Ausrede für uns beide einfallen, - das dürfte dir nicht weiter schwer fallen, - und entschuldigst uns bei den Lehrern, gegebenenfalls auch bei Vivien, Beth und Thomas“, machte ich ihm seiner vielen Aufgaben deutlich. Er nickte eifrig. „Sollten wir in irgendwelche Schwierigkeiten kommen, dann wirst du uns da wieder rausholen“, hängte ich im Befehlston an.

„Verlass dich ganz auf mich“, meinte er zuversichtlich und warf mir ein komplizenhaftes Lächeln zu, welches ich nur zu gerne erwiderte; Verbotenes zu tun, - oder auch nur zu planen, - fühlte sich großartig an.

Wenig später war die Schule auch schon zu Ende, - und ich bester Laune. Silvan hingegen… eher nicht. Das, besser gesagt, er, war der ausschlagende Grund dafür, dass Marcus und ich unseren kleinen Ausflug nicht sofort hatten machen können.

Wenn Silvan, - und davon ging ich aus, - unser Gespräch mitbekommen hatte, wollte ich ihm, erstens, zumindest die Chance geben, es mir auszureden, und zweitens, würde er vermutlich am anderen Ende vor dem geheimen Durchgang warten und uns bloß wieder zurück schicken, hätten wir unser Vorhaben sofort in die Tat umgesetzt, - keine sehr angenehme Vorstellung. Obwohl Marcus‘ Gesichtsausdruck vermutlich zum Schießen gewesen wäre.

Ich lachte, und versuchte es als eine Art Husten zu tarnen. Nicht sehr erfolgreich, denn ich erntete einen skeptischen Blick von Silvan.

„Darf ich fragen, was du so amüsant findest?“, verlangte er mit erhobener Augenbraue zu wissen. Ich schüttelte den Kopf.

„Darfst du nicht“, zog ich ihn auf. Ich war immer noch sauer über sein Verhalten mir gegenüber.

Zuerst führte er mich an der Nase herum, dann machte er sich auch noch über mich lustig und schließlich verschwand er ganz plötzlich. Ich hatte jedes Recht, auf ihn wütend zu sein. Das Problem dabei: Ich war es nicht wirklich. Vielmehr war ich wütend auf mich selbst, weil ich ihn wieder entwischen hatte lassen.

„Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass es dich genauso belustigen würde, wie mich“, fügte ich kryptisch hinzu. Meine Hand zuckte und wollte nach seinem Arm greifen, um mich unterzuhaken, aber ich verhinderte es gerade noch im letzten Moment.

„Wenn du es mir nicht sagst, werden wir es niemals erfahren“, drohte er spielerisch. Argwöhnisch sah ich ihn an.

„Ich denke, damit kann ich leben“, verkündete ich betont gelassen, sah nach Vorne und schwieg. Er sollte ruhig einmal zu spüren bekommen, wie es sich anfühlte, nicht vollends im Bilde zu sein. Zu meinem übergroßen Bedauern, ließ er es dabei bewenden und erkundigte sich den ganzen Weg nach Hause nicht ein einziges Mal mehr danach.

Als ich abends wie üblich mit Vincent in unserem, - mittlerweile, - Stammcafé saß, war ich nicht die einzige, die ausnahmsweise einmal bester Laune war; zur Begrüßung hatte er mich sogar ein klein wenig angelächelt. Vor Schreck hätte ich fast vergessen, zurück zu lächeln.

„Emanuela“, bemerkte er beiläufig und schlug sein Buch zu.

„Vincent“, antwortete ich und sah ihn abwartend an; sein Gesichtsausdruck lag für mich irgendwo zwischen leichtem Misstrauen und Freude.

„Du bist gut nach Hause gekommen.“ Ich konnte unmöglich sagen, ob es eine Feststellung oder eine Frage war, deshalb nickte ich einfach. „Wirst du mich wieder besuchen?“, erkundigte er sich und musterte mich sehr genau.

„Das kommt darauf an“, antwortete ich ausweichend. Leichter Ärger huschte über sein Gesicht.

„Worauf?“, verlangte er hart zu wissen. Ich schluckte.

„Auf dich“, gestand ich leise. „Vincent“, begann ich im sanften Tonfall und blickte in seine Smaragd-grünen Augen. So ganz anders, als das gefährliche Grau seines Vaters, aber genauso tief. Meine Stimme wurde immer schwächer. „Wir sind Freunde, richtig?“, erkundigte ich mich leise. Er wandte nicht den Blick ab.

„Ja“, erklärte er ernst; seine Augen blieben kalt. „Wir sind Freunde.“ Unbehaglich von der Intensität seines Blickes sah ich weg. Eine ganze Weile blieb es still. Schließlich stahl sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht.

„Du hast einen ziemlichen Eindruck bei uns Zuhause hinterlassen“, offenbarte ich ihm fröhlich, aber mit leichter Vorsicht in der Stimme. Themawechsel. „Meine Schwester hat ihre Meinung über dich geändert. Du bist also jeder Zeit bei uns willkommen.“

„Ich wusste gar nicht, dass sie mir gegenüber einen Groll gehegt hatte“, antwortete er skeptisch.

„Groll würde ich nicht gerade sagen“, verteidigte ich meine kleine Schwester. „Sie war vielleicht ein wenig voreingenommen.“

„Oberschicht?“, riet er. Eine Grimasse ziehend antwortete ich ihm.

„So in etwa“, gab ich zu. Ich wusste selbst nicht ganz, was sie eigentlich gegen ihn gehabt hatte. Er lachte leise; es klag leicht ungläubig und beinahe zynisch.

„Das ist neu“, murmelte er leise, - mehr zu sich selbst, als zu mir.

„Was ist…?“, fragte ich neugierig nach. Er winkte ab.

„Normalerweise ist es genau anders herum“, meinte er in abfälligem Tonfall. „Das ist vermutlich das erste Mal, dass jemand gegen mich voreingenommen ist, Aufgrund meines hohen Status.“ Wieder lachte er.

„Was ist mit mir?“, erinnerte ich ihn. Sein Lachen stoppte. Schlagartig wurde er ernst.

„Was soll mit dir sein?“, erwiderte er hart. Ich fuhr ein wenig zurück.

„Soweit ich mich erinnere, waren wir Anfangs auch nicht die besten Freunde“, erklärte ich vorsichtig und warf ihm einen unschlüssigen Seitenblick zu. In seinen Smaragd-grünen Augen blitzte es.

„Das ist etwas anderes“, stellte er überzeugt klar. „Du konntest mich nicht leiden, Aufgrund meines Verhaltens dir gegenüber. Mein Stand hatte damit nichts zu tun, - der war dir egal.“ Selbstsicher und ein wenig verärgert, dass er es überhaupt aussprechen musste, sah er mich an.

„Da hast du allerdings Recht“, erwiderte ich, und grinste böse. „Du warst wirklich sehr unhöflich.“ Er warf mir einen warnenden Blick zu.

„Vielleicht bin ich aber auch jetzt einfach viel zu höflich“, überlegte er, und es klang beinahe wie eine Drohung. Ich lachte wieder.

„Da mach dir mal lieber keine Sorgen, Vincent“, klärte ich ihn locker auf. „So was wie >>zu höflich<< in deinem Fall gibt es gar nicht.“ Da fiel mir etwas ein. „Obwohl, dein Benehmen bei mir Zuhause, als du mich abholen wolltest, so überaus vorbildlich war, dass es mich immer noch überrascht, wenn ich daran zurück denke“, gestand ich.

„Wenn es sein muss, weiß ich meine Gefühle durchaus im Zaun zu halten“, erklärte er mich intensiv ansehend. Die Heftigkeit seines Blickes verursachte mir eine Gänsehaut und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

„I-Ich sollte dann mal wieder aufbrechen“, erklärte ich leise und erhob mich. „Es wird langsam spät“, rechtfertigte ich mich.

Warum hatte ich das Gefühl, das tun zu müssen?

Musste ich mich wirklich rechtfertigen?

„Komm gut nach Hause, Emanuela“, erwiderte Vincent gelassen.

„Du auch“, meinte ich leise und ging Richtung Ausgang. Im Türrahmen warf ich noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter. Vincent war wieder in sein Buch vertieft und beachtete mich gar nicht.

Waren wir wirklich Freunde?

Kapitel 29

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 13, Abschnitt 9

 

Die Rechte der Mitglieder einer erlaubten Gesellschaft werden definiert durch Paragraf 30, Abschnitt 2; im Verhältnis gegen Andere genießen erlaubte Gesellschaften in der Regel andere Rechtsbestimmungen; Unerlaubte Gesellschaften haben als solche keine Rechte, weder gegen die Mitglieder, noch gegen Andere, und sie sind unfähig, Rechte zu erwerben()…

 

 

Wenige Tage später war es soweit. Marcus und ich waren endlich wieder auf der >>anderen Seite<<.

Es war mitten in der Stunde, und die Gänge, die wir entlang schritten, waren fast vollständig Hunimal-leer. Mein Herz schlug mir vor Freude und Aufregung bis zum Hals und auch Marcus wirkte ungewöhnlich nervös und fiebrig.

Ich hatte Silvan genug Zeit gelassen, mich aufzuhalten, wenn er es wirklich wollte, - aber er hatte sich allem Anschein nach dazu entschieden, nichts zu unternehmen. Konnte mir nur Recht sein. Ganz besonders, nachdem mich Marcus auf einige, mir bis zu diesem Zeitpunkt noch unbekannte Neuigkeiten aufmerksam gemacht hatte.

„Sie haben einen Schulsprecher?“, entfuhr es mir überrascht. Marcus nickte.

„Einen Art Hunimal-Vertreter“, scherzte er. „Und einen Schülerrat.“ Das wurde ja immer besser.

„Wahnsinn“, bemerkte ich baff. Dafür, dass Hunimals eigentlich kaum Unterstützung vom Staat erhielten, war dieses Eingeständnis, - dieser Schülerrat, - einfach unglaublich.

„Das dachte ich zuerst auch“, bemerkte Marcus und warf mir einen schwer zu deutenden Blick zu. „Aber ganz so toll, wie du dir das jetzt vorstellst, ist es nicht.“ Er verlangsamte das Tempo, bog rechts in den Flur ein und bedeutete mir, ihm zu folgen.

„Wieso?“, fragte ich bestürzt und eilte zu ihm. „Wie ist es dann?“ Er seufzte.

„Der Schülerrat hat Macht“, erklärte er nervös; das Thema war ihm sichtlich unangenehm. Aber er hatte es gestartet, und so schnell würde ich es auch nicht mehr beenden. Nicht, bevor ich nicht gleich viel darüber wusste, wie mein blonder Sitznachbar. „Er hat eine gewisse Macht“, fuhr er freudlos fort. „Aber nur im Inneren dieses Gebäudes. Und auch nur auf der Seite der Hunimals. Alles, was darüber hinaus geht, ist…“ Er brach ab; schien nicht die richtigen Wörter zu finden.

„Ich verstehe immer noch nicht, was dabei das Problem ist“, fuhr ich dazwischen. „Der Schülerrat tritt doch immer nur für seine eigene Schule ein.“ Unglücklich sah er mich an und bleib stehen.

„Emma, diese Schülervertretung der Hunimals…“, antwortete er leise und sah mir in die Augen. „Die ist nicht da, um den Schülern das Leben zu erleichtern, geschweige denn, um sich für sie in irgendeiner Weise einzusetzen.“ Eindringlich sah er mich an.

„Ich… verstehe nicht“, gestand ich verwirrt. Er lächelte gequält.

„Emma, dass Igor regelmäßig fertig gemacht wurde… war kein Zufall“, informierte er mich melancholisch. Immer noch verirrt sah ich ihn an. „Er stand auf ihrer Liste.“

„Was für eine Liste?“, fragte ich irritiert. „Wovon sprichst du überhaupt?“

„Auf der Liste des Schülerbeirats“, erklärte er eindringlich. Langsam fing ich an zu verstehen.

„Das heißt, es gibt noch mehr… solcher Fälle wie Igor?“, erkundigte ich mich, und war nach außen hin erstaunlich gefasst. In meinem Inneren hingegen sah es ganz anders aus. Marcus nickte.

„Leider, ja“, bestätigte er mir, und sah einmal von links nach rechts. „Wir müssen weiter“, entschied er und zog mich am Arm mit. „Die Stunde ist bald zu Ende, - und wir müssen noch wohin.“ Widerstandslos ließ ich mich mitziehen, runzelte aber nachdenklich die Stirn.

„Wohin gehen wir eigentlich?“, erkundigte ich mich, während er mich immer noch auf ein mir unbekanntes Ziel mitzog.

„Was denkst du, warum ich dir vom Schülerrat erzählt habe?“, konterte er leicht und ich blieb abrupt stehen.

Das konnte doch nicht sein Ernst sein!

„Nein“, erklärte ich entschlossen und handelte damit nach meinem ersten Impuls. „Ich gehe dort nicht hin.“ Silvan würde mich umbringen.

Überrascht sah er mich an.

„Warum nicht?“, fragte er, mich überhaupt nicht verstehend. Wut kochte in mir hoch.

„Nach alldem, was du mir erzählt hast?“, brach es wütend aus mir heraus. „Glaubst du wirklich, ich will auch nur in die Nähe dieses… dieses…“ Ich konnte gar nicht aussprechen, wie widerlich ich diese Institution fand.

„Umso mehr Grund dorthin zu gehen“, eiferte er und griff nach meinem Arm, um mich weiterzuziehen. „Oder willst du allen Ernstes daneben stehen, während andere grundlos gequält werden?“ Verzweiflung machte sich in mir breit.

„Nein, natürlich nicht“, gab ich angeschlagen zu. Das Ziehen an meinem Arm wurde stärker. Offensichtlich sah er das als ein Zugeständnis an. „Aber ich will dort trotzdem nicht hin“, erklärte ich bedrückt. Er ließ meinen Arm los.

„Erinnerst du dich nicht mehr an deine eigenen Bedingungen, Emma?“, fragte er gutmütig und sah mich zuversichtlich an. „Sollten wir in irgendwelche Schwierigkeiten kommen, hole ich uns da wieder raus“, versicherte er mir.

„Du meinst, nachdem du uns zu allererst in diese Schwierigkeiten gebracht hast?“, konterte ich. Wir lachten.

„Genau so sieht der Plan aus“, stimmte er zu. „Na, komm, gib dir einen Ruck“, versuchte er es wieder. Ich straffte die Schultern.

„In Ordnung“, verkündete ich schwermütig. Er lächelte erleichtert und führte mich weiter, von einem Gang zum Nächsten. Immer wieder sah er auf seine Uhr.

„Wir treffen uns übrigens mit Igor“, informierte er mich plötzlich, und im nächsten Moment sah ich Besagten auch schon in einigen Metern Entfernung stehend auf uns warten.

„Ist das nicht gefährlich?“, flüsterte ich ihm leise zu, in der Hoffnung, dass es Igor nicht mitkriegen würde.

„Nicht unbedingt. Er wird schon seit einiger Zeit nicht mehr belästigt“, wisperte er zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder seinem Hunimal zu. Seinem Ton nach zu urteilen, hatte er nicht die geringste Ahnung, warum das so war. Vielleicht hätte ich ihn einweihen sollen.

„Hi, Emma“, begrüßte mich der schmächtige Junge mit der runden Brille. Dankbar sah er mich an. Seine Augen wirkten durch die Brille riesig. „Nobel von dir, dass du uns hilfst.“ Ich wand mich ein wenig.

„Hallo Igor“, antwortete ich und sah ihn ein wenig verschämt an, wenn ich daran dachte, wie viel Überredungskunst es Marcus gekostet hatte, mich hierzu zu überreden. „Bedank dich lieber noch nicht“, wehrte ich ab. „Ich habe keine Ahnung, ob ich mich noch als nützlich herausstellen werde.“

„Immerhin bist du hier“, widersprach er positiv-denkend. Ich zuckte mit den Schultern.

„Und was jetzt?“, fragte ich die beiden.

Nachdem mir Marcus den Plan erklärt und Igor vorausgeschickt hatte, - um mit seiner feinen Nase zu überprüfen, ob andere Hunimals in der Gegend waren, - beeilten wir uns, ihn in die Tat umzusetzen. Ziel war es, den Raum des Schülerrates zu erkunden, und wenn möglich, diese ekelerregende Liste mit den Namen der Hunimals ausfindig zu machen, auf die gerade Jagd gemacht wurde, - und von der mir Marcus erzählt hatte, - und diese zu stehlen.

„Das erinnert mich an deinen waghalsigen Versuch, einen Zettel aus dem Zimmer der Direktorin verschwinden zu lassen“, murmelte ich Marcus leise zu, während wir Ordner und Akten durchkämmten. Draußen vor der Tür stand Igor und hielt Wache. Ihn so nahe am Zimmer stehen zu lassen, war gefährlich; seinen Geruch würden sie erkennen. Wer auch immer >>sie<< auch waren.

„Ich habe ihn nicht verschwinden lassen, - sondern vielmehr ausgetauscht“, erinnerte mich Marcus besserwisserisch. „Und das sehr erfolgreich.“

Die Stunde war beinahe zu Ende. In meinem Kopf hörte ich die Glocke zum Verkünden der Pause schon etliche Male klingeln, und immer noch standen wir ohne Liste da. Langsam wurde ich nervös.

Was hieß langsam?

Ich stand schon die ganze Zeit über, wie auf heißen Kohlen.

„Marcus, verdammt!“, fluchte ich leise und sah ihn hilflos an. „So wird das nichts mehr. Wir müssen ein anderes Mal wiederkommen“, erklärte ich eindringlich. Hoffentlich hörte er auf mich.

„Es wird kein zweites Mal geben“, widersprach er ohne mich anzusehen. Sein Blick streifte den eingeschalteten Computer. Schnurrstraks eilte er darauf zu und berührte die Maus. Der Bildschirm leuchtete auf. „Sie werden merken, dass wir da waren“, fuhr er überlegend fort. „Passwort, Passwort“, murmelte er nachdenklich vor sich hin und versuchte scheinbar wahllos das erste Wort. Er fluchte leise, als es nicht funktionierte.

„Das hätte ich dir auch vorher sagen können“, kommentierte ich spitz und warf einen sehnsuchtsvollen Blick zur Tür. Wir mussten weg! „Marcus, es hat keinen Sinn mehr“, fügte ich ein wenig sanfter hinzu. Ich versuchte wirklich, mir meine Ungeduld nicht anmerken zu lassen, aber das ungute Gefühl in meiner Magengrube wurde von Minute zu Minute schlimmer. „Bitte“, flehte ich leise und sah ihn brennend an. Lass uns von hier verschwinden.

Er schien einen Moment darüber nachzudenken, und nickte dann einvernehmend. Erleichtert atmete ich aus,  nur um dann vom Geräusch der Klingel aufgeschreckt zu werden. Ich warf Marcus einen panischen Blick zu. Dieser wirkte überraschend ruhig, als er sich ein paar aussortierte Zettel vom Schreibtisch schnappte und auf die Tür zueilte.

„Na, endlich“, seufzte Igor erleichtert, als wir erschienen und augenblicklich anfingen zu laufen. „Wart ihr erfolgreich?“ Sein Ton klang zuversichtlich.

„Nein“, antwortete Marcus schlicht, während wir rannten. „Bis später, Igor. Pass auf dich auf“, fügte er hinzu.

„Dito“, bemerkte Igors Stimme hinter mir, und ich warf einen Blick über die Schulter und sah, wie besagter Hunimal mit einem kleinen, verabschiedenden Lächeln in meine Richtung in einen Gang hinter uns einbog, und aus unserem Sichtfeld verschwandt.

Plötzlich wurde ich von Marcus gestoppt. Das ging so schnell, dass ich fast über meine eigenen Füße gestolpert wäre.

„Hier rein“, erklärte er im Befehlston und öffnete eine Tür, in die er mich dann sachte schupste. Mir auf Schritt und Tritt folgend, schloss er die Tür hinter sich. Dunkelheit. Mein Rücken stoß an die Wand hinter mir. Der Raum war so klein, dass ich mich gerade einmal um mich selbst drehen konnte.

„Ist das ein Schrank?“, fragte ich leise, einem inneren Verdacht nachgehend.

„Mhm“, bestätigte er genauso leise.

„Großartig“, entfuhr es mir verstimmt, als die Erinnerung hochkam, was das letzte Mal geschehen war, als ich mich auf der Seite der Hunimals in einem Schrank verstreckt hatte. „Du weißt aber schon, dass so eine dünne Tür uns nicht davor bewahren wird, gefunden zu werden?“, wies ich ihn leise auf meine selbst erworbenen Erkenntnisse hin.

„Scht“, zischte er zurück, und ich verschränkte trotzig beide Arme, lehnte mich zurück und wartete auf das Unausweichliche.

Kapitel 30

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 13, Abschnitt 10

 

Unter >>Unerlaubten Gesellschaften<< versteht man laut Paragraf 30, Abschnitt 1, jene Gesellschaften, welche durch die politischen Gesetze insbesondere verboten werden, oder offenbar der Sicherheit, öffentlichen Ordnung oder den guten Sitten widersprechen()…

 

 

Die Zeit verging und nichts geschah. Aber ich war nicht naiv genug, um zu glauben, dass es so bleiben würde. Unsere Entdeckung war so unausweichlich, wie der Aufgang der Sonne. Man konnte wegsehen und sich im Schatten verstecken, aber sie würde aufgehen.

Und tatsächlich. Es hatte bereits wieder zur nächsten Stunde geläutet, - Marcus grinste schon siegessicher, wie ich in dem wenigen Licht ausmachen konnte, - als da auch schon von außen die Tür geöffnet wurde.

Manchmal war es schon fast deprimierend, immer Recht zu haben.

„Die Zeit ist um ihr Turteltauben“, ertönte es von einer tiefen Stimme, und der plötzliche Lichteinfall, als die Tür geöffnet wurde, brachte mich zum blinzeln. Vor uns stand ein regelrechter Schrank.

Das erste, was ich erkannte, war braunes Haar. Dann dieselben braunen Augen. Eine hohe Stirn und ein stolzes Kinn. Ein Drei-Tage-Bart und ein durchaus sympathisches Lächeln. Ich warf einen unschlüssigen Blick auf Marcus. Als auch er endlich erkannte, wer da vor ihm stand, lachte er erleichtert auf.

„Mann, Finlay“, beschwerte sich Marcus, und streckte dem Jungen vor uns freundschaftlich begrüßend seine Hand hin, als er auf den Flur trat. Lachend schlug der große Hunimal ein. „Du hättest mich fast zu Tode erschreckt“, berichtete Marcus.

„Entschuldige“, antwortete der braunhaarige Junge locker. Seine Stimme war überraschend tief und strahlte eine angenehme Ruhe aus. „Igor schickt mich, - ich soll dich und deine kleine Freundin hier raus holen.“ Sein Blick fiel auf mich.

Wie bitte?

„Hi, ich bin Finlay“, stellte er sich angemessen vor, und reichte mir seine Hand. Ohne zu zögern nahm ich sie. „Du kannst mich Finn nennen, wenn du willst“, fügte er freundschaftlich hinzu. Seine braunen Augen musterten mich erstaunlich wach, aber zugleich auch sehr gutmütig; er hatte etwas ungewöhnlich Erhabenes an sich.

„Emma“, antwortete ich und ließ seine Hand wieder los. „Du bist ein Freund von Igor?“, erkundigte ich mich. Er nickte.

„Er hat mich gebeten, euch ins Erdgeschoss zu unserem alten Krankenzimmer zu bringen, und nicht von eurer Seite zu weichen, bis ihr sicher wieder auf der >>anderen Seite<< seid“, offenbarte er. Ich war überrascht, dass Igor ihm alles erzählt hatte.

„Wo warst du nur die letzten Monate, als Igor dich gut gebrauchen hätte können?“, seufzte ich resigniert, als wir losmarschierten. Er erstarrte, und Marcus warf mir einen bösen Blick zu. „Entschuldige“, murmelte ich reuevoll in seine Richtung. „So war das nicht gemeint.“

„Ist schon gut“, erwiderte er abwehrend. „Du hast Recht. Ich hätte eingreifen müssen.“ Die Schuld in seiner Stimme war nicht zu überhören, und ich bereute, es angesprochen zu haben.

Er und Marcus unterhielten sich auf dem Weg ins Krankenzimmer zwanglos über dieses und jedes; Personen, die ich nicht kannte, und Sportarten, in denen ich mich nicht im Geringsten auskannte. Es war recht amüsant, den beiden dabei zuzuhören. Hin und wieder zogen sie mich in ihre Unterhaltung mit ein, aber den beiden wurde bald klar, dass der Versuch, mir die Welt des Sports näher zu bringen, aussichtslos war. Als Finn sich wenig später verabschiedete, erkundigte er sich noch einmal nach meinem ganzen Namen.

„Emma Ellis“, informierte ich ihn lächelnd. „Das wird dir vermutlich nichts sagen“, fügte ich hinzu. Ich hatte den leisen Verdacht, dass er wie Marcus der Oberschicht angehörte. Nicht, dass das irgendeine Rolle spielte. Aber es war äußerst unwahrscheinlich, dass mein Name ihm etwa sagen würde. Er lachte leise.

„Du wärst überrascht“, entgegnete er augenzwinkernd. Verwirrt sah ich ihn an. „Es hat mich gefreut, dich kennen zu lernen“, erklärte er höflich und verabschiedete sich auch von Marcus.

Wieder auf der Seite der Menschen, - und auch wieder in unseren eigenen, weißen Schuluniformen, - holte Marcus mehrere verbogene, bedruckte Blätter hervor.

„Was genau, wenn nicht die Liste, hast du da eigentlich mitgenommen?“, erkundigte ich mich nervös. Er zog eine Augenbraue nach oben.

„So genau weiß ich das gar nicht“, gestand er lachend. Entgeistert sah ich ihn an.

„Du hast einfach irgendwelche Zettel eingesteckt, ohne nachzusehen, was oben steht?“, wiederholte ich fassungslos. Er zuckte unberührt mit den Schultern.

„Besser als gar nichts“, erklärte er. Sein unbekümmerter Blick brachte meinen Kopf förmlich zum Kochen. „Außerdem habe ich sehr wohl einen Blick darauf geworfen“, verteidigte er sich.

„Du meinst für zwei Sekunden?“, konterte ich, und er klopfte mir kameradschaftlich auf die Schulter.

„Nein, es waren mindestens drei“, verbesserte er mich fröhlich.

„Dann ist ja gut“, gab ich mich seufzend geschlagen, während wir Richtung Klassenzimmer schlenderten. „Zahlt es sich überhaupt aus, heute noch einmal in den Unterricht zu gehen? Die letzte Stunde ist fast vorbei“, bemerkte ich hoffnungsvoll.

„Eigentlich nicht“, stimmt er mir lachend zu; sein Blick sagte alles. Gemeinsam setzten wir uns in der Nähe des Haupteinganges auf zwei Stühle und warteten auf das Klingeln der Schulglocke.

„Montag will ich unbedingt wissen, was auf diesen Zetteln steht“, teilte ich ihm ohne Umschweife mit.

„Also gibst du doch zu, dass es eine gute Idee war, sie mitzunehmen?“, stichelte er grinsend und ich stöhnte genervt auf.

„Dieses ganze Unterfangen-“, belehrte ich ihn erschöpft. „-war alles andere, als eine gute Idee“, teilte ich ihm meine Meinung mit. „Aber die Zettel mitzunehmen… Ich gebe zu, es ist besser, als mit leeren Händen da zustehen.“ Er grinste überheblich. Gerade wollte ich ihm einen weiteren Dämpfer verpassen, als auch schon die Klingel läutete.

„Ich kann dich auch einfach anrufen“, meinte er schlicht und stand auf. „Wenn etwas Interessantes drauf steht, meine ich. Deine Nummer habe ich ja jetzt.“ Ich nickte.

„Tu das“, bat ich und erhob mich ebenfalls. „Bis nächste Woche“, verabschiedete ich mich von ihm, und bewegte mich auf das große Eingangstor zu.

„Jetzt mal nicht so pessimistisch“, rief er, als ich mich schon etwas entfernt hatte. Überrascht drehte ich mich noch einmal um. „Sag lieber bis heute Abend, - da werde ich dich nämlich anrufen, um dir die großen Neuigkeiten mitzuteilen“, ließ er zuversichtlich verlauten. Ich lachte und winkte zum Abschied.

Was für ein verrückter Tag.

Und es wurde noch verrückter, - denn Silvan war nicht da. Normalerweise wartete er immer schon bei der alten Eiche auf mich. Aber heute war keine Spur von ihm zu sehen. Verwundert blieb ich einige Meter vor unserem Treffpunkt stehen und drehte mich einmal im Kreis, blickte in alle Richtungen. Nichts.

Stirnrunzelnd ging ich die letzten Schritte. Meine Tasche unter meiner absoluten Lieblingseiche abstellend, verschränkte ich die Arme, damit ich nicht so fror, und wartete. Keine fünf Minuten später entdeckte ich ihn.

Mit schnellen, zielstrebigen Schritten eilte er aus dem Schulgebäude auf mich zu. Der Wind wehte ihm ins Gesicht, und spielte mit seinen schwarz-weißen Haaren. Sein Blick war strickt nach Vorne gerichtete und seine Augen kalt und leer. Seine Züge wirkten angespannt, und sein Kieferknochen sah so aus, als würde er jeden Augenblick in tausend Stücke zerbrechen. Wenn nicht schon all das verriet, wie wütend er war, dann war es der geschmeidig-bedrohliche Gang, den er an den Tag legte, der den Ausschlag gab.

Wütend war gar kein Ausdruck. Er war fuchsteufelswild.

„Komm“, zischte er beherrscht in meine Richtung und ging einfach an mir vorbei. Schnell schnappte ich mir meine Tasche und eilte ihm hinterher. Ich ahnte, warum er wütend war, und brachte kein Wort heraus.

Den ganzen Weg zu Fuß nach Hause hetzte ich ihm hinterher, ohne dass er auch nur einmal das Tempo drosselte, und ohne, dass ich es schaffte, zumindest soweit den Mund aufzubekommen, um ihn zu bitten, doch ein wenig langsamer zu gehen. Ich würde sagen, die Tatsache, dass wir die Strecke in der Hälfte der üblichen Zeit bewältigt hatten, sagte schon alles aus.

Vollkommen aus der Puste schloss ich die Haustür und musste feststellen, dass der Sturm noch nicht vorbei war. Mit bereits ausgezogener Jacke und Schuhen, sowie mit verschränkten Armen stand er im Vorzimmer und wartete schon auf mich.

„Nur… einen… Moment“, schnaufte ich, während ich abwehrend beide Hände hob. „Ich will… mir nur… noch schnell… die Schuhe ausziehen“, verkündigte ich vollkommen fertig. Geduldig wartete er, bis ich aus meiner Jacke und meinen Schuhen geschlüpft war, und bedeutete mir dann, ihm zu folgen. Geschafft ließ ich den Kopf hängen und schlurfte ihm hinterher die Treppe nach oben in mein Zimmer.

Na, das konnte ja heiter werden.

Hinter mir schloss ich die Tür. Das Licht ließ ich ausgeschaltet. Ich drehte mich um und sah zu Silvan. Bewegungslos stand er halb mit dem Rücken zu mir am Fenster und sah hinaus; der Schnee wurde langsam weniger.

Nervös wartete ich darauf, dass er sich endlich umdrehte, und mir meine verdiente Standpauke hielt. Desto schneller wir anfingen, desto schneller würde es auch schon wieder vorbei sein. Aber den Gefallen eines kurzen, schmerzlosen Todes gab er mir nicht. Je länger er sich nicht bewegte, desto nervöser und vor allem, desto ungeduldiger wurde ich.

„Emanuela.“ Ich zuckte zusammen.

Mehr sagte er nicht. Sein eisiger Tonfall bescherte mir eine Gänsehaut und ich ließ abermals den Kopf hängen. Ich wartete auf mehr, aber es kam nichts. Vorsichtig hob ich den Kopf ein Stück an, und warf einen kurzen Seitenblick auf die eisige Gestalt vor mir.

So würde das nichts werden.

Seufzend machte ich einen Schritt nach Vorne. Da er selbst jetzt immer noch nicht reagierte, überbrückte ich auch die letzten Meter und stand nun direkt hinter ihm. Ich zögerte nur einen kurzen Moment lang, und schlang dann behutsam beide Arme um seinen muskulösen Bauch und legte den Kopf an seinen Rücken. Er war immer noch stocksteif.

„Es tut mir leid“, hauchte ich kaum hörbar und schloss für einen Moment die Augen. „Das verlief alles ganz anders, als geplant.“ Ich merkte, wie er sich langsam wieder rührte. Zu meinem großen Bedauern, nutzte er seine wiedergefundene Bewegungsfreiheit allerdings, um sich aus meiner Umarmung zu befreien.

Wenigstens sah er mich endlich wieder an, als er mich mit beiden Armen an den Schultern auf gut einen Meter Abstand hielt. Es versetzte mir einen Stich, aber ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen. Seine wunderschönen Augen fanden meine, und wieder einmal war ich überrascht davon, wie intensiv sein Blick doch war.

„Du musst dich nicht entschuldigen“, versicherte er mir entschieden. Verwundert sah ich ihn an.

„Bi-Bist du sicher?“, stotterte ich überfordert. „Weil ich nämlich das starke Gefühl habe, es sehr wohl tun zu müssen.“ Sein Blick wurde weich.

„Emma, was du heute getan hast…“, begann er leise. „Das war sehr dumm“, stellte er klar. Natürlich war es das, - immerhin war es Marcus‘ Idee! „Und gefährlich“, fügte er hinzu.

„Ich weiß“, murmelte ich den Kopf senkend. Er zwang mich, ihn wieder anzusehen, indem er mir eine Hand unters Kinn legte. Ein elektrischer Stromschlag ging durch meinen ganzen Körper. Von einer Sekunde auf die nächste, war ich hellwach.

„Aber auch sehr mutig“, erklärte er leise; er klang beinahe ein wenig stolz. Ich wurde rot.

„Belassen wir es lieber bei dumm und gefährlich“, scherzte ich peinlich berührt. In seine grauen Augen trat ein Blitzen. Mir wurde plötzlich bewusst, wie nahe wir uns gegenüber standen. Seine Hand lag immer noch unter meinem Kinn, brachte meinen Körper dazu, auf Hochtouren zu arbeiten.

„Wenn du es so willst“, willigte er ein, mir ein sanftes Lächeln schenkend. Ich nickte sacht, und urplötzlich veränderte sich sein Blick. Die Farbe in seinen Augen wechselte zu Silber, und einen schrecklichen Moment lang schien es so, als würde er seine Hand entfernen wollen. Tatsächlich aber, wanderte seine Hand ein Stück nach oben, und berührte kaum merklich meine Lippen; nur ganz zart, hauchdünn. Ich zitterte.

„Schick mich weg“, wisperte er rau, mit dem Blick auf meinen Mund. Überrascht sah ich ihn an; er wirkte gequält. „Sag, dass du das nicht willst. Sag, dass dir das alles zu schnell geht.“ Flehend sah er mich an. Er war dabei, die Beherrschung zu verlieren. Ich sah es ganz genau. Aber ich wollte es von ihm hören.

„Warum?“, flüsterte ich drängend zurück.

Warum sollte ich dich anlügen?

„Tu es einfach“, raunte er mit unsicherem Unterton, - was so gar nicht zu ihm passte. „Bitte.“ Sein Tonfall klang verzweifelt. Ich atmete einmal tief durch und schloss die Augen, bevor ich einen kleinen Schritt zurück machte, und somit mein Gesicht von seinem zärtlichen Griff befreite; es fühlte sich an, wie ein Schlag.

„Geh“, befahl ich mit belegter Stimme. „Lass mich bitte allein. Ich will das hier nicht“, log ich mit klopfendem Herzen; es fühlte sich so an, als wollte es in tausend kleine Einzelteile zerspringen. Leise entfernte er sich, und ließ mich vollkommen aufgewühlt zurück.

Ich wusste nun, warum er so handelte.

Jetzt wusste ich es.

Es war, weil er mich zwar wollte… aber nicht liebte. Und er mich vor sich selbst beschützen wollte. Aber ich wollte diesen Schutz überhaupt nicht. Er war bedeutungslos, - alles war bedeutungslos, - wenn er mich nicht liebte. Mir war egal, dass es theatralisch klang. Denn ich liebte Silvan schon mein ganzes Leben lang. Jeden einzelnen Tag.

Und ein Leben ohne ihn… war für mich gänzlich unvorstellbar. Ein Leben ohne seine Liebe leer.

Kapitel 31

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 29, Abschnitt 4

 

Unter >>Familie<< werden die Stammeltern mit allen ihren Nachkommen verstanden; die Verbindung zwischen diesen Personen gilt als Verwandtschaft; die Verbindung zwischen einem Menschen und dem Hunimal des Ehepartners, als Zweitbesitzertum; widersprechen aufgetragene Befehle nicht den ausdrücklichen Wünschen des Besitzers, darf dessen Ehepartner in allen Bereichen über dessen Hunimal bestimmen()…

 

 

Die nächsten Wochen flogen nur so vorbei. Marcus hatte mich an jenem Abend noch angerufen, um mir mitzuteilen, was auf den gestohlenen Zetteln stand; ich konnte damit nicht wirklich viel anfangen, bis er mir erklärte, dass Silvans Name auch dort oben stand.

Es waren insgesamt nur acht Zettel. Auf jedem standen ein Name und darunter eine genaue Personenbeschreibung und allerlei Informationen über dessen Lebensumstände. Allgemeine Informationen, wie zum Beispiel Besitzer, Herkunft, Rasse, oder Adresse standen dort. Auch sehr intime Details waren vermerkt. Mache Einträge waren aber auch leer oder in Klammern gesetzt.

„Aber das klingt doch, wie die Liste nach der wir gesucht haben?“, fragte ich ihn hoffnungsvoll über mein Handy. Ich saß aufrecht auf meinem Bett und starrte aus dem Fenster. Meine Gedanken kreisten immer noch um Silvan und unser letztes Gespräch.

„Nein“, widersprach er. „Die Liste besteht nur aus einzelnen Namen. Dort sollten keine Details stehen.“ Er schien sich seiner Sache äußerst sicher zu sein.

„Woher willst du das wissen?“, fragte ich nicht gerade überzeugt und fuhr gedankenverloren über meine blaue Bettdecke.

„Ich weiß es einfach“, antwortete er genervt. Ich beließ es einfach mal dabei.

„Und was bedeuten diese Zettel dann?“, erkundigte ich mich mit belegter Stimme. Die Tatsache, dass dort oben Silvans Name stand, verursachte mir eine Gänsehaut.

„Hm“, überlegte er. „Ich weiß nicht genau.“ Ein Rascheln im Hintergrund war zu hören. „Sag mal Emma, was für ein Tier ist denn nun dein-… also ich meine, Silvan?“ Ich zuckte zusammen.

„Warum fragst du?“, erwiderte ich, und biss mir nervös auf die Unterlippe.

„Naja, auf dem Zettel steht zwar >>Lemur<< bei der Kategorie >>Rasse<<“, meinte er im zweifelnden Tonfall. „Aber es steht in einer Klammer. Deshalb…“ Er ließ den Satz in der Luft hängen. Ich antwortete nicht. „Emma?“, fragte er nach einer Weile. „Bist du noch dran?“ Meine Kehle war staubtrocken.

„Ja“, verkündete ich mit rauer Stimme und schluckte einmal. „Ich bin noch da“, versicherte ich ihm. „Hast du schon mit Igor darüber geredet?“, versuchte ich das Thema zu wechseln.

„Er sitzt hier gerade neben mir und sieht sich das Ganze an“, informierte er mich. Ich hörte, wie er einmal geräuschvoll Luft ausblies. „Nun, er hat die ein oder andere Theorie… aber ich bin nicht sonderlich überzeugt.“

Das war zu hören.

„Und?“, erkundigte ich mich trotzdem, um nicht zum alten Thema zurück zu kehren. „Wie sehen diese Theorien aus?“ Er zögerte.

„Nicht am Telefon, okay?“, erwiderte er nervös. Sein Tonfall klang seltsam vorsichtig.

„O-Okay“, willigte ich ein wenig verwirrt ein. „Montag dann? In der Schule?“

„Einen Moment, bitte“, entschuldigte er sich steif, und es hörte sich so an, als würde er energisch in leiser Lautstärke mit Igor diskutieren. Diese ganze Geheimniskrämerei kam mir ein wenig übertrieben vor. Kurze Zeit später, gab er sein Einverständnis.

„Montag, also“, bestätigte er. „Bis dann.“

„Bis Montag. Grüß Igor von mir“, verabschiedete ich mich und legte auf.

Mein späteres Treffen mit Vincent war daraufhin etwas angespannt. Genauso wie die nächsten Treffen mit ihm. Es war nichts so, dass sich irgendetwas Größeres verändert hatte. Im Prinzip war er wie immer, - vielleicht ein klein wenig besser aufgelegt, aber sonst? Vielmehr war ich das Problem.

Diese Stille. Und seine Blicke. Ich schien alles plötzlich ganz anders zu deuten. Und was ich sah, machte mir Angst. Es erinnerte mich gelegentlich an die Art, wie ich Silvan ansah.

Aber vielleicht war ich auch einfach nur durcheinander, seit mir klar geworden war, dass meine Gefühle für Silvan eine Belastung darstellten, weil er sie nicht teilen konnte, und sich deswegen schuldig fühlte.

Wer konnte schon sagen, was Vincent für mich empfand oder nicht? Wie ich seine Blicke deuten konnte? Sicherlich nur Vincent. Und dieser hatte mir bestätigt, dass wir Freunde waren. Also versuchte ich das ungute Gefühl in meiner Magengrube, - das mir unnötigerweise zu sagen versuchte, dass etwas nicht stimmte, - zu ignorieren.

Montag schrieb mir Marcus kleine Zettelchen, in denen er mir Igors Theorien erklärte. Anschließend zerriss er sie bis zur Unkenntlichkeit und schmiss sie allesamt in den Papierkorb.

Die erste, seiner insgesamt drei Theorien, bestand darin, dass die Personen auf den Zetteln allesamt auf der >>Liste<< standen und dass diese Zettel genauere Informationen über ihr Leben enthielt; diese Theorie fand ich am wahrscheinlichsten.

Seine nächste Theorie legte fest, dass besagte Personen keine zukünftigen Opfer, sondern potentielle Täter darstellten. Diese Theorie kam zum größten Teil daher, dass die Personen auf diesen Zetteln zum größten Teil eher gehobene und gefährliche Tiere waren, und der Tatsache, dass der Schülerrat, - laut Igors eigener Observation, - immer mehr an Anhänger gewann.

Igors letzten, - und vermutlich am unwahrscheinlichsten, - Theorie zu Folge, gaben diese Zettel Auskunft über Mitglieder des Schülerrates. Was nicht sein konnte, denn Silvan war kein Mitglied.

Wir standen also wieder fast genauso planlos da, wie eh und je. Nur, dass wir jetzt, - zumindest zum Teil, - von der Gefahr auf der >>anderen Seite<< wussten, und absolut nichts dagegen tun konnten. Wir waren machtlos.

In der Gewissheit, dass ich sowieso nichts ändern konnte, - weder Zuhause mit Silvan, noch die Situation der Hunimals, - versuchte ich es erst gar nicht. Marcus war da anderer Ansicht. Aber auch er gab es bald auf, mich vom Gegenteil zu überzeugen, und dachte daran, die anderen, - sprich, Vivien, Beth und Thomas, - in unser Wissen einzuweihen und mit ihnen einen Plan auszuhecken.

Sollte er ruhig tun, was er nicht lassen konnte; ich würde nicht mitmachen. Mich ging das Ganze überhaupt nichts an. Niemand hatte mich um meine Mithilfe gebeten, - Marcus zählte nicht.

Auch Silvan ließ ich in Ruhe. Ich hielt brav Abstand zu ihm; fragte nicht mehr, wo er hinging, oder woher er gerade kam. Und auch körperlich kam ich ihm nicht mehr zu nahe.

Es quälte ihn, wenn er in meiner Nähe sein musste? Fein, dann würde er diese Qual nie wieder fühlen müssen. Denn ich gab auf.

Ich gab es auf, ihn dazu zu zwingen, mich zu lieben. Denn es funktionierte sowieso nicht. Und ich gab es auf, mich in Angelegenheiten einzumischen, die mich nichts angingen. Oder mich in Gefühle zu verstricken, von denen ich nicht einmal wusste, ob sie überhaupt existierten. Ich gab überhaupt einfach alles auf; zu leben, zu fühlen, selbstständig zu denken oder zu handeln. Ich war wie betäubt.

Der Februar kam und brachte eine Woche Semesterferien mit sich. Ich konnte mich nicht einmal mehr daran erinnern, was ich in dieser Zeit tat. Mein Alltag war so unbedeutend und ich so leblos, dass einfach alles an mir vorüberlief.

Ende März feierten wir Leonies und Paiges fünfzehnten Geburtstag, - ich glaube Dad hatte meine Geschenke vorberietet, - und von dem schönen Schnee, der die letzten Monate das ganze Landschaftsbild beherrscht hatte, war nicht einmal mehr etwas zu erahnen; eines Morgens war ich einfach aufgestanden, und er war weg. Einfach so. Doch ich brachte ihm keine sentimentalen Gefühle entgegen.

Mein Vater war indessen in einer geschäftlichen Periode angelangt, in der er sein angesammeltes handgefertigtes, oder restauriertes Mobiliar auf Auktionen zum Verkauf zur Verfügung stellte.

Eigentlich wurde er dabei jedes Mal von Silvan und mir begleitet. Dad saß dabei am Steuer seines sonst so selten benutzten Umzugswagens, - speziell umgebaut, um sich seinen besonderen Umständen anzupassen, - während Silvan und ich uns den Zwei-Personen-Beifahrersitz teilen würden, und mit Dad auf der ganzen langen Fahrt über die letzten Auktionen scherzen würden.

>>Eine helfende Hand mehr<<, hatte mein Vater immer lächelnd zu mir gesagt, wenn ich ihn um Erlaubnis bat, auch mitzukommen. In Wirklichkeit aber, stand ich dann die meiste Zeit nur rum, und sah den anderen bei der Arbeit zu, oder unterhielt mich mit Paige oder Leonie, wenn diese ausnahmsweise einmal mitkamen.

Dieses Jahr blieb ich Zuhause.

Mein Vater war durchaus überrascht, aber ich machte mir nicht die Umstände, ihm einen Grund zu nennen. Sollte er sich seinen Teil dazu denken. Es war mir egal. Ich bleib seelenruhig Zuhause und sah mir Filme auf DVD an.

„Hey“, bemerkte Paige leise, und setzte sich mit zwei dampfenden Tassen neben mich. „Kakao?“, bot sie mir mit großen Kulleraugen an.

„Danke“, murmelte ich zurück und nahm die große Tasse entgegen, und stellte sie, - ohne sie eines weiteren Blicks zu würdigen, - auf den kleinen Fernsehtisch vor uns, und widmete meine Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm. Eine Weile tat sie das Gleiche.

Hin und wieder war Gelächter zu hören, aber wir stimmten nicht mit ein. Stumm nippte sie immer wieder an ihrem Kakao, während ich meine Beine anzog und meine Gedanken leer waren.

„Warum bist du nicht mitgefahren?“, fragte sie irgendwann, mit dem Blick zum Bildschirm.

„Keine Lust“, antwortete ich träge.

„Ach so“, flüsterte sie kaum hörbar. Eine Weile sagte sie nichts mehr. Erst, als der Abspann begann, und ich aufstand, um die DVD zu wechseln, nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf, und sagte genau die Worte, die ich am wenigsten hören wollte.

„Möchtest du darüber reden?“, fragte sie fürsorglich.

„Nein“, informierte ich sie ablehnend, aber setzte mich wieder zu ihr auf die Couch. Traurig senkte sie den Blick.

„Niemand in diesem Haus redet noch mit mir“, murmelte sie bedrückt, mehr zu sich selbst, als zu mir. Ich stellte die richtige Sprache am Bildschirm ein.

„Wieso? Du hast doch Leonie“, konterte ich desinteressiert, und ohne sie anzusehen.

„Nein“, erklärte sie kleinlaut und rutschte deutlich tiefer in die Couch. „Ich habe niemanden. Sie spricht schon seit Wochen kaum ein Wort mehr mit mir, und verschanzt sich in ihrem Zimmer.“

„Du meinst, euer Zimmer?“, berichtigte ich sie.

„Nein, ihr Zimmer“, widersprach sie leise. „Wir haben jetzt eine Trennwand.“

„Privatsphäre ist wichtig“, verteidigte ich diese Tatsache monoton, während ich die Werbung vorspulte.

„Hm“, gab sie deprimiert von sich. „Ich glaube, sie hat Liebeskummer“, gestand sie kaum hörbar. Zutiefst skeptisch sah ich sie an.

„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich beinahe amüsiert nach; das war vermutlich das erste Mal seit einer halben Ewigkeit, dass ich mich wieder so fühlte. Doch das angedeutete Lächeln an meinen Mundwinkeln, war kein besonders nettes.

„Wenn du dich öfter mal mit deiner Schwester unterhalten würdest, wüsstest du, warum“, entgegnete sie verhalten, und wandte den Blick ab. Auch ich sah wieder nach vorne.

„Da könntest du allerdings Recht haben“, erwiderte ich nachdenklich.

Kapitel 32

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 35, Abschnitt 2

 

Die persönlichen Rechte und Pflichten der Ehegatten im Verhältnis zueinander sind, soweit es vertraglich nicht anderes bestimmt ist, gleich; die Heirat zwischen Hunimals ist Aufgrund der Arterhaltung nicht wünschenswert und daher gesetzlich verboten()…

 

 

Meine neue Lebensphilosophie mich aus allen raus, und von anderen fern zu halten, stand gefährlich auf der Kippe, als mir Beth nach der wahrscheinlich seltsamsten Lügengeschichte, die je irgendjemanden erzählt wurde, mit den Worten >>April! April<< bewusst machte, welcher Monat heute begann.

April.

Unser Ausflug aus der Stadt raus. Nur er und ich. Es war mein Geburtstagsgeschenk an ihn. Ich konnte es nicht einfach absagen; genauso wenig verschieben.

Wieso hinauszögern, was sowieso kommen würde?

„Jetzt schau doch nicht so gequält“, erklärte Beth lachend. „Heute bleibt keiner verschont!“ Mich zu einem Lächeln aufrappelnd, nickte ich. „Hey, das war doch vorhin nur ein Scherz“, fügte sie in einem sanfteren Tonfall hinzu. „Alles ist okay.“

„Natürlich“, erwiderte ich gespielt fröhlich. Ihrem gar-nicht-überzeugten, reuevollen Blick nach zu urteilen, würde sie mir wohl nie wieder, solange sie lebte einen Streich spielen. „Hast du Vivien auch schon so reingelegt?“, erkundigte ich mich. Alles in mir schrie nach Ablenkung. Sie zog einen Schmollmund.

„Nein“, gestand sie beleidigt. „Sie ist mir zuvor gekommen.“

„Noch hast du Zeit“, beruhigte ich sie. „Der Tag hat gerade erst begonnen.“ Sie lächelte verschlagen.

„Oh ja“, rief sie freudig. „Und ich habe auch schon die perfekte Idee…“

So ging das den ganzen Schultag lang; Beth war überraschend kindisch. Vielleicht färbten ihre vielen kleinen Geschwister ja auf sie ab. Außerdem war sie nicht der einzige, begeisterte Pläneschmieder. Auch Marcus schien vollkommen in seinem Element zu sein.

Ein Scherzartikel hier. Ein anderer da. Er machte nicht einmal vor Lehrern halt. Der große Clou kam aber in der großen Pause. Ich traute meinen Ohren kaum, als er zu erzählen begann.

Er erzählte den anderen von den Abenteuern, - falls man sie denn überhaupt so nennen konnte, - von zwei mutigen, menschlichen Schülern dieser Schule, die sich heimlich auf die >>anderen Seite<< schlichen, und vom Schülerrat der Hunimals, und deren >>großen<< Diebstahl dort. Obwohl er von den Schülern sprach, als wären sie alte Legenden, und Leute, von denen er nur gehört hatte, machten mich seine Erzählungen nervös. Als er mit seinen Geschichten endlich geendet hatte, lehnte er sich zufrieden zurück, und sagte kein Wort mehr.

Zweifelnd sah Beth in die Runde. Vivien gähnte gelangweilte, - und kein bisschen von den Geschichten beeindruckt, geschweige denn überzeugt. Thomas hatte die Stirn gerunzelt, und wirkte nachdenklich. Ich hingegen versuchte möglichst unbeteiligt auszusehen.

„Marcus“, bemerkte Beth nach einer Weile skeptisch. „Du weißt aber schon, dass du am Ende immer >>April! April<< sagen musst, oder? Sonst geht der ganze Sinn des Spieles verloren.“ Leichte Nervosität lag in ihrer Stimme. Unberührt zuckte er mit den Schultern. Ihre Augen weiteten sich. „Sag bloß, diese Geschichten stimmen? Von so etwas habe ich ja noch nie gehört…“

„Beth, du wirst doch nicht so dumm sein, und diesem Lügenkönig und seinen Geschichten auch nur irgendwelchen Glauben schenken, oder?“, fiel ihr Vivien ins Wort. Die rassige Naturschönheit sah Beth eindringlich an. Diese senkte den Kopf.

„Ich weiß nicht“, gestand sie leise. „Es klang so… überzeugend.“ Auf diese Aussage hin, wurden Viviens Augen schmal.

„Könntest du“, begann sie an Marcus gewandt. „Bitte einfach zugeben, dass das Ganze ein Scherz war? Sonst glaubt dir der eine oder andere hier am Tisch“, bemerkte sie und ihre Augen wanderten von Beth zu Thomas, und anschließend zu mir. „Am Ende wirklich noch“, endete sie.

„Hm.“ Er schien zu überlegen. Das durfte doch nicht wahr sein. Manchmal überspannt er den Bogen wirklich. Ich gab Marcus unter dem Tisch einen leichten Tritt gegen seinen Fuß. „Ich glaube… ich behalte mir das Recht vor, nicht zu antworten“, gab er dann bekannt, und ich sah, wie Vivien genervt die Augen verdrehte.

Gut, wer nicht reagieren wollte, musste eben fühlen, dachte ich verbissen. Also kickte ich noch einmal. Diesmal >>eindeutiger<<.

„Könntest du das wohl bitte sein lassen?“, bat mich Thomas in seinem üblichen, monotonen Tonfall. Ich wurde blass. „Das ist nämlich mein Fuß, den du da die ganze Zeit tretest.“ Desinteressiert kramte er wieder eines seiner Comichefte hervor, und begann es gelangweilt aufzuschlagen. Augenblicklich lenkten sich alle anderen Augenpaare am Tisch auf mich.

„E-Entschuldige“, murmelte ich in seine Richtung, fixierte die Tischplatte und zog verlegen meine Füße ein. Doch Thomas hörte mir gar nicht mehr zu. Er war schon wieder in seine eigene Phantasiewelt verschwunden; jetzt gerade, beneidete ich ihn sogar ein wenig darum. Die genaue Musterung meiner Freunde wurde beinahe unerträglich.

Dankenswerterwiese erlöste mich bald die Schulglocke, sodass ich mich vorsichtig erhob, und die anderen daran erinnerte, dass wir zurück in den Unterricht müssten. Vivien zögerte am meisten, fügte sich dann aber. Wieder in der Klasse, lehnte sie Marcus während des Unterrichts zu mir herüber, und flüsterte mir etwas mit schelmischem Grinsen ins Ohr.

„Nervös geworden?“, erkundigte er sich leise lachend. Ich wurde rot, - allerdings aus Wut.

„Das war überhaupt nicht lustig“, erklärte ich, seine Frage umgehend. Er lachte wieder leise.

„Doch, eigentlich schon“, befand er amüsiert. Sein Tonfall wurde ernster. „Außerdem verdienen sie es, die Wahrheit zu erfahren, - sie könnten helfen.“ Hoffnungsvoll sah er mich an. Offensichtlich schloss seine letzte Aussage mich mit ein.

„Ohne mich“, erklärte ich entschlossen und wandte mich ab. Er murmelte noch etwas, das ich nicht verstand, und drehte sich dann seinerseits wieder auf die andere Seite.

Wir konnten nichts ausrichten.

Wann würde er das endlich verstehen?

Auf dem Weg nach Hause hielt ich meinen, nun üblichen Mindestabstand, von zwei Metern zu Silvan, penibel genau ein; ich entwickelte langsam ein Gefühl für das Abschätzen von Entfernungen. Genauso, wie die letzten Wochen, sprachen wir kein Wort. Nachdem ich mich im Vorraum meiner schweren Winterklamotten entledigt hatte, hielt er mich überraschend am Arm fest. Als hätte ich mich verbrannt, zuckte ich zurück. Sofort ließ er mich wieder los.

„Emma-“, begann er ernst, aber ich ließ ihn gar nicht erst anfangen.

„Ich muss kochen gehen“, informierte ich ihn, und machte mich zügig auf den Weg in die Küche.

Beschäftigung. Beschäftigung.

„Ist nächstes Wochenende für dich okay?“, fragte seine anziehende Stimme hinter mir. Meine Hand fror mitten in der Bewegung ein.

Er war mir gefolgt. Natürlich, - so schnell gab er nicht auf, wenn er etwas zu sagen hatte.

„Okay wofür?“, fragte ich bemüht locker nach, nachdem ich mich wieder gefasst hatte. Ich wusste nur zu genau, was er meinte.

„Unser Ausflug“, erklärte er entspannt, und seufzte. Ohne mich umzudrehen, antwortete ich ihm.

„Richtig. Also nicht diese Woche, sondern nächste?“, meinte ich leicht hin; alles gespielt, natürlich.

„Wenn es dir nichts ausmacht“, antwortete er ungezwungen. „Ich muss noch einiges regeln, bevor wir fahren…“ Ich nickte verstehend, und erwartete eigentlich darauf, dass er mich wieder allein ließ. Doch er stand immer noch in einiger Entfernung hinter mir; ich spürte seine Präsenz.

„Am besten redest du noch einmal mit Dad darüber“, bemerkte ich auffordernd, - in der stummen Hoffnung, er würde den Wink verstehen, und endlich gehen. Seine Nähe machte mich nervös, und ich verabscheute mich, und das Gefühlschaos, das er allein durch den Klang seiner Stimme bei mir auslöste; ich sollte so nicht fühlen.

Er erwiderte meine Gefühle nicht. Meine Liebe zu ihm, war für ihn lästig, unangenehm. Auch, wenn er es nicht direkt aussprach.

Um sicher zu gehen, dass er den Wink auch wirklich verstand, wollte ich mich gerade umdrehen, und etwas Abweisendes hinzufügen, als er plötzlich direkt vor mir stand.

„Silv-“, entfuhr es mir überrascht. Der Griff um das Geschirrtuch in meiner Hand wurde fester.

„Sieh mich an, Emanuela“, unterbrach er mich eindringlich. „Sprich mit mir“, befahl er, seine eisblauen Augen in meine bohrend. „Du bist so… leblos. Gar nicht du selbst“, erklärte er, und wollte nach meinen Händen greifen. Erschrocken wich ich zurück. Mein Herz begann wie wild zu pochen. Sein Blick war traurig, als er die Arme wieder sinken ließ. „Wie kann ich dir helfen?“, bot er leise an. Ich schüttelte den Kopf.

Er wollte einen Schritt auf mich zugehen, doch ich sah es früh genug, und wich fahrig aus. Ich konnte kaum atmen. Krampfhaft hielt ich mich an dem rauen Tuch in meiner rechten Hand fest.

„Alles okay“, zwang ich mich zu sagen. „Ich bin wie immer. Du kannst wieder zu Dad in die Werkstatt gehen.“ Um ihm zu beweisen, wie ernst ich es meinte, sah ich ihm möglichst selbstbewusst in die Augen und hielt seinem schmerzenden Blick stand.

„Bitte, sprich mit mir“, wisperte er eindringlich. Meine Fassade bekam leichte Risse.

„Es gibt nichts zu besprechen“, erwiderte ich mit trockenem Hals und schaffte es sogar, ein kleines, ermutigendes Lächeln auf meinen Mund zu zaubern. „Alles ist bestens. Mir geht es gut“, versicherte ich ihm möglichst überzeugend. „Jetzt geh schon zu Dad“, drängte ich ihn, und schlug ihm mit dem Geschirrtuch in meiner Hand auffordernd auf die Schulter. „Ich weiß ja, wie gern du ihm bei der Entwicklung neuer Projekte hilfst.“

Trotz meines fröhlichen Lächelns schien er nicht überzeugt zu sein. Wir wussten beide, dass ich diese Fassade nicht mehr lange aufrecht erhalten konnte. Mein Lächeln sah vermutlich wie eingefroren aus, und meine linke Hand zuckte gefährlich.

„Emma“, erwiderte er ernst, überhaupt nicht auf meine Aufforderung eingehend. „Du tust doch nicht wieder irgendetwas Unnötiges, oder?“ Sein Tonfall klang seltsam bedrohlich, als er sich gefährlich nahe in meine Richtung beugte. Ich schluckte.

„W-Wie zum B-Beispiel?“, erkundigte ich mich stotternd, unfähig mich zu rühren. Mein Körper war wie paralysiert. Sein Blick hielt mich förmlich gefangen.

„In dem du zum Beispiel alle deine Gefühle unterdrückst, weil du glaubst, mir nicht anders gegenüber stehen zu können“, erklärte er mit rauer Stimme, immer näher rückend. Ich wollte zurückweichen, aber mein Körper verweigerte mir jeden Befehl. Sein Gesicht war viel zu nahe. Der Blick seiner Augen zu intensiv.

„Und wenn es so wäre?“, antwortete ich gepresst. Sein Blick wurde zärtlich, - bannte das Gefährliche lediglich in seine tiefen Augen, - und machte es mir nur noch unmöglicher, mich von ihm loszureißen.

„Dann muss ich deine Gefühle wohl oder übel wieder ans Tageslicht befördern-“, raunte er, meinem Gesicht immer näher kommend. „-Und dir beweisen, wie unglücklich du dich selbst damit machst.“ Seine Stimme senkte sich zu einem unheilvollen Flüstern herab. Unwillkürlich hielt ich den Atem an.

Ich wollte das hier nicht. Er war zu nahe. Meine Gefühle würden wieder mit mir durchgehen. Und schon wieder zurück gewiesen zu werden… war etwas, das ich nicht mehr ertragen würde können. Ich hatte die Eintönigkeit in meinem Leben endlich akzeptiert und aufgehört, zu kämpfen. Und ich konnte damit leben.

Das durfte er mir nicht wieder nehmen.

Wie sollte ich sonst den Alltag überstehen, mit der Gewissheit, dass ich niemals genau das bekommen würde, was ich mir am sehnlichsten wünschte?

Doch für Einsprüche war es schon lange zu spät, denn seine Lippen überbrückten den letzten Abstand zwischen uns und landeten gefühlvoll auf den meinen. So gefühlvoll, dass es schmerzte. Sein warmer Atem, seine zärtlichen Lippen und seine weiche Haut auf meiner, waren schlicht und einfach zu überwältigend.

Ich wollte protestieren, ihn wegschupsen, aber ich konnte mich nicht wehren. Mein Körper weigerte sich, auch nur einen Millimeter zurück zu weichen; dafür genoss er diesen Kuss viel zu sehr, - allen voran mein Herz. Aber die Gewissheit, dass ich die einzige war, der Schmetterlinge im Bauch herumflatterten, und der daraus resultierende Schmerz zerrissen mich förmlich von innen. Plötzlich war der Kuss vorbei und Silvan sah mich geschockt an.

Qualvoll senkte ich den Blick; ich hatte gewusst, dass er es nicht wirklich wollte. Er hätte sich nicht dazu zwingen dürfen.

Völlig unvorbereitet fuhr seine Hand nach vorne und strich mir sanft über das Gesicht, wischte meine Tränen weg, ehe er wieder näher an meine Seite trat.

Tränen. Wann hatte ich begonnen zu weinen?

„Silvan“, erklärte ich rau, aber entschlossen. Ausnahmsweise einmal, versuchte ich nicht, den Schmerz in meiner Stimme zu verstecken. Seine Hand fror ein, und seine Augen suchten meine. „Ich kann so nicht mehr“, gestand ich verzweifelt, sah ihn an und nahm vorsichtig seine Hand von meinem Gesicht runter; sie fühlte sich so vertraut an. Nachdenklich erwiderte er meinen Blick. „Ich liebe dich“, stellte ich trostlos klar. „Und genau deshalb, darf ich nicht nur an mich denken.“ Sanft fuhr ich mit meiner Hand über seine Wange und musterte sein wunderschönes, ungewöhnlich verwirrtes Gesicht. „Du sollst glücklich sein. Und ich weiß, dass du es hier nicht bist. Nicht mit mir, - nicht so“, Meine Stimme brach, und ich lächelte ihn traurig an. „Nicht auf diese Art und Weise. Deshalb gebe ich dich frei“, verkündete ich rau, und trat einen kleinen Schritt zurück. „Ich werden dich immer lieben, Silvan, - aber nie mehr so, wie jetzt“, fügte ich zärtlich hinzu; der Schmerz in meiner Stimme war beinahe übermächtig.

Meine Liebe zu ihm, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen. Abgesehen davon, dass er mich niemals so wahrgenommen hatte, wie ich ihn, war ich ein Mensch und er ein Hunimal. Wir durften nicht zusammen sein. Heiraten. Kinder kriegen. All das war uns verwehrt. Aber für mich war das okay. Ich dachte, wenn ich nur ihn hätte, wäre mir der Rest egal. Es spielte keine Rolle, dass es niemals irgendjemand hätte wissen dürfen. Es hätte mir nichts ausgemacht, mich im Schatten zu verstecken.

Aber auf Dauer wäre es nicht gut gegangen. Er hatte Recht, - so wie er immer Recht hatte. So war es besser. In zehn Jahren würde ich darüber froh sein, und das Ganze lediglich als eine Jugendschwärmerei abstempeln.

Würde ich nicht.

Aber er hatte trotzdem Recht. Ich warf einen letzten Blick auf Silvan und meine Gefühle für ihn, und drehte mich um. Heiße Tränen flossen über meine Wangen, während ich mich langsam aus der Küche entfernte. Aus heiterem Himmel schlossen sich zwei starke Arme von hinten um mich. Ich holte erschrocken Luft.

„Tu das nicht“, flüsterte er eindringlich in mein Ohr. Seine Worte ließen verbotene Hoffnung in mir aufkeimen. „Gib mich nicht auf. Hab etwas Geduld.“ Mein Herz wollte sich gar nicht mehr beruhigen lassen.

„Geduld wofür?“, erwiderte ich kaum hörbar. Mein Kopf pochte so laut, dass ich meine Wörter selbst kaum verstand.

„Bis zu dem Zeitpunkt, an dem wir zusammen sein können“, erklärte er ernst, und brachte mein Herz dazu, einen Schlag auszusetzten. Ich versuchte mich zu befreien, doch er hielt mich bestimmt fest.

„Du musst mir nichts mehr vormachen“, versicherte ich ihm gequält. „Lass mich los. Bitte.“ Mein Herz war bereits in abertausend Stücke zerbrochen. Viel länger würde ich mich nicht mehr auf den Beinen halten können, - und ich wollte auf keinen Fall, dass er dabei war, wenn ich zusammen brach. Sein Griff lockerte sich. Doch statt mich gehen zu lassen, nahm er meine Hand in seine und zog mich beinahe hart an seine Brust.

„Du hörst mir nicht richtig zu“, teilte er mir verstimmt mit. „Ich sage, dass ich mit dir zusammen sein will. Nur nicht jetzt“, versuchte er sich zu erklären. „Nicht, weil ich nicht will, sondern weil ich nicht darf.“ Die Leidenschaft in seiner Stimme und die Aussage seiner Wörter brachten mich halb um den Verstand.

Er log. Es konnte nicht stimmen. Das war alles ein Missverständnis. Ich verstand wieder mal alles falsch. So wie bei Vincent.

„Ich will nicht mehr darauf warten, dass du mich vielleicht irgendwann einmal genauso lieben kannst, wie ich dich“, widersprach ich in leisem, monotonen Tonfall. „Ich kann einfach nicht“, erklärte ich bedrückt. „Das ist zu viel Druck. Es wird dich unglücklich machen“, prophezeite ich ihm traurig lächelnd. „Und lieben wirst du mich dadurch wahrscheinlich auch nicht mehr. Das wird dann wiederrum mich unglücklich machen.“ Entmutigt sah ich ihn an.

Wir mussten den Tatsachen ins Auge sehen. Silvan und ich, - dieser Wunschtraum würde heute zu Ende gehen. Schlagartig landeten seine Lippen gierig auf den meinen.

Ich versuchte ihn wegzuschieben, - diesmal wirklich, - aber er ließ es nicht zu. Sein Körper war hart wie Stahl und lag dicht an den meinen gepresst, seine Lippen lagen voller Leidenschaft auf den meinen. Seine Hände hielten mich gefangen und verursachten Stromschläge, wo immer sie mich auch berührten und meine Körpertemperatur stieg um ein Vielfaches. Der Sauerstoff kam zu kurz und vor Schwindel konnte ich mich kaum noch auf den Beinen halten. Es nicht mehr länger unterdrücken könnend, stöhnte ich erregt in unseren Kuss hinein. Mein Kopf hörte in dem Moment auf zu protestieren, indem auch mein Körper jeglichen Widerstand aufgab.

In sein Haar krallend, versuchte ich ihn noch näher zu mir zu ziehen, - ein Ding der Unmöglichkeit, - und schnappte lauthals nach Luft, als seine Lippen mich für einen Moment lang frei gaben und zu meiner Kehle wanderten. In meinem Kopf herrschte gänzliche Leere. Alle Bedenken, jegliche Reue oder Vernunft mussten warten. Das war mein Moment.

Seine Lippen liebkosten meine Kehle, mein Dekolleté und jede seiner Berührungen brannte wie Feuer auf meinem Körper. Aber es war nicht genug. Meine Hände fanden seinen Nacken und zwangen ihn, den Kopf zu heben. Sofort senkten sich meine Lippen wieder auf die seinen und zärtlich erwiderte er den Kuss. Seine Hände strichen über meinen Rücken und wanderten zu meinem Hintern. Nicht genug. Ich wollte ihn auch berühren.

Während eine meiner Hände immer noch in seinem Nacken lag und sein wunderschönes Haar durchwühlte, strich die andere sehnsuchtsvoll über seine Seite und wanderte zu seiner Mitte. Sein Sweater war beinahe schmerzlich im Weg, und so fuhr meine Hand sogar bis unter sein T-Shirt. Seine nackte Haut fühlte sich unglaublich an. Sein Bauch war angespannt und ich konnte deutlich jeden einzelnen Muskel spüren.

Als meine Hand von seinem Nabel langsam weiter nach unten wanderte, knurrte er gefährlich in unseren Kuss. Ein heißer Blitz fuhr durch meinen Körper.

Urplötzlich unterbrach er diesen intimen Moment, rückte kurz von mir ab, schmiss mich auf seine Schulter und rannte mit mir die Treppe nach oben in unser, - mein, - Zimmer. Die Tür mit einem einfachen Schubs hinter sich schließend, stellte er mich wieder auf meine Beine, und küsste mich, bevor ich etwas sagen, oder vor Schwindel umfallen konnte.

Gierig erwiderte ich den Kuss und krallte mich an ihn. Er hob mich hoch, und presste mich mit dem Rücken gegen die Tür. Einem Teil von mir war klar, dass ich diesen Kuss unterbinden sollte. Aber ich war wie auf Droge; ich konnte nicht aufhören.

 

Kapitel 33

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 20, Abschnitt 11

 

Gegen solche Personen, welche aus Mangel ihrer Geisteskräfte ihre Rechte selbst zu verwalten unfähig sind, wie gegen Minderjährige oder Personen, die den Gebrauch der Vernunft nicht haben, darf vor Gericht nur verhandelt werden, wenn deren Anklage als >>schwerwiegend<< eingestuft wurde()…

 

 

Ich war kurz davor, den Verstand zu verlieren. Meine Gefühle fuhren Achterbahn, und Silvans Hände wollten einfach nicht aufhören, über meinen Körper zu streichen, und damit wohlige Schauer über meinen Rücken zu jagen, während seine Lippen meinen Mund in Beschlag nahmen und mich wiederholt zum Aufstöhnen brachten. Und Silvans offensichtliche Härte an meiner Mitte machte das Ganze nur noch schlimmer.

Mit einem plötzlichen Ruck, riss er uns beide von der Zimmertür los, und trug mich auf mein Bett. Mein Herz pochte beinahe schmerzhaft gegen meine Brust, als er mich sehr behutsam ablegte, und mich mit loderndem Blick musterte.

Hör jetzt nicht auf, bat ich stumm.

Seine Hand wanderte an meine Wange. Das Feuer in seinem Blick war noch vorhanden, teilte sich seinen Platz aber mit einer gewissen Menge an Zärtlichkeit.

„Emanuela“, raunte er voller Gefühl. „Weißt du eigentlich, wie überaus liebenswert du bist?“ Sanft strich er mir mit dem Daumen über die Wange. Ein kleines Lächeln umspielte seine wunderschönen Lippen. „So überaus liebenswert“, wiederholte er leise und nahm mein Gesicht in seine schützenden Hände. Herzklopfend sah ich ihn an. „Ich liebe dich schon mein ganzes Leben“, erklärte er eindringlich. „Wie könnte ich auch nicht?“ Ich schluckte, und versuchte den Schmerz zu ignorieren, als ich antwortete.

„Ich weiß“, erwiderte ich kaum hörbar, und mit einem traurigen Lächeln. Sein Blick veränderte sich.

„Ich glaube nicht, dass du das tust“, widersprach er langsam. Sein Ton war ruhig, aber in seinen Augen las ich das Chaos in seinem Inneren. „Wenn du es wüsstest, würdest du mich jetzt nicht so ansehen.“

„Und wie sehe ich dich an?“, flüsterte ich fragend; meine Stimme klang seltsam schwach.

„Als wäre das die letzte Gelegenheit mir nahe zu sein“, erwiderte er sanft. Er beugte sich über mich und begann mich mit kleinen Küssen zu bedecken. „Glaubst du wirklich, ich würde dich so küssen, wenn ich es nicht ernst meinte?“, fragte er an meiner Kehle, und ich konnte nicht glauben, was ich da hörte.

„Warum stößt du mich dann immer wieder weg?“, wisperte ich leise. „Als ich dir sagte, dass ich dich liebe, hast du gesagt, du wolltest nicht auf diese Weise mit mir zusammen sein“, erinnerte ich ihn erstickt. Er hörte auf mich zu küssen, und sah mich ernst an.

Zum damaligen Zeitpunkt“, stellte er bedeutsam klar. „Ich habe dir gesagt, ich wollte zum damaligen Zeitpunkt nicht mit dir zusammen sein.“ Er schien mit sich zu hadern, ob er die nächsten Worte wirklich aussprechen sollte. „Was nicht ganz stimmt“, berichtigte er sich und sah mir tief in die Augen. „Ich will schon sehr lange auf diese Art mit dir zusammen sein. Wahrscheinlich genauso lange, wie du mit mir.“ Fassungslos sah ich ihn an. „Aber ich hielt es für besser zu warten, bis…“ Er brach ab.

„Bis…?“, widerholte ich starr. Das war alles so unglaublich, - mein Gehirn schien mit alledem nicht fertig zu werden. Jede kleine Bewegung, jedes Wort aus meinem Mund war erschreckend anstrengend. Totalabsturz.

„Bis ich bestimmte Dinge geregelt hätte“, meinte er ergeben, und rollte sich von mir runter, und auf meine rechte Seite.

„Was für Dinge?“, erkundigte ich mich irritiert. Er antwortete nicht. „Silvan“, warnte ich ihn im gefährlich klingenden Tonfall, während ich mich halb aufsetzte. „Karten auf den Tisch“, verlangte ich schlichtweg und sah ihn auffordernd an.

„Wusstest du, dass bis zum heutigen Tag, unser letzter Kuss 80 Tage her war?“, lenkte er vom Thema ab, und sah von meinen Augen zu meinem Mund, und wieder zurück. Mein Körper begann wieder zu kribbeln und meine Wangen färbten sich unter seinem Blick rosa.

„Nein“, gab ich gleichermaßen verlegen, wie überrascht zu. 80 Tage. Wow. „Ich hatte keine Ahnung. Aber zurück zu meiner Frage…“ Weiterhin auffordernd sah ich ihn an. Da er nichts erwiderte, versuchte ich es anders. „Ist denn jetzt alles geregelt?“, erkundigte ich mich interessiert. Sein Blick war schwer zu deuten. „Was…?“, fragte ich verwundert. „Nicht einmal das kannst du mir sagen?“ Entschuldigend sah er mich an.

„Wie wäre es mit einem Gegenangebot?“, schlug er geschäftsmäßig vor, während er sich genau wie ich, halb aufrichtete. Misstrauisch betrachtete ich sein Pokerface.

„In Ordnung“, willigte ich ein. „Was schlägst du vor?“ Seine Hand wanderte an mein Kinn. Ich hielt die Luft an. An dieses Gefühl, seine Haut auf meiner zu spüren, würde ich mich vermutlich nie gewöhnen können.

„Ich verspreche, dir alles zu erzählen-“

„Der Teil gefällt mir schon mal“, fiel ich ihm ins Wort. Sein Blick ließ mich verstummen.

„Und du versprichst im Gegenzug, dich nicht einzumischen“, erklärte er mich ernst musternd. „Das ist mein voller Ernst, Emma. Du hältst dich aus dieser Geschichte raus, - und allem, was damit auch nur im Entferntesten zu tun hat.“

„Aber-“, wollte ich widersprechen. Er zog mein Gesicht näher zu sich.

„Kein aber“, erklärte er bestimmt, und sein heißer Atem strich mein Gesicht, benebelte meine Sinne. „Es sein denn, du willst nicht wissen, wohin ich immer gehe, - sogar nachts.“ Schelmisch sah er mich an; er wusste, wie er mich dazu bekam, einzuwilligen.

„In Ordnung“, gab ich mich geschlagen. „Ich bin einverstanden.“ Die Neugierde war einfach zu groß. Kurz senkten sich seine Lippen auf meine.

„Besiegelt mit einem Kuss“, erklärte er leicht hin. Fassungslos sah ich ihn an.

Wie konnte er nur so verdammt… so verdammt… ruhig, so gelassen sein… während sich mein Gehirn längst verabschiedet hatte, und mein Herz ununterbrochen auf Hochtouren arbeitete?

„Was, wenn ich mich nicht an unsere Vereinbarung halte?“, fragte ich ängstlich. Sein Gesicht wurde hart.

„Dann werden du und ich keine Zukunft miteinander haben“, erwiderte er monoton und rückte ab, um aufzustehen. Geschockt riss ich die Augen auf und krabbelte ihm hinterher.

„Warte, was?“, entfuhr es mir fassungslos. „D-Das…“

Das klang schrecklich.

Er half mir vom Bett aufzustehen, ignorierte meinen fassungslosen Gesichtsausdruck, und gab mir einen Kuss auf die Stirn.

„Halte dich einfach an die Abmachung, und nichts Schlimmes kann passieren“, meinte er locker, und wandte sich ab. „Das Kochen übernehme heute mal ich“, verkündete er gelassen und verschwand, - einen letzten Blick auf mich, - zur Tür raus. Meine Beine gaben nach und ich landete unsanft wieder auf meinem Bett.

Ich war sprachlos. Gedanken und Gefühle schwirrten nur so in meinem Kopf herum, - komplett unzusammenhängend, und ohne, dass ich auch nur die leiseste Chance hatte, sie wieder richtig einordnen zu können. Tief in meinem Inneren wusste ich zwar, dass ich glücklich war, aber ich konnte es noch nicht richtig fühlen. Der Schock war noch viel zu gegenwärtig. Das Erlebte noch viel zu surreal.

Alles andere mal beiseite lassend, war da aber ein Gedanke, der so simpel er auch war, mich gänzlich ausfüllte.

Er liebte mich auch.

Kapitel 34

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 28, Abschnitt 16

 

Ein Hunimal ohne Besitzer, ist automatisch Besitz des Königshauses; er wird gemäß seiner Rasse und Fähigkeiten in den verschiedensten Bereichen eingesetzt, um den Bürgern das Leben zu erleichtern; Zivil- oder Kriegsdienste gehören wie alle anderen Dienste dazu()…

 

 

Konnte das Glück einen umbringen?

Jede Nacht, - nachdem Dad endlich seine Arbeit in der Werkstatt niedergelegt hatte, - schlich ich mich, still und heimlich, in Silvans Zimmer und zu ihm auf seine große Matratze. Er gähnte dabei jedes Mal herzhaft, und zog mich mit seiner großen Pfote näher an sein weiches Fell; ich fühlte mich unheimlich geborgen, und schlief so gut, wie schon seit Langem nicht mehr.

Gelegentlich, - und zugegeben, immer häufiger sogar in letzter Zeit, -  kam es auch vor, dass Silvan sich im Schlaf wieder in einen Menschen verwandelte. Anfangs hatte ich ihn dann immer aufgeweckt, - Aufgrund seiner, vor längerer Zeit ausgesprochenen Bitte, dies zu tun, - aber in letzter Zeit, kam es öfter mal vor, dass ich es >>vergaß<< und Silvan morgens in seiner menschlichen Form neben mir aufwachte.

Im Grunde war es mir einerlei, - ich liebte Silvan, egal in welcher Form, - aber manchmal war es schön, - wenn nicht sogar anregend, - in seinen menschlichen Armen aufzuwachen. Tier hin oder her, - er war schließlich ein Mann. Entgegen aller Erwartung, hatten wir aber immer noch nicht miteinander geschlafen. Nicht in etwa, weil ich nicht wollte, - vielmehr war er es, der uns immer im letzten Moment bremste.

Anschließend beeilte ich mich dann immer, mich wieder zurück in mein Zimmer zu schleichen, bevor die anderen aufstanden.

Tags über genoss ich die vielen, kleinen Blicke und die beinahe zufälligen Berührungen, sehr. Es war fast wie früher, vor diesem ganzen Durcheinander. Mit einer einzigen, bedeutenden Ausnahme.

Es war besser.

„Igor hat sich auf der >>anderen Seite<< mal ein wenig umgehört“, berichtete mir Marcus leise, nachdem ich zugestimmt hatte, etwas gegen diesen selbsternannten >>Schülerrat<< zu unternehmen. „Er meint, unser letzter Besuch dort, würde streng unter Verschluss gehalten werden. Nur sehr wenige wissen allem Anschein nach davon, - das grenzt die Zahl der verdächtigen Mitglieder schon mal um ein Vielfaches ein…“, erzählte er begeistert. Zustimmend nickte ich.

„Das ist gut“, bemerkte ich sachlich.

„Das ist nicht gut“, widersprach er augenverdrehend. „Das ist ausgezeichnet!“ Er lachte.

Am selben Tag erzählte er den anderen noch einmal dieselben Geschichten, vom 1.April. Doch diesmal erzählte er sie aus einer anderen Sichtweise, - seiner eigenen. Es dauerte ein wenig, bis er alle überzeugt hatte, - bis wir alle überzeugt hatten, - aber schlussendlich waren wir erfolgreich. Sogar Vivien zu überzeugen gelang uns; sie war die am meisten Skeptische von den dreien.

Besonders ausschlaggebend dafür, waren die gestohlenen Zettel, welche Marcus, - wie er mir heimlich verriet, - immer bei sich trug, und sogar Kopien von ihnen angefertigt und Zuhause versteckt hatte. Seine Paranoia war manchmal fast zum Lachen.

Silvan hatte mir indessen immer noch nicht erzählt, wohin er so oft verschwand, aber merkwürdigerweise störte mich das überhaupt nicht mehr. Jetzt wo ich wusste, dass er es mir sagen würde, fühlte ich mich seltsam zufrieden. Und um ganz ehrlich zu sein… Ein kleiner Teil von mir wollte es sogar überhaupt nicht wissen.

Immerhin hatte er es monatelang vor mir geheim gehalten.

Das hätte er sicher nicht getan, wenn es sich um etwas Belangloses handelte. Er wollte nicht, dass ich es erfuhr, - er schien es mir auch jetzt nicht gerne anzuvertrauen, - aber er würde es. Wenn ich es wollte, würde er mir die Wahrheit sagen. Doch die Wahrheit begann mir langsam Angst zu machen. Unsere seltsame Abmachung, machte die Sache auch nicht besser.

Was sollte das heißen, ich dürfte mich nicht einmischen?

Mischte ich mich jemals in die Angelegenheiten anderer ein?

Zugegeben, ich schnüffelte schon etwas länger herum, was es mit Silvans Verschwinden auf sich haben könnte. Und ich hatte vielleicht versucht, meinen Vater mit seiner alten Schulkollegin zu verkuppeln, - zuerst auch überhaupt nicht absichtlich, aber durchaus erfolgreich! - falls es das irgendwie besser machte.

Und vielleicht hatte ich mich mit Marcus auf die Seite der Hunimals geschlichen, um jemandem zu helfen, den ich überhaupt noch nicht gekannt hatte, - aber Marcus hatte mich darum gebeten! Und einen Freund ließ man nicht einfach so im Stich. Jedenfalls tat ich das nicht.

Ich gab ja zu, dass ich mich gelegentlich mehr auf das Leben oder die Probleme anderer konzentrierte, als auf mein eigenes Leben. Aber ich konnte nun mal nicht anders. Das war ich. Neugierde und Einmischung inklusive.

Mir war schon jetzt klar, dass ich mich nur sehr schwer an unsere Abmachung halten würde können. Und der Preis dafür, wenn ich es nicht schaffte, war so hoch, so beängstigend, dass ich es, - zumindest für die nächste Zeit, - vorzog, nichts weiter über sein Verschwinden zu erfahren.

Mir war gar nicht klar gewesen, wie sehr Glück einen verändern konnte. Wie sehr einem die Möglichkeit, es wieder zu verlieren, - und das noch dazu so bald, - Angst machen konnte. Und wie wenig ich selbst bereit war, dafür auch nur das geringste Risiko einzugehen.

Ich hatte Angst. Nicht nach außen hin, aber tief in meinem Inneren. Und im Gegensatz zu sonst, konnte ich meine Ängstlichkeit nicht überwinden, sondern ihr nur ausweichen. Wie ein Feigling. Das war vermutlich auch einer der Gründe, weshalb ich Marcus nun doch meine Hilfe angeboten hatte.

„Müssen wir demnächst noch einmal auf die >>andere Seite<<?“, erkundigte ich mich leise bei ihm. Nachdenklich runzelte mein blonder Sitznachbar die Stirn.

„Vorläufig… eher nicht“, entschied er dann, und warf mir einen verschmitzten Blick zu. „Aber das kann sich jeder Zeit wieder ändern.“ Ich lachte leise.

„Das ist gut zu hören.“

Meine Treffen mit Vincent wurden indessen wieder angenehmer. Prinzipiell. Oder anders gesagt: Ich war einfach entspannter. Gleichzeitig aber, war ich bei unseren Treffen seltsam munter und aufgekratzt. Es war gemein, aber manchmal wollte ich einfach lieber Zuhause bei Silvan bleiben, und Vincent versetzen.

Was ich nicht tat. Nicht ein einziges Mal.

Silvan wusste immer intuitiv, wann ich zu Vincent ging, und wann ich mich nur mit Freunden traf. Es war beinahe unheimlich, wie gut er mich kannte. Indessen rückte der Zeitpunkt unserer Abreise immer näher, bis wir schließlich Freitagabend, - nachdem ich mich nur kurz mit Vincent getroffen hatte, - auf den Weg machten.

Wir nahmen den Umzugswagen meines Vaters. Silvan fuhr. Er hatte mit Dad alles besprochen, und soweit ich das mitbekam, auch alles andere geregelt. An der Grenze gab er an, wir würden einige Möbel meines Vaters in eine andere Stadt liefern. Es lief überraschend glatt. Wenig später befanden wir uns auch schon auf einer dunklen Landstraße; das einzige, sichtbare Licht das Scheinwerferlicht unseres Wagens.

Ich konnte nur die Straße vor uns, und vielleicht einige Bäume in der näheren Umgebung ausmachen. Hier draußen war nichts. Wir waren vollkommen allein. Kilometerweit würde keine andere, menschliche Seele unseren Weg kreuzen.

Es gefiel mir.

Darüber hinaus, beruhigte Silvans innere Ruhe meine leichte Nervosität genug, um mich zufrieden zurückzulehnen, wohlig die Augen zu schließen, und einfach die Stille und Zweisamkeit mit ihm zu genießen. Aber wie immer, holte mich die brutale Realität früh genug ein.

Ende des Wochenendes, würde ich endlich alles verstehen. Und es würde mir nicht nur mein Lächeln, und die Sicherheit, in der ich mich gerade wiegte nehmen, sondern auch die Liebe meines Lebens. Ohne Silvan, - und mit der direkten Möglichkeit vor Augen, ihn vielleicht niemals wiedersehen zu können, ohne selbst etwas daran ändern zu können, - würde ich nach Hause zurück kehren.

Allein.

Kapitel 35

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 34, Abschnitt 7

 

Ein Hunimal, ganz gleich welcher Rasse er angehört, steht immer unter dem Menschen; die öffentliche Zurschaustellung von dem Gegenteil in welcher Art auch immer, wird sowohl in den eigenen Reihen, als auch bei Hunimals schwer gefahndet()…

 

 

„Emma“, weckte mich Silvans leise Stimme. „Wir sind da.“ Verschlafen öffnete ich die Augen und sah in helles Eisblau.

„S-Silvan“, erwiderte ich, überrascht von seiner plötzlichen Nähe. Wir hatten mittlerweile angehalten. Alles außerhalb der Fahrerkabine lag in vollkommener Dunkelheit. Silvans Gesicht lag nahe an meinem. Er bemerkte es, und zog sich etwas zurück.

„Ich nehme nicht an, dass du heute noch die Wildnis erforschen möchtest“, sagte er mir auf den Kopf zu, und ich nickte leicht. Verschlafen sah ich ihn an.

„Nicht wirklich“, bestätigte ich gähnend. Seine Mundwinkel zuckten.

„Das dachte ich mir“, meinte er leicht hin, und strich mir kaum wahrnehmbar über die Wange; sehr sachte, als hätte er Angst, ich könnte unter seiner Berührung zerbrechen. Ich schloss wohlig die Augen.

„Vielleicht solltest du schlafen gehen“, riet er mit sanfter Stimme. Ich schlug wieder die Augen auf, und suchte seinen Blick.

„Kommst du mit?“, erkundigte ich mich, plötzlich um einiges munterer. Ein mir nur zu bekanntes Glitzern trat in seine Augen. Hoffnungsvoll sah ich ihn an. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich.

„Nicht sofort“, erklärte er ausweichend. Enttäuscht senkte ich den Blick. „Erst nachdem ich mich draußen ein wenig umgesehen habe.“

„Kann ich mitkommen?“, erkundigte ich mich sogleich, - entgegen meiner Müdigkeit.

„Hast du nicht eben noch gesagt, du würdest lieber hierbleiben?“, entgegnete er skeptisch. Ich verdrehte die Augen.

„Da wusste ich noch nicht, dass du vorhattest, auch ohne mich loszuziehen“, konterte ich starrsinnig; auf keinen Fall würde ich ohne ihn hierbleiben und seelenruhig zu Bett gehen, während er in der Nacht rumgeisterte.

„Ich hatte nicht vor, mich als Mensch umzusehen“, warnte er mich. Stur erwiderte ich seinen Blick.

„Ich weiß“, erklärte ich starr. Herausfordernd sah ich ihn an. Er erwiderte meinen Blick und nach einiger Zeit schien ich in seinen Augen förmlich zu versinken.

Mir wurde plötzlich bewusst, dass wir wirklich hier waren. Nur er und ich. Fern von allem und jeden. Sein warmer Atem streifte mein Gesicht, und in meinem Kopf begann sich alles zu drehen.

„In Ordnung“, stimmte er nun doch zu, und lehnte sich in die andere Richtung. Ein rauer Unterton lag in seiner Stimme, - brachte mich halb um den Verstand. „Du kannst mitkommen“, erklärte er, die Fahrertür öffnend. Kalter Wind blies ihm entgegen, aber es schien ihm nicht das Geringste auszumachen. Auf meinem Arm bildete sich eine Gänsehaut. Plötzlich wurde mir von außen die Tür geöffnet.

„Du ziehst besser die hier an“, bemerkte er, mir eine Jacke hinhaltend. Überrascht sah ich ihn an, dann lächelte ich sanft.

„Danke“, erklärte ich, nahm die Jacke entgegen und stieg aus. „Wo genau sind wir eigentlich?“, erkundigte ich mich, mit dem Blick auf das Laub und die Bäume, um uns herum.

„Willst du das wirklich so genau wissen?“, konterte er, und verschwandt hinter dem Wagen. Ich zuckte mit den Schultern. Zu spät bemerkte ich, dass er es gar nicht sehen konnte.

„Naja, ich bin bloß neugierig, wa…“, begann ich, als plötzlich Silvan in seiner wahren Gestalt vor mir stand.

Langes, schneeweißes Fell, mit einzelnen schwarzen Haaren dazwischen. Eine gewaltige Mähne, riesige Pfoten. Augen, so rein und klar, wie Eis, und doch bedeutend weniger kalt. Seine gefährlichen, weißen Zähne blitzten mir entgegen, lenkten meinen Blick auf seinen zu einem Grinsen verzogenen Mund.

„Besser, als es dir zu erklären“, teilte er mir mit tiefer Stimme mit. „Kann ich es dir einfach zeigen.“ Unfähig zu antworten, sah ich ihn weiterhin an.

Es war so ganz anders, ihn unter freiem Himmel zu sehen. Seine große, majestätische Gestalt war in unseren vier Wänden gar nicht wirklich zum Ausdruck gekommen. Auch hatte ich ihn niemals zuvor so zufrieden gesehen. So befreit.

Ich schüttelte den Kopf, um wieder etwas Klarheit in meinen Kopf zu bekommen. Dann trat ich auf ihn zu. Er legte sich auf den Bauch, und machte sich ganz klein. Ein wenig zögernd, griff ich in sein weiches Fell, und strich gedankenverloren über seine wunderschöne Gestalt. Er brummte ein wenig belustigt.

„Du hast es dir doch nicht etwa anders überlegt, oder?“, bemerkte er kaum verständlich, - sichtlich bemüht, seinen großen Kopf nicht allzu sehr zu bewegen, um mir den Aufstieg leichter zu machen. Wieder schüttelte ich den Kopf.

„Nein“, erwiderte ich entschlossen. Mein Griff in sein Fell verfestigte sich. „Habe ich nicht“, schnaufte ich, als ich umständlich auf seinen Rücken kletterte. Er half mir ein wenig, und richtete sich anschließend mit mir auf dem Rücken auf. Die Aussicht war großartig.

„Gut festhalten“, bemerkte er rau, - voller unterdrückter Vorfreude in seiner Stimme. Mein Herzschlag beschleunigte sich.

Die ersten Schritte machte er äußerst behutsam, um mir Zeit zu geben, mich an sein Tempo zu gewöhnen. Nach und nach wurde er immer schneller. Bäume, Sträucher und Geäst rasten an uns vorbei. Die Dunkelheit und Silvans Geschwindigkeit machten es äußerst schwierig, Genaueres auszumachen. Der Mond war nicht einmal bis zur Hälfte gefüllt. Und sogar die vielen Sterne am Himmel schienen mehr Licht zu spenden, als dieser. Trotzdem war Silvan in der Lage, jeden Schritt gezielt und ohne Probleme zu setzen.

Mir fiel auf, dass die Bäume immer lichter wurden. Kaum hatte ich das bemerkt, standen wir auch schon am Rand des Waldes, - vor uns ein weites Feld. Gräser wehten im Wind und sahen beinahe Silbern aus. Silvan drosselte sein Tempo, trat einige Schritte nach vorne, und setzte mich ab.

Als meine unsicheren Beine den Boden berührten, fühlte sich mein Körper seltsam schwach an; ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Silvan stieß mich sanft mit dem Kopf an, was mich zum umfallen gebracht hätte, wenn er mich nicht in sein weiches Fell gelenkt hätte.

„Alles in Ordnung, Emanuela?“, erkundigte er sich amüsiert. Ich schluckte.

„Na-türlich“, murmelte ich stockend in sein Fell, während ich mich Halt suchend an ihn festkrallte, und die Augen schloss. In meinem Kopf drehte sich alles. „Alles bestens.“ Er ließ ein raues Lachen hören; seine Kehle bebte.

„Ist es nicht ein großartiges Gefühl?“, fragte er friedlich.

„Wundervoll“, bestätigte ich schwach, aber doch ernst.

„Ich glaube, du schuldest mir noch ein Wettrennen“, bemerkte er plötzlich. Ich erstarrte. Als ich mich wieder gefasst hatte, rückte ich etwas ab und sah ihn äußerst skeptisch an.

„Das war ein Scherz, oder?“, erkundigte ich mich vorsichtshalber. Bei seinem ausgefuchsten Gesichtsausdruck fiel mir die Kinnlade herunter. „Si-Silvan“, sagte ich wieder, einige Schritte zurückweichend; meine Stimme wurde immer unsicherer, und sein Blick diabolischer. Langsam und mit gefährlichem Gesichtsausdruck näherte er sich, während meine Beine immer weiter rückwärts wanderten.

„Wir w-werden das jetzt n-nicht machen“, drohte ich ihm; ohne das deutliche Zittern in meiner Stimme, hätte es bestimmt überzeugender gewirkt. Meine Arme streiften das hohe Gras. Ich war unbewusst immer weiter ins Feld gegangen.

Silvan knurrte spielerisch. Ohne, dass ich es unterdrücken konnte, drehte ich mich um und lief los.

Das Feld war riesig. Ich war mir nicht einmal sicher, dass ich überhaupt das Ende ausmachen konnte, - und je weiter ich lief, desto weniger sah ich. Mein Atem ging viel zu schnell.

Er war direkt hinter mir. Mich zu überholen schien für ihn zweitrangig zu sein. Ein paar Mal warf ich den Kopf nach hinten, nur um Silvans schelmisches Grinsen ausmachen zu können. Seine weiße Gestalt schien förmlich mit dem Gras zu verschwimmen, eine Einheit zu bilden. Es war die perfekte Tarnung.

Seine angriffslustigen Augen blitzten in einem hellen Grau, wie so oft, wenn seine Gefühle die Oberhand gewannen; sie hatten nicht mehr viel mit dem vertrauten Eisblau gemein, das seine Beherrschung so auszeichnete, und machten seine gefährliche Erscheinung komplett.

Abermals wagte ich einen kurzen Blick nach hinten, und musste dann gleich zweimal hinsehen. Er war verschwunden. Mitten in der Bewegung stoppte ich.

„Silvan?“, rief ich zaghaft und sah in alle Richtungen. Der sanfte Wind spielte mit den langen Grashalmen, die die Größe von Sträuchern hatten; schaukelte sie von einer Richtung in die andere. Es war ganz still. Außer dem Wind, und meinem schweren Atem, war nichts zu hören. Dann geschah alles ganz schnell.

Wie aus dem nichts kam er und warf mich zu Boden, - federte meinen Sturz mit seinem weichen Fell ab, und verhinderte damit mögliche Verletzungen. Sein schwerer Körper drückte mich nicht wirklich zu Boden, aber er gab mich auch nicht frei. Direkt über mir, blickten mir amüsierte Augen entgegen. Sein Maul warf halb geöffnet, offenbarte eine Reihe scharfer, weißer Zähne, die mich in nur Sekunden in Stücke reißen konnten, wenn er es gewollt hätte. Sein warmer Atem traf mein Gesicht.

„Hab dich“, erklärte er rau und fest; es klang leicht durchtrieben. Ich musste schlucken.

„Ganz meine Rede“, stimmte ich kaum hörbar zu, und starrte in seine unsteten Augen. „Du gewinnst. Gegen vier Beine komme ich nicht an“, gab ich das Offensichtliche zu. Dasselbe hatte ich damals auch schon gesagt, als er das Ganze mit dem Wettrennen vorgeschlagen hatte. Er lachte leise.

„Die Anzahl der Beine hat damit nicht viel zu tun“, behauptete er. Stirnrunzelnd blickte ich nach oben, und wollte widersprechen, als er plötzlich seine riesige Zunge ausfuhr, und mir über das ganze Gesicht leckte.

„Silvan!“, beschwerte ich mich empört. Er lachte und wandte sich von mir ab. Wieder in Freiheit stand ich mit wackligen Beinen auf, und fuhr mir einmal gründlich übers Gesicht.

Es war Ewigkeiten her, dass er das getan hatte.

„Warum genau sind wir hier?“, fragte ich vorsichtig. Mitten in der Bewegung hielt er inne und wandte den Kopf langsam in meine Richtung. Einen Moment schien er zu überlegen. Er wusste sofort, was ich gemeint hatte.

„Wir sind hier, weil du wissen willst, was vor sich geht“, antwortete er dann ruhig. „Weil du es wissen musst“, präzisierte er. „Und weil das der beste Weg sein wird, es dir verständlich zu machen.“ Er legte sich auf den Boden. „Kommst du? Es ist eigentlich schon viel zu spät für dieses Gespräch. Lass uns zum Wagen zurückkehren, und morgen zeige ich dir, was ich meine.“

Hin und her gerissen von meiner Neugierde, es sofort zu erfahren, und meiner Angst, was für Konsequenzen das haben würde und der Müdigkeit, die mich seit Stunden quälte, gab ich schließlich seufzend auf, und ließ mir von ihm helfen, auf seinen Rücken zu gelangen. Wohlbehalten brachte er uns wieder zurück zu unserem Wagen, und setzte mich dort sanft ab. Meine Glieder waren so schwer, ich war kurz davor gewesen, auf seinem Rücken einzuschlafen.

Ich war mir nicht mehr sicher wie, aber allem Anschein nach hatte Silvan wieder menschliche Form angenommen, sich eine Jogginghose angezogen, mich hochgehoben und in das Bett gebracht, das im hinteren Teil des Umzugswagens stand. Sachte strich er über meinen Arm, und brachte mich damit leicht zum lächeln, bevor er nach unten glitt, und mir meine Schuhe auszog. Als er aufstehen und weggehen wollte, hielt ich ihn auf.

„Nicht weggehen“, bat ich ihn am Arm festhaltend. Lächelnd beugte er sich zu mir runter; es war so dunkel, dass ich es fast gar nicht erkennen konnte.

„Ich bin gleich wieder da“, versicherte er mir. Seine Lippen landeten auf meiner Stirn und ich schloss zufrieden die Augen. Daraufhin entfernten sich seine Schritte leise, und das geöffnete Tor, zum ausladen der Ladung, schloss sich. Als Silvan wenig später aus dem Fahrerbereich zurück kam, hatte ich mich schon aus meiner Jacke gekämpft, und wohlig in das weiße Leintuch vergraben. Sein Blick war schwer zu deuten.

„Überrascht zu sehen, dass ich noch wach bin?“, murmelte ich heiter, und richtete mich ein Stück auf. Langsam trat er näher.

„Das nun nicht gerade“, widersprach er ruhig. An meiner Bettkannte angekommen, bleib er stehen, und setzte sich dann neben mich auf die Matratze. Sie gab merklich unter seinem Gewicht nach. „Aber dann müssten wir die folgende Diskussion jetzt nicht führen.“ Seine Hand wanderte zu meiner Wange.

„W-Was meinst du?“, erkundigte ich mich nervös. Allein diese kleine Berührung brannte, wie Feuer. Sein Gesichtsausdruck wurde zärtlich.

„Ich schlafe besser vorne im Fahrerbereich“, sagte er dann. Der liebevolle Ton in dem er das sagte, stand im krassen Gegensatz zu seiner Aussage.

„Was?“, platzte es geschockt aus mir heraus. „Nein. Das… Wieso?“, stammelte ich überfordert. Mit einem Mal war ich wieder hellwach.

Selbst Zuhause hatten wir schon nebeneinander geschlafen. Wieso wollte er diesen bedeutenden Schritt nach vorne wieder rückgängig machen?

Einfühlend sah er mich an. Sein Daumen streifte über meine Wange, und wanderte zu meinem Kinn.

„Abgesehen davon, dass dieses Bett unmöglich Hunimal-tauglich ist“, begann er leise, und sein Mund kam meinem immer näher. „Wäre es besser, wir würden… nicht in demselben Bett schlafen.“

„Oder in demselben Zimmer. Das wolltest du wohl eher sagen“, erwiderte ich schnippisch, und war kurz davor, seine Hand weg zu schlagen. Bedauernd sah er mich an.

„Emanuela-“, begann er wieder, doch ich unterbrach ihn.

„Nein, ich verstehe schon“, erklärte ich im selben Tonfall, wie vorhin. „Meinetwegen musst du es nicht ungemütlich haben. Wenn dir meine Anwesenheit lästig ist… Wenn du lieber alleine schlafen möchtest, ist das in Ordnung. Aber erfinde bitte keine Ausreden, wie, dass das Bett das nicht aushält“, endete ich ihn verärgert anfunkelnd. Skeptisch hob er eine Augenbraue. Diese Geste sah so anziehend aus, dass sie mich nur noch wütender machte.

„Du bist also der Meinung, dieses Bett aus dem letzten Jahrhundert schafft einen ausgewachsenen Löwen und ein junges Menschenmädchen…?“, bemerkte er zweifelnd. Seine Mundwinkel hoben sich leicht amüsiert.

„Niemand hat gesagt, dass du deine animalische Gestalt annehmen sollst“, zischte ich, und riss mich los. Er nahm die Hand wieder runter. Verletzt starrte ich zu Boden und verschränkte meine Arme.

„Was ist, wenn ich einschlafe?“, fragte er ruhig.

„Was soll sein?“, murrte ich nicht ganz so unversöhnlich, sah ihn aber immer noch nicht an.

„Und mich unbewusst verwandle“, folgerte er. Einen kurzen Seitenblick auf ihn werfend, antwortete ich.

„Das wird nicht passieren“, widersprach ich leise, aber überzeugt. „Und wenn doch, dann wecke ich dich auf“, fügte ich notgedrungener Weise hinzu; damit würde ich bei ihm vermutlich mehr Erfolg haben.

„Wie kommst du darauf, dass es nicht passieren wird?“, wollte er monoton wissen. Diesmal sah ich ihn ganz bewusst an. Seine Miene war ein perfektes Pokerface. Ich verzog ein wenig das Gesicht; ich mochte es nicht, wenn er so gefühlskalt aussah.

„Weil du dich nie unbewusst in einen Löwen verwandelst, wenn du neben mir schläfst“, erklärte ich seufzend. „Eher umgekehrt.“ Meine Augen fanden seine. Helles Grau blitzte verstehend auf. „Ist dir das noch nie aufgefallen?“, fragte ich leise.

„Bis jetzt nicht“, gab er ehrlich zu. Nachdenklich runzelte er die Stirn.

„Keine Sorge, ich habe auch lange gebraucht, um darauf zu kommen“, versicherte ich ihm. „In der Regel nehme ich es gar nicht richtig wahr, in welcher Form du bei mir bist. Aber seit einiger Zeit, da…“ Ich sprach nicht weiter. Meine Wangen färbten sich rosa. Plötzlich lagen seine Lippen zärtlich auf den meinen. Nur sehr kurz. Aber es reichte, um meinen gesamten Körper in Aufruhr zu bringen.

„Ich verstehe“, erklärte er ruhig und stand auf. „Gute Nacht.“

„Warte!“, rief ich vollkommen überrumpelt. Beinahe wäre ich aus dem Bett gesprungen, und ihm hinterher. „Sind wir nicht zu der Übereinkunft gekommen, dass du ohne Bedenken hier schlafen kannst?“ Hoffnungsvoll sah ich ihn an. Er lachte leise, - rau und sexy.

„Nein, Emma“, berichtigte er mich, schon halb in der Tür stehend. „Immerhin ist der Hauptgrund, dass ich jetzt nicht bei dir sein sollte der, dass ich mich gerade nicht sehr unter Kontrolle habe. Und deiner letzten Aussage zu Folge, kann ich auch von dir keine sonderlich große Selbstbeherrschung erwarten. Demnach, gute Nacht.“

Sprachlos sah ich zu, wie er die Tür hinter sich schloss. Wie erstarrt saß ich da, und konnte keinen Muskel rühren. Erst nach einigen Minuten erwachte ich aus meiner Starre, zog mir das weiße Leintuch über den Kopf und schloss die Augen.

„Gute Nacht, Silvan“, murmelte ich in die Dunkelheit. Ich wusste, er würde es hören.

Kapitel 36

Bürgerliches Gesetzbuch zur Handhabung Hunimals

[BGZH] Paragraf 42, Abschnitt 3

 

Sowohl das Halten eines zweiten Hunimals, als auch das Teilen einer Kreatur, ist strengstens und unter Strafe verboten; derlei Regelverstöße kann einem Menschen im schlimmsten Fall das Recht auf den Besitz von auch nur einem Hunimal kosten()…

 

 

Als ich am nächsten Tag aufwachte, war es schon später Vormittag. Sofort sprang ich aus dem Bett. Mein erster Gedanke war, dass ich Silvan suchen musste. Mein beinahe panischer Herzschlag beruhigte sich erst, als ich ihn gefunden hatte.

Er war wieder im Wald gewesen.

Mich hatte plötzlich eine wahnsinnige Angst übermannt, er könnte für immer verschwunden sein. Ich wusste, es war Unsinn, aber es ließ mir keine Ruhe, bis ich ihn sehen, und in seine vertrauten Augen blicken konnte.

„Gut geschlafen?“, erkundigte er sich, und bei seinem beiläufigen Tonfall fiel mir ein riesen Stein von Herzen. Ich nickte leicht.

„Ja, danke“, bestätigte ich ihm schnell. „Du auch?“, erkundigte ich mich ein wenig peinlich berührt; wenn ich nicht wäre, hätte er im weichen Bett schlafen können.

„Ich kann überall gut schlafen“, versicherte er mir lächelnd. Ich wandte den Blick ab. „Frühstück?“, fragte er wieder. Ich nickte bloß, ohne ihn anzusehen. Während dem Essen und einer Tasse Tee erklärte er mir, was wir heute vorhatten.

„Ich möchte dir gerne ein paar Freunde von mir vorstellen“, erzählte er im beiläufigen Tonfall.

Ich verschluckte mich an meinem Früchtetee, und begann mehrmals zu husten. Er wartete mit seinen weiteren Erklärungen, bis ich wieder einigermaßen Luft bekam.

„Die letzten Monate habe ich sehr viel Zeit mit ihnen verbracht. Deshalb würde es mich sehr freuen, wenn du versuchen würdest, ihnen gegenüber unvoreingenommen zu sein. Sie sind meine Familie.“ Ernst sah er mich an, und ich nickte einfältig, - zu geschockt, um ein vernünftiges Wort raus zu bekommen. „Aber bevor du sie wirklich kennen lernst, muss ich dir erst eine Geschichte erzählen.“ Ich umfasste die Tasse in meinen Händen, als würde sie mir Halt geben.

„Ich bin ganz Ohr“, versicherte ich ihm ernst. Er straffte sich, und begann dann in seinem üblichen, neutralen Tonfall zu erzählen.

„Vor etwa zwanzig Jahren, war die Bevölkerung mehr denn je geteilt, was die Existenz der Hunimals anbelangte. Verschiedenste Fälle, in denen von Gewalttaten Hunimals gegenüber Menschen berichtet wurden, machten die Runde, und verbreiteten sich im ganzen Land, wie ein Lauffeuer. Der Hass gegen Hunimals erreichte bald seinen Höhepunkt, sodass die Lage für die gesamte Bevölkerung unerträglich wurde, - nicht nur für die Hunimals, sondern auch für die Menschen. Ein geheimer Bund zum Schutz der Hunimals wurde gegründet: die >>Walker<<.“ Abwartend sah er mich an, musterte mein Gesicht, ob ich auch gut aufpasste. „Angelehnt an den Namen Skin-Walker, was so viel heißt, wie Gestaltwandler. Vielleicht hast du schon einmal von der >>Blauen Revolution<< gehört. Sie waren es, die vor nicht einmal zwanzig Jahren versucht hatten, das Königshaus auf die Missstände im Land aufmerksam zu machen, und die dafür zu hunderten aus dem Land verjagt oder ermordet wurden.“ Kalt blickten mich Silvans Augen an, aber ich wusste, dass der Hass in ihnen nicht mir galt.

„Ein junger Mann“, erzählte er weiter. „Aus der Mittelschicht, - ein im Grunde vollkommen normaler, unauffälliger Mensch, - half beim Aufbau des Bundes, und riskierte mit seinem Einschleichen ins Parlament wiederholt sein Leben für Informationen, die dem Bund und ihren Mitgliedern in nur irgendeiner Weise hilfreich sein konnten. Sein Name war John Thiel. Manchmal wurde er dabei von seinem besten Freund begleitet, den Mann, der ihn überhaupt erst zu seiner Mithilfe ermutigt hatte.“ Sein Blick wurde sanft. „Emma, ich spreche von deinem Vater“, erklärte er sanft. Geschockt sah ich ihn an.

„Mein Vater… war Mitglied bei der Organisation, die versucht hat, die Regierung zu stürzen?“, brachte ich atemlos hervor.

„Es war weniger ein Umsturzversuch, als der Versuch, die bereits bestehende Regierung von der Notwendigkeit einer Änderung zu überzeugen“, meinte er ausweichend. „Aber ja, dein Vater war dabei.“ Fassungslos sah ich ihn an.

„Aber jetzt nicht mehr?“, erkundigte ich mich vorsichtig, plötzlich verunsichert. Der Gedanke, mein Vater könnte sich seit Jahren dermaßen in Gefahr begeben, jagte mir eine riesen Angst ein. Silvans Miene wurde wieder monoton.

„Nein“, bestätigte er ernst. Erleichtert atmete ich aus. „Spätestens nach deiner Geburt, hat er endgültig aufgehört. Und vor allem nach seiner schwerwiegenden Verletzung bei dem Anschlag…“

„Schwerwiegenden Verletzung?“, fragte ich überrascht nach. „Was genau m…“ Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. „Nein!“, schrie ich geschockt, und stand auf. „Nein, das… er hatte einen Unfall in der Werkstatt“, versuchte ich zu überzeugen, - ihn oder mich konnte ich nicht sagen. „Es war ein Unfall beim Holzarbeiten… die Kreissäge, sie… ich weiß noch, wie er mir davon erzählt hat. Es…“ In meinem Kopf drehte sich alles. Aber irgendetwas sagte mir, dass Silvan Recht hatte. Mein Vater war nie und nimmer so ungeschickt, sich beim Holzarbeiten einfach den Fuß…

„Ganz ruhig“, erklärte Silvan, und zog mich betont vorsichtig in seine Arme. „Das ist lange her. Alles ist gut.“ Haltsuchend lehnte ich den Kopf an seine Brust, und versuchte, mich wieder einigermaßen zu beruhigen. Sanft strich er über mein Haar. Seinem Herzschlag lauschend, nahm auch meiner langsam wieder ein gemäßigteres Tempo an, sodass ich mich wieder von ihm lösen konnte.

„Das war aber noch nicht das Ende der Geschichte, oder?“, erkundigte ich mich bei ihm, während ich mich zwang, ein gespielt fröhliches Gesicht aufzusetzen. In Gedanken versunken, hob er eine Hand und fuhr kaum merklich über meine Lippen. In meinem Bauch begann es zu ziehen, und mit großen Augen sah ich ihn an.

„Du musst dich nicht zu einem Lächeln zwingen“, versicherte er mir leise; seine Stimme klang rau. „Hier draußen befinden sich nur wir beide. Und um meinetwillen musst du mir nichts vorspielen.“ Ich antwortete nicht, - sah ihn einfach nur weiter an, bis er die Hand wieder runter nahm, und einen Schritt zurück machte. „Möchtest du jetzt den Rest der Geschichte hören?“ Ich nickte bloß, und setzte mich neben ihn zurück auf meinen Stuhl.

„Dieser Freund deines Vaters“, fuhr er ruhig fort, und drückte mir erneut eine Tasse Tee in die Hand. „John Thiel. Er war… ein sehr wichtiger Informant für die >>Walker<<. Da er oft im Parlamentsgebäude war, bekam er auch mit, wie die Silberkrone“, - das letzte Wort sprach er voller Verachtung aus, - „Wie dessen Mitglieder ihre Hunimals behandelten. Du weißt, dass diese ausschließlich aus Weißen Löwen bestehen?“

Die Silberkrone war so etwas, wie die selbst ernannte Regierung des Staates. Sie stellten nicht nur die Gesetzte auf, sie sorgten auch dafür, dass diese eingehalten wurden. Jeglicher Regelverstoß wurde hart bestraft. Besonders in den eigenen Reihen.

Es war so gut wie unmöglich, als Außenstehender an sie ran zu kommen. Viele in der Bevölkerung zweifelten sogar immer noch an ihrer Existenz. Nur gelegentlich tauchten Bilder von Menschen in weißen Anzügen auf, - mit einem angeketteten Hunimal an ihrer Seite mit derselben Haarfahre.

„Ja“, bestätigte ich langsam.

„Hast du dich jemals gefragt, wie es dann kommt, dass ich, - obwohl einer von ihnen, - hier bei dir bin?“, erkundigte er sich weiter. Nervös starrte ich auf meine Hände.

„Gelegentlich“, gab ich leise zu. „Aber da weder du noch Dad das Thema zur Sprache brachten, hielt ich es für besser, nicht allzu genau nachzufragen.“ Skeptisch hob er eine Augenbraue.

„Ach, tatsächlich?“ Seinem Ton nach zu urteilen, war er alles andere als überzeugt.

„Mhm“, bestätigte ich meinerseits nicht gerade glaubhaft. Er lachte leise.

„Aber wie dem auch sei“, beendete er die Fragerei, - jedenfalls fürs erste. „Eines Tages, als John Thiel wieder mal im Parlament war, bemerkte er eine verletzte, junge Frau. Sie war mit Handschellen an einen Heizkörper gekettet, und ihre Arme und Beine zierten blaue Flecken. Ihre Haare waren schneeweiß, und verrieten ihm sofort ihre Herkunft. Aber das Erstaunlichste an ihr war: Sie war allein.“ In Silvans Augen trat ein Funkeln. „Er hatte noch niemals die Gelegenheit gehabt, sich mit einem Weißen Löwen zu unterhalten. Für gewöhnlich, ließen deren Besitzer sie nicht einen einzigen Moment aus den Augen. Die Gelegenheit nutzend, stellte er sich ihr vor. Ihr Name war Rosemarie. Und als er den Kampfgeist in ihren eisblauen Augen sah, versprach er zurückzukehren, und sie zu befreien.“ Er stoppte. Neugierig sah ich ihn an.

„Hat er?“, erkundigte ich mich interessiert. Silvan lachte leicht auf, - es hörte sich nicht sehr glücklich an.

„Ja“, gab er melancholisch zu. „Das hat er.“ Er verbarg sein Gesicht an seinem Arm.

„Hätte er das lieber nicht tun sollen?“, fragte ich vorsichtig, - verwirrt von seiner seltsamen Reaktion. Er schüttelt den Kopf und sah auf. In seinem Blick lag etwas Entschuldigendes.

„Es wäre für alle Beteiligten vermutlich besser gewesen, er hätte sie niemals kennen gelernt“, offenbarte er leise.

„Warum?“, fragte ich verständnislos. Geschlagen sah er mich an.

„Die beiden verliebten sich in einander“, erklärte er; der sich auf uns bezogene Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören. Meine Hände begannen zu zittern, und mir war, als lege sich eine kalte Hand um mein Herz. Ich atmete tief durch, um mich zu beruhigen.

Das hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Es war nur eine Geschichte. Ich interpretierte da unnötig viel hinein.

„Aber das ist doch schön“, versuchte ich ihn mit schwacher Stimme zu überzeugen.

„Nein, Emma“, wiedersprach er monoton. Mein Herzschlag beschleunigte sich. „Es war ihr Ende.“ Er stoppte kurz. „Sie hat die Silberkrone zum Versteck der >>Walker<< gebracht“, erklärte er. „Nicht absichtlich. Aber das ändert nur wenig an der Tatsache, dass unzählige Hunimals getötet, und mehrere Menschen als Gefangene genommen wurden. John Thiel und deinem Vater gelang es zu flüchten, - wenn auch schwerverletzt. Rosemarie hatte weniger Glück.“ Ich musste schlucken.

„Ist sie…?“, begann ich heißer, ohne den Satz zu Ende zu sprechen.

„Nein“, berichtigte er mich, mit seinen Augen den Boden musternd. „Aber sie war jetzt wieder in den Händen des Tyrannen, vor dem sie geflüchtet war. Doch die Umstände hatten sich verändert. Die vergangene Zeit in Freiheit hatte sie gezeichnet. Sie war nicht mehr bereit, sich dem Willen und der Laune anderer zu beugen.“

„Eine starke Frau“, murmelte ich. Überrascht sah er mich an.

„Das war sie. Mutig und unbeugsam. Solange bis sie feststellte, dass sie schwanger war.“ Überrascht schnappte ich nach Luft.

„S-Silvan, diese G-Geschichte…“, sagte ich kaum hörbar. „Diese Frau… Rosemarie. War sie… also ich meine, war sie deine Mutter?“ Gespannt sah ich ihn an.

„Ja“, erklärte er dann ernsthaft.

„Das bedeutet, du bist-“

„Halb Mensch, halb Hunimal“, vervollständigte er meinen Satz.

Fassungslos sah ich ihn an. Musterte sein wunderschönes Gesicht. Seine viel zu menschlichen Züge. Seine eisblauen Augen. Seine weiß-schwarzen Haare. Er war immer schon anders gewesen; dessen war ich mir bewusst. Aber wie anders, war mir schlicht weg ein Rätsel geblieben.

Wie hatte mir seine wahre Herkunft bloß so lange verborgen bleiben können?

„Aber wie kommt es, dass du dann nicht bei deiner Familie bist?“, fragte ich schweren Herzens.

„Das bin ich doch“, widersprach er sanft, und strich mir eine braune Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Du weißt, was ich meine“, erklärte ich leise. Seufzend nahm er seine Hand wieder runter.

„Sie ist gestorben“, sagte er dann möglichst unbeteiligt. „Bei dem Versuch, mich zu beschützen. Mein Vater war seit dem Anschlag untergetaucht. Niemand hatte etwas von ihm gehört, oder wusste, ob er überhaupt noch am Leben war. Über mehrere Umwege bin ich dann irgendwie in die Hände von Jules gelangt. Dein Vater wollte mich solange bei sich verstecken, bis er mich meinem anvertrauen konnte.“

„Wozu es nicht kam“, stellte ich monoton fest. Er lächelte schwach.

„Nicht sofort“, stellte er klar. Überrascht starrte ich ihn an. „Nach ein paar Jahren ist er plötzlich wieder bei deinem Vater aufgetaucht, sprach davon, die alte Organisation zum Schutz der Hunimals wieder aufzubauen, und dass er seine Unterstützung dafür wollte.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. „Er wusste nichts von meiner Existenz. Nur von Rosemaries Tod.“

„Und dennoch“, platzte es aus mir heraus. „Bist du geblieben.“

„Natürlich“, erwiderte er. „Ihr wart meine Familie. Außerdem…“ Seine Stimme senkte sich zu einem verführerischen Flüstern. „…wusste ich schon damals, wie hübsch du werden würdest. Wäre ich nicht bei dir geblieben, hätten sich die Verehrer scharenweise auf dich gestürzt.“ Peinlich berührt lief ich rot an, und schlug ihm tadelnd gegen seinen Oberarm.

„Sehr witzig“, brachte ich nicht gerade geistreich heraus, und fuhr mir mehr als unbehaglich durchs Haar. Er nahm meine Hand in seine, und küsste sie. Erschrocken hielt ich die Luft an.

„Das war kein Scherz“, erklärte er ernst, und sah mir in die Augen. „Ich mag damals noch ein Kind gewesen sein, aber selbst da wusste ich schon, dass ich mein Leben an deiner Seite verbringen möchte.“ Mein Herz klopfte mir bis zum Hals, und das enorme Glücksgefühl, das mich durchströmte war schlicht unbeschreiblich.

„Dafür hast du mir deine Eroberung aber äußerst schwer gemacht“, bemerkte ich leicht skeptisch. Ein ersticktes Lachen entkam mir, als er abermals seine Lippen an meinen Handrücken presste.

„Es war genau umgekehrt“, berichtigte er mich höchst verführerisch, - seine Mundwinkel immer noch an meiner Hand.

Plötzlich hielt er inne. In seinen grauen Augen blitzte es, als wäre ihm eine Idee gekommen. Ehe ich mich versah, hatte er mich auch schon sanft, zugleich aber auch bestimmt, von meinem Sessel hochgezogen, gedreht, und in seine Arme gezogen. Ich saß buchstäblich auf seinem Schoß und stieß mit dem Rücken gegen seine harte Brust. Mein Herzschlag beschleunigte sich auf ein beinahe beunruhigendes Tempo. Seine Arme umschlangen mich, als wollten sie mich davor bewahren, davon zu rennen. Das letzte, woran ich gerade dachte.

Du hast es mir schwer gemacht, mich von dir fern zu halten“, erklärte er mit rauer Stimme. Bei jedem Wort berührten seine Lippen mein Ohr, verursachten heiße Schauer auf meinem gesamten Körper.

„Warum. Wolltest. Du. Das. Überhaupt?“, fragte ich beinahe unverständlich. Das Ziehen in meinem Magen wurde immer stärker. Er lachte leise an meinem Ohr. Ich konnte ein aufgeregtes Zittern kaum unterdrücken.

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich mein Leben an deiner Seite verbringen möchte, - nicht hinter dir, versteckt im Schatten“, berichtete er zärtlich, und sein Mund wanderte zu meinem Hals. Meine Augen schlossen sich. „Solange die Lage ist, wie sie ist, werden wir nie wirklich zusammen sein können“, grollte er. Seine Lippen zeichneten eine heiße Spur auf meinem Körper. Ich bekam eine Gänsehaut. „Alles was ich tue, tue ich aus diesem einen Grund“, murmelte er weiter an meiner Haut. „Um mit dir zusammen sein zu können.“ Seine Hand wanderte runter an meinen Oberschenkel. Ich stieß überrascht die Luft aus. Er lachte leise.

„Aber soll ich dir ein Geheimnis anvertrauen?“, raunte er, während sein Mund an meiner Kehle nach oben an meine Wange wanderte. Er wartete meine Antwort erst gar nicht mehr ab. „Wenn ich dir zu nahe bin, kann ich kaum klar denken“, gestand er leise.

Sein Mund war nur noch wenige Zentimeter von meinem Zitternden entfernt. Ich war kurz davor den Verstand zu verlieren. Währenddessen begann seine Hand, die eben noch auf meinem Oberschenkel lag, sanft über meinen Körper zu streichen, während mich die andere sicher fest hielt. Was vermutlich ganz gut war, denn ich hatte nicht das Gefühl, mich ohne ihren bestimmten Griff auf dem Stuhl halten zu können.

„Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich will“, raunte er erregt, als sein Mund endlich auf meinem landete. In dem Kuss lag wenig Zärtlichkeit oder Zurückhaltung, - sie waren gänzlich aufgebraucht. Vielmehr war es ein Gemisch aus Leidenschaft und überfällige Gier.

Ich stöhnte, und er drehte meinen ganzen Körper in seinen Armen, - als wäre es eine Leichtigkeit, - sodass ich mit dem Gesicht zu ihm saß. Meine Beine um ihn und den Sessel schlingend, saß ich jetzt halb aufrecht auf seinem Schoß und krallte meine Hände in sein Haar, um ihn, - wenn möglich, - noch näher zu mir ran zu ziehen.

Seine Lippen nahmen mich gänzlich in Beschlag. Ich bekam kaum noch Luft, aber das war es mir wert. Erst, als seine Hände an meinen Hintern wanderten, und mich zum wiederholten Aufstöhnen brachten, riss ich meine heißen Lippen notgedrungen von ihm los, um einmal tief Luft zu holen. Daraufhin wanderte sein Mund einfach weiter nach unten, zu meiner Halsbeuge.

Wäre ich auch nur halbwegs bei Verstand gewesen, hätte mich die Tatsache, dass ich die einzige war, die kurz vor dem Ersticken war, fürchterlich frustriert. Doch so war ich viel zu berauscht, als an irgendetwas anderes zu denken, als an Silvan erregt unter mir, und seinen heißen Mund auf meiner nackten Haut.

„Sag mir, dass du mich willst“, forderte ich stöhnend. Er hielt kurz inne, und sah mir dann ernst in die Augen. Flüssiges Silber blitzte mir entgegen.

„Ich will dich“, erklärte er fest; seine Stimme klang entschlossen. „Und das jeden Tag ein Stück mehr.“ Seine Hand wanderte an meine Wange. „Nur um ganz sicher zu gehen… Willst du mich auch?“ Am liebsten hätte ich bei dieser absurden Frage laut losgelacht, aber seine Augen musterten mich so ernst, dass mir das Lachen im Hals stecken blieb. Mit trockener Kehle schluckte ich.

„Da fragst du aber reichlich früh“, erwiderte ich ausweichend; die Nervosität in meiner Stimme nahm meiner Aussage bedauerlicherweise jeglichen Sarkasmus.

„Emma“, drohte er düster, und ich musste schlucken.

„Ja“, erklärte ich rau, nachdem ich sämtlichen Mut aufgebracht hatte. Meine Augen fanden seine. „Ich will dich mehr, als du dir vielleicht vorstellen kannst“, gestand ich.

So sehr, dass es weh tat.

In seinen grauen Augen blitzte es. Sein Mund legte sich wieder auf meinen. Zuerst zärtlich, dann immer stürmischer. Meine Hände fanden ihren Weg unter sein T-Shirt, zogen am Stoff und fuhren gierig über seine nackte Haut. Er schauderte, und ich grinste siegessicher in unseren Kuss hinein. Als wollte er sich rächen, legte er seine Hand nahe an den Bund meiner Jeans.

Das Ziehen in meinem Magen nahm beinahe unerträgliche Ausmaße an. Seine Finger wanderten unter den Stoff; nicht weit, nur ein Stück. Nur soweit, dass ich nicht aufhören konnte, daran zu denken, was wäre, wenn er sie nicht ein wenig tiefer wandern ließe…

Doch er ließ mich warten. Absichtlich. Aber das Spiel konnte ich auch.

Während ich stöhnend unseren Kuss vertiefte, wanderte meine rechte Hand betont langsam weiter nach unten zu seiner Hose. Im Gegensatz zu Silvan, ließ ich meine Hand nicht unter den Stoff wandern. Ich fürchtete, dass er sonst die Bremse ziehen könnte, und wieder damit anfing, dass wir >>vernünftig<< sein sollten. Wofür ich keinen Grund sah. Aber es würde auch so seinen Zweck erfüllen.

An seiner harten Mitte angekommen, wurde mein eben noch vorsichtiger Griff, alles andere als vorsichtig, - oder sanft. Überrascht keuchte er auf. Beinahe fasziniert beobachtete ich das sichtliche Erregen, welches sich auf seinem Gesicht widerspiegelte.

Mein Körper brannte, und meine Hand weigerte sich, von seiner empfindlichsten Stelle abzurücken. Immer wieder fuhr sie mit kreisenden Bewegungen darüber, während meine Augen genau beobachteten, wie seine die Farbe von flüssigem Silber annahmen. Er ließ ein animalisches Grollen von sich, dass mich beinahe schlagartig paralysierte, - und somit zum aufhören zwang.

„Übertreib es nicht, Emma“, warnte er mich mit rauer Stimme.

„Wieso nicht?“, erwiderte ich verständnislos, nahm die Hand aber wieder weg, und legte sie stattdessen an seinen muskulösen Bauch.

„Weil es nicht richtig wäre“, erwiderte er ernst. Meine Hand zog kleine Kreise auf seiner Haut.

„Fühlt sich das etwa falsch an in deinen Augen?“, erkundigte ich mich leise, und vermied es, ihn anzusehen.

„Du weißt immer noch nicht die ganze Geschichte“, erklärte er überzeugt; so hörte er sich immer an, wenn er versuchte, das Richtige zu tun.

„Nichts was du sagst, wird mich auch nur im Entferntesten davon überzeugen, dass das hier falsch sein soll“, stellte ich flüsternd klar. Er antwortete nicht.

Gerade wollte er seine Hand an mein Kinn legen, als mich ein surrendes Geräusch überrascht zusammenzucken ließ, und ihn dazu brachte, mitten in der Bewegung inne zu halten. Im nächsten Moment stand ich auch schon wieder auf den Füßen. Silvan vor mir, mich am Arm haltend, - beinahe stützend, - falls mir mein Gleichgewichtssinn wieder einen Streich spielen sollte. In seiner Hand lag ein kleiner, schwarzer Gegenstand.

„Ja“, sprach er in sein Handy; der raue Unterton in seiner Stimme war für einen Außenstehenden beinahe nicht wahrnehmbar. „Nein“, sagte er wieder. Sein Blick fiel eine Sekunde lang auf mich. „Wir sind in wenigen Minuten da“, entschied er dann monoton. Ich schluckte. Er legte auf, und sah mich mit unbewegter Miene an.

„Wer immer das auch war“, meinte ich gespielt locker. „Er hat ein verdammt schlechtes Timing.“ Silvans Mundwinkel zuckten.

„Ich werde es ihr ausrichten“, versprach er amüsiert.

Ihr?

Er wurde wieder ernst. „Wir sollten los“, verkündete er monoton. „Die anderen erwarten uns schon.“ Ich nickte leicht überfordert. Er öffnete zielstrebig die Tür und verließ den Wagen.

„Wenn du sagst, die anderen“, bemerkte ich, als ich ihm mit klopfendem Herzen folgte. „Dann meinst du die >>Walker<<“, mutmaßte ich. „Sie sind wieder da, richtig?“ Der kühle Wind wehte mir die Haare ins Gesicht.

„Falsch“, widersprach er, während er den Wagen verriegelte; es klang unpassend belanglos. „Sie waren nie weg.“ Ein wenig verdattert stand ich da, und wusste nicht ganz, was ich von all dem halten sollte. Er stellte neben mir einen schwarzen Rucksack ab.

„Und… was genau heißt das jetzt?“, erkundigte ich mich zögernd, während er sich wieder umdrehte, und hinter dem Wagen verschwand. Unsicher verschränkte ich meine Arme vor der Brust. In seiner Löwengestalt kam er wieder.

„Nur weil man etwas nicht sieht, heißt das noch lange nicht, dass es deswegen auch nicht existiert“, brummte er mit tiefer Stimme, und nickte mir auffordernd zu. „Wir müssen los.“ Schluckend nahm ich den Rucksack zu meinen Füßen, und kletterte dann mit Silvans Hilfe auf seinen Rücken. Die Wärme, die sein Körper ausstrahlte, bewahrte mich davor, vor Kälte zu zittern. „Nicht loslassen“, befahl er. Mein Griff in sein weiches, langes Fell wurde fester.

Es würde das letzte Mal in einer langen Zeit sein, dass ich seine Nähe auf diese Art und Weise spüren würde.

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Alle Rechte liegen bei mir.
Lektorat: Alle Rechte liegen bei mir.
Übersetzung: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 14.01.2014

Alle Rechte vorbehalten

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