Kapitel 1
Wie immer um diese Uhrzeit näherten sich schwere Schritte. „Bitte, lass sie vorbei gehen. Oh bitte bitte bitte!!“, murmelte das Mädchen. Immer lauter hallte das Geräusch durch das Gebäude. Das Scheppern der mit Stahl verstärkten Stiefel der Aufseher dröhnte durch die langen Gänge des Wohntraktes, bis es mit einem Mal verstummte. Ein Schlüssel wurde in ein Türschloss gesteckt und aus dem Raum neben dem ihren hörte man den panischen Schrei eines Kindes. Der Stimme nach hatte es heute Lara erwischt. Schade, die beiden hatten sich erst vor kurzem angefreundet. Luna fuhr mit den Fingern nachdenklich durch ihre Haare, während sie sich auf ihrem harten Bett herumwälzte. Wieder einmal ein Beweis dafür, dass man sich besser nicht zu sehr mit den anderen abgeben sollte – man wusste nie, wer als nächstes an der Reihe war und ob dieser zurückkommen würde. Sie drehte sich auf den Rücken und streckte die Beine in die Luft. „Das hier ist echt die beste Diät, die die Menschen je erfunden haben!“ Luna lachte über diesen banalen Gedanken; als ob man in der Anstalt hier noch eine Diät brauchen würde. Wie gerne hätte sie jetzt jemanden zum Reden gehabt, um dem grauenhaften Alltag wenigstens ein wenig entkommen zu können. Zwar hatte Luna – allgemein als Nummer 46 bekannt – auch eine Zellengenossin, jedoch war diese, nachdem man sie zur Versuchsstation gebracht hatte, nicht mehr ansprechbar gewesen und saß nun schon seit geraumer Weile nur noch still auf ihrem Bett, sprach nicht mehr und tat nichts aus eigenem Antrieb. Luna wollte gar nicht wissen, was man ihr angetan hatte, denn jeder hatte hier sein eigenes Päckchen zu tragen. Und doch musste sie sich nun Tag für Tag ansehen, wie ihre Freundin, welche Luna auch ihren Namen gegeben hatte, langsam aber sicher vollkommen verwahrloste. Luna hatte im Gegensatz zu ihr schon ihr ganzes Leben in dieser Anstalt verbracht, jedenfalls den Teil, an den sie sich noch erinnern konnte. Fina, so hieß das andere Mädchen, war mit sieben Jahren zu ihr in die Zelle gebracht worden. Zuerst hatte das verängstigte Kind, kein Wort mit ihr gewechselt doch nach einigen Wochen, in deren Verlauf Luna des öfteren zaghafte Annäherungsversuche gestartet hatte, war es ihr endlich möglich gewesen das kleine Mädchen zu beruhigen. „Ach, das waren damals noch Zeiten, weißt du noch?“, Luna warf ihrer jungen Freundin einen flüchtigen Blick zu, nur um festzustellen, dass diese sie sowieso nicht beachtete. Luna... der Name gefiel ihr! Fina hatte ihn ihr gegeben. Sie hatte damals gesagt, das wäre der einzige Name, der ihrer gerecht werden würde. So war aus dem Mädchen Nummer 46 schließlich Luna geworden. Luna, das Mädchen mit den schneeweißen Haaren.
Bedauerlich, dass von der einst so lebensfrohen Fina nach sechs Jahren nicht mehr als dieses Häuflein Elend geblieben war. Doch dagegen konnte man nichts unternehmen, denn es gab wichtigeres als die anderen. Das einzige, das auf der Station zählte, war man selbst. Die Insassen setzten sich zusammen aus Jungen und Mädchen aller Altersklassen bis zum 22. Lebensjahr. Die beiden Wohntrakte waren nach Geschlecht und die einzelnen Zellen nach Nummern getrennt, doch es gab Gerüchte über einen dritten Trakt, in dem sich die „speziellen Kinder befanden“, doch keiner wusste genau, ob dies der Wahrheit entsprach. So gut wie niemand erinnerte sich noch an seinen realen Namen, denn das wenige, was an Erinnerungen geblieben war, wurde durch die Qual der Experimente verdrängt. Nur die wenigsten wussten noch wie es war von einer Familie geliebt und umsorgt zu werden. Nachdenklich schritt Luna in der kleinen Zelle auf und ab. Viel Platz bot der Raum jedenfalls nicht und die spärliche Einrichtung konnte nun wirklich keinem das Gefühl eines Zuhauses vermitteln. Bis auf den Zellenpartner wurde stets darauf geachtet, dass die Kinder gänzlich voneinander abgeschottet lebten. Die einzige Zeit, zu der man seine sozialen Kontakte zu den andern pflegen konnte, war beim wöchentlichen Gemeinschaftsessen. Für gewöhnlich wurden die Mahlzeiten immer von den Wärtern gebracht, doch einmal pro Woche wurden alle Kinder unter strengster Beobachtung in einen großen Saal geführt, wo ihnen allen ein wunderbares Essen vorgesetzt wurde. Die Neuankömmlinge hielten dies meist für eine reine Großzügigkeit der Leiter der Station und waren über alle Maßen glücklich, mit anderen Menschen zu sprechen und ein für ihre Verhältnisse extravagantes Essen zu erhalten, doch die, die schon seit längerer Zeit auf der Station lebten, hatten längst begriffen, dass etwas anderes hinter diesen regelmäßigen Treffen steckte, denn die Leiter des Institutes waren eiskalt und berechnend. Die Kinder sollten eingeschüchtert werden. Sollten genug Angst bekommen, dass sie es niemals wagen würden, sich zu wehren oder gar den Versuch einer Flucht zu starten, denn beim Essen wurden sie vorgeführt. Sie waren all diejenigen, die nicht nur einmal die kargen Wände des Labors zu sehen bekommen hatten. Und diese Kinder waren ein Anblick, den man so schnell nicht mehr vergaß. Denn was in den Laboren getan wurde, war die reine Folter. Die Experimente forderten immer einen Preis. Jedes der Kinder hatte seine eigene Theorie entwickelt, was die Leiter mit den Experimenten bezwecken wollten. Lunas Meinung nach waren sie dazu da, die Grenzen des menschlichen Körpers zu testen. Dementsprechend waren die „Vorführobjekte“, wie sie von jedem genannt wurden, grausam entstellt. Da gab es Victoria – 11 Jahre alt. Nach ihrem letzten Besuch war sie ohne Arme und mit einer riesigen Narbe, welche sich diagonal über ihr gesamtes Gesicht zog und ihr rechtes Auge unbrauchbar gemacht hatte, zurückgekehrt. Normalerweise passierte bei den ersten Besuchen im Labor nicht gerade viel – abgesehen von den psychischen Schäden fehlten meist nur einige Finger oder Zehen. War man jedoch schon so lange hier wie Nummer 12, war vom einstigen Körper nicht mehr viel geblieben. Er war wirklich bedauernswert, jedoch hatte man es noch immer nicht geschafft seinen Überlebenswillen zu brechen. Er besaß weder Arme noch Beine, wo sich einst seine Augen befanden klafften nur noch zwei leere Höhlen und man hatte ihm bereits eine seiner Nieren entnommen. Dieser Anblick versetzte den meisten einen gehörigen Dämpfer, doch Luna war es bereits gewohnt. Sie erlitt wesentlich größere Qualen als die meisten anderen, doch niemand wusste, was mit den wenigen geschah, die selbst nach Jahren in ihren Zellen noch immer kein einziges Körperteil einbüßen mussten. Bei den meisten Insassen - überwiegend bei denen, die der Folter der Ärzte schon einmal ausgesetzt worden waren – waren die „glücklichen“, wie Nummer 46 deswegen zutiefst verhasst. Doch kaum jemand wusste, dass es für einige Kinder eine spezielle Behandlung gab, welche sich lediglich auf die Psyche der Opfer auswirkte. Beispielsweise wurde getestet, wie viele Volt an Strom der menschliche Körper aushalten konnte, nach wie vielen Stunden vollkommener Isolation man langsam aber sicher wahnsinnig wurde oder aber ob man ein Kind so manipulieren konnte, dass es ohne jegliche Emotionen jedem Befehl gehorchte. Ob man sich so leicht brechen lies, hing jedoch von jedem einzelnen ab.Luna jedenfalls hatte alle bisherigen Experimente stets mit eisernem Willen über sich ergehen lassen, denn sie hatte nicht vor, klein bei zu geben.
Nachdem einige Stunden vorüber gegangen waren, in deren Verlauf kein Aufseher die Tür zu ihrer Zelle geöffnet hatte, atmete Luna erleichtert auf. „Hey Fina, heute haben sie uns wieder in Ruhe gelassen, ist doch klasse nicht wahr?“. Doch genau wie jeden Tag, erhielt sie keine Antwort. Das junge Mädchen hatte sie nicht einmal angesehen. Nun gut, egal wie viel Mühe sie sich geben würde, es würde nichts bringen, also konnte sie es genauso gut auch einfach bleiben lassen. Mit einem Seufzen warf Luna sich auf ihre Pritsche und starrte an die von Schmutz verfärbte Decke. Was sollte man denn schon anderes tun? Es gab keine Beschäftigung, außer zu schlafen, zu essen und auf die Aufseher zu warten. Und das Tag ein, Tag aus, Monat für Monat, Jahr für Jahr.Luna wusste nicht genau, wie alt sie war, jedoch wurde sie von den anderen aufgrund ihrer Statur und ihres Aussehens auf 17 Jahre geschätzt. Dass sie ihr genaues Geburtsdatum nicht kannte, war ihr aber auch ziemlich recht, denn sie wollte nicht wissen, wie lange es noch dauerte, bis sie entsorgt wurde, denn sobald das 22. Lebensjahr eines Insassen überschritten war, verschwand dieser meist spurlos von einem Tag auf den anderen. Wusste man nicht wie alt man war, konnte man sich deshalb auch nicht den Kopf zerbrechen. Ein altbekanntes Geräusch riss Luna aus ihren Überlegungen – das Scheppern der schweren Eisenstiefel der Wärter. Aber warum so viele? Schlüssel klirrten und Zellen wurden aufgeschlossen. Wenige Sekunden später wurde auch die Tür zu ihrem Raum roh aufgerissen und ein Aufseher steckte den Kopf herein. „Essen“ schnauzte er die Mädchen an, hustete einmal kräftig und spuckte dann einfach vor Lunas Füße. War es etwa schon wieder soweit? Luna sprang auf und rannte hinüber zu Fina, welche erschrocken mitten in ihrer wiegenden Bewegung gestoppt hatte. „Nun komm schon Fina, du musst aufstehen, die Vorführung beginnt gleich! Du weißt doch ganz genau, was passiert wenn wir nicht rechtzeitig mit den anderen eintreffen. Dann machen sie das Gleiche mit uns, wie mit Nummer 23! Erinnerst du dich noch daran Fina? Für jede Minute Verspätung haben sie ihr einen Finger abgehackt!! So beeil dich doch!“. Wie immer hatte das Reden keinen Zweck, denn das Kind starrte Luna zwar panisch an, zeigte allerdings keine Anzeichen, sich innerhalb der nächsten Sekunden bewegen zu wollen. Sie hatten nicht mehr viel Zeit. Die anderen Kinder standen bereits in Reih und Glied und warteten auf das Signal loszulaufen. Luna wollte auf keinen Fall einen ihrer Finger verlieren, aber ebenso konnte sie das arme Mädchen nicht einfach so zurücklassen. „Nun gut Fina. Dann geht es wohl nicht anders…“ seufzte Luna, griff nach ihrem Arm und legte ihn sich über die Schulter. Mit aller Kraft, schleppte sie Fina zu den anderen und stellte sich in die Reihe. Die Wächter, welche zu beiden Seiten der Schlange standen griffen wie auf Kommando zu ihren Pfeifen und gaben den Befehl zum voran gehen. Die Kinder verstummten, die Menge setzte sich in Bewegung und die Katastrophe von der noch niemand etwas ahnte, nahm ihren Lauf.
Kapitel 2
Immer weiter ging es voran. In einer geordneten Reihe liefen alle voreinander her. Es wurde nicht gelacht und nicht geredet, denn zu beiden Seiten der Kinder waren Wächter positioniert, welche bei Ungehorsam sofort mit ihren Waffen drohten oder auch manchmal aus reinem Spaß mit einem Dolch in die Menge stachen und dabei nicht selten den ein oder anderen verletzten. Luna jedoch hatte vor ihnen nichts zu befürchten. Eine weitere Sache, die sie von den anderen unterschied, denn noch nie war ihr von einem der Aufseher eine körperliche Verletzung zugefügt worden. Sie wurde stets nur mit abfälligen Blicken bedacht und insgeheim hatte sie die Vermutung, dass die Wärter sich vor ihr fürchteten. Wo sie die anderen grob packten, traten und schlugen, waren sie stets darauf bedacht Luna nicht zu berühren und ihr nicht zu nahe zu kommen, als ob sie irgendein Tier wäre. Sie war sich nicht darüber im Klaren, ob sie sich dieses Verhalten nur einbildete, und selbst wenn, sollte es ihr recht sein. Denn wenn man sie in Frieden ließ, wurde auch Fina nichts angetan. Luna warf einen schnellen Blick hinüber zu ihrer Freundin, die inzwischen wieder eigenständig zu laufen begonnen hatte. Mit gesenktem Kopf schritt sie voran, die ungewaschenen Haare hingen ihr in fettigen Strähnen im Gesicht. Sie streckte die Hand nach ihrer Freundin aus, doch noch bevor sie ihre Schulter berührt hatte, zog sie ihren Arm wieder zurück, denn vor ihr waren die anderen zum Stehen gekommen. Als Luna den Blick hob, erkannte sie im grellen Licht der Neonröhren die eisernen Türen des Speisesaals. Ein Raunen ging durch die Reihe der Kinder und im Flüsterton machte eine schreckliche Nachricht die Runde. „Hey 46, pass gut auf die Kleine auf!“ flüsterte ihr Vordermann ihr zu. „Es heißt, heute sind zwei Leiter da, um sich die Vorführung anzusehen, nicht dass sie aussortiert wird, so wie sie aussieht!“. Geschockt starrte Luna ihn an. Soweit sie sich erinnerte war sein Name Jack gewesen, seine Nummer die 31. Außerdem war er der Anführer des Wiederstandes – einer kleinen Gruppe der älteren Gefangenen, die insgeheim planten, die Station zu vernichten. Nachdem das Flüstern abgeflaut war, ertönte das Knacken der riesigen Schlösser und die massiven Türen begann sich zu öffnen. Und während nach und nach alle den Saal betraten, konnte Luna gerade noch die Worte hören, die er als letztes von sich gegeben hatte. „Heute werden die Drecksäcke verrecken.“ Und noch bevor sie etwas hätte erwidern können, hatte er sich bereits unter die Menge gemischt.
Nachdem das Gedränge beendet war und die Masse der Kinder begonnen hatte sich in Gruppen an die Tische zu setzen, hatte Luna endlich einen Moment Zeit, um sich umzusehen, doch wie sie vermutet hatte waren die meisten Plätze bereits besetzt und sie wollte sich nur ungern von Fina trennen um sich an einen Einzelplatz zu setzen. „Hey Leute, da ist 46! Beweg deinen Arsch hier rüber und zwar schnell, wir haben euch schon etwas zu essen besorgt!“, rief eine von Lunas Bekannten und winkte ihr lächelnd zu. Das musste ja so kommen.. wie immer wurde sie bereits erwartet. Spielerisch verdrehte Luna ihre Augen und ließ sich schließlich mit einem tiefen Seufzen neben ihrer Zimmergefährtin auf die gepolsterte Holzbank sinken. „Man Liz du spinnst doch total! Luna hat auch noch Fina dabei und nur weil die nicht mehr redet, heißt das nicht gleich, dass sie tot ist und du dich vor ihr jetzt so benehmen kannst!“. Luna legte den Kopf in den Nacken und blickte in ein paar strahlend blaue Augen. Zuerst begriff sie gar nicht, wer da überhaupt hinter ihr stand. Einige Minuten vergingen und das Grinsen des anderen Mädchens wurde immer breiter. „Schnallst du es wirklich nicht Luna? Halloooo ich bins – Lara. L-A-R-A; Nummer 67? Eine Zelle neben dir?“ „Lara?? Was haben sie denn mit dir gemacht???“ Luna drehte sich vollends herum und starrte auf den kahlen Kopf des Mädchens, welches heute von den Wärtern geholt worden war. „Ich hab keinen blassen Schimmer warum, aber sie haben mir meine schönen Locken abrasiert! Zum Glück hat die Glocke zum Essen geläutet, ich habs also grade nochmal davon geschafft, bevor sie mit ihren Versuchen anfangen konnten. Hoffentlich erwischts mich nächstes Mal nicht gleich wieder.“ „Bestimmt nicht, es kommt nie zweimal hintereinander dieselbe dran, also kannst du dich vorerst einmal entspannen“.
Luna hörte dem Gespräch nur mit halbem Ohr zu, während sie sich in ihrer kleinen Runde umsah. Liz war indes damit beschäftigt ihre Flasche zu öffnen, was mit drei verbliebenen Fingern gar nicht so einfach war. Sie war diejenige, von der Luna bereits zuvor erzählt hatte. Die 23 war ihre Nummer. Vor einiger Zeit war ihre Mitbewohnerin an einem allergischen Anfall gestorben, während gerade das Signal ertönte, welches die Kinder zum Essen rief. Liz war bis zu deren Tod bei ihrer Freundin geblieben und kam aus diesem Grund um genau 7 Minuten zu spät. Als Strafe wurde ihr für jede Minute Verspätung ein Finger abgeschnitten, doch sie hatte es tapfer durchgestanden und war, bis auf wenige Momente um die fast keiner wusste, wieder ganz sie selbst – ein nettes aufgewecktes Mädchen mit der Angewohnheit viel zu oft zu fluchen.
Tag der Veröffentlichung: 22.12.2012
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