Cover

Vorwort

 

 Tereza

I’ve got a person in my closet.
I’ve got a person in my closet.
I’ve. Got. A. Person. In. My. Closet!


Tangled (Rapunzel)

 

Kapitel 1

„Was meinst du mit: Sie ist weg?“, hörte ich meinen Vater fragen. Es war kurz nach Mitternacht und ich stand an der Küchentür und belauschte meine Eltern, die ein hitziges Gespräch führten.

„Sie ist weggelaufen“, antwortete meine Mutter laut und machte wilde Gesten mit den Händen. „Die Lehrer der Mangolia haben nur einen Zettel in ihrem Zimmer gefunden, auf dem sie erklärte, sie würde das Baby auf keinen Fall weggeben!“ Ich sah meinen Vater nach Luft schnappen.

„Was glaubt sie, wer sie ist? Marija ist siebzehn, sie kann kein Kind groß ziehen. Ich werde das nicht erlauben“, hörte ich meinen Vater wüten.

Er hatte Recht, meine Schwester war zu jung, um ein Kind groß zu ziehen, aber sie war auch noch nicht alt genug, um eines zu verlieren, - einmal davon abgesehen, das man das wohl nie war, - in beiden Fällen. Und wenn Marija entschlossen war, es zu behalten, dann hatten unsere Eltern doch gar kein Mitspracherecht, oder? Ich meine, es war ihr Baby, und wenn sie es nicht weggeben möchte, dann…

„Wo ist sie?“, hörte ich meinen Vater weiter wüten, und ich zog den Kopf ein, so sehr erschreckte mich sein Gebrüll. Es war lange her, dass er so viele Emotionen zeigte.

„Wieso fragst du mich das, ich weiß es nicht“, erwiderte meine Mutter und rückte ihre Frisur zurecht, als sie ihm anwies: „Und jetzt beruhige dich, bevor uns die Nachbarn hören. Muss ja nicht jeder wissen, was unsere älteste Tochter so treibt.“ Sie atmete einmal tief durch, und auch mein Vater schien sich langsam zu beruhigen; das Argument mit den Nachbarn schien seine Wirkung zu erzielen. „In den Brief, den sie hinterlassen hat stand außerdem, dass sie zu Polizei geht, wenn wir sie wirklich zwingen würden, ihr Baby wegzugeben. Kannst du dir diesen Skandal vorstellen? Die Angelegenheit ist so schon peinlich genug. Unsere unverheiratete, minderjährige Tochter schwanger von irgendeinem dahergelaufenen Bastard, und dann auch noch die Schlagzeilen über die schrecklichen Eltern, die ihre Tochter nicht im Griff haben und herzlos wie sie sind, sie zu Handlungen zwingen, die sie gar nicht möchte! Herzlos, herzlos wird man uns nennen! Das wir besser auf unsere Tochter hätten aufpassen sollen! Ich sehe jetzt schon das mitleidige Gesicht von Ms. Tito vor mir! Oh, nein! Nein, das dürfen wir nicht zulassen. Und dann deine Karriere! Wenn das die Öffentlichkeit erfährt, dann wirst du niemals Parlamentsvorsitzender! Oh, ich glaube ich falle in Ohnmacht…“

Meine Mutter war Vorsitzende im Damenclub und mein Vater Mitglied des Parlaments. Seit einiger Zeit ging sogar das Gerücht um, man würde meinen Vater sogar als Vorsitzenden in Betracht ziehen. Woher ich das wusste? Meine Mutter prahlte seit Wochen damit vor unserer Nachbarin, auch wenn sie es ihr jedes Mal erzählte, als wäre es ein großes Geheimnis. Als würde sie nicht wissen, wie schnell sich solche Neuigkeiten verbreiteten…

„Dein hysterisches Verhalten hilft uns jetzt auch nicht weiter“, sagte mein Vater hart. Auf einmal war er derjenige, der viel ruhiger war. „Und was Marija betrifft, so gebe ich ihr noch eine letzte Chance.“ Sein Tonfall ließ mich alarmiert  aufhorchen. „Entweder sie gibt es weg und kommt zurück und spricht nie wieder zu irgendjemanden ein Wort von allem, oder aber sie ist ab sofort kein Teil der Familie mehr!“ Ich hielt die Luft an. Nein!

„Das… Das kannst du nicht ernst meinen“, stotterte meine Mutter überrascht. Ja, sie war wütend und überrascht, aber diese Aussage schien ihr doch einen gewaltigen Schlag zu versetzen. Im selben Moment, in dem sie meinen Vater noch geschockt angesehen hatte, wechselte ihre Miene auch schon wieder zu einer kontrollierten Maske; sie hatte mir einmal erklärt, dass es schwach war, anderen seine Gefühle zu zeigen. Und in der heutigen Zeit konnte es sich eine Frau nicht erlauben schwach zu sein, am wenigsten vor ihrem Ehemann.

„Ich meine das todernst. Finde raus wo sie sich aufhält, - am wahrscheinlichsten bei diesem Schwein von Benjamin, - und rede mit ihr, lass ihr eine Nachricht überbringen, es ist mir egal, wie du es machst. Sag ihr, sie gibt das verdammte Ding zur Adoption frei, oder aber sie ist für uns gestorben.“

„Für mich nicht“, rief ich aus. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich einen Schritt nach vorne und auf meine Eltern zu gemacht hatte; zwei harte Gesichter sahen auf mich herab. Ein wenig eingeschüchtert über ihre Blicke, fügte ich hinzu: „Ich meine, ja, Marija hat einen Fehler gemacht. Einen großen, das gebe ich gerne zu. Aber sie ist doch bereit dafür einzustehen, und…“

„Geh ins Bett, Tereza“, unterbrach mich mein Vater hart.

Ich dachte gar nicht daran und sprach einfach weiter. „Und das ist doch sehr mutig von ihr. Ich bewundere es sogar.“ Die Gesichtsfarbe meines Vaters wandelte sich von normal blass bis zornesrot. „Und in wenigen Wochen wird sie achtzehn“, versuchte ich es anders. „Dann ist sie erwachsen, eigenberechtigt und kann tun was sie will. Sie hat alles Recht, das Baby zu behalten, wenn sie es möchte. Es ist, - wie ihr schon gesagt habt, - ihr Baby. Und sie wird auch immer Teil dieser Familie bleiben! So etwas kann man nicht einfach ändern, egal ob man es will oder nicht. Außerdem…Wollt ihr mir wirklich meine einzige Schwester nehmen?“, versuchte ich es anders, als das Gesicht meines Vaters immer kälter wurde. Ich sah flehend zu meiner Mutter und fuhr fort: „Die einzige richtige Freundin die ich je hatte, weil man es mir nicht erlaubt hat, mit anderen Kindern zu spielen? Weil ihr es nicht erlaubt habt?“ Ich war am Verzweifeln. Wenn mein Vater das ernst meinte…

„Tereza, geh sofort auf dein Zimmer!“, befahl mein Vater wieder hart und ich sah nun aufgeschreckt wieder zu ihm.

„Nein“, erwiderte ich kleinlaut. Tränen sammelten sich in meinen Augen.

„Auf dein Zimmer, Fräulein. Aber sofort“, schrie er mich an; so emotional hatte er noch nie mit mir geredet. Die Tränen in meinen Augen liefen langsam über, und weil ich vor meinen Eltern keine Schwäche zeigen wollte, tat ich wie mir befohlen und rannte in mein Zimmer und schlug die Tür zu. Ich warf mich aufs Bett und heulte und heulte, bis ich schließlich erschöpft in einen tiefen Schlaf fiel.

Am nächsten Tag wurde ich zum Einzelkind erklärt. Am liebsten hätte ich mich den ganzen Tag aus Protest in meinem Zimmer eingeschlossen, aber meine Eltern schienen meine Absicht bemerkt zu haben, und nahmen mir heimlich meinen so ersehnten Zimmerschlüssel wieder weg, den ich vor nicht einmal einem halben Jahr großzügig zu meinem vierzehnten Geburtstag geschenkt bekommen hatte, und schickten mir wie jeden Morgen unser Dienstmädchen Ramona in mein Zimmer, die nicht eher nachließ, als das ich aufgestanden war, und sie nach unten begleitet hatte.

Das Frühstück verlief kalt und schweigsam, - also so wie immer. Und es wurde auch nicht besser beim Mittagessen; ich bekam kaum einen Bissen hinunter, und schwieg meine Mutter trotzig an, als sie mit mir über die Schule plaudern wollte, als wäre überhaupt nichts gewesen.

„Ich hab keinen Hunger mehr“, verkündigte ich bloß leise und erhob mich ohne einem von ihnen in die Augen zu sehen, und machte mich im Laufschritt in mein Zimmer auf.

Das Abendessen würde ich mir sparen, dachte ich mit Tränen der Wut in den Augen. Doch so weit, kam es gar nicht, denn zehn vor halb sieben, - kurz vor unserer übliche Zeit zum Abendessen, - klopfte es plötzlich an meiner Zimmertür und meine Mutter trat langsam ein. Ohne ein Wort setzte sie sich zu mir aufs Bett. Sie hatte sich schon für das Abendessen zu recht gemacht: Sie trug ein cremefarbenes, elegantes Kleid, ihre kastanienbraunen Haare hatte sie streng hochgesteckt und ihre Augenpartie leicht geschminkt. Ich konnte mich nicht erinnern, meine Mutter jemals mit Lockenwicklern oder ähnlichem im Haus rumlaufen gesehen zu haben. Im Gegensatz zu ihr, hatte ich mich noch nicht extra umgezogen, und ich würde es auch nicht tun; ich würde heute überhaupt keinen Fuß mehr nach unten in unser Esszimmer setzen!

„Schatz, dein Vater und ich haben letzte Nacht noch lange geredet“, begann meine Mutter und sah mich gespielt verständnisvoll an. Oder aber sie verstand mich wirklich, und konnte es mir nur nicht vermitteln. Es wirkte nur so unecht… und gezwungen. Die Ehe meiner Eltern war niemals gut verlaufen, - die Stimmung in unserem Zuhause war immer kalt und ernst. Einzig meine große Schwester Marija brachte Lachen und Freude ins Haus, - und auch wenn sie oft genug das Gegenteil bewirkte, so war ich ihr doch immer dankbar für jede Gefühlsregung, die sie bei unseren Eltern hervorrief, - denn diese Gefühle waren wenigstens immer echt.

Mein Vater war reich und erfolgreich, meine Mutter schön und bekannt, - das war ihre Welt. Seit ich mich zurück erinnern konnte, bauten sie sich dieses kleine, perfekte Welt zusammen, und ich fühlte mich in dieser verlogenen Welt so verloren und einsam, dass ich Stunden und Tage damit verbrachte, mich in meinem Kleiderschrank zu verstecken, den Kopf zwischen meine Knie zu legen, und mir zu wünschen, endlich aus diesem Alptraum von Leben aufzuwachen.

„Wir haben gestern alle ein wenig die Fassung verloren und es tut deinem Vater leid, dass er das so an dir ausgelassen hat“, fuhr meine Mutter fort und einen Moment lang dachte ich, sie würde meine Hand in ihre nehmen, aber nichts geschah. Vorsichtig berührte sie ihre Hochsteckfrisur um sicher zu stellen, dass ihr braunes Haar immer noch an Ort und Stelle saß, und lies ihre Hand dann wieder in ihre andere sinken. Ich fühlte mich merkwürdig verlassen; man sollte meinen, dass man sich an dieses Gefühl der Einsamkeit irgendwann gewöhnen müsste, aber selbst wenn das im Allgemeinen so war, - so galt dies anscheinend nicht für mich.

Ein wenig wütend konnte ich mich des Gedankens nicht erwähnen, dass wenn es meinem Vater doch leid tat, warum war dann sie hier um für ihn zu sprechen, und nicht er selbst?

Meine Mutter tat so, als würde sie meinen wütenden Gesichtsausdruck nicht bemerken, und fuhr ganz normal fort: „Aber das ist ja jetzt Gott sei Dank alles geklärt. Wir müssen nicht mehr über diese ganze lästige Angelegenheit sprechen. Alles ist jetzt wieder in Ordnung. Nein, aber worüber ich gerne mit dir sprechen möchte, ist etwas anders, dass du gestern Abend noch erwähnt hast.“

Das… Ich… Sie… Alles geklärt… Lästige Angelegenheit… Noch etwas...? Meine Gedanken standen Kopf, so sehr hatte sie mich mit ein paar Sätzen verwirrt. Was meinte sie damit, dass nun alles geklärt war, wenn doch Marija nie wieder kommen würde? Wenn es in diesem Haus von heute an verboten war, auch nur über sie zu sprechen? Wie konnte das auch nur im Entferntesten in Ordnung sein?

„Du hast gesagt, wir hätten dir niemals erlaubt, Freunde zu finden“, sprach meine Mutter in einem für ihre Verhältnisse fast schon sanften Ton weiter. „Und du hattest Recht.“ Mutter gab mir normalerweise nie Recht. „Wir waren wirklich immer ein wenig zu vorsichtig, wenn es um dich ging.“ Irgendetwas war da doch faul. „Und deshalb haben dein Vater und ich beschlossen, dass wir dir nächste Woche gerne jemanden vorstellen würden.“

„Jemanden vorstellen?“, fragte ich ein wenig misstrauisch.

„Ja, Schatz. Du wirst sie mögen. Ihr seid beide im gleichen Alter, geht auf die gleiche Schule und wohnt in der Nähe“, begann meine Mutter die Vorteile aufzuzählen.

„Einen Moment mal“, unterbrach ich sie und hob abwehrend beide Hände hoch. „Wer ist sie, wenn ich mal fragen darf?“

Der Gesichtsausdruck meiner Mutter wurde noch weicher.

Da stimmt irgendetwas ganz und gar nicht!, dachte ich, als sie mir erklärte: „Ihr Name ist Lucija Tito, - du erinnerst dich? Ihr habt euch bestimmt schon das ein oder andere Mal kurz gesehen. Sie ist die älteste Tochter unserer Nachbarin.“

Ich nickte leicht. Lucija Tito. Ja, der Name sagte mir etwas. Ob ich sie kannte? Nein. Sie war ein Mädchen etwa in meinem Alter, hatte lange schwarze Haare und hellblaue Augen. Ich hatte sie ab und zu wirklich schon das ein oder andere Mal kurz gesehen, aber nicht lange genug, um mir eine wirkliche Meinung über sie machen zu können.

Sie war die älteste Tochter von Ms. Tito, - einem nicht besonders wichtigem Mitglied in ihrem Damenclub, wie meine Mutter manchmal abschätzend zu mir zu sagen pflegte, jedes Mal wenn uns die etwas molligere Dame über die Straße hinweg zuwinkte, während meine Mutter ihr ein breites Lächeln schenkte. Aber Lucija? Sie war so ganz anders als ihre Mutter, erinnerte ich mich. Wirkte immer beschäftigt und erwachsen, jedes Mal, wenn ich sie traf. Sie war ohne Zweifel sehr klug und nicht so kindlich, wie so viele andere Mädchen in ihrem Alter, - in unserem Alter. Schade eigentlich.

Ich erinnerte mich noch besonders gut an diesen einen Blick, mit dem sie meine Mutter angesehen hatte. Fast schon… bewundernd. Mir lief es kalt den Rücken runter. Wenn sie wüsste, wie sehr ihr Blick dem meiner Mutter manchmal ähnelte… So scheinheilig und falsch. Verlogen. Als würden ihre Aussagen im genauen Gegenteil zu ihren eigenen Gedanken stehen. Und dieses Mädchen sollte meine beste Freundin werden? Ich bezweifelte, dass so etwas auch nur im Entferntesten in ihrem Interesse lag. Andererseits… vielleicht wollte sie auch einfach meiner Mutter, - ihrem großen Idol, - näher kommen. Ich wusste es nicht. Und es stand mir auch eigentlich nicht zu, vorschnell zu urteilen. Denn wie gesagt, ich kannte sie nicht. Es wäre unfair, ihr Dinge nachzutragen, die sie nicht ein einziges Mal ausgesprochen hatte. Aber dennoch… bleib ich misstrauisch. Aber wer konnte mir das auch verübeln?

„Ich habe sie nächste Woche zu uns zum Abendessen eingeladen“, erläuterte meine Mutter ihren Plan. „Und wenn ihr euch gut versteht, dann ist sie auch herzlich eingeladen, wieder zu kommen.“ Sie stand von meinem Bett auf und lächelte mich auffordernd an. „Und jetzt geh dich umziehen, Kleines. So will ich dich da unten nicht erscheinen sehen. Eine Frau muss immer perfekt aussehen, auch wenn es Mal niemand sieht.“ Und schon war sie zur Tür raus, und mich sprachlos zurücklassend.

Aufgewühlt suchte ich mir eines meiner wenigen Kleider raus, von dem ich wusste, dass es meiner Mutter nicht sonderlich gefiel, sie es aber duldete, und machte mich dann seufzend auf den Weg nach unten.

 

Kapitel 2

Wenige Tage später, hatte meine Mutter ihr Versprechen, - oder aber auch ihre Drohung, ganz wie man es sah, - wahrgemacht, und Lucija Tito zu uns zum Abendessen eingeladen. Ihr erster Eindruck war überwältigend und ganz anders als gedacht; ich bekam sofort Schuldgefühle, als ich daran dachte, wie falsch ich sie eingeschätzt hatte.

Denn Lucija, - Lucy, wie sie mich schüchtern lächelnd ausbesserte, - war freundlich, höflich und zuvorkommend. Sie sprach ganz selbstverständlich mit mir, als wären wir schon seit Ewigkeiten befreundet, und versuchte ihre Nervosität, - die sie mir nur noch sympathischer machte, - zu kaschieren, in dem sie es sich zur Aufgabe machte, sowohl meine Mutter, als auch mich gleichermaßen zu unterhalten und war mit ihren kleinen Geschichten keineswegs aufdringlich oder zu geschwätzig. Nein, sie schein genau das richtige Maß für alles zu finden, und am Ende des Abends hatte ich keinerlei Zweifel, dass wir schon bald richtige Freundinnen werden würden.

Ich hatte meine Schwester Marija und ihre Probleme noch nicht vergessen, aber zum ersten Mal seit viel zu lange schon, schlief ich mit einem guten Gefühl für den morgigen Tag ein. Denn Lucija sollte mich ab morgen zur Schule begleiten, - und auch wieder nach Hause. Begleiten. Zu Fuß.

War das nicht großartig, wunderbar, unglaublich und einfach nur der größte Wahnsinn überhaupt? Keine kalte Fahrt mit Ludwig, unserem Chauffeur, keine peinlichen Blicke meiner Mitschüler mehr, welche die schwarze Limousine mit großen Augen musterten, - das die nie müde wurden… - und endlich das Gefühl, ein Stück Normalität im Leben zu haben. Ich durfte zu Fuß zur Schule und auch wieder nach Hause gehen, und das ohne erwachsene Begleitung!

Ich war der Freiheit ein gutes Stück näher gekommen. Und das verdankte ich alles nur Lucy. Niemanden würde ich lieber dankbar sein, - niemanden lieber so etwas schulden.

Am nächsten Morgen konnte ich es gar nicht abwarten endlich aufzustehen um das Haus zu verlassen, - alleine, - und so war ich im Endeffekt fast eine halbe Stunde zu früh dran. Ich schlug mir die restliche Zeit tot, indem ich mich vor dem Spiegel musterte und mir dann, - ganz so, wie man es mir beigebracht hatte, - zwei Zöpfe in meine langen kastanienbraunen Haare machte, die ich von meiner Mutter geerbt hatte. Ansonsten sah ich ihr nicht sonderlich ähnlich, fand ich. Unsere Nachbarn und Bekannten waren da allerdings anderer Meinung. Ich schnitt eine Grimasse, als ich an eine meiner Tanten dachte, die mich am Telefon immer mit meiner Mutter verwechselte…

„Tereza“, hörte ich meine Mutter meinen Namen sagen. „Lucija steht vor der Tür. Versuch das nächste Mal pünktlich zu sein.“ Ich verdrehte die Augen über diese spitze Bemerkung und nach einem letzten Blick in den Spiegel und mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht wandte ich mich um und lief zur Tür. Nein, ich war ganz anders als meine Mutter, entschied ich, - äußerlich wie innerlich. Oder von wem hatte ich dann meine moosgrünen Augen? Niemand in meiner Familie den ich kannte hatte solche Augen, und so sehr ich mir auch manchmal wünschte, die gleichen rehbraunen Augen zu haben wie meine Mutter oder meine Schwester oder dieselben, tiefblauen Augen meines strengen Vaters, sosehr war ich doch manchmal auch froh, nicht allzu sehr nach ihnen geraten zu sein.

„Oh, Guten Morgen, Tereza“, begrüßte mich Lucy, und unterbrach damit taktvoll das Gespräch, welches sie offenbar mit meiner Mutter führte. Sie hatte ihre schwarzen Haare mit zwei weißen Spangen vorne aus dem Gesicht geklemmt, und sah mich fröhlich an. Ihre Schultasche war kein gewöhnlicher Rucksack, wie der vieler anderer Mädchen, nein, sie trug eine braune Umhängetasche und heilt einige Bücher im Arm. Ob ihre Tasche wohl nicht groß genug für die vielen Schulbücher war?

„Guten Morgen“, antwortete ich ein wenig schüchterner zurück und eine kleine Pause entstand. „Gut. Wir… Ähm, machen uns dann besser auf den Weg, - nicht, dass wir noch zu spät kommen. Auf Wiedersehen, Mutter“, verabschiedete ich mich höflich von ihr, wie ich es gelernt hatte.

„Auf Wiedersehen, Ms. Risa“, verabschiedete sich nun auch Lucy lächelnd von meiner Mutter. „Es war schön, Sie wiederzusehen.“

„Es hat mich ebenfalls gefreut, - du bist hier jederzeit erwünscht. Bis heute Abend“, erwiderte meine Mutter, wünschte uns noch einen schönen Tag und schloss dann die Tür hinter sich. Sobald unsere Tür ins Schloss fiel und meine Mutter im Gemäuer des Hauses verschwunden war, begann Lucy zu gehen. Und mit gehen, meinte ich, hetzen. Sie war schon fast an unserem Gartentor, als ich sie einholte, - und das wollte etwas heißen, bei der Größe unseres Vorgartens!

„Lucy“, sagte ich atemlos. „Warte auf mich. Wir haben doch noch Zeit, der Unterricht beginnt erst…“

„Sprich mich nicht an“, donnerte sie hart zurück und blieb kurz stehen, um mir einen ablehnenden Blick zuzuwerfen; ihre Augen waren so kalt wie Eis und ihr Mund geringschätzend und verschlossen.

Ich taumelte kurz unter ihrem hasserfüllten Blick und bleib ebenfalls kurz stehen. Erschrocken sah ich sie an und sah zu, wie sie sich eilig wieder in Bewegung setzte und mich ohne sich umzudrehen, einfach stehen ließ.

Was hatte denn das zu bedeuten?

Was war passiert? Ich dachte … Ich dachte, sie mochte mich… Wir hatten uns doch so gut verstanden… Was war passiert? Was hatte ich falsch gemacht?

Ich beeilte mich, mich schleunigst wieder aus meiner Starre zu lösen, bevor Lucy um die nächste Ecke biegen konnte. Denn wenn ich ehrlich war, wusste ich den genauen Weg zur Schule überhaupt nicht. Wie denn auch? Ich durfte ja nirgends zu Fuß hin, - im Gegensatz zu meiner Schwester.

Wahrscheinlich waren meine Eltern deswegen immer so streng und übervorsichtig, wenn es um mich ging. Und jedes Mal, wenn Marija Mist baute, konnte ich es ausbügeln. Das war nicht ganz richtig, das sah ich ein, aber ich sah auch, dass Marijas Taten für mich immer größerer Konsequenzen hatten, als für sie. Früher hatte ich sie deswegen manchmal sogar gehasst. Aber sie war meine Schwester, und ich konnte sie unmöglich für etwas hassen, das ich selbst auch wollte. Frei sein.

Da hatte ich nun also meine Freiheit, dachte ich, als ich begann schneller zu rennen, weil Lucy aus meinem Gesichtsfeld verschwand und mich leichte Panik beschlich. Ich war noch nie zu spät zur Schule gekommen! Meine Mutter hätte das niemals zu gelassen. Wann hatte ich das letzte Mal gefehlt? Das war lange her… Denn was sollte ich auch daheim, in einem kalten Haus, vormittags einzig von unsern Angestellten bewohnt?

Und wenn ich Lucy nicht bald einholte, - oder wenigstens wieder Sichtkontakt bekam, - musste ich mir übers Zuspätkommen bald gar keine Sorgen mehr machen, denn ich würde niemals in der Schule ankommen. Warum tat sie mir das an? Was hatte ich ihr denn getan?

Einen kurzen Moment lang überlegte ich, dass Lucy womöglich gar nicht wusste, dass ich den Schulweg nicht kannte. Denn, - ha ha, - wie wahrscheinlich war es, dass man nach fast vier Jahren an derselben Schule den Weg nicht kannte? Das wäre ja zum Schießen komisch, - es war zum Schießen komisch. Dummerweise war mir alles andere als zum Lachen zu mute. Denn selbst wenn sie es nicht wusste, was gab ihr das Recht mich so anzufauchen, und dann einfach stehen zu lassen?

Ich war wütend. Mehr noch, - ich war verletzt.

Völlig außer Atem blieb ich bei einer kleinen Bank stehen und setzte mich einen Augenblick hin und versuchte, nicht an Atemnot zu sterben. Okay, ich übertrieb vielleicht ein wenig, aber das seltsame Stechen in meiner Lunge von dem kalten Wind, bewies mir, dass ich richtig gehandelt hatte, mich hinzusetzten. Es war viel zu frisch, um sich bei solchen Temperaturen im Freien sportlich zu betätigen. Nach dem ich mich wieder einigermaßen beruhigt hatte, sah ich mich nach allen möglichen Passanten um, welche ich um Hilfe fragen könnte. Einer musste mir doch sagen können, wie ich zu meiner Schule kam!

Ich hob den Kopf und sah plötzlich, dass das vielleicht gar nicht nötig war. Nur wenige Meter vor mir tauchten plötzliche drei Schultaschen aus einer Seitengasse auf und gingen gemächlich in die Richtung, aus der Lucy verschwunden war. Es waren drei Mädchen, vermutlich zwei, drei Jahre jünger als ich.

Das war meine Chance! Ich erhob mich von der Bank. Ich würde ihnen einfach unauffällig folgen und das Beste hoffen. Allerdings gab es mehr als eine Schule in diesem Ort…

Schluss jetzt mit diesen Gedanken; es würde schon hinhauen. Es musste hinhauen.

Mit bangem Gefühl ging ich langsam den drei Mädchen hinterher, - welche sich allem Anschein nach blendend verstanden, - und schlenderte vermeintlich gemächlich dahin, immer darauf bedacht, einen kleinen, aber nicht zu großen Abstand zu ihnen wahren. Und tatsächlich: Meine Geduld wurde bald belohnt, als ich das rote Backsteingebäude entdeckte, dass unsere Schule darstellte. Überall um mich herum tauchten plötzlich Schultaschen und Umhängetaschen auf; links, auf meiner Seite überwogen die Umhängetaschen, und in einigen Metern Entfernung überwogen die normalen Schultaschen und Rucksäcke. Was nur verständlich war, denn meine Schule grenzte direkt an eine Jungenschule, - im Grunde war es sogar das gleiche Gebäude, und seit einiger Zeit war unsere Schulleitung sehr darauf bedacht, unsere Schulen ganz zusammenzulegen. Ich konnte mir das kaum vorstellen; seit vier Jahren ging ich jetzt schon auf eine reine Mädchenschule.

Wie würde es da sein, wenn ich in eine gemischte Klasse ging? Erleichtert atmete ich aus. Und ich war sogar noch pünktlich, wie ich erfreut feststellte.

Weniger erfreulich war allerdings die Tatsache, dass das erste Gesicht, das ich sah, als ich mein Klassenzimmer betrat, das von Lucy war.

„Lucy, was… was machst du hier?“, stotterte ich und sah sie überrascht an. Denn das war normalerweise nicht ihre Klasse.

„Ich habe gewechselt. Wir sind jetzt in derselben Klasse“, antwortet sie mir lächelnd und wandte sich wieder einem anderen Mädchen, - namens Erin, - zu und schien sich auf Anhieb mit ihr zu verstehen. Ich war wie erstarrt. Ich wusste nicht, wann ich das letzte Mal so vor den Kopf gestoßen wurde. Zuerst ist sie so nett zu mir und will meine Freundin sein, dann lässt sie mich einfach stehen, und im Anschluss tut sie auch noch so, als wäre nichts? Ich musste mich erst einmal hinsetzten.

„Hey, Tereza“, rief mir der Rotschopf Wilma plötzlich zu. „Da kannst du nicht sitzen, - das ist Lucys Platz“, erklärte sie lächelnd. Ich sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. Ihr Gesichtsausdruck wechselte urplötzlich von selbstbewusst und fröhlich, zu ernst und besorgt. „Alles in Ordnung?“, fragte sie eindringlich.

Ich schüttelte den Kopf und konnte gar nicht mehr aufhören. Nein, nichts war hier in Ordnung. Was war hier los? War denn die ganze Welt verrückt geworden? Mein Blick wanderte zu der lächelnden Lucy, die Erin freundschaftlich auf die Schulter klopfte und begegnete kurz ihrem Blick, bevor sie sich wieder der blonden Erin zuwandte. Ihre Augen. Verachtung hatte in ihnen gestanden. Das war zu viel.

„Tereza?“, fragte Wilma mich wieder. Vorsichtig trat sie näher und sah mich besorgt an. So hatte sie mich noch nie gesehen. So intensiv. Sie sah nicht wie sonst durch mich hindurch, wie all die andern Mädchen, sondern sie sah wirklich mich an.

Im Allgemeinen hatten die anderen Mädchen und ich die stumme Abmachung, dass sie mich nicht beachteten, wenn ich sie nicht beachtete. Und bis jetzt hatte dieses System immer gut funktioniert. Wenn es jetzt auch noch ins Wanken geriet, dann hieße das, mein Leben wäre vollends aus den Fugen geraten. Ich schüttelte immer noch ungläubig meinen Kopf und zwang mich, Wilma bei meiner Antwort in die Augen zu sehen.

Mit halbwegs fester Stimme verkündigte ich: „Natürlich, alles bestens. Ich bin nur etwas müde, - hab heute etwas verschlafen.“ Ich blinzelte ein paar Mal müde, um meine Aussage glaubhafter zu machen.

„Oh, okay“, antwortete sie überrascht und lächelte leicht. „Dann ist es ja gut. Ich hätte heute auch fast verschlafen.“ Und schon war alles wieder beim alten. „Ähm… Tereza?“, fragte sie wieder, diesmal etwas zögerlicher. Von wegen, alles war wieder beim alten.

Fragend sah ich sie an.

„Der Stuhl“, sagte sie und ich brauchte einen Moment bis ich begriff.

„Ach so, natürlich“, sagte ich schnell, nahm meine Schultasche und erhob mich. „Ich setze mich dann nach vorne.“ Vorne war meistens die bessere Wahl, denn keines der anderen Mädchen saß gerne vorne, - also stahl ich auch keiner ihren Sitzplatz. Wie gesagt, meistens.

„Eigentlich wollte ich mich neben Tereza setzten“, hörte ich da plötzlich hinter mir die Person sagen, von welcher ich dies am wenigsten erwartete hätte. „Ich kenne sie noch von früher. Also… Wenn ihr nichts dagegen habt…“ Sie sprach nicht zu Ende.

Sie war jetzt schon besser integriert in die Klasse als ich nach zwei Jahren. Es versetzte mir einen kleinen Stich, als ich dann auch noch die Beteuerungen der anderen hörte, dass sie überhaupt nichts dagegen hätten, wenn sie sich zu mir setzte. Dass es wahrscheinlich nur gut für mich wäre, endlich jemanden neben mir zu haben, - ich sah seit der ersten Klasse alleine auf einer Bank, - und dass sie ja immer noch zusammen Mittagessen konnten. Das war alles so verdreht…

Ich war seit vier Jahren an dieser Schule und seit zwei Jahren in dieser Klasse. Und sie war gerade mal einen Tag hier, und schon war sie jedermanns beste Freundin.

Ich hörte, wie sie sich neben mich setzte und starrte stur auf den Tisch. Ich rechnete damit, dass sie mich ansprechen würde, aber nichts dergleichen geschah. Ich hörte, wie sie in ihrer Tasche kramte und dann ein Geschichtebuch hervorzog und darin zu lesen begann. Bis der Unterricht begann, sprach sie mich nicht ein Mal an und würdigte mich keines Blickes, ganz so, als wäre ich gar nicht da.

„Sag mal, hab ich dir irgendetwas getan?“, fragte ich sie leise, als sich unser Lehrer gerade zur Tafel wandte und etwas aufschrieb. Sie antwortete nicht und sah zur Tafel. Ich seufzte leise. „Weißt du, eigentlich müsste ich diejenige sein, die dich ignoriert, - und nicht umgekehrt“, erklärte ich fast schon wehmütig. „Du stielst mir meine Rolle.“ Ich lächelte traurig. Immer noch keine Reaktion von ihr. „Aber wenn du nicht mit mir reden willst, werde ich mich nicht aufdrängen“, sagte ich dann ergeben. „Ich werde meiner Mutter sagen, dass du heute Abend nicht zum Essen zu uns kommst.“

Sie hörte auf zu schreiben und drehte ihren Kopf langsam zu mir. Ausdruckslos sah sie mich an und drohte dann leise: „Das lässt du schon bleiben, - ich werde kommen.“

Überrascht sah ich sie an, aber sie hatte bereits wieder ihren Stift in die Hand genommen und fuhr damit fort, die Zahlen und Ereignisse auf der Tafel in ihr Heft zu übertragen. Ich schüttete verwirrt meinen Kopf und tat es ihr gleich. Verstand einer diese Lucy!

Als es läutete grinste sie mich auf einmal breit an und sagte: „Dann bis später“, und nahm ihre Tasche und hakte sich bei der hübschen Erin ein. Also wirklich, langsam bekam ich Kopfschmerzen, von diesem ganzen Theater. Allerdings war mir eines bereits klar geworden: Lucy benahm sich immer so nett, wenn andere dabei waren. Nur wenn ich mit ihr alleine war, zeigte sie mir ihr wahres Gesicht. Aber wozu das alles? Was hatte sie gegen mich? War sie etwa allen Erstes sauer, weil meine Mutter sie gebeten hatte, ein wenig Zeit mit mir zu verbringen? Das war doch absurd. Was hatte ich getan, dass sie mich so verabscheute?

Am Ende des Schultages hatte ich es alles andere als eilig nach Hause zu kommen. Der Tag war eine einzige Enttäuschung gewesen und die Chancen, dass er noch besser wurde, schwanden mit jedem geringschätzigen Blick den Lucy mir zuwarf um einiges. Ich seufzte abermals und als ich gerade die Tür zum Hof aufstieß, begegnete mir abermals ihr Blick. Ich fröstelte von der Kälte in ihren eisblauen Augen und ging ohne Stehenzubleiben einfach an ihr vorbei.

Ich bereute schon fast, dass ich nicht stehen geblieben war, - denn wie sollte ich meiner Mutter später erklären, dass ich mich einfach alleine auf den Heimweg gemacht hatte?, - als sie plötzlich neben mir auftauchte und schritt hielt. Wir sprachen den ganzen Weg über kein Wort miteinander, bis sie plötzlich kurz vor meinem Haus anfing zu schluchzen. Erschrocken sah ich sie an.

„Du… Du bist so gemein“, sagte sie laut und mit tränenerstickter Stimme. „Du hättest es mir auch einfach sagen können, wenn… wenn du nicht mit mir nach Hause gehen wolltest! Ich dachte, du magst mich. Was hab ich dir denn getan, dass du mich so niedermachst?“ Ihre Stimme war immer lauter und verzweifelter geworden, während ich sie nur fassungslos anstarrte. Was… Ich… Wieso war denn jetzt auf einmal ich die Böse?

„Ich… Ich habe mich wirklich bemüht, dir eine Freundin zu sein, aber ich… ich ertrage das einfach nicht mehr“, fuhr sie fort und lief ein paar Meter in die Richtung, in der ihr Haus stand. Ihr Anblick hätte jedem noch so kaltem Menschen das Herz gebrochen. Sogar mir tat sie leid, - und dabei verstand ich doch gar nicht was sie meinte! Ich hatte doch überhaupt nichts gesagt oder getan! „Ich werde erst wieder mit dir reden, wenn du dich bei mir entschuldigt hast“, rief sie wieder.

„Wofür?“, wollte ich schon rufen, als ich in einigen Metern Entfernung plötzlich meine Mutter in der Tür stehen sah. Mein Herzschlag setzte einen Moment aus. Unser Garten war groß und unsere Haustür weit weg, ich hatte demnach gute Chancen, dass meine Mutter unser Gespräch oder was-auch-immer-das-hier-war vielleicht überhaupt nicht mitbekommen hatte.

Ein Blick auf ihr Gesicht, das dem einer kalten Maske glich, belehrte mich eines Besseren und nahm mir sogleich jede Hoffnung. Ich sah wieder zu Lucy, und ungläubig vernahm ich ein kurzes Zwinkern, bevor sie abermals laut aufschluchzte und wegrannte.

Wie angewurzelt stand ich da und konnte mich keinen Zentimeter mehr rühren.

Sie hatte… Sie hatte gelogen. Sie spielte das alles nur.

Wieso…?

Ich wusste nicht, wie lange dort stand und einfach nur ihr hinterher starrte, selbst als sie schon lange weg war, aber irgendwann hörte ich jemanden leise meinen Namen rufen. Allerdings war ich wie in Watte gepackt und konnte mich einfach nicht rühren. Ich war taub, wie gelähmt, bewegungsunfähig.

„Tereza!“, hörte ich die Stimme diesmal deutlicher, und meine Starre löste sich. Erschrocken sah ich zu meiner Mutter, die immer noch am Türrahmen stand und sich allem Anschein nach bemühte, nicht die Fassung zu verlieren.

Ich musste ins Haus. Sofort. Ansonsten würde ich die Lage nur noch schlimmer machen. Aber meine Beine wollten sich nicht in Bewegung setzten. Zu tief saß der Schock über das eben geschehene, zu groß war die Furcht davor, was passieren würde, wenn ich diese Haustür betrat. Unsere sonst so freundlich wirkende, weiße Haustür erschien mir mit einem Male wie ein großes schwarzes Loch, das mich verschlingen würde, sobald ich es auch nur wagte, nur einen Schritt ins Haus zu setzen.

Meine Mutter schien zu bemerken, dass ich so schnell nicht kommen würde und legte ihre Stirn in Falten, bevor sie sich langsam umwandte und ohne den Blick von mir zu nehmen ins Haus verschwand und die Tür schloss. Ich atmete tief aus. Meine Schultasche ließ ich einfach achtlos auf den Gehsteig fallen. So stand ich da und atmete einfach nur tief durch.

Mit einem Male vermisste ich meine große Schwester so sehr, dass es fast schmerzte, ihren Namen auch nur zu denken. Sie würde bestimmt auf meiner Seite stehen, mich beschützen und verteidigen. Mir glauben. Wenn es um Kleinigkeiten ging, waren wir uns zwar immer uneins, und in den letzten Jahren hatten wir uns auch immer weiter voneinander entfernt, aber ich wusste, wenn Marija jetzt noch hier wäre, dann würde sie mir helfen.

Blitzschnell schnappte ich mir meinen Rucksack, rannte zur Haustür, nahm mit zittriger Hand den Hausschlüssel unter der Fußmatte, sperrte auf und stürmte die Treppe hoch in mein Zimmer. Von meiner Mutter war nichts zu sehen. Ich warf den Rucksack in die nächste Ecke und schloss mich im Schrank ein.

Im weiteren Laufe des Tages kam meine Mutter mehr als einmal rein, um mir mittzuteilen, wie enttäuscht sie doch von mir war und das sie von mir erwartete, noch heute Abend den Titos einen Besuch abzustatten und mich zu entschuldigen. Als ich daraufhin die Schranktür aufriss, und mich verteidigen wollte, ließ sie mich nicht einen Satz zu Ende bringen, oder glaubte mir kein einziges Wort. Ich war mehr als frustriert.

Als ich um halb acht noch am selben Abend, - wie hatte sie das nur geschafft? Davon einmal ganz abgesehen, dass sie mir damit gedroht hatte, dass ich erst wieder an den Mahlzeiten teilnehmen durfte, wenn ich die Sache bereinigt hätte, - wurde mir beinahe übel, als ich an die unfreundliche Begrüßung dachte, die mir nun wohl oder übel unmittelbar bevor ins Haus stand. Die Tür wurde geöffnet und Ms. Tito, - Lucys Mutter, - öffnete mir die Tür. Keine Dienstboten. Das war mir noch nie zuvor aufgefallen. Ich versuchte es mit einem schwachen Lächeln.

„Guten Abend, Ms. Tito“, begrüßte ich sie vorsichtig. Ich wagte kaum sie anzusehen. „Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich muss unbedingt noch mit Ihrer Tochter sprechen.“

„Tereza“, stieß sie überrascht aus und öffnete dann die Tür einen Spalt weiter. „Aber natürlich, komm rein, Kleines. Um was geht es denn?“

Überrascht sah ich sie an; sie hatte allem Anschein nach keine Ahnung von dem Schauspiel ihrer Tochter. Nun gut, ich würde sie ganz bestimmt nicht aufklären. „Es geht um die Englischhausübung“, log ich sie deswegen an, und bereute es im selben Moment schon wieder. „Tut mir leid, ich weiß, es erscheint lächerlich wegen einer solchen Lappalie zu dieser Zeit noch zu stören, aber…“ Meine Wangen färbten sich rot und ich konnte nicht weitersprechen, aber sie verstand mich allem Anschein nach auch so.

„Aber das ist doch Unsinn“, erwiderte sie lächelnd. „Lucija hat mir heute ausdrücklich gesagt, dass du hier jederzeit willkommen bist.“ Ich versuchte mir meine Überraschung, - oder wohl eher meinen Schrecken nicht anzumerken, - als ich sie nach Lucys Zimmer fragte. Vielleicht war es ja ein wenig vorlaut, einfach zu fragen, aber Ms. Tito war so ganz anders als meine Mutter und strahlte eine gewisse Art von Ehrlichkeit und Ungezwungenheit aus, die mich einfach dazu bewog…

„Die Treppe rauf, und das zweite Zimmer rechts“, unterbrach Ms. Tito meine imaginären Entschuldigungen. „Auf der Tür steht ihr Name, - du kannst es also gar nicht verfehlen“, hängte sie noch lächelnd an, bevor ich mich bedankte und nach oben verschwand. Wie konnte jemand so eine nette Mutter haben und dabei selbst so boshaft sein? Andererseits wusste ich ja immer noch nicht, warum sie das alles tat. Vielleicht sollte ich auch einfach abwarten. Oder fragen. Ich meine, wozu war ich denn sonst hergekommen? Sicherlich nicht um mich zu entschuldigen.

 

Kapitel 3

Einen kurzen Moment zögernd blieb ich noch eine Minute vor der Tür stehen, bevor ich leise anklopfte. „Herein“, hörte ich Lucys Stimme von drinnen und öffnete die Tür einen Spalt und sah hinein.

Sie lag auf dem Bett und las ein Buch. Ich wusste gar nicht, dass sie eine Brille trägt, ging es mir unmittelbar durch den Kopf als ich ihr ins Gesicht sah. Sie schien zu wissen, dass ich es war, denn sie sah nicht einmal von dem Buch auf, als sie fragte: „Bist du gekommen, um dich zu entschuldigen?“ Ich zog scharf die Luft ein.

„Nein“, antwortete ich deutlich und sah ihr abwartend ins Gesicht. Ich würde erst weiterreden, wenn sie mich auch ansah!

„Hm“, sagte sie bloß unbeteiligt und heilt ihren Blick weiterhin starr auf ihr Buch gesenkt. Das gab es doch nicht. Es war als hätte sie meinen stummen Entschluss gehört, und nun ihrerseits beschlossen, mich erst dann anzusehen, wenn ich weitersprach. Aber nicht mit mir. Ich würde diesmal ganz bestimmt nicht nachgeben.

Nach einiger Zeit des Schweigens musste ich allerdings zugeben, dass sie die weitaus besseren Karten als ich hatte. Immerhin hatte sie ein bequemes Bett auf welchem sie liegen konnte und ein Buch in den Händen, mit welchem sie sich beschäftigen konnte. Ich hingegen stand hier mitten in ihrem Zimmer und kam mir mit meinem Starren vor wie ein Spanner, weil ich sie die ganze Zeit anstarrte, während sie mich hingegen vollkommen zu vergessen schien. Ich seufzte einmal leise und sah mich einmal kurz in ihrem Zimmer um.

Lucys Zimmer war nicht sonderlich groß, jedenfalls war es nichts im Vergleich zu meinem oder das meiner Schwester. Ich biss mir einmal auf die Zunge.

Ss, falscher Gedanke, ermahnte ich mich und konzentrierte mich wieder auf Lucys Zimmer. Es war irgendwie seltsam geordnet und aufgeräumt. Wenn man dann auch noch bedachte, dass die Titos kein Zimmermädchen hatten, so wie wir… Vielleicht litt Lucy ja an einem Putzzwang, überlegte ich mir, als meine Augen einen dunkelroten Sofasessel erspähten. Ich ging drauf zu, und wollte mich gerade setzten, als mich eine monotone Stimme nur Zentimeter davon abhielt.

„Du bist ganz schon unhöflich für jemanden, der Gast in diesem Haus ist“, ermahnte mich Lucy ohne aufzusehen.

Ich stand wieder auf. „Und du bist ganz schon unfreundlich für jemanden, der behauptet Gastgeber in diesem Haus zu sein.“ Endlich veränderte sie ihre Haltung, nahm ihre Brille ab und legte ihr Buch beiseite. Sie sah mich an. Kluge Augen forschten mich aus und bereiteten mir ein unangenehmes Gefühl in der Magengegend. Sie lachte leise und sarkastisch, - es war kein nettes Lachen. Es klang eher, als wollte sie sich über mich lustig machen.

„Du kannst jetzt gehen“, entließ sie mich immer noch böse grinsend. „Ich hatte heute genug Spaß mit dir.“

„Spaß?“, fragte ich sie leise. Unter meiner Oberfläche brodelte es, und sie schien das auch zu wissen. „Das heute bezeichnest du als Spaß?“

„Du solltest jetzt nach Hause gehen, Kleine“, sagte sie in demselben monotonen Tonfall wie zuvor. „Morgen wird ein anstrengender Tag. Du solltest gut ausgeruht sein.“

Ich konnte nicht verhindern, dass ich blass wurde. „Nenn mich gefälligst nicht Kleine. Ich bin weder um einiges jünger als du noch von der Statur her, kleiner als der Durchschnitt“, verteidigte ich mich.

„Wer hat denn gesagt, dass ich von so etwas barbarischem wie Körpergröße ausgehe?“, fragte sie mich gelangweilt und nahm ihre Brille und ein Tusch zur Hand um die Gläser zu putzen. „Und wenn du mich jetzt bitte entschuldigen möchtest, du siehst, ich habe Wichtigeres zu tun, als mich mit dir über deine mangelnde Intelligenz zu unterhalten.“

„Wie bitte?“, fragte ich tonlos.

„Ich wusste doch, dass dieses Gespräch über deinen IQ geht. Also, noch einmal höflich zum mitschreiben: Ich bin für heute fertig mit dir. Geh nach Hause und leg dich schlafen. Ich werde morgen früh um dreiviertel acht vor deinem Gartentor auf dich warten. So, sind das nun genug Informationen?“

„Aber… du hasst mich?“, sagte ich verwirrt. Ihre Beleidigungen ließ ich mal so beiseite. Mir war egal, was sie von mir hielt oder nicht. „Wieso solltest du dann jeden Tag mit mir zur Schule hin und wieder zurück gehen?“

„Ich brauche jemanden, der meine restlichen Bücher für mich trägt. Und da du es mir bei deinem heutigen Besuch soeben großzügig als Entschuldigung für dein gestriges Benehmen angeboten hast, kann ich wohl schlecht Nein sagen“, erklärte sie desinteressiert, während sie ihre schwarze Brille auf Hochglanz brachte. Zufrieden beäugte sie ihr Werk.

„Ich… Du… Das hab ich dir nie angeboten“, widersprach ich ihr sofort. „Und ich werde einen Scheiß tun und morgen mit dir zur Schule gehen. Ab sofort, gehe ich den Schulweg allein, - und das hin und zurück!“ Ich fluchte normalerweise nicht, aber das, was diese Lucy sich da erlaubte, war eine elende Gemeinheit!

Zum ersten Mal seit ich heute hier war, warf sie mir einen bösen Blick zu. „Deine Mutter wird dir nie wieder erlauben, alleine zur Schule zu gehen. Nicht nach dem, was du getan hast.“ Das war ja wohl ein Scherz!

„Sie ist meine Mutter, wem glaubst du, glaubt sie mehr?“, rief ich wütend aus, und dämpfte dann meine Stimme etwas, aus Sorge Mr. oder Ms. Tito könnten mich schreien hören. „Dir, der scheinheiligen, kleinen Nachbarstochter, oder aber ihrer eigenen Tochter, die sie noch niemals belogen hat?“

„Ja“, sagte Lucy gedehnt und sah mich mit geneigtem Kopf an. „Wem glaubst du, glaubt sie mehr?“, wiederholte sie meine Worte.

„Scheiße“, flüsterte ich, als mir bewusst wurde, dass sie Recht hatte.

 Am nächsten Morgen war alles ganz genau so, wie sie es gesagt hatte. Um dreiviertel acht stand sie bei mir am Gartentor und wartete, nicht ohne meiner Mutter einmal gespielt zaghaft zuzuwinken, als ich das Haus verließ, und auf sie zuging. Ihre Haare waren heute mit einem blauen Gummiband zusammengebunden und sie trug eine der weißen Spangen vom Vortag. Ihre Bücher hielt sie wie gestern im Arm.

„Morgen, Lucy“, murmelte ich ihr zu ohne stehen zu bleiben. Sie hielt ohne mir zu antworten Schritt, bis wir um die nächste Ecke waren. Dann blieb sie plötzlich stehen, - und ich, ich hatte nichts Besseres zu tun, als es ihr gleichzutun. Wieso tat ich das? Ich hätte sie doch auch einfach stehen lassen können, so wie sie mich gestern, oder? Ich war manchmal so unsagbar dumm. Dumm. Dumm. Dumm.

„Hier“, sagte sie und drückte mir auch schon ihre Bücher in die Hand; sie waren gar nicht so leicht. Brauchte sie diese wirklich alle? Ihr Gesicht war wieder die monotone Maske, welche sie in meiner Gegenwart immer Aufsetzte, - vorausgesetzt wir waren allein. Dann ging sie auch schon wieder zügig weiter und ich beeilte mich, Schritt zu halten.

Hätte ich damals gewusst, dass es von nun an immer so sein würde, hätte ich mich vermutlich mehr gewehrt, aber ich war naiv. Ich dachte, das würde vorbeigehen. Ich dachte, sie würde eines Tages aufhören mit diesem ganzen Theater. Aber das tat sie nicht.

Die nächsten zwei Jahre verbrachte ich damit, jeden Tag ihre Bücher zur Schule und auch wieder nach Hause zu schleppen, - und das obwohl sie einen Spinnt hatte all die Jahre. An das Tragen ihrer Sachen hatte ich mich bald gewöhnt, nicht aber an die regelmäßigen Besuche bei uns Zuhause.

Ich machte ihre Hausaufgaben, bediente sie von vorne nach hinten, - obwohl wir Dienstboten hatten, -  und ließ alle Lügengeschichten klaglos über mich ergehen, welche sie meiner Mutter jedes Mal beim Abendessen auftischte. Nach einiger Zeit hatte sie es sogar geschafft, meiner Mutter einzureden, ich müsste lernen, einen Haushalt zu führen. Und so wurde unser Hausmädchen Ramona mehr als nur ein bisschen entlastet. Denn bis auf das Kochen der Mahlzeiten und das Bügeln der Wäsche übernahm ich ihre anderen Tätigkeiten beinahe alle über Nacht.

Ich versuchte mehrmals mit meiner Mutter darüber zu reden, aber sie blockte immer ab, und irgendwann fand ich mich mit meiner kläglichen Lage ab. Das Schlimmste an allem war allerdings, dass ich meine Schwester seit fast zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte.

Ich vermisste sie unheimlich. Ich hätte nie gedacht, dass es möglich wäre, jemanden so sehr zu vermissen. Es war, als wäre sie gestorben, - nur dass es sie noch gab, irgendwo, und dass ich mit dem schmerzvollen Gedanken leben musste, dass ich ihr im Gegenzug überhaupt nicht fehlte. Dass sie mich überhaupt nicht vermisste. Denn sonst hätte sie doch irgendwann Kontakt zu mir aufgenommen in aller der Zeit, oder? Wenigstens einmal. Es war klar, dass ich ihr nicht so viel bedeuten konnte, wie sie mir.

Ich versuchte mehrmals ihren momentanen Aufenthaltsort rauszubekommen, durchstöberte das ganze Haus nach Hinweisen, suchte im Arbeitszimmer meines Vaters nach vermeintlichen Briefen von ihr, - aber nichts, keine Spur von ihr. Alles, was ich mir einhandelte, war eine Moralpredigt meiner Mutter und ein weiteres Druckmittel, das Lucy gegen mich verwenden konnte.

Lucy schien sich währenddessen immer besser mit meiner Mutter zu verstehen, und bald wurde ein allwöchentliches Kaffeetrinken zusätzlich zu den Abendessen, welche sie bei uns verbrachte, zur Pflichtlektüre. Jeden Donnerstag, der einzige Tag, an welchem ich ohne Lucy nach Hause ging, weil ich länger Schule hatte als sie, traf mich jedes Mal fast der Schlag, wenn ich sie alleine mit meiner Mutter in der Küche sitzen sah. Nicht auszudenken, was sie meiner Mutter über mich alles erzählte…

Und doch, trotz allem, was Lucy mir antat, konnte ich sie nicht hassen. Denn irgendwie war sie mir in all der Zeit die wir miteinander verbrachten zu meiner ersten und einzigen Freundin geworden. Es war klar, dass sie das anders sah, aber es war mir egal.

Sollte sie mich ruhig demütigen und benutzen, so war ich wenigstens nicht mehr allein. Und ihre ständigen Schickaden und Lügengeschichten hielten mich regelmäßig auf Trab, sodass ich oft erst gar nicht dazu kam, an meine Schwester zu denken, oder sie gar zu vermissen. Jeden Tag fiel ich erschöpft von all den Arbeiten und all dem Stress sofort ins Bett, - manchmal sogar ohne mich vorher umzuziehen, so fertig war ich an den schlimmeren Tagen. Aber das war immer noch besser, als in Trübsal zu versinken.

Und es war ja nicht so, dass sie nie ein nettes Wort für mich übrig hätte. Sobald meine Mutter oder unsere Klassenkameraden dabei waren, wurde sie zu meiner lieben, netten und treuen besten Freundin. Vor meiner Mutter die brave Nachbarstochter, die ihrer Tochter eine gute Freundin war, und vor meinen Klassenkameradinnen meine beste Freundin, ohne der ich nicht einen Schritt gehen konnte.

Ich war ständig unter Überwachung, - wenn nicht von Lucy, dann von meinen Eltern. Allmählich wurde mir klar, warum meine Mutter ausgerechnet Lucy für diesen „Job“ ausgesucht hatte. Denn es schien sie nicht weiter zu stören, ihre ganze Freizeit mit jemandem verbringen zu müssen, den sie nicht leiden konnte. Ich fragte mich des Öfteren, was einen wohl zu so etwas bewegen konnte, sein ganzes Leben einem solchen Schauspiel zu opfern. Eines Donnerstag-nachmittags bekam ich die Antwort.

Ich sperrte die Tür mit dem Schlüssel unter unserer Fußmatte auf und trat langsam ein. Ich hatte es nicht eilig, meine Mutter oder Lucy wiederzusehen. Jeden Donnerstag dasselbe. Anstatt mich zu freuen, endlich einmal allein nach Hause gehen zu dürfen, musste ich den ganzen Weg über daran denken, dass wenn ich nach Hause komme, Lucy schon da sein würde und auf mich warten würde.

Ich schloss leise die Tür hinter mir und stellte meinen Rucksack neben unsere Tür. Mutter mochte es nicht, wenn ich meine Sachen rumliegen ließ, aber hoffentlich würde sie es gar nicht mitbekommen. Ich schlich zur Küche. Lucy saß am Tresen und trank genüsslich aus einer Tasse, während meine Mutter ihr Portemonnaie zückte und Lucy mit einem Lächeln auf den Lippen ein wenig Geld auf den Tisch legte.

„Danke, für deine viele Mühe“, bedankte sich meine Mutter, und ich sah, wie Lucy mit der Hand abwinkte.

„Aber nicht doch, Ms. Risa. Es ist mir eine Freude auf ihre Tochter aufzupassen“, erklärte sie, nahm das Geld aber und steckte es in ihre Tasche. Sie lächelten sich zufrieden an.

Auf mich aufzupassen? Wie alt war ich, fünf? Außerdem war Lucy im selben Jahrgang wie ich. Wie kam meine Mutter dazu, sie fürs Babysitten zu bezahlen? Ich war fast sechzehn. Das war einfach unglaublich. Wie konnte sie mir nur so etwas antun? Von Lucy hätte ich nichts anderes erwartet, aber meine Mutter?

An jenem Tag verlor ich jeglichen Respekt vor meiner Mutter, der mir noch geblieben war und begann mich heimlich zu wehren.

Ich verlangte wieder zur Schule geführt zu werden, - nach Hause gehen könnte ich alleine (oder aber wie sich später herausstellte, wieder mit Lucy). Ich kaufte mir heimlich ein Wertkartenhandy und überredete meinen Vater hinter dem Rücken meiner Mutter unser Hausmädchen Ramona wieder Vollzeit bei uns anzustellen; er sah ein, dass ich meine Zeit zum Lernen brauchte. Meiner Mutter erzählte er davon erst einmal nichts, - vielleicht weil er keinen Streit wollte, oder aber weil er sie kaum sah und daher keine Gelegenheit hatte, mit ihr darüber zu reden. Ich wusste es nicht, und ich versuchte mir einzureden, dass es mir egal war.

In der Schule schrieb ich mich für zusätzliche Kurse ein, um so zu einer anderen Zeit als Lucy auszuhaben, und alleine nach Hause gehen zu können. Und wenn ich sie dann schon bei uns Zuhause in der Küche vorfand, ließ ich mir ausreden einfallen, dass ich heute leider keine Zeit mehr hätte, denn die zusätzlichen Kurs die ich nun besuchte, würden mir viel abverlangen. Meine Mutter konnte nicht erwarten, dass ich meine schulischen Pflichten vernachlässigte, auch wenn ich ihr ansah, dass es ihr missfiel, mich so oft alleine zu wissen. Aber für mich war es ein Segen.

Ich hatte mich für recht einfache Kurse entschieden. Montags hatte ich Chorprobe, - obwohl ich nicht die beste Sängerin war, - dienstags Theater, - mein Lampenfieber zwang mich allerdings immer zu den Zweitbesetzungen oder Bühnengestaltern, - mittwochs normal, donnerstags Werken, - ich hatte zwei linke Hände, - und freitags schloss ich mich dem Sportzweig an und ging laufen.

Alles war wunderbar, bis ich zwei Dinge rausfand: Erstens, auch Lucy hatte sich in Nachmittagskursen eingeschrieben. Zweitens, die meisten Kurse waren keine Angebote unserer Mädchenschule, sondern der Jungenschule. Ich hatte noch niemals mit Mädchen und Jungen gemeinsam Unterricht. Aus unerfindlichen Gründen hatte ich Lampenfieber.

Aber eigentlich war das doch auch kein Wunder, oder? Seit der Geschichte mit meiner Schwester und ihrer Schwangerschaft, - oder eigentlich auch schon früher, - waren Jungs ein rotes Tuch für meine Eltern. Ich durfte mich kaum mit Mädchen anfreunden, da war ein einfaches Gespräch mit einem Jungen schon fast die Todesstrafe. Andererseits, es war mein Leben. Und ich war gerade am rebellieren, also warum nicht auch hier ein wenig über die Stränge schlagen?

 

Kapitel 4

Die Idee mit den Kursen war mir im ersten Moment alles andere als schlecht erschienen, aber wie immer hätte ich wissen müssen, dass es so leicht nicht werden würde. Montags, nach der Chorprobe musste ich zähneknirschend feststellen, dass Lucy montags auch länger hatte.

Wenigstens hat sie nicht den gleichen Kurs gewählt, wie ich, dachte ich meinen Kopf schütteln. Immerhin etwas. Ich glaube, sie hatte Informatik, war mir aber nicht sicher. Sie hatte mir noch nie ihre Angelegenheiten auf die Nase gebunden.

Dienstag traf mich fast der Schlag, - sie war ab heute auch im Theaterkurs. Am liebsten hätte ich mich wieder abgemeldet.

Mittwochs begleitete sie mich wie immer nach Hause.

Und Donnerstags hatte ich zwar nicht mit ihr gemeinsam Werken, kam aber trotzdem nicht so einfach davon, - mit ihren Büchern auf dem Arm wartete sie schon beim Eingangstor auf mich.

Einzig der Freitag bleib mir zum alleine nach Hause gehen. Denn Lucy, welche sich auch hier zu einem Nachmittagskurs hatte einteilen lassen, musste bald darauf feststellen, dass ich fast eine Stunde früher aus hatte als sie, - und somit wurde der Freitag zu meinem absoluten Lieblingstag.

Die Kurse an sich waren recht gut gewählt, fand ich. Beim Chor waren wir fast nur Mädchen und die Lehrerin war äußerst nett und platzierte mich einfach irgendwo in die Mitte, wo es nicht sonderlich auffiel, wenn ich mal etwas Falsches sang. Wie ich überrascht feststellte, war ich nicht die einzige aus meiner Klasse im Chor. Wilma, das selbstbewusste Mädchen mit den wilden, roten Locken war eine der Solosängerinnen, und sie sang wirklich gut, wie ich beeindruckt feststellte.

Der Theaterkurs hatte mir um einiges mehr Sorgen bereitet; hier lagen wir ziemlich gleich auf, was das Mädchen-Jungen Verhältnis anging. Es faszinierte mich, wie selbstverständlich alle miteinander auskamen.

Anfangs kam ich mir ein wenig wie ein Eindringling vor, aber nachdem man mich nicht viel anders behandelte, als all die anderen Mädchen, welche alle schon länger dabei waren, - denn es war ein wenig ungewöhnlich, wie ich mitten im Jahr einzusteigen, - fühlte ich mich bald etwas wohler. Noch dazu, war Lucy viel zu beschäftigt damit, in ihrer Rolle auf der tatsächlichen Theaterbühne zu glänzen, als dass sie mir wie sonst ihre ungeteilte Aufmerksam hätte schenken können. Und das war auch gut so. Denn wenn sie es getan hätte, dann wäre ihr unzweifelhaft nicht entgangen, dass es da jemanden gab, von dem ich einfach nicht die Augen lassen konnte.

Sein Name war Willam. Er hatte kurze, dunkelbraune Haare, haselnussbraune Augen und ein umwerfendes Lächeln. Er schien jeden zu kennen und sich mit jedem gut zu verstehen, war immer sofort zur Stelle, wenn jemand mal Hilfe benötigte, und hatte eine Art alle für sich einzunehmen, dass er mich sofort in seinen Bann zog.

Ich hatte so etwas schon öfter bei dem ein oder anderen Mädchen in meiner Klasse bemerkt, diese Ausstrahlung, diese Fähigkeit, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Raum innerhalb von Sekunden zu erlangen… Und doch, schien ihn niemand so interessiert zu beäugen wie ich. Niemand schien dieses Leuchten, diese Anziehungskraft zu spüren, welche unweigerlich von ihm ausging. Ich wollte mich eigentlich damit begnügen, ihn eine Zeit lang einfach nur heimlich zu beobachten, aber er schein da etwas ganz anders im Sinn zu haben, denn als sich unsere Augen plötzlich einmal trafen, - vor Schreck setzt mein Herzschlag einmal aus, - lächelte er sofort wieder und kam auf mich zu. Ich sah verlegen weg und vor Überraschung ließ ich fast die Nadel fallen, mit der ich eines der Bühnenkostüme flickte.

 „Hi“, begrüßte er mich und stand nur einen Meter vor mir. Er hatte Grübchen, wenn er lächelte. „Ich bin Will.“ Meine Hände zitterten. Ich konnte nur hoffen, dass er es nicht sah.

 „Tereza“, stellte ich mich ein wenig schüchtern vor und versuchte mich wieder auf das Nähen zu konzentrieren. Ich konnte ihn kaum ansehen. Wahrscheinlich hatte er mitbekommen, wie sehr ich ihn angestarrt hatte. Das war ja so peinlich. Meine Wangen glühten.

„Wie weit bist du mit dem Kostüm?“, fragte er mich da auf einmal und ich hob nun doch den Kopf um ihn anzusehen. War er deswegen herüber gekommen?

 „Ich bin fast fertig“, sagte ich leise und wandte mich dann wieder mit dem Kopf zu meiner Näharbeit.

 „Super. Denn weißt du, das ist mein Kostüm, welche du da gerade flickst“, erklärte er fröhlich und nickte in meine Richtung. „Bei der letzten Theaterprobe bin ich allerdings gestolpert und da ist der halbe Ärmel fast abgerissen. Ich hatte schon befürchtet, wir müssten es wegschmeißen“, gestand er.

Besorgt sah ich ihn an. „Oh. Hast du dir weg getan?“, fragte ich ihn und musterte ihn, um ihn auf potentielle Wunden zu untersuchen. Auf den einen Blick sah alles okay aus. Mehr als okay.

Sein dunkelblauer Sweater saß perfekt an und verriet einen sehr schönen muskulösen Körperbau. Seine Ärmel waren hochgekrempelt und gaben den Blick frei auf seine geschickten Hände und Unterarme. Seine schwarze Hose passte sich seinen Beinen gekonnt an, und ließ keinerlei Einblick auf irgendwelche möglichen Verbände oder Wunden. Ich sah ihm wieder ins Gesicht.

„Nein, ich… bin in Ordnung. Ein paar blaue Flecken, nichts weiter“, versicherte er mir, ein wenig von meinem besorgten Blick aus dem Konzept gebracht.

„Okay“, erwiderte ich mit rotem Kopf und machte die letzten Stiche. Wieso benahm ich mich so seltsam?

Wenn er sich wirklich verletzt hätte, dann wäre er ja wohl heute nicht hier, oder?, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich bemerkte, wie er mich weiterhin ansah, aber ich erwiderte seinen Blick nicht und tat beschäftigt, bis er schließlich ein „Bis später“ murmelte und zu einem blonden Jungen eilte um diesem etwas zu erklären. Ich hörte nicht genau über was sie sprachen, aber ich musste mir ein kleines Lächeln verkneifen, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie er seine Vorstellungen mit den Händen zu verdeutlichen versuchte.

Auf einmal hatte ich das erschreckende Gefühl beobachtet zu werden. Ich hob den Kopf und sah in einigen Metern Entfernung Lucy, die das ganze Geschehene offensichtlich beobachtet hatte. Mit ausdruckslosem Gesicht sah sie mir kurz in die Augen und wandte sich dann ab. Ich wurde blass.

Auf dem Nachhauseweg war alles, wie sonst. Wir gingen schweigend, - ich mit ihren Büchern auf dem Arm und sie zügig voranschreitend. Kurz vor meinem Haus blieb sie stehen und ich übergab ihr wieder ihrer Sachen, bevor wir zu mir gingen und mit meiner Mutter zu Abend aßen. Seit ich mich in den vielen Kursen eingeschrieben hatte, kam ich meist so spät nach Hause, dass das Mittagessen bei uns ausfiel und wir nur zu Abend aßen. Beim Abendessen erwähnte Lucy vor meiner Mutter kein Wort über mein Gespräch mit Will.

Zwei Tage später in meinem Werk-Kurs machte ich eine erfreuliche und sogleich aufwühlende Entdeckung. Er war da. In der vorletzten Reihe.

Er unterhielt sich gerade mit einem anderen Jungen als ich den Raum betrat. Ich senkte den Kopf und trat ans Lehrerpult, wo ich dem Lehrer meinen Namen nannte und er mir einen Sitzplatz zuwies. Als ich mich in die zweite Reihe neben einen etwas schlaksigen, großen Jungen setzte, begann ich abermals nervös zu werden. Ich war den Umgang mit Jungen in meinem Alter einfach nicht sonderlich gewöhnt. Aber das würde schon noch werden, ermutigte ich mich.

„Hi, ich bin Tereza“, stellte ich mich mutig vor. Er sah nicht auf und zeichnete weiter an einer kleinen Bleistiftskizze. „Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich mich zu dir setze, aber ich bin neu, und da dachte ich, wenn dein Platz frei ist…“ Ich lächelte schüchtern.

„Setz dich ruhig“, antwortete er und sah auf. Das erste, was mir an ihm auffiel, waren seine dunkelblauen Augen. Er war ein wenig blass, hatte schwarze, längere Haare die ihm bis zum Kinn gingen und sein Blick war eher verhaltend, fast schon schüchtern. „Ich bin Timon.“

Ich setzte mich auf den Stuhl neben ihn und fragte interessiert: „Was zeichnest du da?“

Er antwortete nicht, und schob das Bild einfach in meine Richtung, sodass ich es mir besser ansehen konnte. Es war eine Art Monsterschlange, aber sehr gut in Szene gesetzt. Bewundernd sah ich ihn an. „Wow“, rutschte es mir raus.

Jetzt lächelte er leicht. „Kannst du zeichnen?“, fragte er und zog seine Zeichnung zurück.

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht gut“, antwortete ich ihm. „Ich habe zwei linke Hände, - aber es macht mir immer großen Spaß, also dachte ich mir, was soll’s. Solange es nur meinem Vergnügen dient.“ Und solange meine Mutter meine wenig künstlerischen Anwandlungen mitbekam.

„Das ist eine sehr gute Einstellung“, sagte er und sah mich unverwandt an. „Ich bin was das angeht auch nie zufrieden mit mir“, verriet er.

Ich lächelte wieder leicht. Er war nett. Timon. Das würde ich mir merken.

„Solltest du aber“, sagte ich leise. „Denn ich habe zwar keine Ahnung von solchen Dingen, aber ich finde, du bist gut.“ Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber ich glaubte zu sehen, wie er leicht rot wurde.

Er räusperte sich leise. „Kann sein“, erklärte er kurz angebunden und vertiefte sich wieder in seine Zeichnung.

Ich war erleichtert, dass ich mich auf Anhieb mit ihm verstand. Früher war ich Freundschaften immer aus dem Weg gegangen, nachdem ich feststellen musste, dass meine Eltern es verstanden, jede meine früheren Freundinnen zu vertreiben. Und sobald sie Wind davon bekamen, dass ich mich mit jemandem gut verstand, erlaubten sie mir noch weniger, als ohnehin schon. Vielleicht weil sie das Gefühl hatten, Marijas Freundinnen hätten einen schlechten Einfluss auf sie gehabt. Wer weiß.

Der Nachmittagsunterricht dauerte immer zwei Stunden plus einer zehnminütigen Pause. In Werken waren sie gerade dabei, kleine Autos aus Holz zu bauen. Das hieß: Eine genaue Skizze anfertigen, Einzelteile aus kleinen Holzstücken anfertigen, schleifen und polieren. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gemacht. Und wenn ich ehrlich war, machte es mir ein wenig Angst, was ich mit meinen alles andere als geschickten Händen vermutlich alles anstellen würde. Aber dankenswerterweise übernahm diesen Part schon ein anderer.

Ich hatte noch niemals jemanden gesehen, der so ungeschickt war, bei allem was er tat. Man sollte meinen, als Künstler sollte Timon mit seinen Händen umgehen können, aber nichts da.

Er klemmte das Holz falsch zwischen dem Tisch und dem Kolben ein, bekam es nicht mehr raus, schmiss seinen persönlichen Leimbecher um, stieß mit einem anderen Jungen zusammen, sodass dieser aus Versehen sein Holzstück fallen ließ, sodass dieser auf Timos Fuß landete… Ich hätte diese Liste ewig weiter führen können. Und er ließ sich auch kaum helfen.

Jedes Mal, wenn ich ihm meine Hilfe anbot, meinte er bloß: „Nein, lass nur. Ich habe mir das eingebrockt, also bring ich es auch wieder in Ordnung.“ Obwohl man meinen müsste, dass er inzwischen völlig mit den Nerven fertig wäre, oder kurz vor dem ausrasten, so war dem nicht so; irgendwie schien es so, als wäre er daran gewöhnt. Und auch unser Lehrer schüttelte jedes Mal nur noch seinen Kopf, als hätte er die Hoffnung längst aufgegeben, jemals eine Stunde ohne Timons zahlreiche, unfreiwillig komische Unfälle zu erleben.

Ich kam meinerseits nicht sonderlich gut mit meiner Skizze von einem… von einem Auto voran. Wenn ich zu den anderen sah, sah ich immer irgendwelche Markenautos, alte und neu. Welche, die man einfach kannte. Und wenn ich dann meines ansah… Es war einfach nur ein Auto. Kein Mercedes, kein Ford, Benz oder Audi. Einfach nur… ein Auto.

Als Timon ein wenig deprimiert in den Speisesaal schlenderte und ihm ein anderer schwarzhaariger Junge aufmunternd auf die Schulter klopfte und lachte, ließ ich von meiner Zeichnung ab und sah mir seinen Arbeitsplatz etwas genauer an. Ich hob seine Tube mit Leim ein Stück an und sah, dass es beschädigt war. Ohne groß darüber nachzudenken, tauschte ich es mit meinem; ich würde ohnehin in nächster Zeit noch nichts mit Leim zu tun haben. Auch sein Schleifpapier, das eigentlich schon viel zu zerrissen und kaputt war, um seinen Zweck zu erfüllen tauschte ich mit einem neuen aus dem Schrank.

Hm. Was noch?, überlegte ich und sah mir seinen Wagen an. Ich konnte kein Problem feststellen und warf einen Blick auf Timos Skizze. Wieder auf das Auto. Und wieder zurück.

Er hatte ein wichtiges Teil vergessen, fiel mir auf und ich sah mich auf dem Tisch um, aber es war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte er es fallen gelassen, überlegte ich und bückte mich um den Boden abzusuchen. Und tatsächlich, da lag es!

Ich krabbelte weiter nach hinten. Timon musste es bei einem seiner vielen Unfälle aus Versehen verloren haben. Ich hörte ein amüsiertes Räuspern hinter mir. Vor Schreck stieß ich mir den Kopf an der Tischplatte.

„Autsch“, murmelte ich und hielt mir den Kopf als unter dem Tisch hervorkam. Mein Herz rutschte mir fast in die Hose als ich sah, wer da stand.

„Tut mir leid“, entschuldigte er sich grinsend. „Aber was Teufel machst du da?“

„Hat dir deine Mutter nicht beigebracht, keine Flüche in den Mund zu nehmen?“, murmelte ich und erhob mich stöhnend. Gott, mein Kopf tat weh! Im nächsten Moment wurde mir wieder bewusst, wer da vor mir stand. „Ich meine, nichts. Hab nur etwas gesucht, - und auch gefunden“, versuchte ich die Situation zu retten und zeigte ihm das kleine, geschliffene Stück Holz. Er sah gar nicht hin und starrte mir stattdessen lieber ins Gesicht. Meine Wangen glühten rot vor Scham.

„Das kann ich sehen“, erwiderte er und zog eine seiner braunen Augenbrauen hoch. „Was mich viel eher interessieren würde, ist warum du das machst?“

„Das kommt in etwa auf dasselbe“, verteidigte ich mich.

Will schüttelte seinen Kopf. „Das meinte ich nicht. Warum hilfst du ihm?“, fragte er mich interessiert. Seine braunen Augen brannten sich in meine.

„Ich… Ich weiß nicht“, stotterte ich leicht. „Ich dachte nur… Timon hat heute doch schon genug durchgemacht, also warum sollte ich es da nicht versuchen, die Lage etwas leichter für ihn zu machen?“ Ich konnte sehen, wie er darüber nachdachte. War es denn so ungewöhnlich, dass ich jemandem helfen wollte? Ich meine, er kannte mich nicht, und doch erschein es ihm äußerst merkwürdig, dass ich hier Heinzelmännchen für jemanden spielte, den ich gerade erst vor einer Stunde kennen gelernt hatte. Sah ich so wenig… hilfsbereit aus?

Er lachte leise. „Interessant“, verkündigte er dann unvermittelt. „Und wie steht’s mit dir?“ Ich sah ihn verwirrt an. „Brauchst du keine Hilfe?“, brachte er die Sache auf den Punkt.

Doch. Immerhin war ich die Letzte, - aber hey, ich hatte ja auch erst heute angefangen. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Allerdings starrte ich sicher schon seit einer halben Ewigkeit auf meine fertige Skizze und die Holzstücke, die mir unser Lehrer gebracht hatte, und wusste nicht das Geringste damit anzufangen.

„Ich komme schon klar“, log ich ihn an. Wieso hatte ich nicht einfach diese Gelegenheit nutzen können? Ich brauchte Hilfe. Und er bot diese einfach so an, - also warum ablehnen?

„Bist du sicher?“, hakte er noch einmal nach und sah mir tief in die Augen. Haselnussbraun. Meine Knie wurden weich.

Ich nickte leicht. „Ja, eigentlich schon… Nur eine winzig kleine Frage hätte ich da schon“, gestand ich dann doch. Es nützte doch eh nichts. Spätestens wenn es wieder zur Stunde läutete, würde er sehen, dass ich gelogen hatte. „Ich hab die Skizze fertig“, sagte ich deshalb. „Und ich hab das Holz und die Materialen. Wie… Wie geht’s weiter?“

Er lachte, fuhr sich einmal kurz durch sein braunes Haar und erklärte mir die nächsten Schritte. Ich war mehr als erleichtert, als er mir sogar anbot, mir bei Dingen wie dem Schleifen oder Ähnlichem behilflich zu sein; er wäre ohnehin fast fertig mit seinem. Er war gerade dabei mir seinen VW-Käfer zu zeigen, als es zu Läuten begann. Ich hob den Kopf. Die meisten der anderen Schüler waren bereits wieder auf ihren Plätzen, und ich bedankte mich noch einmal schnell bei Will und ging wieder eilig auf meinen Platz zurück. Ich spürte seinen verwirrten Blick von meinem schnellen Abgang in meinem Rücken. Neben mir saß Timon und bestaunte das schöne Schleifpapier.

„Du kennst Wolf?“, fragte er in Gedanken.

„Wen?“, fragte ich verwirrt, als ich gerade dabei war mich zu setzen. Er sah auf; seine Augen machten den Eindruck, dass er gerade ganz woanders zu sein schien.

„William“, erklärte er. „Du hast eben mit ihm geredet.“

„Ja, ich… ein bisschen“, gestand ich. „Wir sind beide im Theaterklub. Aber wie hast du ihn vorhin genannt?“ Vielleicht hatte ich mich ja verhört.

„Hm? Ach so, Wolf“, erwiderte er geistesabwesend. „Sag mal, hast du mir neues Schleifpapier geholt? Es sieht so neu und überhaupt nicht zerrissen aus, wie vorher.“

„Ähm… Ja, hab ich. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, aber der Lehrer hatte mir erklärt, dass man beim Schleifpapier jederzeit Nachschub holen darf, und da deine so kaputt waren…“ Ein Blick in sein Gesicht machte mir sofort klar, dass er überhaupt nichts dagegen hatte. „Aber was meinst du mit >>Wolf<<?“, fragte ich zweifelnd. „Das ist doch wohl nicht etwa sein Nachname, oder?“

Timon lachte. „Nein“, sagte er seinen Kopf schüttelnd. „Nein, das ist nicht sein Nachname. Er heißt mit Nachnamen Delnice. Wolf nennen ihn eigentlich nur seine Teamkameraden, - sein früheres Team hatte den Namen Wölfe. Seit das bekannt wurde, hat sich das Wolf einfach durchgesetzt.“

„Team?“, fragte ich verwirrt und sah zu, wie Timon schon wieder weiter hantierte.

„Unser Fußballteam“, erklärte er ein wenig zerstreut. „Wir spielen seit ein paar Jahren im selben Verein. Wolf ist immer noch der Neuling bei uns, - und das obwohl er bereits seit über zwei Jahren dabei ist.“ Er lachte wieder. „Mein Bruder ist Teamkapitän, - und total vernarrt in ihn. Seit er beim Team ist, sind die beiden wie Pech und Schwefel.“ Er nickte mit dem Kopf nach hinten zu Will.

Ich wandte den Kopf in seine Richtung und sah, dass sein Banknachbar meinem erheblich ähnlich sah. Dieselben schwarzen Haare, bloß kürzer. Die blauen Augen, zugeben, ein wenig heller, als Timons, aber doch auch sehr ähnlich. Ich richtete meinen Blick wieder auf Timon.

„Du hast gesagt unser Team“, erinnerte ich ihn. „Welche Position spielst du?“

Er schnaufte. „Rate“, forderte er mich auf.

Ich lächelte ein wenig schüchtern. Ich wollte nichts Falsches sagen; ich wusste nicht, wie empfindlich Sportler bei so etwas waren. „Ich habe keine Ahnung. Verteidiger vielleicht?“, riet ich.

„Fast“, meinte er, seinen Holzklotz, der noch nicht sehr viel mit einem Auto gemein hatte, in den Händen drehend. „Ich bin Torwart.“ Es brannte mir förmlich auf den Lippen, ihn nach Wills Position zu fragen, aber ich entscheid mich anders.

„Du und dein Bruder, versteht ihr euch gut?“, fragte ich ihn.

Er hantierte weiterhin mit Holz und Schleifpapier und plötzlich fiel mir wieder ein, dass der Unterricht auch schon längst wieder begonnen hatte; ich nahm meine Materialen und ging ans Werk, als ich seine Antwort hörte.

„Es geht gewissermaßen“, erklärte er. „Unser Verhältnis ist ein bisschen schwierig. Wie du dir vielleicht schon gedacht hast, ist Tidus mein Zwillingsbruder.“

Zwillinge! Daher die Ähnlichkeit. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und hörte weiterhin konzentriert zu, während ich so tat, als würde ich arbeiten.

„Und obwohl wir uns äußerlich sehr ähnlich sehen, sind wir sehr verscheiden“, sagte er und suchte scheinbar nach den richtigen Worten. „Mein Bruder Tidus, er ist… Wie soll ich sagen…“ Er stoppte kurz mit seiner Arbeit. „Er ist sehr aufbrausend“, begann er dann langsam. „Und er liebt Gesellschaft und will ständig im Mittelpunkt stehen. Das ist ja an sich nichts Schlechtes, würde es sich nur nicht mit meiner Persönlichkeit so überschneiden. Ich bin nicht immer gern unter Leuten, Tereza, - ich brauche auch mal meine Ruhe, - und ich bin nicht so… ausgelassen und unbeschwert wie mein Bruder. Verstehst du? Auch unsere Interessen sind sehr verschieden. Tidus war immer schon ein hiesiger Sportfan, ich hingegen, ich bin nur im Verein, weil mein Bruder es ist, und weil wir dann wenigstens etwas gemeinsam haben. Das Gleiche wird er sich wohl auch mit Kunst gedacht haben, - das wird der Grund sein, dass er diesen Nachmittagskurs gewählt hat. Oder aber er ist wegen Wolf hier. Wäre auch möglich.“ Er lächelte leicht und schüttelte seinen Kopf. „Aber dieses ganze Gerede langweilt dich bestimmt nur, - lass uns über etwas anderes reden.“

„Nein, überhaupt nicht“, widersprach ich ihm und hätte am liebsten seine Hand genommen. Ich verstand ihn sehr gut. „Mir ging es mal sehr ähnlich. Meine Schwester Marija war auch immer ganz anders als ich. Ein bisschen laut, mutig und wunderschön.“ Ich senkte den Blick. „Sie hat es gut verstanden, mich wegzustoßen, weil ich nicht in ihr Schema passte.“

Er sah mich leicht lächelnd an. „Du hast gesagt war. Ist es denn jetzt besser?“

„Ich weiß nicht“, gestand ich leise und sah auf meine Hände. „Ich habe sie seit gut zwei Jahren nicht mehr gesehen.“ Ich merkte, wie er erstarrte. „Und doch… Obwohl wir uns selten wirklich verstanden hatten, fehlt sie mir doch unheimlich. Komisch, oder?“ Ich schaffte ein kleines, trauriges Lächeln.

„Ist sie…“, begann er, sprach aber nicht weiter.

„Ich weiß es nicht. Ich würde annehmen, dass es ihr gut geht, aber sicher sein kann ich nicht. Ich hoffe es.“ Wir schwiegen einen Moment lang.

„Marija und Tereza?“, fragte er plötzlich leise.

„Ja. Ist das so ungewöhnlich?“, fragte ich genauso leise, - und ein gutes Stück verwundert, - zurück.

„Maria Theresia? So wie die Monarchin?“, fragte er wieder.

Ich brauchte einen Moment bis ich verstand; ich prustete los. „Du hast Recht“, sagte ich verwundert lachend. Zusammen ergaben unsere Namen den der ehemaligen Monarchin der Habsburger. Was hatte sich meine Mutter da bloß für einen Scherz erlaubt?

Maria Theresia war nicht gerade unbekannt. Soweit ich wusste, hatte sie etliche Reformen durchgeführt, einige davon waren sogar bis heute hin gültig. Auch Timon neben mir konnte sich kein Lachen mehr verkneifen, und machte das Ganze nur noch schlimmer, als er mich auch noch an Mutter Theresa und Maria und Josef erinnerte. Von da an gab es kein Halten mehr. Während ich so sehr lachte, wie schon lange nicht mehr, zogen wir einige Blicke auf uns, aber es war mir ganz gleich. Das Ganze war einfach zu komisch.

„Sind deine Eltern irgendwie streng religiös oder so ähnlich?“, fragte er, als ich mir ein paar Lachtränen aus dem Gesicht wischte.

„Nein, das nun nicht gerade“, lachte ich. „Eher sehr konservativ und altmodisch veranlagt, aber das ist auch schon alles“, erklärte ich.

Als der Unterricht bald darauf zu Ende war, beeilte ich mich eine der Ersten zu sein. Erstens hatte ich immer noch die stumme Hoffnung, dadurch Lucy entgehen zu können und zweitens, wollte ich unbedingt verhindern, dass sie sich mit Timon unterhielt oder sah, wie ich es tat. Fünfzig Prozent meiner Hoffnungen gingen in Erfüllung, die anderen fünfzig Prozent mussten sich damit begnügen, am folgenden Tag Erfüllung zu finden, wenn ich nach dem Trainieren mit den Sportklassen früher aus hatte, als Lucy.

Eins zu null für mich, dachte ich und musste ein Grinsen unterdrücken.

Kapitel 5

 

Es war faszinierend wie schnell Timon und ich Freunde wurden, - und wie schnell es Will jedes Mal schaffte, mein Herz zum stehen zu bringen. Ich glaube, Timon und ich wurden schon in der ersten Werkstunde richtige Freunde, und was Will anbelangte, so war ich mir nicht sicher, was wir waren.

Wochen waren vergangen, aber waren wir wirklich schon Freunde?

Immer öfter sprach er mich an und half mir, - im Theaterkurs wie im Werkunterricht. Dabei berührten sich immer mal wieder zufällig unsere Hände und jedes Mal traf es mich wie ein Blitz und veranlasste mich dazu, meine Hand wegzuziehen. Wenn er mit mir sprach, blendete ich alles andere aus und ich erwischte mich immer wieder dabei, wie ich ihn heimlich anstarrte. Und so schön diese Momente auch jedes Mal waren, so sehr, verwünschte ich sie doch jeden Dienstag. Andererseits schien es Lucy nicht sonderlich aufzufallen, sodass sich mein angstpochendes Herz eigentlich beruhigen sollte, wenn er mit mir sprach. Das tat es aber nicht.

Sogar im Werkunterricht, - ohne Angst vor Lucys Blicken, - wollte es sich nicht beruhigen.

Timon denkt, ich bin verliebt, erinnerte ich mich an eines unserer Gespräche an meinem geheimen Telefon. Er hat es zwar nicht direkt ausgesprochen, aber es war klar, was er gemeint hat.

Er war bis jetzt der Einzige, der meine Nummer hatte, aber ich spielte momentan mit dem Gedanken, Wilma aus meiner Chorprobe nach ihrer Nummer zu fragen. In den letzten Wochen hatte ich mich ihr langsam angenähert, etwas, das ich immer vermieden hatte, aus Angst, wieder enttäuscht zu werden. Aber sie fand es nicht sonderlich schlimm, dass ich nachmittags niemals Zeit zu haben schien, und begnügte sich damit, mich in der Schulzeit zu sehen. Timon genauso.

Aber Timon würde mich sowieso nicht zu sich nach Hause einladen, hatte er mir gestanden. Er und sein Bruder mussten sich ein Zimmer teilen und seine Eltern waren, - seine Worte, nicht meine, - einfach unmöglich. Sie würden sich wie ein junges Liebespaar benehmen, schilderte er mir einmal und schüttelte sich. Irgendwie würde ich das gerne einmal sehen; so etwas kam mir viel zu unwirklich vor, als das es wahr sein könnte.

Ob Will mich wohl mal zu sich nach Hause einladen würde?,überlegte ich verträumt. Ich meine, nicht dass ich dieser Einladung wirklich nachgehen könnte, aber es wäre schön, gefragt zu werden. Das wäre es sicher.

Will hatte mir ein wenig über seine Familie erzählt. Soweit ich mich erinnere, war seine Mutter Psychologin und sein Vater Handwerker. Kein Wunder, dass er so geschickt mit seinen Händen war, - er hatte es im Blut. Außerdem hatte er eine zwei-Jahre-jüngere Schwester. Ihr Name war Ana und sie verstand es gut, ihn regelmäßig auf die Palme zu bringen. Sie ging auch in meine Schule; ihre Eltern wollten, dass sie in der Nähe ihres großen Bruders war, - für den Fall der Fälle.

Das fand ich unheimlich süß von ihnen, - und es klang so ganz anders als der Kontrollwahn meiner Eltern. Denn Anas Eltern wollten sie beschützen, und nicht überwachen oder gar einsperren.

Ich hätte sie gerne kennen gelernt, aber alles, womit ich mich bis jetzt begnügen musste, waren die Dinge, die mir Will über sie erzählte und ein kurzer Blick auf ihr Gesicht, als ich sie mit ihm in der Aula hatte stehen sehen, - denn die Wand, welche unsere Schulen voneinander getrennt hatte, war über die Sommerferien abgerissen worden. Nicht mehr lange, und sie würden aus zwei Schulen wirklich eine machen. Ich konnte nicht behaupten, dass mich dies störte, zumal ich dadurch die Gelegenheit bekam zwei meiner Freunde öfter zu sehen.

Vom weiten.

Aber das musste ich nicht großartig erwähnen, oder? An der Lage mit Lucy und ihrer Überwachung über jeden meiner Schritte hatte sich nicht wirklich etwas geändert. Ich sah sie weniger, das schon, ließ mir öfter Ausreden einfallen, um die Nachmittage alleine Zuhause in meinem Schrank und Timon am Telefon zu verbringen, aber sonst?

Ich hatte Timon die Lage, in der ich mich befand erklärt, und obwohl er damit ganz und gar nicht einverstanden war, - und ich, das musste ich zugeben, den Bericht ein wenig geschönt hatte, - wollte er trotzdem nicht, dass ich seinetwegen Ärger bekam, und hielt sich raus. Es Will zu erzählen brachte ich einfach nicht übers Herz. Und so sah ich mich schon der ein- oder anderen peinlichen Situation entgegen, in der ich ihn einfach ignorieren oder mit nur wenigen Worten abspeisen musste. Mir blutet das Herz jetzt noch, wenn ich an seine verwirrten Blicke zurück dachte. Glücklicherweise war er nicht allzu nachtragend.

Was mir allerdings zusätzlich Sorgen bereitete, war Lucy an sich. Sie musste doch mitbekommen haben, dass sich etwas verändert hatte. Sie musste doch die vielen Zeichen sehen. Wilma aus unserer Klasse, die mich seit neuesten immer so vertraut anlächelte, Will aus unserem Theaterkurs, - und wie sie vielleicht ahnte, außerdem meinem Werk-Kurs, - der mich mehr als einmal einfach so ansprach, als hätten wir nie etwas anders getan. Meine glühenden Wangen, wenn ich ihm antwortete und mein schuldbewusster Blick, wenn ich ihn einfach so stehen ließ.

Es sollte eigentlich unmöglich sein, so viel Glück zu haben, dass das alles unbemerkt von ihr blieb. Das sollte es. Das sollte es wirklich. Unmöglich. Aber allem Anschein nach hatte ich so ein unverschämtes, unmögliches Glück.

„Tereza?“, fragte er. Ich saß in meinem Schrank und presste mein Handy an mein Ohr.

„Ja, Timon?“, antwortete ich leise.

„Suchst du immer noch nach deiner Schwester?“ Ich konnte nicht antworten, - meine Kehle war wie zugeschnürt. Er schien das zu spüren, und sagte gleich darauf wieder: „Ich glaube, ich hab sie gefunden.“

Ich sah meine Schwester an einem Ort wieder, mit dem ich niemals gerechnet hätte: Einem Fast Food Restaurant. Es war Freitag, - der einzige Tag, an welchem ich mich nicht fürchten musste, auf Lucy zu treffen, - denn sie hatte noch Schule. Das Laufen ließ ich ausfallen, um mehr Zeit zur Verfügung zu haben. Marija saß mit zwei Kaffeebecher und zwei Stück Kuchen auf dem Tisch auf einer kleinen, braunen Couch; sie hatte sich sehr verändert.

Ihre langen, haselnussbraunen Haare waren jetzt kürzer und fielen ihr bis knapp über die Schulter. Meine Haare waren früher nie länger gewesen als ihre; der Anblick befremdete mich ein wenig. Ihre Augen waren leicht geschminkt und ihre Kleidung viel erwachsener und weniger ausgeflippter, als früher. Doch was mich am meisten überraschte, - sogar einen Moment zum stehen bleiben zwang, - war das kleine, blonde Kind neben ihr. Es hätte mich eigentlich nicht so überraschen sollen, aber irgendwie hatte ich diese eine, kleine Tatsache vollkommen vergessen. Das war ihr Kind.

Im selben Moment als sie mich entdeckte, löste ich mich wieder aus meiner Starre und ging langsam auf sie zu.

„Tereza“, sagte sie mit einem breiten Lächeln und sah mich mit großen Augen an. Ich schaffte es nicht, das Lächeln zu erwidern. Ich starrte sie nur weiter an, als sie aufstand und mich an sich drückte. „Ich hab dich vermisst“, sagte sie ehrlich, und in dem Moment erwiderte ich ihre Umarmung und spürte Tränen meine Wangen hinunter rinnen.

„Ich dich auch“, erwiderte ich mit tränenerstickter Stimme. Sie löste sich von mir und hatte selbst Tränen in den Augen stehen, bevor sie sich wieder auf die Couch setzte und mir mit der Hand zu verstehen gab, mich ihr gegenüber zu setzen.

„Tereza, das ist Benji“, sagte sie lächelnd dem kleinen, dunkelblonden Jungen zugewandt. Sie hob ihn auf ihren Schoß und drehte sich ein wenig mehr in meine Richtung. Er hatte wunderschöne, blaue Augen. „Und Benji, das ist Tereza, - deine Tante.“

Bei dem Wort musste ich schmunzeln. Ich war eine Tante; wie sonderbar. „Hallo Benji“, sagte ich freundlich und mit brüchiger Stimme. Ich bückte mich ein wenig, um ihm ein Stück näher zu kommen. Er zog den Kopf ein und sah zu seiner Mutter hoch.

Er hatte Sommersprossen wie Marija früher und sein Blick war fast schüchtern. So etwas hätte ich von einem Kleinkind am allerwenigsten erwartet, aber ich kannte ja kaum welche. Marija versuchte noch eine Weile ihn dazu zu überreden, mit mir zu sprechen, - denn ein paar Wörter konnte er schon, verkündete sie stolz, - aber der kleine Blondschopf schüttelte nur immer lächelnd seinen Kopf.

„Wie ist es dir ergangen, nachdem ich weg war?“, fragte sie mich besorgt und fütterte Benji mit dem Schokoladenkuchen auf ihrem Teller. Mein Teller lag noch unberührt da.

Ich räusperte mich leise. „Nicht besonders“, gestand ich und erzählte ihr alles über die Gespräche unserer Eltern und die Geschichte mit Lucy. Als ich ihr Näheres über meine vermeintliche Babysitterin erzählte, wurde ihr Gesicht hart und ihre Augen verengten sich zu schlitzen. Zum Glück war der kleine Benji mehr mit seinem Schokoladenkuchen beschäftigt, als dass er seiner Mutter seine Aufmerksamkeit hätte schenken können, - er hätte vermutlich den Schock seines Lebens bekommen, sie so wütend zu sehen. Aber es half eh nichts, bei ihrem nächsten Satz, den sie sprach ließ der Kleine vor Schreck über ihren Ton seine Gabel fallen und sah sie wie vom Blitz getroffen an.

„Was fällt dieser Lucy ein, dich so abscheulich zu behandeln?“, fragte sie verärgert. Ihre Augen warfen Blitze, und als Benji seine Gabel fallen ließ, beeilte sie sich eine ausdruckslose Maske aufzusetzen und ihn leise zu beruhigen. Dann wandte sie sich wieder an mich. „Du musst das sofort unterbinden, Reza“, nannte sie mich bei meinem Spitznamen. „So können sie dich nicht behandeln, keiner von ihnen. Wie kann ein Mensch nur so boshaft sein?“, regte sie sich auf. „Ich bin drauf und dran nach Hause zu stürmen und allen einmal gehörig die Meinung zu sagen, - und am allermeisten Mutter und dieser Lucija.“

„Das darfst du nicht machen“, wies ich sie sofort zurecht und sah sie bittend an. „Das würde alles nur noch schlimmer machen. Bitte, sei einfach wieder für mich da und ruf mich ein paar Mal an, damit ich weiß, dass es dir gut geht und ich noch ein Teil deines Lebens bin.“ Alles was ich wollte, war meine Schwester zurück.

Ja, meine derzeitige Situation müsste sich ändern, - und zwar bald, - aber das musste ich alleine schaffen. Ich hatte mir meine Freiheit nehmen lassen, und ich holte sie mir auch wieder zurück. Ich hatte doch schon Fortschritte gemacht. Ich sah, wie meine Schwester ungläubig den Kopf schüttelte.

„Natürlich werde ich für dich da sein“, versicherte sie mir und nahm meine Hand. „Aber ich muss doch noch mehr tun können. Wie stellst du dir vor, wie es weitergehen soll? Willst du einfach abwarten bis du volljährig bist, um dann auszuziehen oder wie ist dein Plan?“ Mein Plan? Ich hatte noch keinen genauen. Und das sagte ich ihr auch. „Du bist verrückt“, erklärte sie. „Aber wenn dir nicht bald etwas einfällt, oder du es einfach nicht mehr aushältst, dann versprich mir, dass du es mir sagst, okay? Ich bin für dich da, werde dich nie wieder alleine lassen“, versprach sie und begann fast zu weinen. Erschrocken sah ich sie an.

„Scht“, versuchte ich sie zu beruhigen und stand auf und setzte mich neben sie auf die Couch und nahm sie in den Arm. „Alles wird gut. Ich krieg das schon irgendwie hin.“

„Ich weiß. Tut mir leid“, erklärte sie unter Tränen. „Es ist nur… Ich habe Angst noch jemanden zu verlieren. Das würde ich einfach nicht mehr ertragen.“

„Noch jemanden?“, fragte ich leise.

„Das erkläre ich dir ein anderes Mal, Reza“, sagte sie und löste sich von mir um sich mit der Serviette die Nase zu putzen. „Das hier ist nicht der richtige Ort.“ Da hatte sie Recht. „Und wenn ich es Recht bedenke, auch nicht die richtige Zeit, - du musst bald gehen.“ Sie sah mich mit der Serviette vor dem Gesicht an. „Lass dich von dieser kleinen Göre nicht unterkriegen, hörst du.“

„Lucy ist im gleichen Alter wie ich“, erklärte ich augenverdrehend.

„Eben“, zog Marija mich auf und grinste mich an.

„Hey, das hab ich jetzt aber überhört“, sagte ich gespielt beleidigt und sie lachte.

„Ich habe übrigens noch etwas für dich, bevor du gehst“, verkündete sie und zog ein kleines Packet aus ihrer Handtasche. „Hier“, sagte sie und überreichte es mir. Es war in buntem Geschenkpapier eingewickelt. „Alles Gute zu deinem sechzehnten Geburtstag!“, verkündete sie und ich sah sie sprachlos an. „Was?“, fragte sie verlegen. „Hast du etwa wirklich gedacht, ich hätte deinen Geburtstag vergessen?“

„Ich hab erst… in ein paar Tagen Geburtstag“, stotterte ich überrascht.

Ihr Blick wurde weich. „Ja, ich weiß, aber ich dachte in Anbetracht der Tatsache, dass ich deinen letzten Geburtstag versäumt habe, könntest du dein Geschenk dieses Jahr schon etwas früher auspacken.“ Ich antwortete nicht und umarmte sie einfach.

„Danke“, sagte ich. „Was ist es denn?“

Sie lachte. „Das musst du schon selbst rausfinden, - mach es auf.“ Sie hob Benji auf ihr Knie und sah mir beim ungeschickten auspacken zu. Ich hatte noch nie ein Händchen für so etwas. Zum Vorschein kam schließlich eine kleine, rote Schachtel. Marija neben mir kicherte. „Schau nur rein“, sagte sie und nickte in Richtung des Kästchens. Ich drehte es ein paar Mal und versuchte den Deckel hochzuheben, aber er war wie festgewachsen. Sie kicherte wieder.

„Jaja“, sagte sie grinsend. „Das ist nicht so leicht, wie es aussieht. Gib her.“ Sie nahm es mir aus der Hand und machte es in einer einzigen fließenden Bewegung auf.

„Ich wollte es nur nicht kaputt machen“, murmelte ich.

„Das geht den meisten so, - deshalb ist es ein gutes Versteck, und schützt vor neugierigen Nasen“, erklärte sie während Benji und ich jede ihrer Handbewegungen folgten. „Und jetzt sieh her“, befahl sie mir und sechs paar Augen richteten sich augenblicklich auf die offene, rote Schachtel in ihren Händen.

Ein Anhänger, dachte ich überrascht. Der Boden der Schachtel war mit einem schwarzen Schaumstoff ausgelegt, und in einer kleinen Vertiefung lag ein silberner Anhänger.

„Das ist noch nicht alles“, verkündete sie mit einem gewissen Maß an Stolz in der Stimme. „Das ist kein gewöhnlicher Anhänger, - es ist eine Art digitales Fotoalbum. Wenn du hier auf der linken Seite diesen Knopf drückst, dann erscheint ein kleines Eingabefeld auf dem Bildschirm indem du einfach einen Code eingibst… Siehst du, so…“, erklärte sie und gab das Wort „Benji“ ein. Gleich darauf erschein ein Bild von meiner lächelnden Schwester und ihrem Sohn auf einer Wiese. „Du kannst die Bilder unter verschiedenen Passwörtern einspeichern. Wenn du das Wort >>Reza<< eingibst, dann erscheint sogar eine ganze Bilderstrecke.“ Ich probierte es aus. Diesmal waren die Bilder anders. Eine Straßentafel, eine Bushaltestelle, eine Nummer, dann wieder meine lächelnde Schwester, die mit ihren Fingern auf ein Schild deutete.

„Was… Was ist das?“, fragte ich sie verwirrt. Sie lachte leise über meinen Gesichtsausdruck.

„Eine Anleitung zu meinem neuen Zuhause. Ich wohne jetzt bei Benjamins Eltern.“

„Ich…“ Eine Anleitung? Wollte sie, dass ich sie mal besuchen kam? Ich schüttelte verwirrt meinen Kopf und konnte meinen Satz nicht zu Ende sprechen; meine Kehle war wie zugeschnürt.

„Damit du weißt, dass du immer zu mir kommen kannst“, erklärte sie und ich war mittlerweile beim letzten Bild angelangt. Es war ein Schlüssel. Sie sah es und lachte wieder. „Am Boden des Anhängers ist eine kleine Klappe, - darin findest du meinen Zweitschlüssel.“ Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu.

„Ich danke dir vielmals“, brachte ich überwältigt über meine Lippen und gab ihr einen kleinen Kus auf die Wange. Meine Schwester hatte schon immer ausgefallene Geschenke geliebt, aber das…

„Nichts zu danken“, sagte sie leicht dahin, aber ich ahnte wie viel Arbeit sie in alles gesteckt hatte. Marija erklärte mir noch ein paar technische Details; wie man Fotos verschicken und bekommen konnte, wie das mit den Passwörtern funktionierte und wie ich den Schlüssel in der Geheimklappe verstecken und auch wieder rausnehmen konnte. Wir tauschten noch unsere Handynummern aus. Danach musste ich gehen.

„Ruf mich an“, sagte ich zum Abschied und gab dem kleinen Benji die Hand. Er drückte sich an seine Mutter und grinste über beide Ohren.

„Das mach ich“, versprach sie. „Und du lässt dich nicht unterkriegen, hast du gehört?“

Ich nickte einmal und ging zur Tür. Dort angekommen, lief ich los. Ich war länger weg, als geplant. Lucy müssten jeden Moment aus haben, und ich müsste eigentlich schon seit einer Stunde zu Hause sein. Ich sprintete den ganzen Weg nach Hause und stützte mich beim Nachbarhaus angekommen völlig außer Atem, aber glücklich auf meine Knie. Als ich mich wieder beruhigt hatte, ging ich im normalen Tempo zu unserem Haus, schloss auf und trat ein.

„Wo warst du?“ Ich hatte die Tür noch nicht einmal geschlossen, da stand auch schon meine Mutter mit verschränkten Händen im Flur und sah mich ausdruckslos an. Ich schluckte.

„Ich habe noch auf Lucy gewartet, damit wir gemeinsam nach Hause gehen konnten“, log ich sie an, und ihre Züge hellten sich augenblicklich auf. „Das ist nett von dir“, erklärte sie dann leicht lächelnd. „Aber das nächste Mal sagst du mir vorher Bescheid.“

„Ich dachte, du wärst bei deinem Damenclub“, nuschelte ich.

„Das wäre kein Grund, es mir nicht zu sagen“, erwiderte sie und ihr Lächeln war verschwunden. „Ich möchte nicht, dass du Geheimnisse vor uns hast.“

„Hab ich nicht, keine Sorge“, log ich abermals und sah sie nicht an. Ich lief die Treppe hoch in mein Zimmer, riss die Schranktüren auf und setzte mich rein, den Anhänger meiner Schwester wie einen Schatz in den Händen halten. „Marija“, flüsterte ich leise und gab traurig lächelnd den Spitznamen ihres Sohnes ein.

Auf einmal fühlte ich mich so verlassen, so allein. Stumm liefen mir die Tränen über die Wangen, als der kleine Bildschirm aufleuchtete und das Bild meiner Schwester erschein.

Kapitel 6

Das Wochenende zog sich unendlich in die Länge, - ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie ich es überstand.

Am Sonntag feierten wir meinen sechzehnten Geburtstag. Unser Hausmädchen Ramona machte eine Schwarzwälder Kirschtorte, mein Vater gab mir brav die Hand wie an jedem meiner Geburtstage und gratulierte mir und meine Mutter ließ sich zu einem kleinen Kuss auf die Stirn herab, aber es war nicht viel Herz dahinter zu erahnen.

Geschenke bekam ich seit meinem neunten Lebensjahr nicht mehr; sie wollten mich nicht verwöhnen. Nur Marija und ich schenkten uns jedes Jahr eine Kleinigkeit. Und wenn ich ehrlich war, wollte ich es auch gar nicht mehr anders. Jedes Geschenk meiner Eltern würde sich in meinen Augen als falsch und heuchlerisch herausstellen, - und somit seinen Zweck nicht im Entferntesten erfüllen. Es war besser so, wie es war.

Ich hatte eigentlich erst am Dienstag Geburtstag, aber mein Vater fuhr am Montag auf eine wichtige Geschäftsreise, - dieses Jahr hoffte er wirklich auf den Platz des Parlamentsvorsitzenden, - und würde sobald nicht wieder kommen. Im Grunde hieß das nicht viel. Ich sah meinen Vater sowieso nur noch sehr selten. Wenn ich Glück hatte, aßen wir zusammen zu Abend, aber das war auch alles. Meine Mutter wollte ihn so gut sie es konnte unterstützen, und so gab sie unserem Hausmädchen extra Anweisungen sich besonders um die Hemden und Anzüge meines Vaters zu kümmern, bevor er fuhr.

Der Montag verlief ganz normal ohne Zwischenfälle. Im Chor stand ich jetzt neben Wilma, - mit der ich mich immer besser verstand, - und Lucy war schweigsam wie immer auf dem Nachhauseweg.

Am Dienstag geschah allerdings etwas sehr ärgerliches: Unser Klassenvorstand, Ms. Milage fiel zufällig auf, dass heute mein Geburtstag war, und gratulierte mir vor allen in der Klasse. Überraschte Blicke und das ein oder andere Schnappen nach Luft waren die Folge; Wilma ging sogar auf mich zu, und schallte mich, weil ich es ihr nicht gesagt hatte.

„Ich hätte dir eine Kleinigkeit besorgt“, sagte sie gespielt beleidigt und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Ich warf einen Seitenblick zu Lucy, - sie gähnte gelangweilt.

„Das ist wirklich nicht nötig“, wehrte ich ab. Aber Wilma ließ sich nur sehr schwer umstimmen und kam sogar nach der großen Pause mit einer Packung Schokobonbons auf mich zu.

„Hier, Alles Gute zum Geburtstag.“, sagte sie und platzierte die Packung schwungvoll auf meinen Tisch. Überrascht sah ich sie an. „Wenn du es mir allerdings früher gesagt hättest, hätte ich mit etwas Besserem aufwarten können, als ein bisschen Schokolade vom Buffet.“ Sie grinste mich an.

Ein wenig überrumpelt erwiderte ich das Lächeln zaghaft. „Danke.“

Sie winkte ab. „Das ist doch nichts, - aber merk dir, nächstes Jahr kommst du mir nicht so leicht davon.“ Sie zwinkerte und ich konnte spüren, wie es um mein Herz herum wärmer wurde.

Im Theaterkurs war ich längst mit dem Flicken der Kostüme fertig, - ich half nun bei der Ausrichtung der Beleuchtung und der Bearbeitung der Bühnenbilder. Will war heute nicht in der Schule. Ob er wohl krank war? Immerzu kreisten meine Gedanken um Will und warum er nicht hier war, sodass ich mich kaum auf meine Arbeit konzentrieren konnte.

Fieberhaft sehnte ich den Donnerstag herbei, - der Tag an dem ich ihn und Timon wiedersehen würde. Ich war früh dran an jenem Tag und blieb kurz unschlüssig, was zu tun sei, vor der Tür des Werksaals stehen. Ich drückte die Klinke nach unten und tatsächlich: Die Tür war offen.

Es waren noch kaum Schüler da. Auch Wills Platz stand noch leer. Ich sah zu meinem Platz und lief freudig auf meinen Banknachbarn zu. „Timon“, sagte ich lächelnd und warf mich in seine Arme. Ein wenig überrumpelt stand er unbeholfen da, und wusste gar nicht wie ihm geschah. „Danke“, sagte ich mit einer solchen Inbrunst in der Stimme, dass er sofort verstand, was ich meinte.

„Alles Gute zum Geburtstag“, sagte er und drückte mich einmal fest, bevor wir uns wieder voneinander lösten. Sein Gesichtsausdruck war fast weich, das bekam man selten zu sehen. Schien so, als würde ich langsam mal zu ihm durchdringen.

„Wie hast du sie gefunden?“, fragte ich ihn mit großen Augen.

Verlegen strich er sich seine kinnlangen, schwarzen Haare aus dem Gesicht. „Ach, das war nicht so schwer, wenn man weiß, wo man suchen muss“, wich er aus. Ich wartete weiterhin auf eine Antwort. Er seufzte. „Ich kannte den Freund deiner Schwester flüchtig, - ihn und seine Familie. Deshalb wusste ich, wo sie wohnten und danach war es nicht sehr schwer festzustellen, wohin sie umgezogen sind.“

„Sie sind umgezogen?“, fragte ich überrascht.

Zweifelnd sah er mich an. „Wusstest du das nicht?“, beantwortete er meine Frage mit einer weiteren.

„Nein, woher denn. Ich habe Ben kaum einmal gesehen, geschweige denn seine Familie kennen gelernt. Marija hat ihn sogar vor mir geheim gehalten.“ Mich befiel eine leichte Traurigkeit, als ich daran zurück dachte, dass ich nur durch Zufall von ihrer Beziehung zu dem Jungen erfahren hatte.

„Nun ja, Bens Familie hatte früher schon oft überlegt, von hier wegzuziehen, und spätestens nach dem Unfall…“ Er sprach nicht weiter.

„Unfall?“, wiederholte ich verständnislos. „Welcher Unfall?“ Er zögerte, unsicher, ob er weiterreden sollte; das konnte ich sehen. „Jetzt sag schon“, forderte ich ihn wieder auf.

„Ben“, begann er leise. „Er hatte einen Autounfall, - nur wenige Monate nach der Geburt seines Sohnes. Deine Schwester ist zusammengebrochen und war eine Woche im Krankenhaus. Bens Familie hatte sich inzwischen um den Kleinen gekümmert und als deine Schwester wieder aus dem Krankenhaus kam, hatten Bens Eltern beschlossen umzuziehen und nahmen Marija und ihren Enkelsohn mit.“

Fassungslos starre ich ihn an. Das konnte nicht wahr sein. Wieso hatte Marija mir das nicht erzählt? Ich erinnerte mich, wie sie in Tränen ausgebrochen war, und gesagt hatte, sie würde es nicht ertragen, noch jemanden zu verlieren… Wenn ich das geahnt hätte! Ich hatte gedacht, sie spiele auf unsere Mutter und unseren Vater an, und dass Marija sie als Elternteil verloren hätte, aber das… Das war einfach…

„Unglaublich“, erwiderte ich mit brüchiger Stimme. Meine arme Schwester! Ich konnte mir ihren Schmerz gar nicht vorstellen.

„Das ist es“, stimmte er mir leise zu. „Aber leider wahr.“

„Tereza“, hörte ich eine zögernde Stimme hinter mir, und sein besorgter Tonfall ließ mich fast in Tränen ausbrechen.

Der bloße Schlag meines Herzens, der viel zu hart gegen meine Brust drückte, schmerzte ungewohnt stark. Ich bekam kaum noch Luft, als ich mich zu ihm umdrehte und verzweifelt versuchte, keine Grimasse zu schneiden.

„Tereza, du…“, begann er, stoppte aber schockiert, als er mein Gesicht sah. „Ich bringe dich zur Krankenschwester“, sagte er dann entschlossen.

Ich schüttelte den Kopf und er trat näher. „Nein, ich…“, sagte ich brüchig und die ersten Tränen flossen über. „Mir geht es gut, ich…“ Meine Stimme war nur noch ein Flüstern.

„Keine Widerrede“, sagte er, nahm meine Hand und zog mich sanft, aber bestimmend weiter; meine derzeitige Verfassung änderte nichts an der Tatsache, dass kleine elektrische Blitze von seiner warmen Hand ausgingen und sich auf mich übertrugen. Ich wollte schon immer einmal wissen, wie es sich anfühlen würde seine Hand zu halten, - und es war sogar noch besser, als ich gedacht hätte. „Sag Prof. Lynn, dass ich sie zur Schulärztin bringe”, rief er Timon über die Schulter hinweg zu und zog mich aus dem Raum, die Blicke der anderen Schüler einfach nicht beachtend. Es hatte inzwischen geläutet und es standen kaum noch Schüler auf den Gängen. Er zog mich hinter sich her in den Hinterhof, auf dem nur ein paar Mülltonnen standen und man einen guten Ausblick auf den Sportplatz hatte.

Endlich blieben wir stehen. Er hielt immer noch meine Hand.

„Möchtest du mir erzählen, was los ist?“, fragte er mich. Nicht aufdringlich, nicht übertrieben neugierig oder fürsorglich. Er fragte einfach. Er hätte genauso gut nach dem Wetter fragen können, - wenn man es nicht besser wusste, hätte man es nicht sagen können.

Ich schüttelte meinen Kopf und wischte mir meine Tränen mit meiner freien Hand aus dem Gesicht, aber es kamen immer neue nach. „Könntest du…“, begann ich mit tränenerstickter Stimme. Ich wagte es nicht, ihn anzusehen. „Könntest du mich bitte einfach nur in den Arm nehmen?“, fragte ich. Keine Reaktion. Ich wusste, ich würde es bereuen. Eben wollte ich meine Bitte wieder zurück nehmen, als er mich beinahe gewaltsam in seine Arme riss und mich festhielt. Ich japste überrascht nach Luft und nach kurzem Zögern drückte ich mich seinerseits an seine Brust. Ich hatte nicht wirklich gewusst, wie nötig ich diese Umarmung hatte, - bis zu dem jetzigen Augenblick.

Sein Körper war so warm und weich. Beschützend hielt er mich im Arm und ließ mich einfach weinen. Es brauchte keine übermäßigen Wörter, - ich brauchte nur ihn.

Nach einiger Zeit hatte ich mich endlich wieder halbwegs beruhigt und löste mich ein wenig peinlich berührt von ihm. Ich versuchte ein schwaches Lächeln. Ernst erwiderte er meinen Blick.

„Das bleibt aber unter uns“, versuchte ich das Ganze ein wenig ins Lächerliche zu ziehen.

Sein Gesicht verriet keine Regung als er antwortete: „Wegen Timon?“

„Was?“, rief ich verdutzt aus. Ich beeilte mich, dieses Missverständnis aufzuklären. „Nein, nein. Er hat damit überhaupt nichts zu tun“, sagte ich schnell und überlegte fieberhaft, wie ich es ihm erklären konnte, ohne zu viel zu verraten. Seine haselnussbraunen Augen sahen mich immer noch ausdruckslos an. Ach Scheiß drauf, dachte ich und begann zu erzählen: „Es ist nur, meine Eltern würden mich vermutlich ins nächste Kloster schicken, wenn sie es wüssten… Und wenn wir nicht aufpassen, dann erfahren sie es, weil…“ Wie zum Donnerwetter sollte ich ihm denn die Geschichte mit Lucy erklären. „Weil sie ihre Augen überall zu haben scheinen, und ich einfach sicher gehen wollte, dass das, was eben geschehen ist, auch sicher unter uns bleibt.“ Mehr konnte ich ihm nun wirklich nicht verraten. Er war nicht wie Timon. Ich konnte ihm nicht einfach alles ohne Vorbehalte erzählen. Zum einen, weil ich mir sicher war, dass er mich dann nicht mehr nach Hause oder in die Nähe von Lucy lassen würde, und zum anderen, weil es mir unsagbar peinlich war.

Will nickte kurz und sah mir tief in die Augen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und meine Knie begannen zu zittern.

„Wenn du Probleme hast, dann möchte ich, dass du zu mir kommst“, erklärte er eindringlich und jede Faser meines Körpers schrei danach, ihm näher zu kommen und zu berühren. „Nicht zu Timon oder irgendjemand anderem, - zu mir.“ Sein Tonfall jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken und meine Hände begannen vor Glück zu zittern. Er wollte für mich da sein.

Ich nickte langsam, - etwas anderes brachte ich in meiner momentanen Verfassung nicht zu Stande; ich wollte gar nicht wissen, wie ich aussah. Und trotzdem sah er mich immer noch genauso an, wie sonst auch, - nur vielleicht ein bisschen intensiver.

Er lächelte und entblößte eine Reihe weißer, gesunder Zähne; sein Lächeln war umwerfend. Ich lächelte schwach, aber selig zurück.

Als wir uns wieder trennten, - er sich wieder auf den Weg in den Werksaal machend, und ich auf den Weg nach Hause, - griff er plötzlich wieder nach meiner Hand und zog mich kurz in seine Arme. Ich spürte seinen warmen Atem im Genick und vor Schreck blieb mir die Luft weg. Nur eine Sekunde später ließ er mich wieder los und sah mich grinsend an.

„Nur für den Fall, dass ich dich so schnell nicht wieder alleine zu sehen bekomme“, meinte er und ging zur Tür. Zu überrascht und zu aufgewühlt von seiner Umarmung und seinen Worten blieb ich noch eine Weile wie angewurzelt stehen, bis ich mich schließlich kopfschüttelnd aus meiner Starre löste und auf den Weg nach Hause machte.

„Wo kommst du denn her?“, begrüßte mich meine Mutter mit einer Zeitung in der Hand. „Und wie siehst du überhaupt aus?“ Ich verkniff mir ein Lächeln. Furchtbar, ich sah furchtbar aus, da wäre ich jede Wette eingegangen.

„Ich bin krank“, erklärte ich ihr und ihr ärgerlicher Gesichtsausdruck verschwand. „Die Schulärztin hat mich nach Hause geschickt.“

Sie nickte. „Du siehst wirklich nicht gut aus“, bestätigte sie. „Geh rauf und leg dich hin. Ich sage Ramona, sie soll dir eine Suppe zum Abendessen kochen.“ Wenn meine Mutter das Gefühl hatte, das es mir wirklich nicht gut ging, dann konnte sie fast so etwas wie fürsorglich sein.

Am selben Abend überredete sie mich allerdings wieder dazu, morgen zur Schule zu gehen. Sie wollte nicht, dass sich Nachbarn und Lehrer Sorgen um mich machten.

„Und es geht dir ja auch gar nicht so schlecht, - du hast wahrscheinlich nicht einmal mehr Fieber“, führte sie ihre Aufzählungen fort. Ramona war mir kurz nachdem ich nach oben geeilt war, in mein Zimmer gefolgt und hatte meine Temperatur gemessen. 37,2.

Ich versuchte mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen, als sie wenige Minuten später mit einer Haferflockensuppe und einem nassen Waschlappen erschien und mich anschließend wieder alleine ließ. Vom Abendessen wurde ich entschuldigt und vor dem Schlafengehen kam meine Mutter noch herein, und verkündete mir, dass sie mich morgen ganz normal wecken würde.

 

Kapitel 7

 

Die nächste Überraschung erwartete mich schon am nächsten Morgen, - denn ich durfte alleine von der Schule nach Hause gehen!

„Ms. Tito hat mich heute Morgen erst davon in Kenntnis gesetzt, dass Lucija leider krank ist“, erzählte mir meine Mutter beim Frühstück, und es war ihr anzusehen, dass sie mit der Situation ganz und gar nicht zufrieden war. „Nach der Schule wirst du sofort zu ihr gehen und ihr Gesellschaft leisen, - ganz so, wie es sich für eine gute Freundin gehört.“

Ich wollte protestieren, ihr sagen, dass ich nicht auch noch krank werden wollte, aber sie bestand darauf, - ich hätte die Krankheit ohnehin schon hinter mir, und wäre jetzt gewissermaßen als Einzige Immun. Zähneknirschend machte ich mich bald darauf auf den Weg zur Schule; ich war schon fast bis zur Hälfte, bis mir plötzlich einfiel, was für ein Glück ich doch hatte: Mich erwarteten mehrere Stunden ohne Lucy! Wen kümmerte es, dass ich sie heute Zuhause besuchen musste? Ein kurzer Abstecher, und ich hätte meine Pflicht erledigt und wäre frei.

Lucy war krank, - der Gedanke war sonderbar. Aber immerhin wusste ich jetzt, dass selbst sie nicht vor allem gefeilt war.

In der Schule wurde meine gute Laune nur noch besser, als mir Wilma anbot, mich heute neben sie zu setzen. Dankend nahm ich an und kam so den ganzen Tag in den Genuss von Wilmas anregender Gesellschaft.

Wilma war ein regelrechter Wirbelwind, - und heute schein sie sogar noch aufgeweckter und unverfänglicher zu sein, als sonst. In der großen Pause ging ich mit ihr zusammen in die Cafeteria, und stellte sie Timon vor, der erst einmal gar nicht glauben konnte, dass ich ihn einfach so ansprach. Selbst, als ich ihm erklärt hatte, dass Lucy heute krank war, - und ihm einen bedeutungsvollen Blick zuwarf, - sah er sich immer noch heimlich ein paar Male um. Einmal grinste ich ihn dabei an und er senkte Ertappt den Kopf.

Nur wenige Meter neben unserem Tisch saß Will mit seinen Freunden, - was mir allerdings erst gegen Ende der Pause auffiel, - und ab diesem Zeitpunkt hoffte, und fürchtete ich zugleich, dass er mich ebenfalls entdecken würde. Neben ihm saß einer seiner besten Freunde, - Tidus, - wie ich nicht umhin kam, festzustellen; er und sein Bruder sahen sich einfach zu ähnlich.

„Warum sitzt du eigentlich nicht bei deinem Bruder und seinen Freunden?“, fragte ich Timon, während ich immer noch zu Will starrte. Er trug einen dünnen, grauen Sweater, der seine Muskeln betonte und sein haselnussfarbenes Haar glänzte in der Sonne. Er sah aus, als würde er seinem schwarzhaarigen Freund bei seiner Geschichte, die er zum Besten gab, zuhören, aber ich kannte ihn mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass er gerade ganz woanders war; seine Augen verrieten ihn. Ich sah wieder zu Timon.

„Ich esse meistens alleine“, meinte er bloß schulterzuckend.

„Ja, aber… Wieso?“, hakte ich verständnislos nach.

Er schnaubte. „Vielleicht, weil ich in Ruhe essen möchte, ohne mir die neuesten Errungenschaften meines Bruders anhören zu müssen?“, antwortet er sarkastisch und wandte sich wieder seinem Essen zu. Seine schwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht und er stieß einmal die Luft aus, um essen zu können.

„Oh“, sagte ich bloß leise und sah wieder zu Will. „Empfindliche Stelle, was?“ Mittlerweile sollte ich es eigentlich besser wissen; Timons Zwillingsbruder war für ihn wohl immer noch ein rotes Tuch.

„Schon möglich“, antwortet er kauend. In dem Moment sah Will plötzlich in meine Richtung und ich begegnete seinem Blick. Seine Augen zogen mich in einen Bann und ich bekam eine leichte Gänsehaut. Ich konnte nicht mehr wegsehen, ich war wie gefangen von seinem intensiven Blick. Meine Knie wurden weich und ich war mehr als froh, auf einem Stuhl zu sitzen, andernfalls wäre ich vermutlich unter seinem eindringlichen Blick zusammengeklappt.

„Hey“, rief da plötzlich Timons Bruder in meine Richtung, und unterbrach den Bann. Ich wurde rot und sah weg. Fast hätte ich ihm dankbar sein können, wäre da nicht sein nächster Satz gewesen, der mich erschreckt wieder aufsehen ließ. „Möchtest du dich nicht zu uns setzen?“

Er meinte doch nicht etwa mich, oder? Ich sah wieder zu Wills Tisch und musste feststellen, dass er seinem Freund einen bösen Blick zuwarf. Verständnislos sah der Schwarzhaarige ihn an und sagte etwas zu ihm, das ich nicht verstand und wandte sich dann wieder einladend lächelnd an mich. Will starrte angespannt auf die Tischplatte vor ihm. Ich schluckte schwer und machte dann mit den Händen eine Geste, die in etwa Nein, danke ausdrücken sollte und lächelte schüchtern in die Richtung des Schwarzhaarigen, bevor ich mich umwandte und Wilma ansprach.

Das Ganze war mir so peinlich, dass ich mich unbedingt ablenken musste, deshalb sprach ich mit ihr ein wenig über den Chor und erwähnte ganz nebenbei mein neues Handy. Strahlend fragte sie mich nach meiner Handynummer und gab mir auch ihre. Ich war froh, als die Pause endlich vorbei war, und Wilma und ich uns wieder in unsere Klasse begaben.

Will hatte so… verärgert ausgesehen. So hatte ich ihn noch nie gesehen, - und erst Recht nicht, wegen mir. Ich ließ den Kopf hängen und überlegte ernsthaft, Sport abermals ausfallen zu lassen, - immerhin hätte ich eine gute Entschuldigung, weil ich gestern auch schon früher gegangen war, - aber ich entschied mich dann doch dafür.

Nicht, weil ich plötzlich doch Lust hatte, ganz im Gegenteil, sondern weil ich einfach noch nicht nach Hause und zu Lucy wollte. Glücklicherweise kam es gar nicht soweit, denn neben der Tür der Mädchenumkleide lehnte Will und schien auf mich zu warten. Als er mich sah, stieß er sich geschmeidig von der Wand ab und begrüßte mich.

„Hey“, sagte er leise.

„Will“, antwortete ich überrascht. „Was machst du hier? Du willst doch nicht etwa spannen?“, zog ich ihn auf.

„Das hatte ich eigentlich nicht vor, aber jetzt, wo du es erwähnst…“ Sein Blick ließ mir das Blut in den Adern gefrieren. „Das war ein Scherz“, stellte er klar, und sein Blick wurde wieder normal als er lachte. Erleichtert atmete ich aus, - und schämte mich im gleichen Moment für mein peinliches Verhalten. Meine Wangen glühten und er lachte noch mehr.

Gott, es sollte verboten sein, so anziehend zu lachen, schoss es mir unweigerlich durch den Kopf. „Also, was wolltest du?“, fragte ich ihn wieder, als ein paar Mädchen an uns vorbei- und in die Kabine gingen.

„Ich wollte mich entschuldigen“, sagte er jetzt wieder ernst und sah mir dabei tief in die Augen. „Tidus ist manchmal ein wenig vorlaut, - ich werde mit ihm reden, dass er sich in Zukunft mehr zurückhält.“ Seine Entschuldigung versetzte mir einen kleinen Stich, - sie war um einiges schmerzhafter als sein verärgerter Gesichtsausdruck es gewesen war.

„Dafür hättest du nicht extra herkommen müssen“, sagte sie leise und fixierte einen Punkt auf dem Fliesenboden.

„Doch“, stellte er klar und ging einen Schritt auf mich zu; es schien ihm zu stören, dass ich ihn nicht ansah, - aber diesen Gefallen wollte ich ihm nicht tun. „Du hast gesagt, dass, das zwischen uns, unter uns bleiben soll. Und ich habe das heute in der Kantine beinahe zerstört.“ Jetzt musste ich doch aufschauen. Deshalb also?

„Es wurde nichts zerstört“, versicherte ich ihm. „Heute bin ich-“, sagte ich lächelnd. „-Ausnahmsweise einmal so frei wie schon lange nicht mehr.“

Überrascht sah er mich an und zog eine seiner Augenbraue hoch. „Und wie lange hält diese seltene Freiheit noch an?“, fragte er. Sein Blick war nicht zu deuten.

„Ich weiß nicht“, gestand ich ehrlich. „Ein-zwei Tage vermutlich.“

„Das heißt, die sollten wir nutzen“, führte er seinen Gedankengang fort. „Findest du nicht?“ Ein eigenartiges Blitzen trat in seine Augen und in meinem Magen begann ein merkwürdiges Ziehen.

Ich nickte. Ja, das sollten wir.

„Gut. Komm mit“, befahl er spitzbübisch lächelnd und zog mich am Ärmel hinter sich her. Ich war ein wenig enttäuscht, dass er nicht meine Hand in seine nahm, aber ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. Er führte mich zum Haupteingang, und als er sicher war, dass ich Schritt halten würde, lies er meinen Arm los und ging gemächlicher weiter.

„Ähm… Darf ich fragen, was das hier wird?“, versuchte ich es vorsichtig. Meine Finger kribbelten und verlangten nach der Wärme seiner Hand.

„Wir nutzen deine Freiheit“, erklärte er mir. „Du isst heute bei uns.“

Vor Überraschung bleib ich unvermittelt stehen. „Was?“

Er verdrehte seine wunderschönen Augen und nahm meine Hand, um mich weiterzuziehen. Hätte die unverhoffte Berührung seiner Hand mich nicht wie ein Schlag von meiner Starre befreit, wäre ich ihm gewiss niemals einfach so ohne Weiteres gefolgt. Ein warmes Gefühl machte sich in meinem Inneren breit. Während er mich hinter sich herzog, brummte er: „Du isst heut bei mir. Sprech ich so undeutlich?“ Er lächelte schwach und nachdem ich mich von dem Schock erholt hatte, strahlte ich breit zurück. Zu ihm nach Hause. Ein Traum wurde wahr.

Als er mein strahlendes Gesicht sah, fiel ihm sein schwaches Lächeln fast buchstäblich aus dem Gesicht. Ich lachte einmal laut auf und unterdrückte den Zwang ihn an mich zu ziehen und ihm den verwirrten Zug um den Mund weg zu küssen.

Er wohnte nicht ganz so nahe bei der Schule, weshalb wir mit dem Bus fuhren. Ich hatte fast kein Geld mehr, weshalb er meine Karte auch bezahlte. Verlegen lächelte ich ihn an. „Tut mir leid“, entschuldigte ich mich peinlich berührt.

„Kein Problem“, meinte er, als wir uns nebeneinander in eine Reihe setzten. „Ich hab dich zu mir nach Hause eingeladen, also sorge ich auch dafür, dass du da heil ankommst.“ Ja, da war definitiv ein Zwang, ihm näher zu kommen.

Ihm meine Hand auf die Wange zu legen und ihn zu mir runter zu ziehen, meine Lippen auf die seinen zu pressen und seinen unglaublichen Duft einzuatmen, während ich mich in sein braunes Haar krallen würde um ihn noch näher zu mir zu ziehen und mit meinen Händen seinen durchtrainierten Rücken entlangzufahren, und mich an ihn zu pressen, während er...

„Wir sind gleich da“, riss mich Will aus meinen Tagträumen. Während er… Mich aus meinen Tagträumen riss, vollendete ich meinen Satz und meine Wangen färbten sich rot. Aus diesem Traum würde wohl so schnell nichts werden.

Als wir aus dem Bus ausstiegen und Will mir mit einer ausholenden Handbewegung deutlich machte, ihm zu folgen, verlor ich plötzlich ein wenig den Mut und folgte ihm mit eingezogenem Kopf. Nein, aus diesem Traum würde wohl nichts werden.

Irgendwie schien Will zu spüren, dass etwas in meinem Inneren vor sich ging, und ohne ein weiteres Wort nahm er einfach meine Hand in seine, als wäre es das normalste der Welt. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und Hoffnung keimte auf.

Vor einem großen, gelben Haus mit rotem Dach blieben wir stehen. Kein Zaun, bloß eine satte, grüne Wiese mit Büschen und Sträuchern, und einer großen Eiche, die seitlich am Haus entlang zu wachsen schien. Auf den Fensterbänken standen braune und bunte Töpfe mit Blumen darin und die weiße Haustür war ein wenig erhöht, sodass man erst zwei Stufen erklingen musste, bevor man eintreten konnte. Alles wirkte viel echter und freundlicher als bei mir Zuhause; unsere Wände waren von einem kalten Weiß, unsere Sträucher standen züchtig und geschnitten neben einander gereiht.

„Komm“, sagte er, als er bemerkte, dass ich stehen geblieben war, und zog mich auf die Tür zu. Dort ließ er allerdings meine Hand wieder los, um seinen Schlüssel zu suchen und aufzuschließen. Ich vermisste die Vertrautheit seiner Hand schon jetzt, aber ich tat so, als wäre nichts.

„Hallo?“, rief er, als wir eintraten. „Ich bin Zuhause.“ Er zog sich seine Schuhe aus und verstaute sie in einem Schrank. Er bedeutet mir, meine Schuhe einfach stehen zu lassen, dann verschwand er hinter der nächsten Tür. Ich entledigte mich meiner Schuhe und folgte ihm herzklopfend. Würde ich jetzt seine Familie kennen lernen?

Der andere Raum entpuppte sich als Esszimmer und Küche. Will stand mit dem Rücken zu mir beim Tresen, wodurch ich Zeit hatte, mir den Raum etwa genauer anzusehen. Die meisten Möbel bestanden aus einem hellen, freundlich wirkenden Holz, die Wände waren von einem zarten Limonen-grün und auf dem Boden lag ein rot-oranger Teppich im afrikanischen Stil. Es war nicht allzu aufgeräumt, - aber auch nicht zu unordentlich. Gerade so, dass es sympathisch wirkte. Hinter Will war fast direkt die Küche zu sehen, - etwas, das bei uns undenkbar gewesen wäre.

„Essen und Personal gehört in die Küche, Gericht und Gesellschaft ins Esszimmer“, hätte meine Mutter gesagt. Aber mir gefiel es.

„Sieht so aus, als müsstest du heute mit mir Vorlieb nehmen“, verkündete mir Will, als er sich zu mir umdrehte. In seiner Hand hielt er einen Zettel. „Meine Eltern arbeiten und meine Schwester hat Musikschule.“

Oh. Das war… unerwartet.

„Aber wie auch immer“, begann er, meinen überraschten Gesichtsausdruck einfach ignorierend, indem er in die Küche trat und einen der Kochtöpfe öffnete. „Hast du hunger?“, fragte er.

„Ja, ziemlich“, erwiderte ich lächelnd, nachdem ich meine Sprache wiedergefunden hatte. Ich folgte ihm und sah ihm über die Schulter, als er sich unser Abendessen genauer ansah. Ich erkannte es nicht sofort.

„Gemüselasagne“, erklärte er dann und sah mich entschuldigend an. „Tut mir leid, ich hoffe, dir schmeckt es, - meine Mutter ist Vegetarierin und kocht meistens ohne Fleisch.“

Ich sah gespielt zweifelnd von ihm zur Lasagne und wieder zurück. Dann lachte ich. „Natürlich“, versicherte ich ihm. „Ich weiß nicht, wieso, aber deine Mutter ist mir jetzt schon sympathisch.“ Meine Mutter würde so etwas niemals zustande bringen, - weder das Kochen noch den Verzicht auf etwas so Lebensnotwendiges wie Fleisch.

Er grinste, und bald darauf half ich ihm den Tisch zu decken, während er das Essen aufwärmte und dann auf den Tisch stellte. Das Essen war sehr angenehm, - sowohl die Speise an sich, sowie mein Tischnachbar, der mir immer mehr aus seinem Leben offenbarte.

Sie hatten nicht immer hier gewohnt, hatte er mir erzählt. Vor einigen Jahren war sein Vater lange Zeit arbeitslos und seine Mutter schob ständig Überschichten, um die Rechnungen zu bezahlen. Sie wohnten damals in einem kleinen Appartement in der Stadt, - das zwar Recht billig war, aber auch etwas heruntergekommen.

Sie waren dort nicht besonders glücklich, vor allem Wills kleine Schwester Ana hatte Schwierigkeiten, Freundinnen zu finden und so war sie die meiste Zeit mit Will unterwegs. Und Will war die meiste Zeit über in einem kleinen Fußballverein. Er lächelte, als er davon erzählte. Sie nannten sich die Wölfe, und Will verbrachte einige, gute Jahre in dem Team, auch wenn er nie so stark integriert war, wie die anderen Kinder. Als sein Vater dann endliche einen festen Arbeitsplatz bei einem der besten Autohäuser am Platz fand, - dessen Firmen sich in mehreren Teilen des Landes erstreckten, - beschlossen seine Eltern umzuziehen. Und voila, hier waren sie.

„Und deine Familie?“, wollte er wissen, als seine Erzählung geendet hatte. „Mir fällt gerade erst auf, wie wenig ich eigentlich über dich weiß.“ Fragend zog er eine seiner braunen Augenbrauen hoch. Ich seufzte.

„Da gibt es eigentlich nicht besonders viel zu erzählen“, wich ich ihm aus.

„Okay“, sagte er und ich dachte schon, er würde sich mit dieser Antwort zufrieden geben, aber es veranlagte ihn bloß, mir gezielte Fragen zu stellen. „Habt ihr schon immer hier gewohnt?“, fragte er deshalb als Nächstes.

„Ja, ich bin hier aufgewachsen“, antwortete ich ihm leise.

„Interessant. Wie war das so für dich?“, fragte er und beugte sich ein wenig zu mir nach vorne. Langsam bekam ich den Eindruck, dass er weit mehr von seiner Psychologen-Mutter an sich hatte, als wie früher angenommen, von seinem handwerklich so geschickten Vater.

„Es war…“, begann ich, brach aber ab. Mir fiel kein passendes Wort ein. Einsam? Kalt? Verlogen? Scheinheilig? Auf einmal fielen mir sehr viele Wörter ein, und ich hatte Not mich zu entscheiden. „…nicht besonders schön“, sprach ich meinen Satz zu Ende. Ich wollte nicht, dass er allzu viel Mitleid mit mir hat, aber anlügen kam für mich auch nicht in Frage. „Tut mir leid, aber könnten wir vielleicht über etwas anderes reden?“, fragte ich ihn flehend.

„Natürlich“, antwortete er und stand auf, um unsere Teller in die Abwasch zu stellen. Sein Tonfall war monoton und ich hätte schwören können, dass ihn das gerade absolut gegen den Strich ging. Mit dem Rücken zu mir, ließ er Wasser über die Teller laufen und räumte ein paar Sachen in der Küche zusammen.

„Meine Familie ist ganz anders als deine“, gestand ich leise, und er hielt kurz in der Bewegung inne, nur um gleich darauf wieder fortzufahren. „Ich habe deine Eltern nicht ein einziges Mal gesehen und kann dir sofort sagen, dass sie fast das genaue Gegenteil von meinen Eltern sind. Mein Vater ist äußerst… kalt und fast nie Zuhause; meine Mutter spielt krampfhaft heile Welt und ist ständig darüber besorgt, was unsere Nachbarn wohl denken. Mir ist es egal, was andere denken“, sagte ich und starrte auf die Tischplatte.

Will stand mit dem Rücken zu mir und bewegte sich nicht, als hätte er Angst, dass eine zu schnelle Bewegung seinerseits mich davon abhalten würde, etwas Wichtiges zu sagen. Ich lachte leise und unglücklich.

„Und meine Schwester… Du wusstest vermutlich nicht einmal, dass ich eine habe, was?“, fragte ich schnell und fuhr mit trauriger Stimme fort. „Wenn es nach meinen Eltern ginge, wäre ich ein Einzelkind.“ Ich sprach nicht weiter, - ich hatte ohnehin schon zu viel gesagt. Bestimmt hielt er mich für kaputt, einen Sozialfall. Was wollte er denn mit jemandem wie mir?

Ich vernahm nur ganz nebenbei wie Will das Tuch, welches er die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte, auf eines der Küchenkasten ablegte und dann langsam zu mir ging und mich vom Stuhl zog. Nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht fragte er: „Möchtest du gerne den Rest des Hauses sehen?“

Kapitel 8

Das Haus der Delnices war genauso, wie ich mir ein Zuhause immer gewünscht hatte. Es war nicht gerade klein, - mit seinem Erdgeschoss, dem ersten Stock mit den Schlaf- und Badezimmern und der Garage direkt neben dem Haus, - aber es war von einer gemütlichen Größe. Das ganze Haus strahlte eine Wärme und Zufriedenheit aus, dass ich mir fast wünschte, immer hier bleiben zu können.

An den Wänden vor den Schlafzimmern waren Bilder der Familie und deren Haustiere, - ganz offensichtlich war Wills Familie ein Fan von Katzen, - und ihre Möbel waren weder zu chic, wie bei uns, wo man Angst haben musste, sich überhaupt auf die Couch zu setzten, und auch nicht zu unschön, dass man dies sowieso nicht wollte. Nein, irgendwie schien Wills Familie einen interessanten und einladenden Mittelweg gefunden zu haben. Unterstrichen wurde das Ganze noch von den vielen fröhlichen Farben, die einen überall entgegen blitzten und einem das Gefühl gaben, man gehöre selbst zur Familie.

Bei uns Zuhause gab es nicht viele Farben.

Unsere Wände waren ausnahmslos in Weiß gehalten, - und auch unsere Möbel waren, wenn nicht in einem eleganten Schwarz oder Grau, - ebenfalls in Weiß. Auch war alles bei uns zu Hause viel kantiger, und penibel. Sogar unsere Blumenstöcke unterschieden sich so grundlegend voneinander, dass es einen erschrecken könnte.

Im Erdgeschoss befanden sich mehrere Bereiche, welche meist flüssig ineinander überzugehen schienen: Vorraum, Esszimmer und Küche, Abstellkammer, Wohnzimmer und Badezimmer. Wenn man vom Vorraum die Holztreppe an der rechten Seite nach oben stieg, kam man in einen quadratischen Raum, der an den Enden verlängert war und von dem aus man alle obigen Zimmer betreten konnte. Links, ein gutes Stück vor der Treppe befand sich das Elternschlafzimmer von Will und Ana. Daneben lag Anas Zimmer; wenn man am oberen Treppenabsatz stand, war man auf direkter Höhe mit ihrem Zimmer. Gut drei Meter vor der Treppe befanden sich noch das Arbeitszimmer und das Badezimmer. Ganz rechts war Wills Zimmer.

„Nett“, sagte ich anerkennend, als er mich lächelnd mit seinen Händen ins Zimmer schob; ich hätte mich nicht getraut, es einfach ohne seine Erlaubnis zu betreten. Seine Finger auf meinem Rücken hinterließen heiße Brandspuren.

„Ich hatte leider keine Gelegenheit richtig aufzuräumen“, murmelte er ein wenig peinlich berührt und fuhr sich mit der Hand verlegen durch seine Haare. Die Geste war so anziehend, dass ich ohne zu merken, die Luft anhielt und ihn anstarrte. Er zog eine Augenbraue hoch, als er meinen Blick sah. „So schlimm, hm?“, fragte er leicht lächelnd.

Ich sah verlegen weg; er hatte mich missverstanden, - Gott sei Dank. „Überhaupt nicht“, versicherte ich ihm und sah mir sein Zimmer etwas genauer an.

Er hatte zwei Fenster. Unter einem davon stand sein Bett, - kleiner und tiefer gelegen als meines, - aus Holz und mit dunkelgrüner Bettwäsche und einem weißen Leintuch. Das andere Fenster gab einen Blick auf die Eiche, welche ich schon von draußen bestaunen konnte, frei und auf dem Fensterbankerl standen Sportschuhe. Ich lächelte.

 

Auf der anderen Seite standen ein großer, dunkelblauer, langer Kasten und ein Schreibtisch aus Holz. Über dem schwarzen Drehsessel hing ein grauer Pullover und auf dem cremefarbenen Teppich lag noch weitere Schmutzwäsche verstreut. Aber es war… Nett. Und ganz anders als mein Zimmer. Schmutzige Wäsche war bei mir undenkbar, - spätestens nach dem Abendessen hätte sich Ramona daran zu schaffen gemacht.

„Ich, - hüstel, - sollte mich vielleicht mal darum kümmern“, meinte Will und schob sich an mir vorbei um seine Kleidung einzusammeln. Als er merkte, wie ihm dabei nicht aus den Augen ließ, stöhnte er gequält auf. „Nur um das klarzustellen: So sieht es nicht immer bei mir aus. Ich hatte in letzter Zeit nur einfach keinen Kopf für Dinge wie Aufräumen oder Wäsche zusammenfalten.“ Ohne mich anzusehen ging er mit der Wäsche aus dem Zimmer, und schmiss sie in einen giftgrünen Korb. Und als er wiederkam, merkte ich, wieso: Seine Wangen glühten.

Ich lachte unvermittelt auf, sodass er mir einen Blick zuwarf, an dem man sah, dass er eindeutig an meinem Verstand zweifelte. Aber jetzt waren wir wenigstens Quitt für die unzähligen peinlichen Male, an denen er mir die Schamesröte ins Gesicht hatte fahren lassen.

Er räusperte sich. „Tja, wenn dir mein Zimmer so gut gefällt, dann wird es dir ja wohl hoffentlich nicht allzu viel ausmachen, mir eines Tages dein Zimmer zu zeigen.“

Mein Lachen erstarb. „Es würde dir nicht gefallen“, sagte ich ihm auf den Kopf zu. Nicht einmal mir gefiel es sonderlich. Es war einfach nur ein Platz zum Schlafen und Hausaufgaben machen, - wenn mir vielleicht etwas in meinem Zimmer gefiel, dann war es mein Kasten. Aber auch darin lagen so viele schlechte Erinnerungen, dass selbst mein Lieblingsversteck aus früherster Kindheit keine allzu schönen Gefühle wachrief.

„Das kann ich mir kaum vorstellen“, erwiderte er ernst. „Es ist dein Zimmer, - natürlich wird es mir gefallen. Vorausgesetzt, es hat vier Wände und ein Decke.“ Er lächelte sein unwiderstehliches Lächeln und, - ich weiß bis heute nicht, was mich geritten hatte, - ich ging auf ihn zu und umarmte ihn.

„Danke“, sagte ich, - für den Augenblick einfach nur glücklich. Zuerst reagierte er nicht, - aber langsam gewöhnte ich mich an diese Reaktion, - und wartete darauf, dass er es erwiderte.

„Wofür bedankst du dich?“, murmelte er in mein Haar und ich spürte seinen Atem an meinem Hals und fröstelte, als er mich fester an seine Brust drückte.

„Für alles“, erklärte ich ihm. Er lachte leise, - rau und sexy. Ich bekam eine Gänsehaut.

„Und das, obwohl ich dir noch nicht einmal zum Geburtstag gratuliert habe?“, fragte er rau. Wenn er wüsste, wie sehr er mich gerade um den Verstand brachte!

Anstatt ihn meine mehr als peinlichen Gedanken mitzuteilen fragte ich bloß überrascht: „Du weißt von meinem Geburtstag? Woher?“ Ich hob meinen Kopf ein wenig an, um ihn anzusehen, mein Körper weigerte sich aber auch nur einen Zentimeter von ihm abzurücken; seine warmen, braunen Augen hielten mich in einen Bann und in meinem Bauch begann es stark zu ziehen. Sein Gesicht war meinem gefährlich nahe, - und doch viel zu weit weg.

„Ich hab ein wenig nachgeforscht“, verriet er mir leise, doch ich verstand jedes Wort klar und deutlich. Meine Hände wanderten zu seinem Nacken und strichen ohne mein willentliches Zutun über seine nackte Haut. Ich hätte mir mit der flachen Hand auf die Fänger geschlagen, - wären sie nicht anderweitig beschäftigt gewesen…

„Und was haben deine Nachforschungen sonst noch ergeben?“, flüsterte ich schüchtern grinsend; ich wusste ja nicht, was als nächstes passieren würde.

„Ich habe rausgefunden…“ Er hob seine linke Hand und strich mir einmal sanft über meine Wange während er mir forschend in die Augen sah. Meine Knie waren weich wie Butter und bei meinem Kinn angekommen verweilte seine Hand schließlich. „…dass du weit mehr Geheimnisse vor mir hast, als angenommen.“ Er zog seine Hand wieder weg, und sein Blick veränderte sich.

„Ist… Ist das ein Problem?“, fragte ich ein wenig ängstlich. Mein Herzschlag beschleunigte sich vor Angst.

Sein Blick wurde weich. „Nein“, versicherte er mir und sein Gesicht kam meinem immer näher. „Mit dieser Art von Geheimnissen kann ich ziemlich gut umgehen, denke ich. Vorausgesetzt, ich bin derjenige, der dich im Anschluss in den Arm nehmen darf, wenn es dir wieder schlecht geht.“ Er grinste verschlagen.

„Nicht nur, wenn es mir schlecht geht“, flüsterte ich. „Nimm mich auch in den Arm, wenn es mir gut geht.“ Ich konnte nicht glauben, dass ich das wirklich gesagt hatte.

„Und wie geht es dir jetzt?“, wollte er wissen und kam meinem Gesicht noch näher. Ich starrte auf seinen Mund.

„Mehr als gut“, hauchte ich.

„Will, ich kann meine Klaviernoten nirgendwo finden. Hast du sie vielleicht irgendwo…“ Die Tür wurde aufgerissen und ein Mädchen mit Straßenköter-blonden Haaren stand an der Tür und blieb erschrocken stehen, als sie uns so sah. Sofort fuhren Will und ich auseinander. „…gesehen“, vollendete sie ihre Frage und biss sich dann peinlich berührt auf die schmale Lippe. Ich wurde rot wie eine Tomate. „Oh, hallo“, begrüßte sie mich überrascht, und sah entschuldigend zu ihrem Bruder. „Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du Besuch hast…“ Zuerst klang ihre Stimme reumütig, aber im nächsten Moment war davon keine Spur mehr zu hören. „Aber wie auch immer“, sagte sie schnell. „Hast du vielleicht meine Klaviernoten gesehen? Mr. Thomas hat fast einen Anfall bekommen, als ich ihm gestanden hab, dass ich sie vergessen hab, - was ich aber eigentlich gar nicht habe, ich konnte sie nur nirgends finden, - und jetzt hat er mich früher nach Hause geschickt und mir einen späteren Termin gegeben. Ich soll meine Noten suchen und um halb fünf wiederkommen, - das ist schon in einer halben Stunde! Und ich kann meine Noten immer noch nicht finden…“ Flehend sah sie ihn an.

Will schüttelte seinen Kopf und fuhr sich einmal durch die Haare. „Okay, hast du vielleicht mal hinter dem Klavier nachgesehen? Du weißt, dass die Noten manchmal durch den Spalt rutschen können und…“

„Da hab ich schon nachgesehen“, unterbrach sie ihn sofort, sah ihn aber weiterhin an, als ginge es um Leben und Tod und er ihre einzige Rettung. Ein wenig überfordert wollte er einen weiteren Vorschlag machen, als etwas zu mir durchsickerte.

„Kurz vor halb fünf? So spät ist es schon?“, rief ich geschockt aus und sah das Mädchen, - Ana, - ungläubig an. „Ich muss sofort nach Hause.“ Meine Beine verhedderten sich fast, als ich panisch zur Tür stolperte. Mist. Mist. Mist. Ich spürte Wills und Anas Blick in meinem Rücken. Ich hielt mich an Wills Zimmertür fest, um nicht mit voller Wucht dagegen zu krallen. „Will“, sagte ich und sah ihn über die Schulter hinweg an „-Bis Dienstag.“ Ich warf einen kurzen Blick zu dem blonden Mädchen. „Ana, - hat mich gefreut.“ Für ein Lächeln fehlten mir Zeit und Luft.

Ich war schon beim Treppenansatz, als ich Wills Schwester fragen hörte: „Was ist am Dienstag?“ Aber ich ging automatisch davon aus, dass die Frage nicht an mich gerichtet war und lief zügig die Treppe runter, fiel fast in meine Schuhe und stürmte zur Haustür.

„Tereza.“ Nur eine Stimme brachte es fertig, mich zum Zögern zu bringen. Ich war schon halb zur Tür raus, als Will an der Treppe erschien. Sein Blick war nicht einzuschätzen.

„Tut mir leid“, entschuldigte ich mich bei ihm mit einem schwachen Lächeln. „Deine Schwester ist ja ein richtiger Wirbelwind, - vielleicht haben wir demnächst einmal Gelegenheit dazu, uns ausführlicher zu unterhalten.“ Mein Lächeln wurde aufrichtiger. Ich ließ ihm allerdings keine Möglichkeit zu antworten, so schnell war ich zur Tür raus verschwunden.

Wenig später musste ich feststellen, dass meine Mutter nicht gelogen hatte, - Lucy war wirklich krank. Mit blassem, schweißnassem Gesicht und stumpfen Augen warf sie mich aus ihrem Zimmer und knallte die Tür hinter mir zu, - was allerdings nicht so angenehm gewesen sein konnte, - denn sie hatte Kopfschmerzen, wie sie mir stöhnend berichtet hatte, als sie mich zur Tür gedrängt hatte. Es schien ihr wirklich nicht gut zu gehen; ihre stumpfen, offenen schwarzen Haare, ihre unnatürlich blauen Augen und ihre blasse Haut ließen sie für mich aussehen wie ein Gespenst.

Es erschrak mich sehr, sie so zu sehen, - noch mehr als sonst, - und ich konnte unmöglich sagen, ob es daran lag, dass ich mir ernsthaft Sorgen um sie machte, oder ob ich einfach überrascht war, über die plötzliche Veränderung. Das war vermutlich das erste Mal, dass sie in meiner Gegenwart Schwäche gezeigt hatte; der Gedanke gefiel mir nicht. Was, wenn sie mir das übel nahm?

Ich bekam kaum Ärger Zuhause, dass ich erst zum Abendessen erschein, - immerhin hatte ich dank Lucy eine gute Ausrede. Dass ich kaum zehn Minuten bei ihr war, musste meine Mutter ja nicht unbedingt wissen.

Das restliche Wochenende verging, ohne dass ich viel davon mitbekam. Außer einem abendlichen Telefonat mit Timon und die ein oder andere kurze SMS von Wilma geschah nichts Nennenswertes. Und ehe ich mich versah, war es auch schon Montag, - und Lucy immer noch nicht da.

Das Halbjahr neigte sich langsam dem Ende zu und wir machten kaum noch Stoff, - also zog das Argument, ich müsste Lucy ihre Hausaufgaben vorbeibringen, nicht wirklich, obwohl ich um meine täglichen Krankenbesuche nicht herumkam. Erst bei meinem vierten Besuch ließ mich Lucy nicht mehr vor ihrer Tür stehen, - nur um mich dann nach zehnminütigem Schweigen wieder weg zu schicken.

Ich verstand sie einfach nicht.

Kapitel 9

Lucy war die ganze nächste Woche und das Wochenende krank. Es war ungewöhnlich, so frei zu sein, - aber ich nutzte jede freie Minute.

Ich traf mich mit meiner Schwester, ging mehrmals mit Timon Eis essen und ging sogar einmal mit Wilma in die Stadt shoppen, - ich hatte allerdings kein Geld, sodass es für mich eher zu einem Schaufensterbummel wurde, - aber es hatte trotzdem Spaß gemacht.

Will schien indessen instinktiv geahnt zu haben, dass meine Freiheit begrenzt war, - etwas das meine anderen zwei guten Freunde gerne vergaßen, - und ging mit mir in der Öffentlichkeit nicht viel anders um, als zuvor; sein bester Freund, der mich eingeladen hatte, mich zu ihm zu setzten, unterließ weiterhin jegliche Annäherungsversuche.

Ich ließ es mir nicht anmerken, aber Innen drinnen war ich ein klein wenig enttäuscht, Will so selten zu sehen, - ich hatte mich wohl schon zu sehr an ihn gewöhnt, und ertrug es daher nur noch schwer, ihn nur zwei Mal in der Woche für mich zu haben.

Irgendwie überstand ich die Woche, das Wochenende kam, und mit ihm zwei Ankündigungen, die mir das Blut in den Andern gefrieren ließen.

„Tereza, ich habe wunderbare Neuigkeiten“, verkündete meine Mutter glücklich. So wie sie lächelte, nahm ich es ihr fast ab. Wie gesagt: fast. „Unsere Nachbarin Ms. Tito hat mich heute Morgen angerufen, und stell dir vor: Lucy geht es wieder besser. Und das ist einfach nur fantastisch, der Zeitpunkt ist ideal. Oh, und ich hatte schon so ein schlechtes Gewissen, und wollte deinem Vater absagen, aber da es Lucy jetzt wieder besser geht, ist ja alles in Ordnung“, fuhr meine Mutter ein wenig zu gespielt überschwänglich fort. Ich verstand nur Bahnhof.

„Richtiger Zeitpunkt?“, wiederholte ich ihre Worte. „Der Richtige Zeitpunkt wofür?“ Verwirrt sah ich sie an.

„Weißt du, Liebes“, begann meine Mutter mit ihrem verständnisvollen Ton. Wieso nannte sie mich eigentlich immer nur >>Liebes<< oder >>Schatz<< wenn sie etwas von mir wollte? „Dein Vater ruft mich immer wieder an, um mir den neuesten Stand mitzuteilen, und wenn ich ehrlich sein soll, läuft es nicht gerade… umwerfend. Versteh mich nicht falsch, denn Vater wäre der ideale Mann für diesen Posten, aber um als Vorstandsvorsitzender des Parlaments gewählt zu werden, muss man manchmal mehr als gut sein, verstehst du? Und in dieser schwierigen Phase, braucht dein Vater viel Unterstützung, - auch von uns.“ Sie machte eine kurze Pause und musterte mich, ob ich auch gut zuhörte.

Warum musste sie denn nur immer so um den Brei herumreden? Mir persönlich, wäre es lieber, sie bringe es bald hinter sich, und würde mir einfach sagen, was sie zu sagen hätte.

„Als Ehefrau ist es meine Pflicht ihm Beizustehen“, sagte sie ernst. „Du bist seine Tochter, - auch du solltest ihn unterstützen, - aber dein Aufgabenbereich ist hier. Geh zur Schule, mach deine Hausaufgaben und sorge dafür, dass man unsere Familie im besten Licht sieht.“

„Mutter, du redest, als würdest du fort gehen“, erwiderte ich verwirrt.

„Fortgehen ist das falsche Wort, Liebes“, antwortete sie. Da, schon wieder dieses >>Liebes<<. „Ich werde lediglich eine Weile deinem Vater Beistand leisten, - du wirst sehen, dass wird alles halb so schlimm. Es ist bereits alles geregelt. Ich bin höchstens ein paar Wochen weg, und in der Zeit nimmt dich Ms. Tito gerne bei sich auf.“

„Mehrere Wochen? Bei… Bei den Titos? Bei… Lucy?“, stammelte ich, - ich konnte nicht verhindern, dass meine Stimme entsetzt klang. Mehrere Wochen allein mit Lucy. Kein Ausweg, kein Entkommen. Keine nächtlichen Telefonate mit Timon, kein heimliches Davonstehlen zu Will, während ich so tat, als wäre ich bei Lucy. Keine Treffen mit meiner Schwester und meinem… meinem Neffen. Das war schrecklich; ich war den Tränen nahe.

„Das wird bestimmt eine lustige Zeit für dich, - wie eine längere Pyjamaparty“, ignorierte meine Mutter meine Reaktion.

„Wie eine Pyjamaparty?“, rief ich wütend aus. Ich konnte mich nicht mehr zurückhalten und sah schon die ersten heißen Tränen meinen Wangen runter laufen. „WIE EINE PYJAMAPARTY?“, wiederholte ich, - lauter diesmal, und energischer, - und ihr Gesicht wurde hart, als ich so mit ihr redete. „Du hast ja keine Ahnung, was du mir damit antust.“ Verzweifelt sah ich sie an, aber ihr Gesicht war eine harte Maske. Sie sagte kein Wort und ich beruhigte mich langsam wieder ein bisschen, - nicht so, dass ich die Tränen unterdrücken konnte, aber doch so, dass ich das Gefühl hatte, ich müsste sie nicht mehr anschreien, wenn ich den Mund auftat. Lange Zeit schwiegen wir einfach nur, bis sie schließlich aufstand und mich mit nur wenigen, monotonen Worten zurückließ.

„Tereza Violetta Risa.“ Ihr Ton war kalt und beherrscht, und sie zog meinen Namen bewusst in die Länge. „Etwas Derartiges möchte ich nie wieder von dir hören. Du bist jetzt eine junge Dame, und als eine solche solltest du dich auch verhalten, - ob es jemand sieht oder nicht. Denk daran, wie wir dich erzogen haben.“ Mit diesen Worten ließ sie mich allein.

Ja, ich wusste nur zu gut, wie sie mich erzogen hatten. Aber nicht mit mir. Das konnte sie nicht tun. Durfte nicht. Es war mein Leben. Immer, wenn ich dachte, es ginge mal bergauf, kam meine Mutter daher und zerstörte all mein Glück mit ihrer Einmischung. Ich hatte es so satt. Ich war in der Verfassung, dass ich fast froh war, dass sie ging, - ich konnte ihr Gesicht ohnehin nicht mehr ertragen.

Am Sonntag packte meine Mutter ihre Sachen, - und unser Hausmädchen Ramona, meine. Ich weigerte mich, auch nur ein Kleidungsstück zu packen, auch wenn ich es hasste, wenn Ramona meine Sachen anfasste, und noch dabei keine einzige Gefühlsregung zeigte.

Ramona war schon seit mehreren Jahren bei uns angestellt, - und ich wage zu behaupten, dass sie einmal sehr hübsch gewesen sein musste, - aber von dem war nicht viel geblieben. Ihre Augen waren stumpf, ihr Haupt stets demütig gesenkt und ihre Lippen zu einem schmalen Strich verzogen. Ihre Haare waren dunkelbraun, fast schwarz und ihre Augen waren braun. Make-up trug sie meines Wissens nach, nie. Da sie mir kaum je ins Gesicht sah, konnte ich nur erahnen, dass ihre Augen von einem sehr dunklen Rostbraun waren.

Und da war noch etwas: Sie sprach nicht mit mir.

Ich wusste nicht, warum. Sie hatte es einfach von Anfang an nie getan. Wenn ich sie ansprach, nickte sie, oder schüttelte den Kopf, - manchmal ignorierte sie mich auch einfach, - es war sonderbar. Für mich wurde Ramona in all den Jahren zu einem Geist, einem Gespenst, dass in unserem Haus klammheimlich von Zimmer zu Zimmer schlich, und still und leise unsere Wäsche wusch und unser Essen kochte.

Montagmorgen war es soweit. Unsere Sachen waren gepackt. Meine Mutter brauchte drei Reisetaschen, - ich nur eine und meine Schultasche. Meine Mutter meinte, ich könnte jederzeit nach Hause gehen, und meine Kleidung holen, wenn ich es benötigte.

Wie überaus großzügig, schoss es mir durch den Kopf. Aber mir kam jeder Vorwand, aus Lucys Klauen zu kommen, nur Recht, also nickte ich nur einvernehmend, und behielt meine Gedanken für mich.

Als ich Lucy bei unserem weißen Gartentor erkannte und schon halb zur Tür raus war, berührte meine Mutter scheinbar vertraut meine Schulter, und ich unterdrückte den Wunsch, zurückzuweichen. Diese Art der Vertrautheit kam mir so falsch, so scheinheilig und gleichzeitig schmerzhaft vor, dass ich Tränen in den Augen hatte, und diese verzweifelt weg zu blinzeln versuchte, ehe ich Lucy vollends erreichen würde.

Aber Lucy schien sich keinen Deut um meine derzeitige Stimmung zu kümmern, und drückte mir bloß ihre Bücher in die Hand und schritt eilig voran.

Jetzt war sie also wieder da. Und an der Art, wie sie sich bewegte, - das Gefühl der Stimmung in der Luft, - erkannte ich, dass es schlimmer, denn je werden würde. Und ich sollte Recht behalten.

Wir waren noch nicht im Schulgebäude, als sie plötzlich stehen blieb und meinen Arm, der immer noch ihre Bücher im Arm hielt, beinahe gewaltsam festhielt.

„Au, was…?“, begann ich, verstummte aber bei ihrem eisigen Blick. Ich sah wieder auf meinen bedauerlichen Arm den sie beinahe zu zerquetschen schien und versuchte mich loszulassen. Sie drückte fester zu. Ich stöhnte vor Schmerzen.

„Hör mir genau zu“, sagte sie mit einer gefährlich ruhigen Stimme. „Denn ich werde das nicht noch einmal sagen.“ Ihre Augen bohrten sich gefährlich in meine und ich starrte sie wie von Sinnen an. Ihr Griff lockerte sich kein bisschen. „Ab heute wirst du genau das tun, was ich dir sage, verstanden?“ Ihre eisblauen Augen hielten mich wie in einen Bann; ich konnte nicht wegsehen. Ich war starr vor Angst. „Schluss mit den Geheimnissen. Schluss mit deiner Freundschaft zu Wilma. Schluss mit Timon und deinen nächtlichen Telefonaten. Schluss mit den Treffen deiner Schwester. Schluss mit deinem Handy. Überhaupt, Schluss mit allem. Und am allermeisten: Schluss mit deinem Anbandeln mit William Delnice. Hast du kapiert?“, fragte sie mich hasserfüllt.

Ich stand da, wie vom Donner getroffen. Woher… Woher wusste sie das alles? Wie...? Den Schmerz an meinem Arm hatte ich schon wieder vollkommen vergessen. Ich sah sie mit großen, erschrockenen Augen an, wie das Kaninchen die Schlange.

„Hast. Du. Kapiert?“, fragte sie und tat, was sie gerade eben noch vehement abgelehnt hatte, - sie wiederholte sich. Ich war so in Schock, ich bekam nur am Rande mit, dass ich nickte. Moment. Was?

„N- Nein”, sagte ich sofort. Es hörte sich an, als wären die Wörter aus meinem Mund gefallen, aber immerhin erfüllten sie ihren Zweck, denn Lucys Blick erstarrte. Sie hatte nicht mit Widerstand gerechnet.

Ich war stärker geworden, - ich würde mich nicht mehr von ihr benutzen und demütigen lassen. Außerdem, was wollte sie tun? Meine Mutter würde noch heute das Land verlassen. Auch mein Vater und meine sonstige Familie waren weit weg. Was wollte sie also tun? Ihnen eine lange E-Mail darüber schreiben, was für ein schrecklicher Mensch ich doch war? Und was ihre Rückkehr und die Zeit danach betraf… Darum würde ich mich erst kümmern, wenn es soweit war.

„Du hast es nicht anders gewollte“, erwiderte sie eisern und ließ meinen Arm los. Dort, wo ihre Hand meine Haut berührt hatte, trat ein pochender Schmerz hervor. Ich versuchte mir meine Schmerzen vor ihr allerdings nicht anmerken zu lassen. Langsam nahm sie mir ihre Bücher ab. „Das wirst du bereuen“, drohte sie mit monotoner Stimme. Ich bekam eine Gänsehaut. Hätte sie mir aufgebracht gedroht, hätte ich weniger Angst bekommen. Es war die plötzlich vollkommene Ruhe in ihrer Stimme, die mich beinahe zum Zittern brachte. Vielleicht war es aber auch das plötzlich fehlende Gewicht der schweren Bücher, das mir, - so seltsam es auch klingt, - an Halt fehlte und mich deshalb so leicht und zittrig fühlen ließ. Ganz Gewiss war es nicht vor Kälte; das Wetter war schön, die Sonne schien und in zwei Wochen würden die Semesterferien beginnen.

„Das bezweifle ich“, widersprach ich ihr, - und versuchte dabei ebenso monoton und beherrscht zu sprechen wie sie, - und versagte auf der ganzen Linie. Ich hörte mich lächerlich an, fand ich. Nein, nicht lächerlich. Wie meine Mutter. Ich schluckte schwer, und hoffte, dass Lucy von meinen Gefühlsanwandlungen nichts mitbekommen hatte, aber sie wandte sich bloß von mir ab und trat erhobenen Hauptes ins Schulgebäude.

Ich atmete einmal tief durch. Dann folgte ich ihr.

Als ich das Klassenzimmer betrat, hob niemand den Kopf, um mich anzusehen.

„Morgen“, murmelte ich unbestimmt in die Reihe von Köpfen und setzte mich an meinen Platz neben Wilma. Sie war noch nicht da; sie hatte vermutlich wieder einmal verschlafen, sah ihr ganz ähnlich. Ich seufzte und kramte meine Büche aus der Schultasche. Was Lucy wohl diesmal vorhatte?

Ich war so in Gedanken, dass ich erschrocken aufsah, als plötzlich der Lehrer das Zimmer betrat und alle aufstanden. Ich sah auf den Platz neben mir, aber da saß niemand. Überrascht vernahm ich Wilmas Stimme drei Reihen hinter mir.

Die rothaarige Wilma saß wieder neben ihrer besten Freundin Erin. Neben Erin saß Lucy, und schreckte vor meinem Blick zurück. Wilma wich meinem Blick aus und Erin funkelte mich nur böse an. Ich wollte gar nicht wissen, was ich diesmal getan hatte, und obwohl ich es nicht sein wollte, war ich verletzt. Lucy schaffte es doch immer wieder. Ich beschloss mit Wilma später darüber zu reden und sie aufzuklären. Der Rest der Klasse, - warum fiel mir das erst jetzt auf, wie jeder den Blick abwandte, - konnte mir gestohlen bleiben. Das war vielleicht etwas hart ausgedrückt, aber es war die Wahrheit.

In der nächsten Pause versuchte ich mit Wilma zu sprechen, aber Erin neben ihr ließ mich nicht einmal einen Satz sprechen, da fiel sie mir auch schon ins Wort und fuhr mich böse an. Ohne mir die Chance auf einen zweiten Versuch zu geben, zog sie Wilma und Lucy hinter sich zur Tür raus. Verdattert blieb ich stehen. Als ich mich wieder zu meinem Platz begab, wurde mir plötzlich bewusst, wie alle mich beobachteten, und ich fühlte mich mehr als unwohl. So viel dazu, dass mir die anderen gestohlen bleiben konnten!

Da ich nichts mehr zu verlieren hatte, - das dachte ich zumindest, - und niemand mehr mit mir zu sprechen schein, setzte ich mich in der Mittagspause wie die Woche zuvor, - ohne Lucy, - zu Timon. Er aß ungerührt weiter.

„Hey, Timon“, meinte ich lächelnd. Ich brauchte jetzt Trost.

„Hey“, meinte er knapp und sah mich nicht an. Da ich Timon alles, - naja, fast alles, - über Lucy erzählt hatte, kam mir nicht im Geringsten in den Sinn, dass sie ihre Hände bei seiner miesen Laune im Spiel hatte und sprach einfach weiter. „Wie war dein Wochenende?“

„Aufschlussreich.“ Noch so eine knappe Antwort. Normalerweise würde ich Timon in Ruhe lassen, wenn er so aufgelegt war, aber das Schweigen der anderen brachte mich dazu, nicht locker zu lassen. War es denn so verwerflich, dass ich eine ganz normale Konversation mit meinem Gegenüber führen wollte?

Ein wenig selbstsüchtig vielleicht. Aber sonst? Jeder war doch ab und an mal selbstsüchtig, oder? Und jeder, der das Gegenteil behauptete, war ein Lügner.

„So so, aufschlussreich also“, zog ich ihn gespielt auf. „Was hast du denn so Aufschlussreiches erfahren?“

Er hörte auf zu Essen. Sein Gesicht war wie immer leicht nach unten gebeugt, und seine kinnlangen schwarzen Haare vielen ihm ins Gesicht, sodass man seine dunkelblauen Augen nicht sehen konnte. Er grinste unglücklich. Diese Art zu Lächeln kannte ich von ihm gar nicht.

„Tereza.“ Seine Stimme war kaum wiederzuerkennen. „Wann hattest du vor, es mir zu sagen?“

„Dir was sagen?“, fragte ich verwirrt; langsam bekam ich Angst.

„Dass mit dir und meinem Bruder“, stellte er klar und sah mich anklagend an.

„Was… Was meinst du damit?“, stotterte ich überfordert. „Ich habe kaum je ein Wort mit deinem Bruder gewechselt. Was soll schon mit ihm sein?“ Verständnislos sah ich ihn an.

„Ich hätte dir ja wirklich viel verziehen, aber dass du mich jetzt auch noch anlügst…“, fuhr er fort. „Und die ganze Zeit dachte ich, du wärst meine Freundin, und dabei hast du nur nach einer Gelegenheit gesucht, dich an Tidus ranzumachen.“

„Wie bitte?“, fragte ich laut. Das… Das konnte wohl nicht sein ernst sein!

„Du musst gar nichts mehr dazu sagen“, erklärte er monoton. „Ich hab es auch so verstanden. Seit das nächste Mal bloß ein wenig leiser.“

Geschockt sah ich ihn an. „Timon, das ist ein riesen Missverständnis…“, erklärte ich ihm, aber er unterbrach mich sofort.

„Nein, Tereza. Dieses eine Mal ist es genauso, wie es den Anschein hat“, brummte er und erhob sich. „Ich werde dann ab heute woanders speisen, - du kannst gerne hierbleiben, oder vielleicht setzt du dich einfach wieder zu meinem Bruder.“ Er nahm sein Tablett und lies mich stehen.

„Timon“, rief ich, aber er drehte sich nicht um.

Was dachte er denn von mir? Ich und sein Bruder? Das wäre doch völlig absurd. Und selbst wenn, - so unwahrscheinlich und unangenehm es auch wäre, - was wäre daran denn so schlimm, dass es Timon so zum Ausrasten brachte? Da musste noch mehr dahinter stecken. Und überhaupt, wer verbreitete solch üble Gerüchte? Dieser Jemand musste gut sein, wenn sogar Timon dem Ganzen Glauben schenkte. Mir fiel nur eine Person ein, die dazu die Macht hatte. Wie zum Teufel hatte Lucy das nur geschafft?

War das der Grund, dass mich alle mieden? Aber nein. Was wäre denn so schlimm daran, wenn Tidus und ich… Tidus und ich… Wenn wir…

Ich sprang sofort auf. Mein Stuhl fiel nach hinten, aber ich ignorierte die Blicke der anderen einfach. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: Will.

Mein Tablett im Schlepptau lief ich den Blick schweifend durch die ganze Cafeteria, aber von Will war keine Spur zu sehen. Ich stellte mein noch volles Tablett achtlos dorthin ab, wo es hin gehörte, und begab mich im Laufschritt zum Sekretariat.

„Die Klasse 7.B, wo finde ich die, bitte?“, fragte ich atemlos.

„Erster Stock, linke Seite“, erwiderte eine Frau mit großen Augen und dicker Brille, und mit einem „Danke“ verschwand ich schon zur Tür raus und die Treppe nach oben.

Als ich Wills Klasse betrat, bekam ich Bammel, aber es war sowieso umsonst; er war nicht hier.

„Suchst du jemanden?“, fragte mich eine amüsierte Jungenstimme. Ich drehte mich um, und sah in das Gesicht, eines gebräunten Schwarzhaarigen.

„Ja, Will Delnice. Hast du ihn zufällig wo gesehen?“, fragte ich hastig.

Er lächelte leicht. „Tut mir leid, aber Wolf ist heute nicht da. Er ist Ersatzspieler bei einem Spiel in Deutschland. Er und ein paar andere aus unserem Team wurden eingeladen bei den deutschen Eulen mitzuspielen.“

Erleichtert atmete ich auf. Er war nicht da. Demzufolge hatte er auch nichts von Lucys Lügengeschichten mitbekommen können. Ich war unendlich erleichtert.

„Weißt du vielleicht, wann er wiederkommt?“, fragte ich den Schwarzhaarigen interessiert.

„Heute Nachmittag, nehme ich mal an“, erklärte er lächelnd. „Er und die anderen sind schon am Sonntag runtergefahren, um sich heute voll und ganz auf das Spiel konzentrieren zu können.“ Er reichte mir die Hand. „Hi, ich bin Danny“, stellte er sich freundlich vor.

Ein wenig zögernd nahm ich seine Hand. „Tereza“, erklärte ich zögernd.

Ein Blitzen trat in seine Augen. „Sehr erfreut“, erwiderte er übertriefen höflich und verbeugte sich. Diese Sorte von Männern war die Schlimmste, hatte mich Wilma vor nicht allzu langer Zeit gewarnt. Aber nachdem ich Will getroffen hatte, glaubte ich ihr nicht mehr.

„Soll ich Will vielleicht etwas von dir ausrichten?“, fragte er zuvorkommend und lies meine Hand wieder los.

Ich schüttelte den Kopf und sagte lächelnd: „Nein, danke.“ Ich ging zur Tür. „Also, man sieht sich, - Danny“, widerholte ich seinen Namen und ging zurück in meine Klasse.

Mein Herz schlug wild vor Aufregung und Erleichterung. Will war tatsächlich nicht hier! Lucy hatte ihn also nicht in die Fänge bekommen, - Gott sein Dank!, - wenigstens er war mir geblieben. Will.

In der nächsten Stunde passierten gleich mehrere Missgeschicke, - wenn man sie denn so nennen konnte. Mein Handy, das ich eigentlich immer bei mir behielt, und eigentlich auf lautlos gestellt war, klingelte mitten in der Stunde und ich musste es abgeben. Der Anrufer war unbekannt.

Des Weiteren verkündete der Lehrer, dass wir in Teams arbeiten würden, - aber niemand wollte mit mir zusammen sein, - also wurde ich zugeteilt. Ich versuchte ein paar Male mich zu beteiligen, aber jedes Mal ignorierten mich die anderen und als meine Hand zufällig einmal die von Lisa, einem stillen Mädchen aus der zweiten Reihe, streifte, zuckte sie erschrocken zurück, als hätte sie sich verbrannt und stolperte mit einem anderen Mädchen zusammen. Das andere Mädchen war Erin, aus einem der anderen Teams, und obwohl sie Lisa versicherte, dass ihr nichts passiert sei und es schon okay war, warf sie mir einen Blick zu, der genau das Gegenteil besagte. Es war nicht okay, - nicht solange ich die Schuldige war.

Die Blicke der anderen verfolgten mich den ganzen restlichen Schultag, und in der vorletzten Stunde erfuhr ich, weshalb. Ich war auf dem Weg zur Toilette, als zwei Mädchen aus den Toiletten kamen. Ihr Kichern erstarb sofort, als sie mich bemerkten, ihre Gesichter wurden hart und plötzlich hatten sie es mehr als eilig, hier rauszukommen.

„Lesbe“, hörte ich ein Mädchen in meine Richtung raunen.

„Schlampe“, zischte die andere. Und weg waren sie. Mich vollkommen geschockt zurücklassend. Was… um Himmels Willen hatte Lucy ihnen erzählt? Und vor Allem, wann?

Ich sah in den Spiegel an der Wand und erkannte mich selbst nicht mehr. Ich war weiß, wie ein Gespenst, mein überforderter Gesichtsausdruck vollkommen fremd für mich… Ich ertrug das alles nicht mehr. Wenn ich daran dachte, dass ich es nun jeden Tag so sein sollte… Nein. Ich wollte das nicht, - ertrug es nicht. Ich würde gehen. Aber wohin?

Ich könnte zu meiner Schwester gehen. Marija hätte sicher Verständnis für mich. Ich kramte in meiner Tasche nach dem Anhänger, den sie mir zu meinem sechzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Ich fand ihn nicht. Die Schulglocke läutete und ich stellte meine ganze Tasche auf den Kopf, aber er war nicht da. Konnte Lucy unter Umständen…?

Tränen liefen mir über die Wangen. Wohin sollte ich jetzt bloß gehen?

Mir fiel nur noch eine mögliche Person ein, zu der ich gehen konnte.

Kapitel 10

Die Tür war offen, - ein schlechtes Zeichen. Wäre sie verschlossen gewesen, hätte ich gewusst, dass ich alleine war und hätte einfach den Zweitschlüssel unter der Matte benützt, aber so… Ich hörte ein Geräusch von innen und sprang schnell zur Seite und lief nach hinten Richtung Garten. Bei dem Baum, der direkt neben dem Haus hochwuchs blieb ich stehen. Soweit ich mich erinnerte, führte er direkt zu Wills Fenster.

Nein. Das konnte ich doch nicht machen.

Erstens, es war Hausfriedensbruch. Allerdings hatte ich ja nicht vor, etwas zu stehlen oder andere kriminelle Absichten.

Zweitens, es war gefährlich. Wer garantierte mir denn überhaupt, dass ich es bis zu Wills Fenster schaffen würde? Ich sah zweifelnd nach oben. Das Fenster war offen. Na, wenn das mal kein Zeichen war. Ich seufzte und versuchte mich ungeschickt auf den Baum zu hieven.

Ich brauchte mehrere Anläufe, aber schließlich schaffte ich es auf den Baum und nach etlichem Zureden meinerseits, - Du fällst schon nicht. Halt dich einfach gut fest, - schaffte ich es sogar auf den letzten Ast. Mein Herz schlug wie verrückt.

Wann hatte ich das letzte Mal etwas so Verrücktes getan? Wann hatte ich überhaupt jemals etwas so Verrücktes angestellt?

Das letzte Stück war verzwickt; ich wollte mir gar nicht vorstellen, was unzweifelhaft passieren würde, wenn der Ast brechen würde. Langsam, im absoluten Schneckentempo, kroch ich Richtung Fenster. Als ich fast am Ziel war, warf ich einen Blick in das Zimmer und hielt einen kurzen Moment inne, bevor ich schließlich die Hand ausstreckte, und das Fenster weiter nach innen stieß. Zum Glück war das Zimmer leer.

Was Will wohl von mir denken würde, wenn er mich so sehen würde?

Ich verdrängte den Gedanken und fasste mit zittrigen Fingern zum Fensterrahmen und richtete mich ein wenig auf. Dann stellte ich ein zittriges Bein nach dem anderen nach drüben. Ich verlor einen kurzen, schrecklichen Moment den Halt und fiel auf den Boden des Zimmers.

„Autsch“, stöhnte ich und blieb liegen. Wenigstens hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen. Ich richtete mich auf, - und dann wartete ich auf ihn. Ich wartete. Und wartete.

Endlich, nach einiger Zeit hörte ich die Haustür öffnen und Stimmen von unten. Wills Stimme. Ich hörte Schritte die Treppe raufsteigen, und musste erschreckend feststellen, dass das mehr als ein paar Füße waren. Und mehr als eine Stimme. Panisch sah ich mich im Zimmer um? Wohin?

Da ich mich Zuhause auch immer in meinem Schrank versteckt hielt, fackelte ich gar nicht lange und schloss gerade noch die blaue Schranktür, als Will mit einer schwarzen Sporttasche über dem Rücken erschien.

„Ja, aber nächstes Mal sitze ich nicht mehr am Gang“, hörte ich ihn lachend mit einem anderen Jungen reden. Ich beobachtete durch einen kleinen Schlitz, wie hinter Will ein großer, Schwarzhaariger zum Vorschein kam. Tidus!

„Jaja, hast ja Recht“, hörte ich Tidus Stimme. Er stand noch am Türrahmen und schien nicht das Bedürfnis zu haben, einzutreten. Will machte einen Schritt weiter ins Zimmer und ich hielt den Atem an, als er neben mir zum Schreibtisch griff und sich dann wieder zu Tidus umwandte und ihm etwas in die Hand drückte.

„Ich hab meistens Recht“, klärte er seinen besten Freund grinsend auf. „Hier, behalte es ruhig. Ich brauche es ohnehin nicht mehr.“ Er machte eine Bewegung und tippte sich auf den Kopf. „Alles schon hier oben gespeichert.“

„Danke, Kumpel, - du rettest mir das Leben. Wenn ich bei meiner nächsten Nachhilfestunde wieder ohne Lateinhaft aufkreuze, killt mich meine Mutter“, erklärte Tidus grinsend. „Dann bis morgen.“

„Bis morgen“, sagte Will und schloss die Tür hinter sich. Lächelnd schüttelte er den Kopf hin und her.

Jetzt war meine Chance. Ich musste hier raus und ihm sagen, dass… dass ich… Was? Dass ich weggelaufen bin? Deshalb war ich doch hergekommen, oder? Also sollte ich jetzt auch diese Tür öffnen und mich ihm stellen. Aber wieso weigerte sich mein Körper dann, auch nur die kleinste Bewegung auszuführen?

Ich sah, wie sich Will erledigt in sein Bett warf und streckte. Wenn er wüsste, wie sexy das bei ihm aussah. Ich sollte mich ihm jetzt wirklich zeigen. Er richtete sich wieder auf, erhob sich, und zog sich den schwarzen Pullover über die Schultern. Die Bewegung war fließend und offenbarte einige Armmuskeln. Wie von Sinnen starrte ich ihn an. In meinem Bauch begann ein eigenartiges Ziehen. Spätestens jetzt sollte und müsste ich mich ihm wirklich…

Ich sah, wie er an seinem Unterhemd zog, und bereits die ersten Bauchmuskeln zum Vorschein kamen, als ihn ein Klopfen in der Bewegung inne halten ließ, er sein t-Shirt wieder ordentlich nach unten zog, und „Ja, bitte?“ Richtung Tür rief. Aber es hatte niemand AN DER TÜRgeklopft. Als niemand kam, zuckte er bloß die Schultern und wollte sich weiter ausziehen, als ich abermals klopfte.

„Herein“, rief er wieder und hielt inne.

„Will“, antwortete ich, - leise und zögerlich. Überrascht sah er sich im Zimmer um. Ich gab einer der Schranktüren vor mir einen leichten Schups. Skeptisch blickend kam Will auf den Kasten zu und zuckte überrascht zusammen, als er mich darin erkannte.

„Tereza“, stieß er unvermittelt aus. „Was. Machst. Du. Hier?“, fragte er holprig. „In meinem Zimmer… Und dann noch in meinem Kasten…“ Ich hatte ihn noch niemals so verwirrt gesehen. Es war unglaublich süß.

„Kann ich heute Nacht hier schlafen?“, fragte ich leise. Ich sah, wie er augenblicklich erstarrte, und versuchte schnell das Missverständnis aufzuklären. „Es ist nur, ich weiß nicht, wo ich sonst hin könnte, und du hast mir mal gesagt, dass ich immer zu dir kommen könnte, wenn… Also, wenn ich Hilfe brauche… Und ich hatte wirklich nicht vor, dich so zu überfallen, aber… Es tut mir leid, - ich hätte wohl nicht kommen sollen…“ Ich konnte ihn nicht mehr ansehen.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Einfach abzuhauen und Will aus heiterem Himmel so zu überfallen… Ich konnte unmöglich von ihm erwarten, dass er mich bei sich aufnahm.

Ich machte einen Schritt nach vorne und aus dem dunklen Kasten raus. Als ich an ihm vorbeigehen wollte, nahm er plötzlich meine Hand und brachte mich überrascht zum stehen. Seine Hand war warm und vertraut. Er zwang mich ihn anzusehen.

„Tereza“, sagte er langsam und sah mich aus seinen haselnussbraunen Augen intensiv an. „Ich habe das damals wirklich ernst gemeint. Ich will wirklich, dass du zu mir kommst, wenn du Probleme hast. Was ist passiert?“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, - und was nicht. Würde er mich für kindisch, für überempfindlich halten, wenn ich es ihm erzählen würde? Aber ich hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Meine Mutter, meine Freunde… Lucy. Ich ertrug das alles nicht mehr. Ich wollte eine Pause. Eine Pause von meinem Leben. Ich brauchte das jetzt. Wenn Will mich wirklich wegschieben würde, würde ich trotzdem auf keinen Fall zurück, - und somit zu Lucy, - gehen. Niemals.

Als er sah, wie ich mit mir haderte, führte er mich zu seinem Bett und brachte mich dazu mich zu setzten. Er setzte sich neben mich und ließ dabei nicht eine Sekunde meine Hand los. Dann wartete er.

Ich erzählte ihm von der Abreise meiner Mutter, und meinem geplanten Aufenthalt bei Lucy. Was die Gründe anging, weshalb ich nicht zu Lucy wollte oder konnte, sagte ich nicht allzu viel, aber ich erkannte an seinem Blick, dass er mich trotzdem verstand. Zumindest ein bisschen.

Ich erzählte ihm auch von den seltsamen Gerüchten über mich, - Timons und Wilmas Reaktionen ließ ich mal links liegen, ich brachte es einfach nicht über mich, ihm davon zu erzählen, - und als ich ihm meine nähersten Vermutungen über die Gerüchte erzählte, wandelte sich sein Blick. Sein Gesicht fror zu einer emotionslosen Maske.

„Diese Gerüchte, Tereza“, begann er monoton. „Stecken darin irgendwelche Wahrheiten? Fällt dir irgendein Grund ein, wie jemand auf solche Gendanken kommen könnte?“

Ich senkte den Kopf. Ja, da fiel mir schon der ein oder andere Grund ein, warum JEMAND solche Gerüchte in die Welt setzte. Um mich zu demütigen, ganz zweifellos. Um mich abzugrenzen, mich zu kontrollieren und die Macht über mich zu haben. Um mich zu erpressen. Und um mich unglücklich zu machen. Ich biss mir auf die Lippe.

Unvermittelt ließ er meine Hand los. Überrascht sah ich ihn an, aber sein Gesicht war immer noch eine monotone Maske. Ich fröstelte von dem unvermittelten Verlust.

„Warum bist du zu mir gekommen, Tereza? Warum ich, wenn du doch offensichtlich bei jemand anderes sein möchtest?“, fragte er, und ich erschrak vor ungewohnten der Kälte in seinen Augen. Sonst strahlten seine Augen immer eine regelrechte Wärme und Intensität aus.

„Was, was meinst du damit?“, fragte ich ihn verwirrt. Ängstlich. Überrascht. „Zu wem außer dir sollte ich denn bitte gehen?“

Sein Gesicht blieb dieselbe Maske, aber etwas an der Art wie er mich ansah änderte sich; scheinbar glaubte er mir. „Das heißt, an diesen Gerüchten ist überhaupt nichts dran?“, fragte er nach.

„Nein, aber ich kann mir in etwa denken, wie es dazu gekommen ist“, antwortete ich leise und tastete mich nach seiner Hand vor. Als ich sie fand, weiteten sich seine Augen ein kleines bisschen, sonst blieb sein Gesichtsausdruck unverändert. Meine Finger kribbelten. „Ich weiß, wer diese Gerüchte in die Welt gesetzt hat, - alle“, erklärte ich flüsternd. „Aber ich kann es dir nicht sagen, weil… weil es nichts ändern würde, und ich damit alleine klar kommen muss. Die Gründe für die Verbreitung solcher Gerüchte ist eigentlich auch sehr simpel: Um mich zu demütigen und etwas gegen mich in der Hand zu haben. Warum sich… Warum sich diese eine Person ausgerechnet Tidus ausgesucht hat… Nun, ich weiß es nicht genau. Vielleicht hat dieser jemand mitbekommen, wie er mich überreden wollte, mich zu euch zu setzen… Oder vielleicht liegt es daran, dass sein Bruder mein bester Freund ist, oder aber es liegt an dir…“

„An mir?“, fragte er verständnislos. Sein Gesicht hatte sich im Laufe meiner leisen Erklärung wieder normalisiert. Offensichtlich hatte ich das Richtige gesagt. „Was habe ich damit zu tun?“

Ich lehnte mich ein wenig an ihn. „Du…“ Du bist vielleicht der wichtigste Faktor bei all dem, dachte ich, ohne es aussprechen zu können. Meine Eltern konnten mich einsperren, Lucy mich demütigen und meine Freunde sich von mir abwenden, aber solange er mir glaubte und ich ihn hatte, konnte ich alles ertragen.

„Du bist mein Freund“, nuschelte ich dann. „Natürlich hast du auch damit zu tun. Aber wenn du… Aber wenn du lieber nichts mit all dem zu tun haben möchtest, dann kann ich auch gehen. Ich… werde dir nicht böse sein und mich dir nicht mehr nähern.“ Ich weigerte mich allerdings, -ganz im Gegensatz zu meinen Worten,- auch nur einen Zentimeter von ihm abzurücken.

Er schlang von hinten die Arme um mich. „Rein zufällig hege ich ein großes Interesse an Problemen dieser Art“, versicherte er mir. „Und ich habe auch nicht die Absicht, mich von dir fernzuhalten.“

Zuerst erstarrte ich ein wenig überrascht, von der ungewohnten Berührung, aber dann entspannte ich mich und seufzte erleichtert. Mein ganzer Körper kribbelte und ich fühlte mich so geborgen, wie schon lange nicht mehr.

„Heißt das, ich kann bleiben?“, fragte ich. „Zumindest für eine Weile?“

„Solange du möchtest“, versicherte er mir leise von hinten und ich fröstelte, als sein warmer Atem meinen Nacken kitzelte.

Wir verharrten eine halbe Ewigkeit in dieser Position, - bis wir Stimmen und klapperndes Geschirr von unten hörten. Da Will aber nicht reagierte, löste ich mich ein wenig von ihm, - woraufhin er mich nur noch einmal näher zu sich zog. Überrascht schnappte ich nach Luft, als er mich fest gegen seine Brust drückte.

„Nur noch einen Augenblick“, bat er mit rauer Stimme und das Ziehen in meinem Bauch begann von Neuem. Ich nickte kaum merklich und ließ ihn gewähren. Wenig später rückte er wieder von mir ab, fuhr mir mit der Hand über die Wange und versprach: „Ich bin gleich wieder da.“ Er erhob sich und verschwand zur Tür raus. Kaum merklich legte ich meine Hand auf mein Herz, um es zu beruhigen.

Auch Wills Familie aß allem Anschein nach jeden Abend gemeinsam, aber ich hatte das unwiderlegliche Gefühl, dass bei ihnen die Stimmung ein klein wenig anders war, als bei mir Zuhause. Ich ließ mich auf Wills Bett zurück fallen und schloss für einen Moment die Augen. Als ich etwas Warmes spürte, dass meine Hand berührte, machte ich sie vorsichtig wieder auf. Will war wieder da und sah mich aus seinen haselnussbraunen Augen interessiert an. Ich richtete mich ein wenig auf, und rieb mir über die Augen.

„Hey“, murmelte ich rau. „Und, was gab es denn Gutes zum Essen bei euch?“

„Spagetti“, antwortete er lächelnd. „Wenn du willst, kann ich später runtergehen und dir eine Portion holen. Bis dahin…“ Er hob seine Hand und warf mir eine Packung Chips zu. „…muss das erst mal reichen. Tut mir leid, aber wenn ich direkt nach dem Abendessen etwas anderes als Schokolade oder Chips auf mein Zimmer mitnehmen würde, wäre das ganz schön verdächtig.“

„Schon okay“, antwortete ich lächelnd. „Ich hab einen Bärenhunger, - da würde ich die Chips vermutlich sogar alle ganz alleine aufessen, selbst wenn sie abgelaufen wären. Außerdem… wollte ich immer schon einmal wissen, wie es sich anfühlt, wenn man das Abendessen auslässt und nur Süßes futtert.“ Ich lachte leise.

„Trotzdem“, meinte er auch lächelnd. „Etwas später gehe ich runter und hole dir etwas Richtiges, - nicht dass du noch einen Zuckerschock bekommst.“

Ich strahlte ihn an. „Danke, Will.“

„Keine Ursache“, erklärte er.

Der Abend verging viel zu schnell, - mein Magen wurde gesättigt, - und mit dem Anbruch der Nacht kam ein Problem auf, an das ich überhaupt nicht gedacht hatte. Wo sollte ich schlafen?

 

„Du schläfst hier“, erklärte Will, als er meinen besorgten Blick sah, und deutete auf sein Bett. „Ich werde mich wohl die nächsten Tage auf den Boden legen, - ich hab immer geahnt, dass dieser Tag einmal kommen würde, und wusste schon, warum ich so einen dicken Teppich wollte“, scherzte er. Ich sah zu Boden. Allzu gemütlich sah der beige Teppich nicht aus, - außerdem war mir ganz und gar nicht wohl darin, ihn aus seinem Bett zu werfen.

„Nein, das kommt gar nicht in Frage“, widersprach ich und sah ihn wieder an. Er zog fragend eine Augenbraue hoch. „Du schläfst dort, wo du immer schläfst“, erklärte ich. „In deinem Bett.“ Ich erhob mich, nur um mich dann auf den weichen Teppich zu setzten. „Ich schlafe hier“, verkündete ich schlussendlich. Er musterte lange meinen entschlossenen Gesichtsausdruck, - und meine Wangen färbten sich unter seinem Blick immer rosiger.

„Sicher?“, fragte er dann zweifelnd.

„Absolut, - eine Decke, vielleicht ein Polster und ich bin rundum zufrieden“, bestätigte ich ihm. Er seufzte nur ergeben und verschwand kurz um Besagtes zu holen.

Da Wills kleine Schwester Ana gerne und vor allem ohne anzuklopfen sein Zimmer betrat, verabredeten wir, dass wenn er nicht gerade mit mir in seinem Zimmer war, ich mich immer in der Nähe das Kastens aufhalten sollte, um mich notfalls schnell darin zu verstecken zu können. Und als Will kurz darauf im Badezimmer verschwand um zu duschen, machte ich ihn darauf aufmerksam, dass ich keine weitere Kleidung mitgenommen hatte. Wie denn auch? Ich kam direkt von der Schule hierher, und meine Reisetasche lag bestimmt schon, - von unserem Chauffeur zum Hause der Titos kutschiert, - in Lucys Zimmer.

„Nimm dir was du willst“, erklärte er und deutete zum Kasten. „Du findest dich schon zu Recht.“

Zuerst war mir nicht ganz wohl dabei, einfach Wills Sachen zu nehmen, - ob mit oder ohne Erlaubnis, - aber all diese Bedenken verschwanden, als ich das erste Hemd herausnahm. Es war mir viel zu groß und hatte einen sehr angenehmen Geruch, - Fremd und doch vertraut. Irgendwie männlich. Ich beeilte mich allerdings mich nicht beim Schnüffeln an seinen Sachen erwischen zu lassen, - ich wäre gestorben vor Scham. Am Ende hielt er mich noch für einen verrückten Stalker.

Ich entschied mich schlussendlich für ein langes, dunkelblaues T-Shirt und eine schwarze Jogginghose, - den Gedanken, mir eine von Wills Boxershorts auszuborgen, verwarf ich mit hochroten Kopf sofort, - und war umgezogen und in meinem improvisiertem Bett bevor Will auch nur aufgehört hatte zu duschen. Da das Badezimmer gleich nebenan lag, war das rauschende Wasser nicht zu überhören. Ich begann mich zu fragen, ob man das wohl im ganzen Haus so deutlich vernahm wie hier in Wills Zimmer. Denn wenn ich demnächst hier duschen wollte, - und das wollte ich ganz bestimmt!, - wäre es dann nicht eigenartig Wasser rinnen zu hören, wenn „niemand“ duschte?

Mist. An sowas hatte ich noch gar nicht gedacht. Allerdings werden Wills Eltern wohl hoffentlich auch das ein oder andere Mal außer Haus gehen, oder etwa nicht?

Die Antworten auf diese Fragen kamen mir sofort unbedeutend vor, als Will mit nassem, - in dem schwachen Licht beinahe schwarz aussehendem, - Haar und nackten Oberkörper und nur einem Handtuch um die Taille in der Tür erschien. Ohne mir großartig Beachtung zu schenken, ging er schnurstracks zu seinem Kasten und suchte sich etwas zum anziehen.

„Ich bin gleich wieder da“, erklärte er lächelnd mit einem kurzen Blick zu mir, und ich konnte nur hoffen, dass es dunkel genug war und meine Decke dick genug, um mein bis über beide Ohren glühendes Gesicht zu verstecken. Ich hatte mich noch nicht wieder unter Kontrolle, als er wieder, - diesmal angezogen, - zurückkam. Er schloss die Tür und ich konnte hören, wie er den Schlüssel umdrehte.

„Ist es dir Recht, wenn ich abschließe?“, fragte er mich mit dem Gesicht zu mir, und der Hand immer noch an den Schlüssel. Er ließ mir die Wahl. „Meine kleine Schwester hat ein unsagbares Talent dafür, einfach in meinem Zimmer aufzukreuzen, wenn ihr der Sinn danach steht.“

Ich hob mein Gesicht ein wenig aus der Decke und nickte einmal deutlich. Aus den zwei Fenstern kam gerade so wenig Licht, dass man den anderen noch beinahe mühelos sehen konnte, aber auch nicht so viel, dass man dabei nicht einschlafen konnte.

Will ließ den Schlüssel los und kam langsam auf mich zu. Er blieb direkt vor mir stehen und sah mir tief in die Augen. Einen viel zu langen Moment lang stand er einfach nur so da, und musterte mich, bis er schließlich leicht lächelte und sich in sein Bett legte.

„Woran denkst du?“, fragte ich ihn unverblümt und starrte zur Decke. Holzdielen.

Er zögerte kurz, dann antwortete er ehrlich: „Daran, dass du wirklich hier bist. Als ich unter der Dusche stand, dachte ich plötzlich, ich könnte mir das alles nur eingebildet haben.“

Ich lächelte. Mir kam es auch ganz unwirklich vor, hier mit ihm zu liegen, - und wenn schon nicht im selben Bett, dann zumindest im selben Zimmer. Dass ich überhaupt so viel Zeit mit ihm verbrachte war eigentlich schon vollkommen unfassbar für mich.

„Ich hatte es so eilig“, fuhr er fort. „Zu dir zurückzukommen, und zu überprüfen, ob du auch wirklich hier warst, dass ich vollkommen vergessen hab, dass ich nur im Handtuch dastand.“

„Und ein Blick auf mein rotes Gesicht, - und da ist es dir schlagartig wieder klar geworden.“

„So ungefähr“, gab er schmunzelnd zu. Moment mal. Hatte ich das gerade LAUT gesagt? Ich dachte, ich hätte es nur gedacht. Beinahe panisch zog ich mir die Decke über den Kopf.

„Vielleicht sollten wir jetzt schlafen“, erklärte ich meinem Bettbezug und meine Stimme klang mir selbst fremd.

„Okay“, hörte ich Wills lockere Stimme von oben. „Gute Nacht, Tereza.“

Bei der Erwähnung meines Namens durch seinen Mund durchströmte mich plötzlich ein unbeschreibliches, warmes Gefühl in der Brust und einen Augenblick wünschte ich, dieser Moment würde ewig andauern. Dann flüsterte ich: „Gute Nacht, Will.“

Kapitel 11

 

Als ich aufwachte, hatte ich das untrügliche Gefühl, es wäre ein Tag wie jeder andere. Es war noch sehr früh, und der graue Himmel und die Wolken verhießen einen regnerischen Tag. Ich zog mich ohne groß zu überlegen an, und lief in unsere Küche hinunter. Auf der Treppe stolperte ich fast in meine große Schwester. Bei ihrem Anblick riss ich überrascht die Augen auf. Ihre Haare waren von pinken Strähnen durchzogen und ihre Augen schwarz geschminkt. In ihrer linken Hand und ihren Haaren befand sich ein mobiler Lockenstab, weswegen sie abgelenkt wirkte.

„Kannst du nicht aufpassen“, fuhr sie mich verärgert an. „Beinahe hätte ich mich verbrannt.“

Ich verdrehte die Augen. „Entschuldige“, murmelte ich und beeilte mich an ihr vorbei zu kommen, bevor Mutter sie so sah. Das würde gewaltigen Ärger geben. Auf dem Treppenabsatz drehte ich mich noch einmal um. „Marija“, rief ich, und dämpfte meine Stimme dann etwas. „Hältst du es wirklich für so eine gute Idee Mutter ständig zu reizen? Das bringt doch nichts“, versuchte ich auf sie einzureden.

Marija war schon fast aus meiner Sicht verschwunden, stieg dann aber überraschenderweise wieder ein paar Stufen herab um mich mit ihren schmalen, haselnussbraunen Augen verärgert anzusehen.

„Hast du Schiss, dass du es wieder ausbaden musst?“, fragte sie mich und ihr Mund verharrte in einer harten Linie. Sie zog den Lockenstab aus ihren Haaren. Plötzlich fing sie an zu lachen. „Du bist so ein Feigling“, erklärte sie lachend. Es klang so, als lachte sie über mich. Beschämt senkte ich den Kopf.

„Ich will bloß keinen Ärger mehr im Haus“, verteidigte ich mich, - aber selbst in meinen Augen klang ich erbärmlich. „Ist das denn so schwer zu verstehen?“

„Nein, Reza“, erklärte sie und tat so, als würde sie sich eine Lachträne aus den Augen wischen. Ihr Eyeliner verschmierte dabei. „Ich verstehe dich schon, - immerhin hab ich auch mal so gedacht. Aber keine Sorge, an meinem achtzehnten Geburtstag bist du mich und meinen Ärger hier los. Und eines Tages wirst du hoffentlich verstehen, warum ich mache was ich mache.“ Sie deutete mit ihrer freien Hand auf sich und ihre bunte Haarpracht. „Meine Haare, mein Gesicht“, erklärte sie weiter. „Mein Leben, meine Entscheidung.“ Ohne zu sehen, ob ich verstanden hatte, drehte sie sich um und verschwand zur Treppe rauf.

Ich wollte wütend auf meine große Schwester sein, weil sie meine Gefühle vollkommen ignorierte und mich von oben herab ansah, obwohl ich gerade einmal drei Jahre jünger war, als sie. Das war nicht gerade die Welt. Ich war alt genug, um selbst zu entscheiden, - und die Entscheidung sich wegen nichts und wieder nichts mit unseren Eltern anzulegen, kam mir nicht wie eine Frage des Alters, sondern der Einstellung, vor. Ich würde bestimmt nie so werden. Dafür war ich viel zu erwachsen, fand ich.

Trotzdem gab es da aber einen kleinen Teil in mir, der sich wünschte, so wie meine große Schwester Marija zu sein. Sie mochte zwar laut und anstrengend sein, aber sie war auch ehrlich und selbstbewusst, und stand für sich und die Dinge, die sie wollte, ein. Sie war mutig, wunderschön und in allem was sie tat, überdurchschnittlich gut.

Sie konnte schon immer besser zeichnen, singen und war besser im Sport als ich. Wenn wir um die Wette liefen, war sie mir immer mehrere Meter voraus, und wenn wir Schach spielten, gewann immer ausnahmslos sie. Sie hatte ein Auge für Modetrends, und auch wenn die Wahl unserer Kleider begrenzt und nur unter der Aufsicht und Anleitung unserer Mutter von statten ging, so stach Marija doch immer mehr heraus als ich, - oder gar andere. Egal wo sie war, fand sie sofort Freunde und kam mit allen gut zu Recht. Im Gegensatz zu mir, die ich den Großteil meiner Zeit alleine verbrachte.

Marija. Ja, sie war etwas Besonderes.

Aber eine von uns beiden musste die Vernünftige sein, die Erwachsene. Die Person, die immer alles bis zum Ende dachte. Die Person, die sich gar nicht erst Freunde suchte, weil sie wusste, dass sie sie sowieso nicht halten konnte. Die Person, die sah, was bei ihrer großen Schwester alles schief lief, die die vielen Tränen und Wutausbrüche miterlebte und ihr bestes tat, ihre Schwester durch doppelt so gutes Benehmen zu entlasten und ihren Eltern eine Vorzeigetochter war. Einfach, weil ihre andere Schwester es nicht war.

Die Rollen waren von Anfang an verteilt gewesen. Eine Alternative hatte es nie gegeben. Was wohl passiert wäre, wenn Marija die Vernünftige von uns beiden gewesen wäre? Würde ich dann genauso wie sie jetzt mit pinken Haaren und schwarzen Klamotten durch die Gegend laufen, - von denen ich aber wusste, dass Mutter mich sowieso nicht auf diese Weiße aus dem Haus gehen lassen würde?

Ich hörte einen Schrei von Entsetzen von meiner Mutter, den ich nur zu gut kannte und mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, und riss die Augen auf. Einen Moment war ich verwirrt, dann viel mir wieder ein, was passiert war.

Ich war überhaupt nicht „Zuhause“, sondern bei Will. Meine Schwester war längst, - sagen wir einfach, - ausgezogen, meine Eltern abgereist und Lucy… Lucy hatte in der Zwischenzeit das „Sorgerecht“ für mich. Und ich war hier bei Will. Ich war bei Will. Will Delnice. Mitten in der Nacht. In seinem Zimmer, - mit ihm. Und...

Moment mal. Ich lag nicht mehr auf dem Boden. Wie von selbst richtete sich mein Körper auf. Mir fiel jetzt alles wieder ein und überrascht starrte ich auf den schlafenden Jungen neben dem Bett, - und das, wo er doch AUF dem Bett liegen sollte, - dort, wo ich jetzt lag, - aber nicht liegen sollte, - dort wo er eingeschlafen war. Ich wusste nicht, ob ich mich geschmeichelt oder schuldig fühlen sollte. Er musste mich während ich geschlafen hatte, hoch- und in sein Bett getragen haben. Abermals befiel mich ein Gefühl von Wärme.

Ich blickte noch immer auf Wills schlafendes Gesicht. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich solche Gefühle für Jemanden. Es war weit mehr als bloße Dankbarkeit oder Zuneigung. Mehr als jede Art der Bewunderung oder Interesse, das ich je gefühlt hatte. Will war außergewöhnlich. Und wertvoll. Ich hegte den selbstsüchtigen Wunsch, dass das so schnell außer mir niemand bemerken würde. Ich wollte ihn ganz für mich allein.

Allerdings wusste ich nicht, ob er das genauso sehen würde. Ein Teil von mir fragte sich, ob er nicht einfach nur Mitleid mit mir hatte. Das würde ganz gut in das Bild passen, das ich von ihm hatte. Er war sehr hilfsbereit, und niemals würde er jemanden, der Hilfe benötigte im Stich lassen, - ich hatte es mehr als ein Mal gesehen. Und erst Recht nicht, wenn sich diese Person direkt an ihn wenden würde. Da ging wohl sein von seiner Psychologen-Mutter vererbtes Hilfe-Gen mit ihm durch.

Aber trotzdem… So anmaßend der Gedanke auch war, wäre es schön, wenn er dasselbe wie ich empfinden würde.

Wie von allein schlugen meine Hände die Decke zurück, und ohne willentliches Zutun setzten meine Füße auf dem Boden auf und hockten sich neben Will auf den Boden. Ich schüttelte ihn leicht an der Schulter, um ihn aufzuwecken; meine Finger brannten von der angenehmen Wärme seines Körpers.

„Will“, flüsterte ich. „Steh mal kurz auf.“ Immer noch im Halbschlaf richtete er sich langsam auf und ließ sich von mir aufs Bett dirigieren, auf das er sich müde fallen ließ.

Ich kam erst wieder richtig zu Sinnen, als ich ihn losließ und auf den im-Halbschlaf-liegenden-Will-der-endlich-wieder-in-seinem-Bett-lag runter blickte. Ich sah von Will zum improvisierten Bett am Boden, - und wieder zurück. Mich wieder an meinen ursprünglichen Platz zu legen, kam mir seltsam lächerlich vor, und dieses Gefühl verdrängte den Gedanken, dass es Will womöglich gar nicht Recht wäre, mit mir in einem Bett zu liegen, entschieden. Ein wenig zaghaft hob ich die Bettdecke ein Stück an und schlüpfte ganz vorsichtig zu Will ins Bett, - die ganze Zeit darauf bedacht, so wenig Platz wie möglich einzunehmen und ihm nicht zu nahe zu kommen. Mein Herz schlug wie verrückt.

Ich spürte wie Will sich bewegte und schnappte überrascht nach Luft, als seine Hand meine fand; sie war warm und lag beinahe zärtlich in meiner. Sie lag nicht so fest, dass ich das Gefühl hatte, er wolle mich festhalten, aber auch nicht so locker, dass ich fürchten musste, dass die Berührung ein Zufall gewesen wäre. Ich warf einen verstohlenen Blick auf sein Gesicht. Er sah weitaus wacher aus, als ich zunächst gedacht hatte.

Ich beeilte mich allerdings wieder wegzusehen, aus Angst, er könnte plötzlich die Augen öffnen und meinem Blick begegnen. Ich schloss meine Augen und konzentrierte mich nur auf das Gefühl seiner Hand in meiner. Desto mehr ich an ihn und das Gefühl, das er schon durch eine einfache Berührung bei mir auslöste, dachte, desto mehr begann ich mir zu wünschen, er würde diese schöne Hand dazu benutzen mich überall so zärtlich zu berühren.

Kapitel 12

Man konnte sich noch so sehr wünschen, die Nacht würde nie zu Ende gehen, irgendwann mussten die Sonne und der Morgen schließlich doch kommen. Und mit ihnen die Erkenntnis, dass Will meine Hand die ganze restliche Nacht nicht mehr losgelassen hatte.

Geweckt wurde ich von einer sanften Trompete, einem leisen Orchester und einer männlichen Soulstimme, die mitten im Satz verstummte, als Will seinen Handywecker deaktivierte.

„Guten Morgen“, verkündete er, - und war im Gegensatz zu mir schon komplett wach. Meine Augen schlossen sich wie von selbst wieder und ich gähnte mit vorgehaltenem Mund.

„G’ Morgen“, nuschelte ich in die Bettdecke und hörte ihn leise lachen.

„Ja, das ist wirklich mal ein guter Morgen“, hörte ich ihn murmeln. Seine glückliche Stimme machte mich neugierig, welchen Gesichtsausdruck er wohl hatte. Ich ließ es mir nicht nehmen, und linste durch meine zusammengekniffenen Augen. Bei seinem Anblick blieb mir die Luft weg.

Seine dunkelbraunen Haare standen unordentlich in alle Richtungen ab, -erweckten in mir das starke Bedürfnis, einfach meine Hand auszustrecken und einmal hindurch zu fahren, - und seine warmen, haselnussbraunen Augen wirkten ungewöhnlich wach für die frühe Stunde. Ein Feuer schien in ihnen zu lodern. Mein Blick glitt weiter zu seinen schönen Wangenknochen, weiter zu seinem verlockenden Mund, der ein kleines und bedächtiges, aber gefährlich verführerisches Lächeln andeutete.

Wie es sich wohl anfühlen würde, diese Lippen auf den meinen zu spüren?

Seine Lippen. Seine Augen. Sein Gesicht. Sein Körper. All das war mir und meinem Körper überraschend näher als gedacht, - und doch nicht nah genug. Er erwiderte meinen musternden Blick neugierig, und sein Blick wurde ernst.

„Eine Frage“, begann er, und zog eine seiner schönen braunen Augenbrauen nach oben. „Wie lange gedenkst du eigentlich hier zu bleiben?“ Ich musste schlucken.

„Ich-Ich weiß nicht genau“, antwortete ich wahrheitsgemäß. „Aber vergiss nicht, dass du mich jeder Zeit rausschmeißen kannst“, fügte ich leise hinzu, ohne ihn direkt anzusehen. Der Gedanke von dem einzigen Menschen, der mir noch vertraute getrennt zu werden setzte mir stärker zu, als ich mir versuchte anmerken zu lassen. Zugegeben, ich hatte auch noch meine Schwester… Aber wie sollte ich diese kontaktieren? Mein Handy war im Besitz meines Lehrers, der Anhänger und dazugehörige Hausschlüssel von Marija und meinem Neffen war verschwunden und Timon war bestimmt einer der Letzten, der mir helfen würde, sie erneut aufzuspüren.

„Hey, so habe ich das überhaupt nicht gemeint“, versicherte Will mir mit sanfter Stimme und ehe ich mich versah, lag seine Hand auf meiner Wange und zwang mich, ihn direkt anzusehen. „Ich glaube zwar, dass ich das schon einmal gesagt habe, aber du kannst bleiben solange du möchtest.“ Seine warmen Augen bohrten sich in die meinen und seine Hand auf meinem Gesicht verursachte heiße Blitze in meinem Körper. Sein Gesicht kam dem meinem immer näher, sodass ich bei seinen nächsten Worten seinen heißen Atme auf meinem Gesicht spüren konnte. „Allerdings wäre es wohl ziemlich unsensibel von mir, dir zu sagen, wie sehr es mich freut, dich hier bei mir zu wissen“, erklärte er mit leiser, rauer Stimme und mein Herz schien für einen Augenblick still zu stehen.

„Wenn das deine Definition von unsensibel ist, dann sei bitte nie wieder sensibel wenn es um mich geht“, platzte es mir leise heraus und ich sah, wie sich sein verführerischer Mund zu einem kleinen, ausgefuchsten Lächeln verzog. Seine warme Hand, die an meiner Wange lag, wanderte nach hinten in meinen Nacken und zog mich näher zu ihm hin. Der Blick seiner haselnussbraunen Augen war beinahe fragend. Ich hielt den Atem an. Nur noch wenige Zentimeter, dann würde ich endlich wissen, was es für ein Gefühl war, jemanden, - Will, - zu küssen. Ich konnte das Zittern kaum unterdrücken, als ich langsam meine Augen schloss und…

„MOM, WILL IST NOCH NICHT AUF!“, ertönte die Stimme von Wills kleiner Schwester Ana hinter der Zimmertür. Für ein Mädchen von ihrer zierlichen Statur und der Tatsache, dass es erst früher Morgen war, schien ihre Stimme eine gewaltige Stärke zu besitzen, - sowie ein schlechtes Timing. „SOLL ICH IHN AUFWECKEN?“, ertönte ihr Stimme wieder, diesmal fragend. Wills Blick war entschuldigend und fast… bedauernd, als sein Kopf nach hinten fuhr, und seine Hände plötzlich über meinen Ohren lagen. Ich gluckste vor Überraschung.

„Was…?“, entfuhr es mir entgegen jeglicher, guter Erziehung erstaunt. Will beachtete es gar nicht.

„ICH BIN WACH!“, verkündete er laut, - für mich hörte es sich aber dank seiner schützenden Hände allenfalls ein wenig dumpf und in Zimmerlautstärke an.

„OK“, war die rasche Antwort seiner Schwester. „MOM, ER IST DOCH WACH!“, teilte sie nun die erfreuliche Nachricht der ganzen Nachbarschaft mit. Ich kicherte leise, als Will seufzend seine Hände von meinen mittlerweile von seinen Berührungen heißen Ohren nahm.

„Ist das hier jeden Morgen so?“, fragte ich ihn interessiert. Verlegen fuhr er sich durch sein wildes, dunkelbraunes Haar.

„So ungefähr, ja“, gab er leise zu. Ich kicherte wieder leise.

„Sei ehrlich, hast du jemals verschlafen?“, wollte ich lachend von ihm wissen.

„Dank meiner Schwester… nicht ein einziges Mal“, erklärte er seufzend und ich lachte immer noch. Sein Blick veränderte sich plötzlich. Genauso wie das Thema. „Ich werde mich heute in der Schule ein wenig umhören“, meinte er jetzt vorsichtig und sah mich abwartend an, ob ich irgendwelche Einwände vorzubringen hätte. Nein? „Und wenn du willst, könnte ich versuchen, mit Timon zu sprechen.“ Ich nickte zaghaft, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich wollte, dass Will so tief in meinen, - sagen wir einfach mal, - Schlamassel hineingezogen wurde.

Auch er nickte, strich mir eine lange Strähne aus meinem Gesicht, - was mich abermals dazu veranlasste, den Atem anzuhalten. - und gab mir dann einen liebevollen Kuss auf die Stirn. Meine Haut brannte von der Berührung und mein Herzschlag überschlug sich beinahe.

„WILL, BIST DU WIEDER EINGESCHLAFEN?“, ertönte die eindringliche Stimme Anas hinter der Tür, und ließ mich erschrocken zusammen zucken. Will schlug die Decke über mich und meinen Körper und antwortete.

„ICH STEH JA SCHON AUF“, rief er seiner Schwester laut zu und ich duckte mich unwillkürlich.

„JA, JA“, kam deren prompte Antwort. Ich grinste wieder, - allerdings verdeckt vor Wills Blicken unter der grünen Decke.

„Ich muss jetzt leider wirklich aufstehen“, verkündete Will entschuldigend und zog mir die Decke vom Kopf um mich ansehen zu können. Diese Augen, dieser Blick…

„Jetzt geh schon endlich“, erklärte ich lachend, und tat, als würde ich ihn aus dem Bett schmeißen. „Bevor noch dein Wirbelsturm von einer kleinen Schwester hier rein platzt und uns zusammen sieht!“

Impressum

Texte: Alle Rechte liegen bei mir.
Bildmaterialien: Alle Rechte liegen bei mir.
Tag der Veröffentlichung: 23.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /