Rotes Tuch
Sarah Wilke
Gebückt verließ sie die stickige Turnhalle und drückte sich mit der linken Hand in den Unterbauch. Die anderen Mädchen aus ihrer Klasse stürmten an ihr vorbei, als wäre sie Luft. Sie kannte diesen Schmerz im Bauch nicht, er war ihr fremd. Fremd und beunruhigend, im Gegensatz zu der Qual, mit der sie täglich aufs Neue konfrontiert wurde. Jede Stufe, die sie hinabging, ließ die Schmerzen erneut aufleben. Manchmal war es nur ein Ziehen, manchmal tat es höllisch weh. Sie atmete tief ein und aus und hörte die lauten Stimmen ihrer Klassenkameradinnen, als sie die letzte Stufe hinter sich brachte.
Unruhig und ängstlich betrat sie den Umkleideraum. Ein schwerer Geruch von Schweiß und Deodorant umgab sie, sodass sie instinktiv die Luft anhielt und rasch zu ihrer Sporttasche ging. Einige der Mädchen beachteten sie kaum. Doch es gab auch die Anderen, die sie nicht aus den Augen ließen. Als sie die Sporttasche erreichte, löste sie die schützende Hand von ihrem Unterleib und nahm ihr Handtuch und die frische Kleidung mit in den Duschraum. Ablehnende Blicke verfolgten sie, das alltägliche Gemurmel begann und sie versuchte wegzuhören.
Nackt und entblößt stand sie nun da, wusch ihre nussbraunen langen Haare und ihren noch unentwickelten Körper. Sie spürte die Blicke im Rücken, konnte spüren, wie sie lachten. Das warme Wasser schwächte die Schmerzen am Unterleib etwas ab und sie genoss es, sofern dies möglich war.
Nachdem sie den Mut gefasst hatte, verließ sie die Dusche und griff so schnell sie konnte nach dem großen weißen Handtuch. Die meisten Mädchen hatten die Umkleide bereits verlassen, andere sammelten in Ruhe ihr Zeug zusammen. Doch da waren sie, und sie starrten sie an, mit einem Lächeln im Gesicht, böse und amüsiert. Beschämt drehte sie sich weg, weg von den Augen, die sie durchbrachen.
Sie trocknete ihren Körper ab, an jeder Stelle, unter Beobachtung dieser Mädchen, und wollte einfach nur, dass es endete.
Und dann fiel das Handtuch, landete auf den Fliesen, und man sah die blutroten Flecken, die sich darauf ausbreiten und mit dem Wasser leicht vermischten. Und in ihren Augen sah man die Tränen, die ihr Gesicht so zerbrechlich machten, und einsam.
Sie hörte das Gelächter, hörte die Worte und die Ablehnung. Diesen durchdringlichen Hass, den sie sich nie erklären konnte, der aber dennoch so stark war, dass sie daran zerbrach. Sie starrten auf das Handtuch, hielten sich den Bauch vor Lachen, warfen ihre Haare nach hinten und verließen den Raum mit graziösen Bewegungen und einer Stärke, die aus verborgener Schwäche und der Angst, nicht gut genug zu sein, geschaffen wurde.
Verloren blieb sie zurück, starrte hinab auf das rote Tuch und die Tränen fielen, verloren sich in dem Blut, dass weniger aus ihrem Körper, als aus ihrer Seele stammte.
© Sarah Wilke
Texte: Sie lesen einen Text von Sarah Wilke.
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Tag der Veröffentlichung: 21.07.2011
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Widmung:
Für all die, die in der Schule unterdrückt wurden.