Kapitel 1
Wahrscheinlich sitzen sie jetzt zu Hause, dachte sie, und machen sich Sorgen, wo sie wohl sein könnte. Vielleicht diskutieren sie auch darüber, was für ein hoffnungsloser Fall sie doch sei.
Ob sie jemals ihre Eltern wiedersehen wird? Jenny lag da und dachte über alle das nach.Sie wusste nicht genau, wie lange sie nun schon hier war. Ob es zwei oder drei Tage waren, vielleicht auch eine Woche. Sie hatte sämtliches Zeitgefühl verloren. Der Raum, in dem sie sich befand, war komplett dunkel. Einzig ein kleines Fenster könnte für Helligkeit sorgen. Doch der Rollladen war ununterbrochen herunter gelassen. Jenny zitterte vor Kälte, der Boden unter ihr war kalt und hart. Irgendwo im Raum, dass wusste sie, lag eine Matratze. Doch die würde sie nicht Grundlos benutzen, zu viel Angst machte sie ihr.
Ihre Gedanken schwenkten zurück zu ihren Eltern. Erst zu ihrer Mutter, dann zu ihrem Vater. Schließlich auch zu ihrer kleinen Schwester Sabrina. Dann auch zu ihrem Freund Matt. Wie sehr vermisste sie ihn. Sie alle.Sie betete, dass bald jemand nach ihr suchen würde. Doch noch mehr betete sie dafür, dass sie da noch leben wird.
„Was meinst du, wann wird deine Tochter wieder nach Hause kommen?“, fragte Mr Jones seine Frau. Er wirkte verärgert und in seiner Stimme schwang die Wut mit. Mrs Jones sah in die hellen Flammen des Kamins. „Du weißt wie sie ist, Frank. Sie kommt und geht wann sie will. Aber länger als zwei Tage war sie noch nie weg. Spätestens morgen wird sie wieder da sein.“
Nach kurzer Ruhe brummte Mr Jones: „Du weißt, dass sich das ändern muss, Maria. Sie kann nicht tun und lassen, was sie will.“
Seine Frau nickte nur stumm und schaute weiterhin in den Kamin.
„Mami, ist Jenny wieder da?“ Die kleine Sabrina kam gerade zur Haustür rein. Sie hatte den Tag bei einer Freundin in der Nachbarschaft verbracht und wollte jetzt mit Jenny spielen, so wie jeden Samstag Abend, bevor sie ins Bett musste.
„Nein meine Maus, Jenny ist noch nicht da. Aber wenn du willst, können wir zwei heute etwas spielen.“ „Nein!“, protestierte Sabrina. „Ich spiele nur mit Jenny!“ Beleidigt ging sie hoch in ihr Zimmer und überlegte, wieso Jenny nicht nach Hause kam. Sabrina hatte bereits mitbekommen, dass sich Jenny und ihre Eltern wegen dem ständigen „herumtreiben“ von Jennys stritten. Besonders, wenn sie mit Hanna Abends unterwegs war. Normalerweise jedoch, war sie am Abend danach wieder zu Hause.
Aber vielleicht schläft sie heute bei Hanna und kommt dann morgen ganz sicher. Sie hoffte es zumindest. Sabrina liebte ihre große Schwester, auch wenn sie es ihr nie gezeigt hat. Das wäre ihr zu peinlich. Doch immer wenn Jenny nicht da war, vermisste Sabrina sie sehr.
Irgendwann schlief Sabrina in ihrem Bett ein. Sie bekam nicht mehr mit, wie ihre Mutter noch herein kam, sie zudeckte und ihr einen Kuss auf die Wange gab. „Schlaf gut, meine Maus.“
Jennys Augen taten weh. Vor Müdigkeit. Aber schlafen wollte sie nicht. Sie konnte nicht. Immer, wenn ihre Augen zugefallen waren, sah sie die Bilder von den letzten 24 Stunden vor sich. Mit Tränen in den Augen lag sie da und wartete. Wartete darauf, dass sie jemand hier raus holt.
Sie hatte sich auf dem Boden zusammen gerollt, in der Hoffnung, dass ihr etwas wärmer wurde. Vergeblich.
Irgendwann später öffnete sich die schwere Tür an einem Ende des Raumes. Jenny begann zu zittern. Vor Angst. Sie beobachtete die Umrisse der Person, die langsam näher kam.
„Steh auf!“, Doch Jenny rührte sich nicht. Sie wusste, dass es nicht gut war, nicht das zu machen, was er von ihr verlangte, doch sie blieb trotzdem auf dem Boden liegen. Der Mann wurde wütend. „Du sollst verdammt noch mal aufstehen!“ Er packte sie am Arm und zog sie hoch. Wieder tauchten die Bilder vor Jennys Augen auf. Tränen rollten ihr an den Wangen herunter. Sie wusste genau, was jetzt kommen würde, aber sie konnte sich nicht wehren.
Der Mann zog sie mit sich durch den Raum und stieß sie auf etwas weiches; auf die Matratze, die Jenny schon kannte. Er kniete sich vor sie hin und machte seinen Gürtel an der Hose auf. Gleich danach presste er seinen Körper auf der ihren und begann, ihr das Oberteil auszuziehen. Jenny versuchte, nach ihm zu treten und zu schlagen. Doch wie auch die letzten Male brachte es nichts. Er drückte ihre Arme auf die Matratze und flüsterte ihr ins Ohr: „Du weißt, dass du keine Chance hast. Du gehört mir, dein Körper gehört mir und du kannst gar nichts tun!“ Wie er doch recht hatte, dachte Jenny. Er war viel stärker wie sie und Älter noch dazu. Jenny schloss die Augen und dachte an ihre Eltern. Wie sie jetzt gerade im Wohnzimmer vor einem warmen Kamin saßen und sich keinerlei Sorgen machten, während sie hilflos unter einem wildfremden Mann lag, der nach Schweiß und Alkohol stank.
Immer und immer wieder stöhnte er, raunte ihr irgendwelche Wörter ins Ohr, fasste sie überall an.
Nach einer Ewigkeit, die sie da lag und leise vor sich hin weinte, ließ er langsam von ihr ab. Er setzte sich auf und schloss seinen Gürtel. „Zieh dich an“, befahl er ihr und verließ den Raum wieder.
Jenny lag noch immer dort auf der Matratze. Sie verstand nicht, wieso das alles hier mit ihr passierte. Ihre Tränen liefen ihr unaufhaltsam das Gesicht hinunter und ihr Körper tat weh. Sie konnte sich kaum ohne Schmerzen bewegen.
Langsam griff sie nach ihrem Oberteil, welches irgendwo neben ihr lag. Auch ihre Hose fand sich schnell wieder. Ihr Blick fiel in die Richtung, in die der Mann gegangen war – und dort sah sie einen Lichtspalt. Er hatte die Tür nicht richtig geschlossen! Sie kroch auf dem Boden entlang, die Schmerzen wurden schlimmer. Die Tür kam immer näher. Ihre Sachen hatte sie zurück gelassen, sie wollte einfach nur noch hier raus.
Kapitel 2
Seine Frau saß bereits in der Küche, als er die Treppen hinunter kam. „Wir sollten die Polizei rufen, Frank. Ich habe ein komisches Gefühl bei der Sache.“ Mr Jones fand diese Idee jedoch alles andere als gut. „Um denen zu zeigen, dass unsere Tochter keinerlei Respekt vor ihren Eltern hat? Du hast doch selber gesagt, dass sie spätestens heute Abend wieder da sein wird, schließlich hat sie morgen Schule.“
„Das ist es ja Frank. Sie schreibt morgen eine Klausur und ihre Noten vernachlässigt sie nie. Normalerweise würde sie jetzt schon in ihrem Zimmer sitzen und lernen. Glaub mir, da stimmt irgendetwas nicht.“
„Ach Quatsch, das Mädchen weiß genau, was sie tut. Sie provoziert doch nur! Die Polizei wird dir da nicht helfen.“ Mrs. Jones beschloss, noch bis morgen zu warten. Vielleicht lernte sie ja zusammen mit Hanna oder einer anderen Freundin. Schließlich ist Jenny keine schlechte Schülerin, im Gegenteil. Sie gehörte zu den besten Schülern an der gesamten Schule. All ihre Lehrer lobten sie stets für ihre guten Leistungen. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto unbehaglicher wurde es ihr. All das würde Jenny doch niemals aufgeben wollen? Etwas stimmte da nicht!
„Soll ich dich wirklich nicht lieber nach Hause bringen? Durch den Park solltest du um diese Uhrzeit nicht alleine gehen. Du weißt, da gibt es kaum Lichter. Meine Mutter kann mich dann bei dir zu Hause abholen, das wäre kein Problem.“
„Nein, schon okay“, entgegnete Jenny gelassen. „Mir wird schon nichts passieren, ich bin schon öfters um die Uhrzeit durch den Park gegangen. Ist gar nicht so schlimm, glaub mir. Bevor du deine Mutter aus dem Bett klingelst, kann ich wirklich alleine laufen. Machs gut, ich rufe dich morgen an!“ Gut gelaunt machte sich Jenny, ausnahmsweise pünktlich, auf den Weg nach Hause, während ihr Hanna besorgt hinterher schaute. „Machs gut“, murmelte sie schließlich und machte sich nun auch auf den Weg nach Hause.
Jenny hatte bereits den Park erreicht und sah sich um. Es gab wirklich nur wenig Lichter. Es war gelogen, dass sie bereits alleine hier lang gelaufen war. Aber es wird schon nichts passieren, dachte Jenny. Schließlich musste sie nur ein kleines Stückchen durch den Park.
Hie und da hörte sie mal das Knacken eines Astes, aber schließlich wohnten ja auch einige Tiere in so einem Park. Sie war kein Mensch, der sich sofort Gedanken um Mörder oder dergleichen machte.
Mit einmal spürte sie, wie sich die Kette von ihrem Hals löste. Verdammtes Dreckstück, dachte sie, ständig geht dieser dumme Verschluss auf!Sie bückte sich und tastete auf dem Boden vor sich nach ihrer Kette.
Plötzlich drückte sie etwas stark auf den Boden und eine Hand hielt ihre Arme fest. Die andere legte sich vor ihren Mund. Jenny biss in die Hand und schrie so laut wie noch nie…
… Von ihrem Schrei wurde sie wach. Um sie herum war noch immer alles dunkel und kalt. Ihr Kopf tat höllisch weh. Vorsichtig fasste sie sich an die Stirn, wo der Schmerz am größten war. Sie berührte eine offene Wunde Wo war die Verletzung her gekommen?Jenny fuhr mit ihren über ihr gesamtes Gesicht und überall spürte sie Kratzer und festgeklebtes Blut. Plötzlich erinnerte sie sich wieder. Sie hatte versucht zu fliehen, doch das Schwein hatte sie bemerkt und wie wild auf sie eingeschlagen. Bereits nach ein paar Schlägen wurde es schwarz vor Jennys Augen, doch so wie es aussah, reichte ihm die Bewusstlosigkeit noch nicht aus.Mit den Händen fuhr sie sich über den Körper und konnte einige blaue Flecken und weitere Kratzer ausmachen. Mit ihren Gedanken war sie wieder bei ihrer Familie. Es musste doch bald die Polizei nach ihr suchen, so lange war sie schließlich noch nie weg. Vor allem nicht, ohne sich auch nur einmal zu melden. Zumindest ihre Mutter musste sich doch schon ihre Gedanken darüber gemacht haben. Aber was konnte sie schon anderes machen, als hier warten und zu hoffen, dass man sie bald, und vor allem noch rechtzeitig, fand.
„Was sagten Sie, wie war ihre Haarfarbe?“„Dunkelbraun.“„Glatt oder eher lockig?“„Glatt.“„Welche Länge?“„Etwa Schulterlang.“„Wie lange ist sie jetzt schon weg?“„Seit Freitag Abend. Sie wollte mit einer Freundin in die Disko.“„Wie heißt die Freundin?“„Hanna Mortens.“Der Inspektor schrieb sich all die Informationen über Jenny auf. Ihre Mutter reichte ihm das aktuellste Bild, dass sie von ihrer Tochter hatte. „Glauben Sie denn an ein Gewaltverbrechen?“Inspektor Havill schaute von seinem Block auf und sah Mrs Jones in die Augen. Er spürte die Angst, die von der Frau ausging. Er senkte seinen Blick wieder.„Ich kann es zumindest nicht ausschließen“, antwortete er nach kurzem Zögern. „Zuerst werde ich jetzt zu ihrer Freundin Hanna fahren und mit ihr reden. Sie sagten ja, dass sie bereits mit der Schule fertig sei. Vielleicht habe ich Glück und treffe sie bei sich zu Hause an. Ich melde mich bei Ihnen, wenn es etwas neues gibt. Auf Wiedersehen, Mrs Jones.“Mrs Jones begleitete ihn noch bis zur Haustür und beobachtete, wie er in seinen Ford Mondeo einstieg und davon fuhr.Es war Montag Morgen. In der Schule hatte sie bereits angerufen, doch Jenny war nicht aufgetaucht.Bedrückt ging sie zurück ins Haus und ließ sich in den großen Sessel fallen. Ihr Mann war auf Arbeit, er wusste noch nichts davon, dass Jenny nicht in der Schule war. Ob sie ihn anrufen sollte? Oder doch lieber bis zum Abend warten? Sie hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde. Alles einfach so abstempeln? Wieder denken, Jenny wird schon wieder auftauchen? Aber sie konnte ihn doch nicht im Unwissen lassen... Sie beschloss, ihn direkt anzurufen.
„Schatz? Jenny ist nicht in der Schule. Ich habe mit einem Inspektor gesprochen und... Er schließt ein Gewaltverbrechen nicht aus und...- Ja ist gut. Bis gleich.“
Mr Jones packte schnell seine Sachen zusammen und stürmte aus seinem Büro. „Mr Jones, wo gehen Sie hin? Ihr 10 Uhr Termin wird gleich da sein.“ „Sagen Sie ihn ab, ich bin für heute nicht mehr erreichbar.“ Seine Sekretärin schaute ihm verblüfft hinterher, beobachtete, wie die Fahrstuhltür hinter ihm zu glitt. Dann griff sie zum Telefon und sagte alle Termine für diesen Tag ab.
Zuhause nahm er seine Frau in den Arm. Ihm waren ihre rot unterlaufenen Augen nicht entgangen. Sie schluchzte. „Was wird ihr passiert sein?“, fragte sie ihn mit tränen erstickter Stimme.Er streichelte sie liebevoll über den Kopf. „Ich weiß es nicht... Aber ich hoffe, sie kommt bald wieder.“
Kapitel 3
Mortens. Hier musste er richtig sein. Inspektor Havill drückte auf die Klingel und wartete geduldig. Wenig später vernahm er ein Klicken in der Gegensprechanlage. Jemand schien zu reden, doch aus dem schon alten Gerät kamen nur irgendwelche unverständlichen Töne. „Mrs Mortens?“ Wieder kaum verständliche Worte. Aber er war sich ziemlich sicher, ein „ja“ am Anfang gehört zu haben. „Hier ist Inspektor Havill, könnte ich vielleicht rein kommen? Es geht um Jenny Jones.“
Ein Surren in der Tür ließ ihn vermuten, dass es wohl kein Problem war.
Selbstsicher trat er ein und sah sich um. Kein besonderes Treppenhaus, normal für diese Umgebung. Nicht besonders einladend, die Stufen waren klein und das Licht hier drinnen schwach. Von oben hörte er eine Stimme. „In den zweiten Stock, Mr Havill.“
Schnell stieg er die Stufen hoch zum zweiten Stock, wo bereits eine Frau mit langen blonden Haaren mit Bademantel in der Tür stand und ihn mit großen Augen ansah. „Nun, wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wie ich Ihnen bereits sagte, es geht um Jenny Jones...“
„Ja, das habe ich in Erinnerung. Und was wollen Sie über sie wissen?“
„Vielleicht wissen Sie, wo sich ihre Freundin derzeit aufhält. Soweit ich weiß, waren Sie zuletzt mir ihr unterwegs.“Die Frau ihm gegenüber begann zu lachen. „Sie wollten wohl mit meiner Tochter sprechen. Einen Moment ich hole sie.“Etwas verlegen setzte sich Havill auf die gemütliche Couch im Wohnzimmer und blickte sich wartend im Raum um.
Da stand er, der Teller mit den Kartoffeln darauf. Der Hunger reizte sie. Und der Anblick der Kartoffeln erst recht. Seit zwei Tagen schon hatte sie nichts mehr gegessen. Doch etwas in ihr verachtete es sogleich. Sie konnte hier nicht essen. Nicht das Essen von ihm, welches er so lieblos zu ihr geschoben hatte. Als wäre sie ein Tier. Ein Tier in Gefangenschaft. Ein Tier ohne jede Chance der Gegenwehr.
Aber warum gab er ihr Essen? Er wollte sie also doch nicht töten. Nicht sofort zumindest.
Doch was brachte ihr das? Sie stellte sich vor, wie sie in einem Jahr noch immer hier sitzen wird. Abgemagert und abgeschottet von der Außenwelt. Niemand der sie vermisst, alle haben sie vergessen.Schnell schüttelte sie den Gedanken von sich und starrte weiter auf das Essen. Ihre Eltern würden sie nie vergessen. Niemals. Egal, wie viel Scheiße sie schon gebaut hatte. Auf ihre Eltern konnte sie sich schon immer verlassen.
Auch Matt würde sie nicht vergessen. Ob er schon erfahren hat, dass sie verschwunden ist? Macht er sich wohl schon Sorgen? Das sie nicht in der Schule war, muss ihm bereits aufgefallen sein. Vielleicht ruft er ja zuhause an, so wie er es jeden Abend nach der Schule machte. Einfach so, um zu fragen, wie ihr Tag war. Mit ihm hatte sie verdammt viel Glück. Niemals würde sie jemanden kennen lernen, den sie mehr lieben würde, niemals.
Mit ihrem Fuß schob sie schließlich den Teller weg. Sie konnte den Anblick nicht mehr ertragen.
Kaum hatte sie das getan, hörte sie den Schlüssel in der Tür. Langsam ging sie auf, er kam auf sie zu. Von oben schaute er auf sie herab, lachte. „Du siehst lächerlich aus, weißt du das? Natürlich weißt du das. Und du hast Angst. Ich hoffe, große Angst. Ich finde nämlich, das macht dich irgendwie interessant. Verstehst du mich? Nein, wahrscheinlich nicht. Wie solltest du auch.“Er kniete sich hin und Jenny zuckte instinktiv zurück. „Ich tu dir nichts. Ich hab dir doch noch nie etwas getan? Doch nie etwas böses, nicht wahr?“Jenny begann wieder zu weinen. Seine Stimme machte ihr Angst, sein Geruch ekelte sie an. Er streckte seine Hand aus, fuhr ihr über die Wange. Sie begann zu zittern. „Nein, nicht weinen. Das ist nicht schön.“ Dann strich er ihr durch die Haare, rückte immer näher, drückte ihr Gesicht auf seines.
Jenny riss sich los, drücke ihn von sich weg. „Schwein!“ schrie sie ihn an und versuchte aufzustehen. Fehler, ein großer Fehler. Sofort zog er sie runter, hielt sie so sehr fest, dass es ihr weh tat und schrie sie an. „Nenn mich nicht Schwein, du Schlampe! Ich weiß doch, dass du es genauso willst!“
Er drückte sie auf den harten Boden, setzte sich auf sie und drückte nun wieder Sein Gesicht auf ihres. Seine nassen Lippen küssten ihre, seine Hände hielten ihre Arme fest.
Jenny spürte jedoch nicht mehr viel. Vor ihren Augen wurde alles dunkel, ihr Geist verließ ihren Körper, ließ ihn Schutzlos zurück.
Sie konnte nicht mehr, sie wollte nicht mehr. Wie lange wird sie das noch aushalten können? Wie lange dauert es noch, bis man sie fand?
„Guten Abend Mrs Jones. Kann ich Jenny sprechen?“
„Hallo, Matthew. Nein, tut mir leid, das geht jetzt nicht.“
„Geht es ihr denn nicht gut? Sie war heute nicht in der Schule. Ist sie krank?“
Matt wartete auf eine Antwort, doch er hörte nur leises Schluchzen. Plötzlich ertönte Mr Jones Stimme an der anderen Leitung. „Matt? Tut mir leid, aber meiner Frau geht es nicht sonderlich. Du musst wissen... Jenny ist nicht zu hause.“
„Ist sie bei einer Freundin?“
„Nein. Sie ist weg. Wir wissen nicht wo, sie kam Samstag nicht nach Hause.“
„Aber es wird doch wohl nichts passiert sein?“„Das kann ich dir nicht versprechen, die Polizei ist eingeschaltet. Sie gehen von einer Entführung aus.“
Betroffen legte Matt den Hörer auf die Gabel.
'Sie gehen von einer Entführung aus.' Mr Jones Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf.
Er setzte sich auf die Couch des großen Wohnzimmers und dachte nach. Niemals, so was kann doch nicht passiert sein. So was kommt nur im Fernseher vor, oder in irgendwelchen Büchern. Jenny konnte nicht entführt worden sein, das ging einfach nicht.
Aber was wenn doch? Wie geht es ihr jetzt? Was passiert mit ihr? Ihm verschlug es den Atem, als er weiter nachdachte.
Lebt sie überhaupt noch?
Kapitel 4
„Jones. - Inspektor! - Ja, ich verstehe. - Okay, bis nachher.“ Mr Jones legte das Telefon zur Seite und setzte sich neben seine Frau, die zusammengerollt auf der Couch lag. „Schatz, das war der Inspektor...“ „Ja, habe ich bemerkt.“ „Er hat gesagt...-“ „Ich will es nicht wissen!“
Irritiert schaute er auf seine Frau. Die ganze Sache machte sie fertig, sie wirkte abwesend.
„Aber wieso denn nicht?“
Schnell drehte sie sich weg, ehe sie zu schluchzen begann. „Wer möchte schon seine Tochter identifizieren?!“
Ihr Mann streichelte ihr über den Rücken. „Aber Liebling. Das wollte er doch gar nicht. Er hat nur gemeint, das er gegen später vorbeikommen würde. Sie haben etwas gefunden. Und damit meine ich nicht ihre... Ihre Leiche.“
Langsam setzte sich Mrs Jones auf. Ihre Schwarzen Haare hingen ihr wild zerzaust im Gesicht, ihre Augen gerötet vom Weinen. „Sie lebt?“ Hoffnungsvoll sah sie ihren Mann an. Dieser strich ihr vorsichtig die Strähnen aus dem Gesicht und küsste sie sanft auf die Stirn.
„Ja, sie lebt.“ 'zumindest hoffe ich das', dachte er seinen Satz weiter. Ich hoffe es sehr. Doch sie ist ein starkes Mädchen. Sie kommt ganz nach ihrem Vater.
„Matthew, könnten Sie mir vielleicht antworten?“ Gereizt blickte Matt auf. Vor ihm stand seine Geschichtslehrerin und sah in fragend an. „Ich weiß ja nicht wo Sie mit ihren Gedanken gerade sind, aber es scheint nichts mit der Schule zu tun zu haben.“
Ohne auf die Provokation einzugehen, schaute er die Lehrerin an. Es fiel ihm schwer nicht einfach raus zu rennen und seinen Gefühlen freien lauf zu lassen. Wie sollte er sich auf Schule konzentrieren, wenn Jenny in Schwierigkeiten steckte? Schließlich ging die Lehrerin weg und fragte jemand anderen, der die Antwort zu wissen schien. Den Rest des Schultages verbrachte Matt mit den Gedanken bei Jenny. Wie könnte er ihr helfen? Oder ihrer Familie? Schließlich war es auch für ihn eine Art Familie geworden in den letzten zwei Jahren. Nach der letzten Stunde rannte er zu seinem Fahrrad und fuhr die kurze Strecke zum Haus der Jones.
„Erkennen Sie diese Kette wieder?“
Inspektor Havill hob eine goldene Kette mit einem kleinen Herzanhänger hoch.
Mrs Jones schlug die Hände vor ihr Gesicht.„Oh mein Gott, die gehört Jenny! Sam, siehst du nicht? Das ist Jenny's Kette!“
Mr Jones legte schnell seinen Arm um ihre Schultern. Sie begann zu zittern.„Ja ich sehs. Das ist ihre. Wo haben Sie sie gefunden?“
„Nun, ich habe gestern mit Mrs Morten geredet. Sie erzählte mir, dass sie Jenny am Samstag am Park verabschiedet hatte, nachdem sie, wider der Warnung von Mrs Morten, in den Park ging. Ich habe dann gleich ein paar Leute in den Park geschickt und die haben diese Kette hier auf dem Boden gefunden. Sonst gab es leider keine Spuren von ihr.“
„Gibt es denn niemand, der etwas gesehen haben könnte?“„Bisher konnte keiner der Anwohner eine nützliche Aussage machen. Schließlich...-“
Es klingelte. „Einen Moment bitte.“ Mr Jones stand auf und ging mit schnellen Schritten zur Haustür. „Oh Matt. Komm doch rein, der Inspektor ist auch gerade da.“
Matt ging durch den Flur und begutachtete den Inspektor kritisch. „Guten Tag.“ „Guten Tag. Sie sind..?“
„Ich bin Matt Kinsley. Jennys Freund.“
Havill blickte kritisch zu Mr und Mrs Jones. „Ist schon okay“, meinte dann Mr Jones ruhig. „Er gehört zur Familie.“
„Gut. Also, bisher konnte uns niemand etwas brauchbares mitteilen, aber wie Sie wissen, ist es in dem Park Nachts stockdunkel. Aber die Kette ist schon mal ein Anfang.“
„Was für eine Kette?“
„Sie haben ihre Kette im Park gefunden“, klärte ihn Mr Jones auf.
„Darf ich sie mal sehen?“
Havill nahm die Kette und reichte sie Matt. Der sah sie ungläubig an. „Das kann nicht wahr sein...“ murmelte er und drehte die Kette in seiner Hand.
„Sie kennen sie also auch?“, fragte der Inspektor nach.„Natürlich kenne ich sie, ich habe sie ihr geschenkt. Letztes Jahr zu ihrem 16. Geburtstag.“
Vorsichtig drückte er an dem Anhänger herum, bis es schließlich leise klickte. „Sehen Sie?“
Er reichte dem Inspektor wieder die Kette.
Dieser nahm sie entgegen und blickte in das Innere. Auf die kleine Oberfläche war etwas eingraviert.
J & M
03.08.2004ich liebe dich
Vorsichtig schloss er die Kette wieder. Sie erinnerte ihn etwas an seine Jugend, da waren solche Geschenke immer ein Muss bei jedem verliebten Paar.
„Schönes Geschenk.“
„Ja, sie hat sich sehr gefreut gehabt darüber. Auch wenn sie etwas kaputt ist, aber das tut ja nichts zur Sache.“„Sie ist kaputt? Ich sehe gar nichts.“
„Oben am Verschluss, er geht ab und zu von alleine auf.“
Havill dachte nach, behielt seine Gedanken aber dann doch für sich und verabschiedete sich von der Familie.
In seinem Auto rief er einen der zuständigen Kollegen an.
„Die Kette, die wir gefunden haben. Sie geht manchmal von alleine auf, der Verschluss ist kaputt.“„Ja und?“ Er verstand nicht.
Havill wurde ungeduldig und tippte mit seinen Fingern gegen das Lenkrad. „Man, das heißt, sie könnte auch von alleine abgegangen sein!“„Ah ich verstehe. Hast du der Familie schon Bescheid gegeben?“„Das wir die Kette gefunden haben? Ja.“
„Und das andere?“„Nein.“„Wieso denn nicht? Es könnte ihnen Hoffnung machen,verdammt!“„Genau deswegen.“
Kapitel 5
Havill fuhr zu seinem Büro und notierte sich den derzeitigen Ermittlungsstand. Er schrieb sämtliche Möglichkeiten nieder, durchdachte ihren Heimweg, schloss einige Überlegungen dann wieder aus. Nach einer Stunde ließ er den Stift fallen und griff nach einem gerahmten Bild, was auf seinem Schreibtisch stand.
Gedankenverloren betrachtete er es einige Minuten und stellte es dann wieder vorsichtig an seinen Platz zurück.
Seinen Notizblock schlug er zu, steckte ihn in seine Tasche und räumte seinen Schreibtisch ein wenig auf. Schließlich kramte er seinen Autoschlüssel heraus und verließ sein Büro, nachdem er sein Telefon auf sein Handy umgestellt hatte.
Man weiß ja nie, wer Nachts auf die Idee kommt, ihm zu unmenschlichen Uhrzeiten etwas mitzuteilen zu müssen.
Er parkte seinen Ford in der großen Einfahrt und ging auf die Haustür zu. Kaum hatte er die Tür aufgeschlossen, kamen zwei Kinder angerannt. „Papi Papi! Da bist du ja endlich!“ Havill hockte sich auf den Boden und nahm seine beiden Töchter in den Arm.
Hinter ihnen tauchte eine wunderschöne Frau auf. „Liebling, warum bist du so früh da?“
Er sah auf und blickte seiner Frau tief in die Augen. „Ich komme einfach nicht weiter, Schatz...“
Sie schaute ihn liebevoll an.
„Na los ihr zwei, zieht euch schon mal um, dann schauen wir noch ein wenig fern zusammen.“
„Oh ja!“ Die zwei Mädchen rannten durch die Flure davon und stiegen die Treppe zu ihren Zimmern herauf.
„Und jetzt erzähl, was bedrückt dich?“
Havill setzte sich neben seine Frau auf die Couch. „Sie ist gerade mal 16 Jahre alt. Keiner weiß wo sie ist. Alles was wir bis jetzt haben, ist ihre Kette, die wir in einem Park gefunden haben, durch den sie Samstag gelaufen sein muss. Ich habe kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache. Überhaupt kein gutes Gefühl. Gerne würde ich sagen, dass sie einfach nur bei einer Freundin ist, aber sie wird als Verantwortungsbewusst und ehrlich beschrieben, außerdem wissen all ihre Freunde nicht, wo sie sein könnte. Wenn sie absichtlich abgehauen wäre, hätte sie doch wohl wenigstens ihrem Freund Bescheid gegeben, oder nicht? Aber selbst ihn scheint das ganze mitzunehmen.“
„Warum findest du es so merkwürdig, das er sich Sorgen um seine Freundin macht?“
„Ich finde es nicht merkwürdig, überhaupt nicht. Es ist besonders. In dem Alter hatte ich kein Mädchen, das ich so geliebt habe. Verstehst du, er liebt sie wirklich. Man könnte meinen, die zwei sind verheiratet, selbst ihre Eltern sagen, dass er zur Familie gehört...“
Mrs Havill streichelte ihrem Mann über den Arm.
„Was meinst du, was passiert ist?“
„Frag nicht. Ich geh vom schlimmsten aus.“„Du glaubst das sie tot ist?“
„Nein...“Sie hörten Füße die Treppen runter rennen. Havill dachte an seine Kinder. Tracey, zarte 7 Jahre alt. Und Sharon, gerade mal 5. Was würde er tun, wenn ihnen so etwas schreckliches passieren würde?
„Es gibt schlimmeres als den Tod, Schatz.“
Schwein hatte sie mich genannt. Einfach so. Da saß er, in einem dunklen Wohnzimmer. Kein Licht hatte er an, alle Rollläden unten. Einzig der Fernseher, auf Stumm geschaltet, erhellte einen kleinen Teil des Raumes.
Wieso nannte sie ihn so? Er hatte ihr doch nichts getan. Er hatte ihr nicht wehgetan. Oder vielleicht doch? Aber das wollte er nicht. Und doch gefiel es ihm, wie sie immer da lag, ängstlich und respektvoll. Früher, da hatte niemand Respekt vor ihm. Niemand. Keiner nahm ihn ernst, alle lachten sie über ihn. Doch das war jetzt vorbei, nun lachte er über die anderen. Schwach waren sie, alle waren sie Schwach. Er hatte die Kontrolle. Immer wieder stand er auf und ging zu dem Raum hinüber. Vor der schweren Tür blieb er stehen, griff nach der Klinke, ließ sie wieder los. Lauschte an der Tür. Stille. Er wollte hinein. Doch sie hatte Angst vor ihm das wusste er. Er ging zurück zu seiner Couch. Lehnte sich an und dachte weiter nach. Grinsend stand er wieder auf. Was interessiert es ihn, ob sie Angst hat? Sie musste tun, was er wollte, und er wollte sie. Ihren Körper. Jetzt.
Jenny wachte langsam auf, alles drehte sich um sie herum. Aber sie wollte nicht aufwachen. So wurde sie doch nur in die Realität zurück geholt. Alles, nur nicht das...
Vorsichtig öffnete sie ihre Augen, blickte sich um. Sie war alleine. Sie versuchte, sich aufzurichten, doch ihr Körper tat bei jeder Bewegung weh. Die Schmerzen waren unerträglich.
Leise begann sie, vor sich hin zureden. Sie sprach sich Mut zu, versuchte positiv zu denken. Sofern man in einer solch aussichtslosen Situation positiv denken konnte. Immer wieder überlegte sie, was sie tun konnte. Klar, sie konnte hier warten, alles über sich ergehen lassen und beten, das der verrückte sie nicht umbringen würde. Bestimmt würde dann irgendwann jemand kommen. Aber sie konnte auch selbst etwas unternehmen, sie konnte ihn überrumpeln, ihn bewusstlos schlagen. Doch als sie sich aufsetzte wurde ihr bewusst, dass das nicht möglich war. Sie war viel zu schwach, hatte unendlich große Schmerzen. Niemals würde sie gegen ihn ankommen.
Mit ein bisschen Hoffnung schleppte sie sich zu der grauen, schweren Tür und drückte dagegen.
Enttäuscht und mit einem Seufzer ließ sie sich dann wieder fallen. Natürlich ging sie nicht auf.
Was hatte sie auch erwartet. Das plötzlich alles wieder gut wird? Das es ihr gleich gut gehen wird? Ihre Gedanken kreisten wieder um ihre Familie, ihre Freunde.
Würde sie sie jemals wieder sehen? Es schien alles so ausweglos. Oft hatte sie etwas ähnliches im Radio gehört. „Junges Mädchen entführt und vergewaltigt.“ Nie hatte sie geglaubt, dass so etwas auch mit ihr passieren kann. Zu unwirklich klang es immer.
Noch nie hatte sie sich so dreckig und verbraucht gefühlt, noch nie hatte sie so viel geweint. „Wenn nur Matt hier wäre...“ flüsterte sie in den dunklen Raum. Er würde ihr helfen, irgendwie. Zusammen würden sie es schaffen.
Bisher haben sie doch alles zusammen geschafft. Da hörte sie wieder die Schritte. Sie kamen so oft, manchmal hatte sie Glück, dann entfernten sie sich wieder. Aber schon hörte sie die Tür aufgehen. Er war wieder da.
„Matt!“ Sabrina rannte auf ihn zu und schloss ihre Arme um ihn. Ihr Verhältnis zu Matt war schon immer bestens. Sie freute sich immer, wenn er zu Besuch kam. Auch er mochte Sabrina. Sie war nicht so ein nerviges kleines Mädchen, wie er es von seiner Schwester kannte.
Er spielte gerne mit ihr und las ihr auch oft Abends etwas vor, wenn er bei Jenny übernachtete.
„Hey Sabrina! Na, wie geht’s dir?“
„Ich vermisse Jenny ganz schrecklich...“
„Maus, ich bringe dich jetzt ins Bett. Es ist schon spät.“, brachte sich Mrs Jones ein.
„Wenn es okay ist, bringe ich sie ins Bett und würde dann auch nach Hause gehen.“
Mr Jones nickte Matt zu und sagte seiner Tochter Gute Nacht.
Sabrina nahm Matt an die Hand und ging mit ihm zusammen in ihr Zimmer. Dort legte sie sich in ihr Bett. Matt deckte sie vorsichtig zu und griff zu dem Buch, dass neben ihrem Bett lag. „Der König der Löwen. So so, dann schauen wir mal...“Er schlug die Seite mit dem Lesezeichen auf und begann zu lesen. Bereits nach ein paar Minuten bemerkte er, dass Sabrina ihre Augen schon geschlossen hatte. Um nicht mitten drin aufzuhören, las er die Seite noch zu ende und legte dann leise das Buch zurück. Gerade war er auf dem Weg nach draußen. „Matt?“
Erschrocken drehte er sich um.
„Hey, du bist ja noch wach.“
Er ging zurück und setzte sich behutsam neben sie. „Matt, wo ist Jenny?“ Er seufzte.
„Ich weiß es nicht, Sabrina. Aber sie wird bald wieder kommen.“„Mama redet kaum über sie. Sie weint oft. Weint sie wegen Jenny?“
„Nein, deine Mama hat gerade nur ganz viel zu tun.“„Vermisst du sie denn auch?“
Matt streichelte Sabrina über die Schulter. „Ich vermisse sie ganz doll.“
Eigentlich wollte er schon längst zu Hause sein, doch er konnte jetzt nicht einfach gehen. Geduldig wartete er, bis Sabrina eingeschlafen war. Dann schloss er leise die Tür hinter sich und verabschiedete sich von Jennys Eltern.
„Sie vermisst sie“, sagte er ihnen noch und ging aus der Haustür.Draußen schaute er in den Himmel.
„Bitte lass es ihr gut gehen. Bitte.“
Kapitel 6
„Wir kommen so nicht weiter. Was bringt es ihr, wenn wir so unnötig hier herum sitzen? Davon kommt sie auch nicht wieder nach Hause.“„Wenn sie denn überhaupt nach Hause kommen möchte...“
„Das ist wohl ein Scherz? Sie glauben doch wohl nicht immer noch, dass sie freiwillig gegangen ist? Heute ist bereits Mittwoch, seit Freitag Abend ist sie verschwunden!“
Havill schaute Burner ungläubig an. Dieser runzelte seine Stirn und drückte die Zigarette im Aschenbecher vor sich auf. Dann lehnte er sich entspannt zurück und sah Havill direkt in die Augen.
„Bisher haben wir kein Anzeichen auf ein Gewaltverbrechen.“
„Kein Anzeichen?! Was ist mit der Kette?“„Wie Sie ihrem Kollegen bereits mitgeteilt haben, kann es durchaus möglich sein, dass sie sich von alleine gelöst hat. So etwas soll vorkommen.“
Innerlich wurde Havill wütend. Wie konnte dieser Typ nur so entspannt sein? Es ging hier um das Leben eines jungen Mädchens! Jeder blinde hätte gesehen, dass hier etwas nicht stimmte.
Burner räusperte sich. „Nun, wie wollen Sie weiter vorgehen?“
„So wie bisher. Ich werde erneut die Spurensicherung in den Park schicken, vielleicht lassen sich noch weitere Spuren finden. Ansonsten werde ich noch einige Leute befragen und in den Karteien nachschauen, ob es bisher schon einmal solch einen Fall gab.“
„Glauben Sie mir Havill, Sie verrennen sich da in irgendetwas.“
Havill ballte unter dem Tisch seine Faust zusammen. Er musste sich zurück halten. Burner hatte eine viel höhere Stelle als er. Einen Konflikt mit ihm konnte er sich nicht erlauben.
„Mag sein. Wir werden sehen.“
Nach einigen schweigsamen Minuten stand Burner auf und ging zur Tür. „Nun denn, ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei der weiteren Suche. Ich werde mich regelmäßig nach dem Ermittlungsstand erkundigen. Auch wenn ich da nicht viel erwarte...“
Kaum hatte er den Raum verlassen, schlug Havill mit seiner Faust auf den Tisch. Er musste voran kommen, und zwar so schnell wie möglich.
Entschlossen griff er zum Telefon und orderte für den nächsten Tag erneut die Spurensicherung zusammen. Schließlich wandte er sich zu seinem Computer und begann, sämtliche Akten der vergangenen 20 Jahre durchzugehen. Besonders konzentriert war er da auf Sexualstraftaten. Neben ihm lag sein Notizblock, auf dem er hin und wieder eine kleine Notiz kritzelte. Hauptsächlich Namen und Daten. Irgendwann, er hatte keine Ahnung wie spät es war, schloss er das Programm auf dem Computer und starrte auf seinen Block.
Nun hatte er da um die 100 Namen stehen, alle verbunden mit Morden, Vergewaltigungen oder Entführungen.
Seufzend lehnte er sich in seinem Bürostuhl zurück und rieb sich die Augen. So Müde war er schon lange nicht mehr. Nach ein paar Minuten der Entspannung setzte er sich wieder aufrecht hin, schob seinen Ärmel nach oben und erschrak. Es war bereits nach Mitternacht.
Als er zuhause ankam, waren alle Lichter schon aus. Einzig im Fenster seines Schlafzimmers konnte er von der Einfahrt aus ein schwaches Licht aus machen.
Leise betrat er das Haus, schließlich auch das Schlafzimmer. „Schatz?“Seine Frau antwortete nicht, sie lag ruhig auf der Seite, das Gesicht gen die Wand. Vorsichtig ging er auf sie zu. Sie war schon eingeschlafen.
Lächelnd zog er sich um und legte sich neben sie. Noch ein paar Minuten beobachtete er, wie sie da lag und schlief. Bis auch er einschlief.
Er hatte sie weinen sehen, hatte sie weinen hören. Was wohl in ihrem Kopf vorgeht? Sicherlich fragt sie sich, ob ich sie leben lasse, überlegte er sich. Würde er? Abwesend griff er nach einer neuen Bierflasche, hielt sie in seiner Hand und schaute auf die leeren 3 Flaschen neben sich.Natürlich nicht. Doch er konnte sie doch nicht einfach töten. Aber wieso auch nicht? Er hatte es schon mal getan. Es war nicht so schwer, die Klinge glitt schnell durch ihre Haut. So schnell vorbei. Er könnte es wieder tun, und er würde es wieder tun. Nach einem kräftigen Schluck stellte er die nun Halbleere Flasche auf den Tisch.
Ob er wieder mit allem durch kommt? Schon damals hatte man ihn befragt, aus dem Nichts kam die Polizei vorbei und stellte ihm unangenehme Fragen.
Diesmal musste er vorsichtiger umgehen. Vielleicht sollte er sie doch gehen lassen? Es war nicht richtig, zu töten.
Du Idiot, ging es ihm durch den Kopf, du kannst sie nicht gehen lassen. Sie weiß wie du aussiehst. Da bräuchte die Polizei nicht einmal ermitteln, sie müsste nur zur Polizei rennen und du wärst dran.
Erneut griff er nach der Flasche. Beim Zurückstellen fiel sein Blick auf die Karteikarte, die auf dem kleinen Tisch lag.
Seine Hand formte sich zu einer Faust. Wütend wischte er mit seinem Arm über den Tisch und sah der Karte nach, wie sie durch die Luft flog und wenig später auf dem Teppichboden landete. So betrachtete er sie noch eine Weile, stand auf und löschte das Wohnzimmerlicht. In der Küche nahm er den Teller, den er schon vor zwei Stunden hingerichtet hatte und ging den Flur entlang zum Kinderzimmer. Es sollte ein Kinderzimmer werden, mit fröhlichen Farben an der Wand, niedlich eingerichtet. Doch nun war es eben ein Gefängnis, mit kalten, grauen Wänden. Keine Liebe.
Kapitel 7
Die Sonne strahlte durch die Spalten seines Rollladens auf ihn, wodurch er schließlich auch wach wurde. Seine Nacht war schrecklich, immer wieder hatte er sich hin und her geworfen, über Jenny nachgedacht und überlegt, wie er ihr helfen könnte. Wenn er doch wenigstens wüsste, was passiert war. Er hätte an dem Abend mitgehen sollen, so wie sie es gesagt hatte. Sie wäre nicht alleine nach Hause gelaufen, nicht alleine durch den Park.
Allmählich richtete er sich in seinem Bett auf und fuhr sich durch seine Haare. Er blickte nach rechts und sah sein Spiegelbild an. Seine braunen Haare waren zerzaust, die Augenringe stachen schrecklich hervor.
Seufzend schlug er seine Decke zur Seite und schwang sich aus seinem Bett.
Unten in der Küche stand seine Mutter und war gerade dabei, dass Essen vorzubereiten. „Guten Morgen, Mum.“
Seine Mutter hatte ihn für diese Woche von der Schule befreit, was auch von der Schulleitung her kein Problem war.
„Guten Morgen, Matt. Schon wach?“ Sie drehte sich um und zuckte kurz, kaum merklich, zurück.
„Siehst du doch...“
Er schlenderte zum Küchentisch herüber, ließ sich auf den Stuhl fallen und schlug die Zeitung auf.
Der Sportteil interessierte ihn heute ausnahmsweise mal nicht. Sein Interesse galt heute den Polizeiberichten.
Schnell überflog er die Überschriften. 'Raubüberfall an Tankstelle', '3 Wohnungseinbrüche in einer Nacht', 'Mercedes von Rentnerin geklaut'... Dann, bei der vorletzten Meldung, blieb sein Blick hängen. Zuerst schaute er nur lange auf die Überschrift. „16-jähriges Mädchen vermisst“.
Mrs Kinsley schaute ihm über die Schulter. Sie bemerkte, wie seine Hände zu zittern begannen. Am Tag zuvor hatte er schon die Polizeiberichte durchgeschaut, doch da war noch nichts über Jenny drin gestanden.
Matt begann zu lesen.
'Seit Freitag Abend wird ein 16-jähriges Mädchen vermisst. Zuletzt wurde sie am Stadtpark von ihrer Freundin gesehen, ab diesem Zeitpunkt fehlt von ihr jede Spur. Die Polizei schließt ein Verbrechen nicht aus, ist rund um die Uhr auf der Suche nach der Schülerin. Der Zuständige Inspektor, Ethan Havill, ist für jede Hilfe aus der Bevölkerung dankbar.'
Unter diesem kurzen Bericht befand sich ein Bild von Jenny.
Traurig schlug er die Zeitung wieder zu und schob sie von sich weg. Weit von sich weg.
Familie Jones saß beim Frühstück und schwieg. Einzig Sabrina lachte hin und wieder mal, wenn sie gerade mit ein paar Lebensmitteln ein Gesicht auf ihrem Teller zusammen bastelte. Sobald sie zu ihren Eltern schaute, versuchten diese, zu Lächeln. Es gelang nicht sonderlich, doch Sabrina war noch zu jung, um das zu bemerken.
„Hast du denn deine Sachen schon zusammen gesucht, Maus?“ Mrs Jones lächelte ihre Tochter an. Sie hatte ihre Mutter gefragt, ob sie Sabrina für ein paar Tage zu sich nehmen könnte, damit sie nicht so viel von der ganzen Sache mitbekam.
„Ja, Mama. Wann kommt Omi denn?“
„Oh, sie müsste bald da sein...“
Sabrina sprang freudig auf. „Ich wart im Garten auf sie, okay?“ „Mach das, Maus. Ich komme mit, dann können wir noch ein bisschen Spielen, bevor du ein paar Tage weg bist.“
Sie räumte noch schnell ein paar Dinge auf dem Tisch zusammen, bis ihr Mann seine Hand auf ihre Schulter lag. „Schon gut, Schatz. Ich mache das.“ Erleichtert schaute sie ihn an. „Danke.“Er lächelte und gab ihr einen Kuss.„Bis gleich.“
„Sir? Da ist ein Junge, der möchte zu Ihnen. Es geht wohl um das vermisste Mädchen.“Havill blickte von seinem Schreibtisch auf. Er war gerade dabei, die bisher aufgefallenen Verbrecher zu überprüfen.
„Wer ist es?“
„Matthew Kinsley, Sir.“
„Schicken Sie ihn rein.“
Der Beamte nickte, drehte sich um und schloss die Tür leise hinter sich. Kaum darauf wurde sie wieder geöffnet und Matt trat herein.
„Matthew, guten Tag. Setzten Sie sich doch.“ Havill deutete auf den Stuhl ihm gegenüber am Schreibtisch. „Was gibt es denn?“
„Ich möchte Ihnen helfen.“ Matt sah entschlossen in Havills Augen. Dieser sah ihn irritiert an.
„Nun Matthew... Ich weiß nicht, wie Sie mir helfen könnten? Wir sind mitten in den Ermittlungen, da können Sie uns nicht helfen. Sie sind kein Polizist.“
„Aber ich muss ihnen doch irgendwie anders helfen können? Was bringt es meiner Freundin wenn hier jeder nur dumm herum sitzt und nichts unternommen wird?“
Havill hob seine Hand. „Jetzt aber mal halblang. Ich sagte Ihnen doch gerade, dass wir mitten in den Ermittlungen sind. Hier wird alles mögliche unternommen, dass wir Jenny bald finden. Ich verstehe, wenn Sie besorgt um ihre Freundin sind. Aber Sie müssen sich gedulden.“„Mich gedulden?“ Wütend sprang Matt auf. „Wissen Sie eigentlich, wie es ist, wenn Sie jeden Tag da sitzen, hoffen, dass ein Anruf kommt. Dass sie an der anderen Leitung ist. Ihnen sagt, dass es ihr gut geht, sie zuhause ist? Und doch gleichzeitig die Angst, wenn das Telefon klingelt. Angst davor, dass man Ihnen sagt, dass ihre Leiche gefunden wurde? Sie haben keine Ahnung.“ Sein Gesicht war rot vor Wut, seine Halsschlagadern traten hervor.
Es klopfte wieder an der Tür.
„Sir? Können Sie kurz kommen?“„Worum geht es?“
„Das würde ich Ihnen gerne unter vier Augen sagen, Sir.“
Genervt rutschte Havill mit seinem Stuhl vom Schreibtisch weg. „Sie entschuldigen mich kurz.“
Matt schaute dem Inspektor hinterher. Nun war er alleine. Er blickte sich im Raum um, sein Blick ging über den großen hölzernen Schreibtisch über die aufgeschlagenen Akten. Eigentlich war er anständig erzogen worden. Doch er musste wissen, wie weit die Polizei wirklich war. Nur ein kleiner Blick, wahrscheinlich war es nichts wichtiges was da lag.
Schnell stand er auf und ging um den Schreibtisch. Neben den Akten lag eine Liste, auf ihr einige Namen notiert. Eine kleine handschriftliche Notiz am oberen Rand der Liste brachte sein Herz zum rasen. Jenny.
Schnell zog er sein Handy heraus und fotografierte die Liste ab.
Gerade als sich die Bürotür öffnete, setzte er sich wieder hin und sah dem Inspektor unschuldig entgegen.
„Entschuldigung. Wo waren wir? Ach so, ja. Ob Sie es glauben oder nicht, ich weiß genau, wie Sie sich momentan fühlen. Aber dennoch können Sie uns nicht helfen, wir tun unser Bestes. Ich kann Sie gerne bei Neuigkeiten benachrichtigen, natürlich in Absprache der Eltern. Das wird ja kein Problem sein.“
Matt nickte zustimmend. „Okay. Danke.“
Schnell verließ er das Büro, hoffte, nicht beobachtet zu werden. Er fühlte sich nicht gut, schließlich hatte er gerade ein Dokument abfotografiert. Gesetzlich verboten. Doch was konnte er schon anderes machen, irgendjemand musste Jenny doch helfen.
Und wenn die Polizei dazu nicht in der Lage war, dann musste er eben die Sache übernehmen, ganz egal was es für ihn bedeutete.
„Meine Mutter hat Sabrina jetzt mitgenommen. Sie will sich ein paar mal melden.“
Mrs Jones setzte sich neben ihren Mann auf die Couch. Behutsam drückte er ihre Hand.
„Es wird alles gut werden.“
Sie begann zu weinen. „Das weißt du aber nicht sicher. Nicht einmal die Polizei glaubt daran. Sam, sie ist nun schon seit fast einer Woche weg. Was ist... Was ist, wenn sie wirklich tot ist?“
„Maria. So darfst du nicht denken.“
„Aber so muss ich doch nach so langer Zeit denken. Du wirst es auch tun, nur gibst du es nicht zu. Du möchtest es nicht einsehen. Doch trotzdem ist es so, wie es ist. Es gibt kein Lebenszeichen von ihr, keine Hoffnung darauf, dass sie freiwillig weg gegangen ist. Wir werden sie nie wieder sehen...“
Mr Jones schloss seine Augen. Seine Frau hatte Recht. Zu lange schon war Jenny weg. So sehr er es auch versuchte, die Angst war groß. Doch gleich an den Tod seiner Tochter zu denken, das ging ihm zu weit. Er nahm seine Frau in den Arm.
„Schatz, sie braucht uns jetzt, wir müssen mit den Gedanken bei ihr sein. Wenn sie noch lebt. Und davon müssen wir ausgehen, wir sollten davon ausgehen. Ich spüre, dass sie noch bei uns ist.“
Nachdem seine Frau nach langem weinen auf der Couch eingeschlafen war, stand er auf und stellte sich an das Fenster. Draußen schien die Mittagssonne so stark wie noch nie in diesem Jahr.
Jenny, murmelte er, halte durch. Wir werden dich bald finden. Bald bist du wieder zuhause.
Kapitel 8
Matt hatte sich derzeit die abfotografierte Liste zuhause ausgedruckt gehabt. Nachdenklich schaute er die ganzen Namen durch, die darauf notiert waren. Ihm fiel schnell auf, dass es sich nur um männliche Vornamen handelte. Langsam lief ihm eine Träne die Wange hinunter. Er wusste genau, was das heißt. Plötzlich kam seine Mutter in sein Zimmer. Schnell schob er die Liste unter eines seiner Hefte und wischte sich einmal mit dem Ärmel übers Gesicht.
„Alles in Ordnung, Schatz?“
„Ja.“
Mrs Kinsley ging um ihren Sohn herum und schaute ihm ins Gesicht. „Was hat die Polizei gesagt?“
„Die Polizei sagt nichts. NICHTS. Sie unternehmen nichts, sie sagen nichts. Jenny wurde von irgend so einem Schwein entführt und was machen die? Richtig, nichts!“Matt schob schnell seine Hand unter das Heft und schnappte sich die Liste, ehe er an seiner Mutter vorbei hinaus stürmte. Mrs Kinsley sah ihm kurz nach, setzte sich dann auf seinen Stuhl und blickte über seinen Schreibtisch. Sie wusste ja schon von Anfang an, dass ihm Jenny wichtig war. Aber das ihm das ganze so nahe ging, war ihr nicht bewusst. Ihr Blick blieb auf einem gerahmten Foto stehen. Behutsam griff sie danach und sah es an. Darauf zu sehen waren Matt und Jenny im letzten Sommer mit ihrem Lieblingssee im Hintergrund. Beide lachten glücklich. Bitte lass es noch mindestens einmal eine solche Zeit geben, betete sie. Matt würde es sonst nicht überstehen.
„Schatz? Bist du da?“
Havill legte seine Schlüssel auf dem Schränkchen im Flur ab und ging durch die Räume. „Schatz?“
Seine Frau war nicht da. Er konnte es sich denken, er hatte es gehofft. Langsam stieg er die Treppen zum Keller hinunter. Dort blieb er vor einem kleinen Schrank stehen, die Tür versperrt mit einem Schloss. Im anderen Teil des Kellers zog er ein Buch heraus und schlug es auf. Vor ein paar Jahren hatte er in der Mitte der Buches ein Viereck geschnitten und den Schlüssel zum Schrank dort hinein gelegt. Niemand sollte diesen Schrank öffnen können. Niemand außer ihm. Zu viel bedeutete ihm der Inhalt.
Er setzte sich vor dem Schrank auf den Boden und öffnete das Schloss. Die Tür ging auf, im Inneren einige Dokumente, Fotos und kleine Gegenstände. Zuerst umschloss er einer der Gegenstände und hielt sie in das schwache Kellerlicht. Es war eine kleine Schneekugel mit einem Bild einer glücklichen Familie darin. Vorsichtig schüttelte er die Kugel und beobachtete die kleinen Flocken, die langsam auf den Boden der Kugel rieselten. Besondere Aufmerksamkeit jedoch bekam das junge Mädchen, links am Bildrand. Es hatte lange blonde Haare, ein zuckersüßes Lächeln und grünblaue, große Augen. Nach langer Zeit stellte er die Kugel zurück und zog eines der Bilder heraus. Wieder dieses junge Mädchen, diesmal neben einem jungen Mann.
Es fiel ihm schwer, seine Tränen zurück zu halten, doch es gelang ihm mit viel Anstrengung. Zu viele Tränen hatte er deshalb schon verloren. Schnell legte er das Foto in den Schrank und atmete ein paar mal tief durch. Schließlich nahm er noch die Dokumente zur Hand und las sie sich durch. Es waren die Ergebnisse einer langen Ermittlung. Leider eine ohne Erfolge. Wütend ballte er die Hand zur Faust und schwor, dass er dieses Schwein irgendwann kriegen wird. Irgendwann wird er dafür bezahlen, was er seiner Familie damals angetan hat.
Matt war zwischenzeitlich bei einem seiner Freunde untergekommen. Am Abend sprach er mit seinem Kumpel noch über alles geschehene, nur die Liste, die Matt abfotografiert hatte, verschwieg er mit aller Kraft. Er wollte seinen Freund nicht in irgendetwas mit hineinziehen. Doch gegen später viel ihm die Liste hinten aus der Hosentasche, als er gerade aufgestanden war. Steven, sein Kumpel, griff schnell nach dem Blatt und faltete es auseinander. „Was haben wir denn da... Wow, viele Namen.. Viele Adressen.. Ein Polizeistempel?! Wo zum Teufel hast du das her?“
Matt schaute ihm in die Augen. „Das möchtest du nicht wissen.“ Steven seufzte und gab Matt die Liste zurück. „Ich denke, du brauchst es mir nicht sagen... Ich kann es mir denken.“
Die beiden schwiegen sich noch ein paar Minuten an, bis Steven die Worte wiederfand. „Willst du dich da wirklich einmischen? Ich mein.. Die Polizei ist doch dabei, zu ermitteln. Ich glaube kaum, dass sie da einen 16 jährigen Jungen gebrauchen können, der da mitmischt.“„Steven, es geht hier um Jenny..“
„Ja klar. Man, ich versteh dich doch. Du liebst sie und willst, dass sie gefunden wird.. Aber...“„Ja, richtig. Ich will das sie gefunden wird. Und das lebend. Je mehr Zeit vergeht, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ich sie jemals wieder in meinen Armen halten kann.“
Wieder vergingen einige Minuten des Schweigens.
„Okay. Gut. Zeig mir die Liste noch mal.“
„Wozu? Das du sie zur Polizei bringen kannst?“„Damit ich dir helfen kann.“
Unentschlossen schaute Matt zu seinem Kumpel. Er wollte ihn doch da nicht mit rein ziehen. Nachher bekommt er Ärger für etwas, womit er nichts zu tun hatte...
Schließlich zog er aber doch das Blatt hervor und überreichte es Steve. Dieser knipste seine Schreibtischlampe an und ließ sich auf seinem Stuhl nieder. Matt beugte sich über ihn. „Was genau sind das für Namen?“
„Ich weiß es nicht.“„Du weißt es nicht? Warum hast du sie dann?“„Weil es was mit Jenny zu tun hat. Alle Namen sind männlich. Ich denke, dass es... dass es...“
Steve starrte auf die Namen. Tatsächlich, es waren ausschließlich männliche.
„Okay, gehen wir davon aus, es ist so, wie du denkst. Aber das bringt uns nicht weiter. Das sind um die 50 Namen, die hier stehen.“
„43.“ Matt hatte sie bereits mehrfach gezählt gehabt.
„Dann haben wir ja noch einiges zu tun...“
Steve kannte sich sehr gut mit Computersystemen aus und für ihn war es kein Problem, Zugriff auf sämtliche Rechner der Welt zu haben. Es dauerte auch nicht lange bis er den Polizeiserver geknackt und sich sofort zurecht gefunden hatte.
Die beiden Jungs verbrachten noch einige Stunden mit der Liste, durchforsteten den Server, das Internet und machten sich Notizen hinter jedem Name.
„So...“ Steve lehnte sich zurück. „Dann haben wir jetzt nur noch 35 Namen..“ Matt ließ seine Augen über die Liste gleiten und las zum tausendsten mal die Notizen am Rand. 5 mal las er „verstorben“, 8 mal „verurteilt“.
„Gut dann mach ich mich jetzt auf den Weg...“ Matt stand vom Bett auf, faltete das Blatt wieder zusammen und ging Richtung Tür. „Warte, wo willst du hin?“
„Ich suche die Adressen der restlichen raus und werde allen einen Besuch abstatten.“
„Aber Matt“, Steve stand schnell auf und lief ihm hinter her. „Du weißt doch gar nicht, ob es einer von denen ist. Es muss nicht immer ein bekannter Täter sein. Und selbst wenn... Glaubst du, sie öffnen dir die Tür und bitten dich herein? Du würdest dich höchstens selber in Gefahr bringen.“
Matt hielt Inne und dachte darüber nach, was sein bester Freund ihm gerade gesagt hatte. Natürlich hatte er Recht, es ist waghalsig was er vor hatte. Aber er konnte Jenny doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Noch gab es die Möglichkeit, dass sie lebt. Die Möglichkeit auf ein Happy End. „Komm schon, Mann. Wenn du wirklich etwas für sie tun willst, dann mach das mit legalen und ungefährlichen Dingen. Wie wäre es, wenn wir ihr Bild ausdrucken und uns in der Stadt morgen umhören? Vielleicht hat sie ja doch jemand gesehen, es steht ja nicht mal fest, dass sie unfreiwillig verschwunden ist.“Seufzend lies sich Matt auf dem Bett von Steve nieder. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht. Insgeheim wusste er aber, dass ihm eigentlich nichts anderes übrig blieb. Es war mitten in der Nacht, er war todmüde und konnte alleine nicht weiter kommen.
„Also gut. Wir gehen morgen früh sofort in die Stadt. Ich habe ein Bild bei mir. Aber wenn sich bis zum Nachmittag nichts ergeben hat, werden wir meine Methode nehmen.“Steve stimmte zu und betete innerlich, dass es niemals zu seiner Methode kommen wird.
Kapitel 9
„Havill, was machen die Ermittlungen?“
Inspektor Havill hatte gerade sein Büro betreten, als sein Kollege auf ihn zukam. „Es geht nicht voran. Ich weiß einfach nicht, wo ich anfangen soll. Jeder könnte sie entführt haben.“
Sein Kollege schaute ihn verständnisvoll an. „Ich weiß, dass dir der Fall nahe geht. Wenn man selber Kinder hat, nimmt einen so etwas mit. Was ist mit der Liste, die ich dir gegeben hatte? Keine auffälligen Namen?“
Havill schüttelte den Kopf. „Leider nicht.“ Er war gerade dabei, die Türklinke seiner Bürotür hinunter zudrücken, als er erneut seinen Namen hörte. Langsam und genervt drehte er sich um. Johnson, ein Kollege der Streife, eilte auf ihn zu. „Was gibt es? Ich muss arbeiten...“
„Ja schon klar. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich gerade zwei Jungs auf dem Weg hier her getroffen habe. Sie hatten ein Bild des vermissten Mädchen dabei und fragen sich herum, ob sie jemand gesehen hat.“Verblüfft schaute Havill den Kollegen an. „Wo genau war das?“ „Direkt vor dem Einkaufcenter in der Innenstadt.“ „Danke.“Er lies die Türklinke los und machte sich auf dem Weg zurück, auf dem er gekommen war. Wenig später traf er in dem Einkaufcenter ein, von dem sein Kollege gesprochen hatte und sah sich um. Ihm war klar, dass es sich nur um Matt handeln konnte, der so verzweifelt nach seiner Freundin suchte. Es war ein riesiges Gebäude mit um die 20 Läden, in denen sich die Jungs gerade befinden konnten. Wenn sie denn überhaupt noch hier waren. Er beschloss, sich von der unteren bis zur obersten Etage hochzuarbeiten.
„Entschuldigen Sie, haben sie vielleicht dieses Mädchen hier gesehen? In den letzten zwei Tagen irgendwann?“
Matt hielt einer etwas älteren Dame das Bild von Jenny vor ihr Gesicht. Sie nahm es kurz in die Hand, betrachtete es und gab es kopfschüttelnd zurück. „Nein, tut mir Leid.“ Enttäuscht nahm Matt sein Bild zurück und ging weiter. Steve kam ihm entgegen, er hatte gerade in einem Elektrogroßhandel herum gefragt. „Und?“ Doch auch er hatte keine guten Nachrichten. „Nichts. Aber Matt, du weißt schon... Wenn uns jetzt jemand von der Schule hier sieht, sind wir dran...“ „Dir ist das gerade wichtiger als das Leben von jemand anderem?“ „Nein, natürlich nicht, ich meine nur...“
Gereizt ging Matt ein paar Schritte weiter. Aber er merkte schnell, dass es keinen Sinn hatte, jetzt Streit anzufangen. „In dem Supermarkt waren wir noch nicht.“ Er zeigte gerade aus auf einen Laden, in den einige Leute ein- und ausgingen. „Vielleicht haben wir ja jetzt Glück...“ Genauso wenig wie Matt glaubte Steve jetzt noch an ein Wunder. Aber was hatten sie schon zu verlieren. Im Supermarkt war ein reges Treiben. Die beiden sprachen viele Leute an, doch wie erwartet hatte niemand eine Ahnung. Selbst ein paar Kassierer hatten sie gefragt, doch auch da konnte ihnen niemand weiterhelfen. „Das war es dann wohl. Jetzt kommt meine Methode.“ Matt griff nach seinem Blatt mit der Liste, hielt aber plötzlich Inne. „Du, Steve.. Sag mal, kann die Polizei eigentlich was machen, wenn man nicht in der Schule ist?“
„Keine Ahnung, ich denke schon. Wieso?“
„Dann haben wir jetzt ein kleines Problem..“
Nach einer gefühlten Ewigkeit entdeckte Havill Matt und seinen Freund. Dass Matt ihn schon bemerkt hatte, begriff Havill sofort. Mit großen Schritten ging er auf die beiden zu. Ihm entging auch nicht die Angst, die den beiden Jungs ins Gesicht geschrieben war.
Matt nickte Havill zu. „Inspektor.“
„Hallo Matt. Warum seid ihr nicht in der Schule?“ Steve schluckte. Auch Matt machte keine Anzeichen zu antworten.
„Ganz ehrlich Jungs, was erhofft ihr euch von der Situation?“
„Gar nichts mehr“, antwortete Matt niedergeschlagen. „Niemand hat sie gesehen.“
Havill blickte sich zu allen Seiten um, schaute die Menschen an und drehte sich schließlich wieder zu Matt um. „Denkst du nicht, es hätte sich schon jemand auf die Anzeige in der Zeitung gemeldet, wenn sie jemand gesehen hat?“
„Ich will sie doch nur finden...“„Matt, ich verstehe dich ja. Aber in dieser Sache kann nur die Polizei etwas machen. Die Öffentlichkeit wurde informiert und zur Mithilfe aufgefordert.“
Matt nickte und schaute auf den Boden. Steve hustete kurz auf und wechselte das Thema so schlagartig, dass die beiden anderen ihn verwirrt ansahen. „Bekommen wir Ärger weil wir nicht in der Schule waren?“ Der Inspektor ignorierte die Frage und knüpfte wieder an das wesentliche Thema an. „Also vergeudet hier nicht eure Zeit. Ihr könnt die Augen offen halten und uns informieren, wenn euch etwas auffällt. Alles andere überlasst ihr dann bitte uns. Sonst gibt das ganze hier nur ein unnötiges Chaos.“Mit diesen Worten drehte sich Havill um und verließ auf kürzestem Weg das Einkaufszentrum. Matt und Steve blieben wortlos zurück.
Nach einigen Augenblicken klopfte Steve seinem Freund auf die Schulter. „Komm..“ „Wo willst du hin?“ Überrascht schaute Steve Matt an. „Nach Hause? In die Schule?“„Nein, Steve. Du kennst den Plan.“„Matt... Das ist jetzt nicht dein Ernst. Du hast ihn gerade gehört und trotzdem willst du weiter machen?“Ohne zu antworten drehte sich Matt um und ging, wie Havill, Richtung Hauptausgang. Kurz vor der großen Tür drehte er sich noch einmal um. „Das hätte ich wirklich nicht von dir erwartet. Ich dachte, du wärst mein Freund.“ Mit diesen Worten verließ er das große Gebäude und schaute sich auf der Straße um. Er hatte keine Ahnung, wo er anfangen sollte. Nachdenklich zog er seine Liste heraus und ging die Straßennamen der verschiedenen Männer durch. 'Calmstreet' murmelte er vor sich hin. 'Die ist gleich da hinten, nach der Kreuzung... Dann fangen wir da mal an...'Steve beobachtete Matt durch die Scheiben des Einkaufszentrums und zog nun auch ein Blatt Papier heraus. Zum Glück hatte er sich die Liste heimlich kopiert, dachte er sich. So konnte er Matts Schritte nachvollziehen. Ihm fiel auch sofort der Straßenname auf, zu dem Matt gerade unterwegs war. Doch bei dem Name, den er da las, wurde ihm schlecht. Er hatte den Namen vor langer Zeit in den Nachrichten mitbekommen. Es ging darum, ob er vorzeitig entlassen werden durfte, weil er wegen Vergewaltigung und Mordes ursprünglich lebenslänglich bekommen hatte. Die Bevölkerung reagierte mit Protesten auf seine Freilassung. Viele glaubten nicht daran, dass er sich wirklich geändert hatte. Ob Matt auch wusste, was dieser Kerl getan hatte?
Steve blieb nichts anderes übrig als ihm hinterher zu rennen. Seine Gedanken überschlugen sich. Wenn er schon einmal einen Menschen umgebracht hat, wieso sollte er es nicht wieder tun, wenn er sich bedroht fühlt?
Conners
Matt drückte auf die beschriftete Klingel und wartete ab. Er wusste nicht einmal, was er sagen sollte, wenn sich die Tür vor ihm öffnen wird. Es gingen ihm einige Sätze durch den Kopf, doch alle klangen einfach nur schrecklich. Aber er merkte schnell, dass er sich keine weiteren Gedanken machen brauchte. Es kam keine Reaktion auf seinen Klingeln. Er klopfte und wartete. Wieder nichts. Er klopfte erneut, wartete, klingelte und klopfte wieder. In ihm kochte die Wut. Er wusste, dass jemand zu Hause war. Kurz bevor er vor dem Haus zum stehen kam, bemerkte er eine Person am Fenster. „Mach Sie auf, Sie Schwein! Ich weiß genau, dass Sie da sind!“
Wieder klingelte und klopfte er wie wild an der Tür. Er prügelte regelrecht auf sie ein.Mit einmal glitt die Tür auf und ein bulliger ekliger Typ stand vor ihm. In seiner rechten Hand ein Baseballschläger. „Was zur Hölle willst du?“ fauchte er Matt an. Dieser stolperte ein paar Schritte zurück, fand aber schnell seine Stimme wieder. „Was haben Sie mit meiner Freundin gemacht?“ Der Mann vor ihm wurde immer wütender. Schließlich begann er jedoch zu grinsen. „Du willst wissen, was ich mit ihr gemacht habe? Jedes kleine Detail? Also ich muss sagen, sie ist schon verdammt scharf...“ Er lachte grölend los. Wie versteinert stand Matt da. Er wusste nicht, was er tun sollte. In diesem Moment kam Steve um die Ecke. „Matt, verdammt was machst du hier. Komm mit!“ Der Mann schaute zu Steve. „Du kennst diesen Verrückten?“
„Sie nennen mich verrückt? Wer ist hier der verrückte von uns, dass sind doch Sie!“
Steve packte Matt am Arm und versuchte ihn, ohne Erfolg, wegzuziehen. „Dieser Mistkerl hat mir gerade gestanden, dass er Jenny hat!“
„Ganz ruhig, Junge. Ich habe deine Josy nicht!“
„Jenny!“
„Von mir aus... Jedenfalls hab ich sie nicht. Ich hab dich nur verarscht, Mann. Und jetzt zieh Leine, bevor ich die Polizei rufe!“
Kapitel 10
Es waren wieder viele Stunden vergangen, die Jenny hier unten verbracht hatte. Sie selbst wusste nicht, wie es möglich war, dass sie noch lebte. Mit jeder Sekunde, die sie hier verbrachte, schwanden ihre Hoffnungen darauf, hier gefunden zu werden. Dieser Typ, der sie ständig missbrauchte, machte ihr so große Angst. Immer wieder hörte sie ihn an der Tür, wie er davor herumschlich. Sie hörte ihn auch ständig etwas murmeln, diese unheimliche raue Stimme. Gerade war er nicht zuhause. Jenny hörte vorhin die Haustür zuschlagen und seitdem kam er auch nicht mehr herein oder schlich umher. Im Haus war alles ruhig, nur ihr eigenes Atmen konnte sie hören. Sie kroch zu der schweren Tür am anderen Ende des Raumes und drückte sich mit ihrer letzten Kraft gegen sie. Doch wie sie es schon erwarten konnte, bewegte diese sich keinen Millimeter. Jenny brach erneut in Tränen aus, sie wusste nicht, was sie noch tun konnte. Einfach hier sitzen und hoffen... Nichts tun zu können... Es war ein schreckliches Gefühl. Immer wieder fragte sie sich, was er wohl als nächstes tun würde. Wenn er nach Hause kommt. Geht er weiter, als sonst? Sollten das gerade wirklich ihre letzten Stunden sein? Erschöpft sackte Jenny zusammen und blieb regungslos auf dem Boden liegen. Sie wollte doch nur noch nach Hause, zu ihrer Familie, zu ihrem Freund. Weg von hier, weit weg.
„Wieso haben wir nicht die Polizei gerufen? Er hat doch gesagt, dass er Jenny hat!“Steve hatte Matt dazu bewegen können, sich in einem Café kurz hinzusetzen und ein wenig runter zu kommen. „Ja eben. Er hat gesagt, er hat sie. Denkst du wirklich, er würde es einfach so ausposaunen, wenn es stimmt? So blöd kann nicht mal der sein.“ Matt klapperte mit seinem Löffel in seiner Kaffeetasse herum. „Vielleicht hast du recht. Was machen wir jetzt?“ „Wir machen jetzt gar nichts mehr. Du hast doch gerade gesehen, was das bringt.“
Nachdem er ein paar mal tief durchgeatmet hatte, musste Matt seinem Freund zustimmen. „Gut, dann... Gehe ich jetzt mal nach Hause. Mir geht es nicht so gut. Danke für deine Hilfe. Ich melde mich.“
Ohne auf Steves Reaktion zu warten, stand Matt auf und lief nach Hause. Seine Gedanken drehten sich nur um Jenny. Er wusste einfach nicht, was er noch tun konnte. Er fühlte sich nutzlos und gab auch sich die Schuld daran, in welcher Situation sich Jenny wohl gerade befand. Er konnte ihr nicht helfen, und das machte ihn fertig. Zuhause angekommen legte er sich in sein Bett und starrte die Decke an. Die ganzen Bilder von sich und Jenny gingen vor seinem Inneren Auge vorbei und erinnerten ihn an die wunderbare Zeit, die sie zu zweit hatten. All das konnte nicht vorbei sein, Jenny wird wieder auftauchen und bald konnte er sie in seinen Arm nehmen. Er wusste es. Sie lebt und er wird dafür sorgen, dass sich das auch nicht ändert.
Langsam wurde er nervös. Wie lang konnte er sie noch versteckt halten? Die Suche nach dem Mädchen wurde immer mehr ausgeweitet. Es fiel ihm schwer, keinerlei Emotionen zu zeigen, als der Junge ihm das Bild von ihr unter die Nase hielt. „Nein, noch nie gesehen“, hatte er geantwortet. Dabei hoffte er, dass niemandem sein Zittern dabei auffiel. Und als wäre das noch nicht genug gewesen, fragte der Junge gleich noch einmal nach, ob er sich da sicher sei. Ob er lieber nach Hause gehen sollte? Aber wozu. Niemand hatte ihn verdächtigt. Aber was, wenn doch? Vielleicht waren sie schon alle auf dem Weg zu ihm nach Hause. Schwachsinn! Wieso auch. Woher sollten sie wissen, wo er wohnt. Oder was er getan hat. Er musste das Mädchen schnell los werden. Zu groß ist das Risiko, dass man sie bei ihm finden könnte. Es kann so viel schief gehen. Es bleibt keine Zeit mehr, er muss den einzigen Beweis vernichten. Aber nicht jetzt sofort, nein. Es wäre nur verdächtig, wenn er sich für den Rest des Tages frei nehmen würde. Doch wenn er heute nach Hause kommen wird, dann muss er schnell handeln. Natürlich müsste man warten, bis es draußen dunkel ist. Solange kann er sie noch gut gebrauchen. Schließlich war sie noch immer sein Eigentum. Er allein entscheidet, was mit ihr passiert. Und er hat entschieden – sie wird sterben. Es bleibt keine andere Möglichkeit.
Eigentlich wollte Havill in sein Büro fahren. Doch er verspürte plötzlich den Wunsch, in den Stadtteil zu fahren, in dem er einst gelebt hatte. Er und seine ganze Familie. Auf einem kleinen Parkplatz stellte er seinen Wagen ab und machte sich zu Fuß auf den Weg durch die teils heruntergekommenen Straßen. Vor einem großen alten Haus blieb er stehen. Hier hatte er gelebt, 24 Jahre lang. Vorsichtig stieg er die alten Stufen zur Haustür hinauf. Vor der Tür blieb er wieder stehen. Mit seinen Fingern glitt er über die Türklinke, hielt sie fest. So schön seine Zeit hier war, so traurig wurde sie zum Ende. Havill spürte, wie ihm eine Träne das Gesicht hinunterlief. Doch er machte keine Anstalten, sie sich wegzuwischen. Niemand sah ihn hier, wieso also sollte er seine Gefühle nicht zeigen. Er setzte sich auf die letzte Stufe und schaute auf seine Füße. Es wiederholte sich plötzlich alles, wie ein Film.
„Sie haben sie gefunden... Mama, Sophia...“ „Ethan? Was ist? Wo ist sie?“
Er begann zu schluchzen, warf sich in die Arme seiner Mutter. „Mama... Sie ist.. Ihre Leiche...“
Mutter und Sohn lagen sich heulend in den Armen. Der Vater kam hinzu und wusste sofort was passiert war. „Mama? Ich werde ihn finden, ich verspreche es dir!“ Seine Mutter sah ihn an. So eindringlich wie nie. „Ich werde dieses Schwein finden und er wird sehen, was er verdient hat!“ Wieder begannen sie, zu weinen. Alles schien zu Ende, keiner wusste, wie es nun weiter geht. Ob es weiter ging.
Sein Traum verschwamm immer mehr durch all die Tränen, die ihm nun über das Gesicht liefen. Nach einigen Augenblicken stand er auf und hielt sich an dem Geländer fest. Mit seiner freien Hand suchte er nach dem Taschentuch, welches er in seiner Jackentasche hatte. Als er sich wieder gefangen hatte, blickte er auf seine Uhr. „Oh verdammt.“ Schnell machte er sich zurück auf den Weg zu seinem Auto. Zu lange war er schon hier, die Zeit verging so schnell.
An seinem Auto sah er einen Mann stehen. Groß und breit. Der Mann starrte in sein Auto, er schien Havill nicht bemerkt zu haben. „Kann ich Ihnen helfen?“ Mit schnellen Schritten kam Havill auf den fremden Mann zu. Erschrocken schaute dieser ihn an. „Oh, nein. Tut mir leid. Ich bin nur gerade hier vorbei gelaufen und fand ihr Auto schön. Als ich näher kam, bemerkte ich diesen Zettel.“ Der Mann zeigte mit seinem Finger zu der Windschutzscheibe hinüber. „Sie sind also von der Polizei? Ist denn etwas passiert?“ „Nein, zumindest nicht hier. Glaube ich. Ich hatte nur kurz jemanden besucht gehabt. Kenne ich Sie nicht irgendwoher? Sie kommen mir bekannt vor...“
„Ich? Ihnen? Nein, tut mir leid, das muss eine Verwechslung sein. Aber ich muss jetzt auch schnell weiter... Termine, Sie verstehen...“Schnell eilte der Mann an Havill vorbei. Dieser schaute ihm noch kurz hinter her, zuckte aber schließlich nur mit den Schultern. Wahrscheinlich hatte er ihn wirklich nur mit jemandem verwechselt.
Kapitel 11
Eine Tür knallte zu. Die schweren Schritte wurden immer lauter, sie kamen immer näher. Jenny kauerte sich noch mehr in der Ecke zusammen, in die sie sich geschleppt hatte. Mit einem Ruck ging die Tür auf und ein Lichtstrahl erhellte den Raum ein wenig. Der Mann kam auf sie zu, packte sie am Kragen und zog sie hoch. Dann drückte er sie gegen die kahle kalte Wand. Sie schluchzte leise.
„Wegen dir bekomme ich Schwierigkeiten!“ Er holte aus und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Jenny schrie auf. Sie verstand einfach nicht, was sie falsch gemacht hatte. „Genieße deine letzten Stunden... Zu deiner Freude wirst du sie mit mir verbringen.“Mit diesen Worten schubste er sie wieder auf den Boden und verließ eilig den Raum. Jenny packte die Angst. Es war genau das eingetreten, wo vor sie sich die ganze Zeit über fürchtete. Sie wird sterben. Aber was konnte sie schon dagegen tun. Mit ihm reden? Wieso nicht... Sie konnte nichts mehr verlieren.
Unruhig lief er in seinem Wohnzimmer auf und ab. Wie würde er es wohl tun... Sollte er es überhaupt tun? Natürlich, ihm blieb doch nichts anderes übrig! Aber warum scheute er sich so davor? Er hatte doch schon einmal einen Menschen getötet, was hindert ihn jetzt noch daran? Unsicher wischte er sich mit beiden Händen über sein Gesicht. Schließlich zog er seine Weste aus, die er noch von seiner Arbeit an hatte.
Er näherte sich dem Raum, hinter der sie, wahrscheinlich mit Todesangst, hockte. Kaum hatte er die Tür geöffnet, drang ihre niedliche, unschuldige Stimme zu ihm hinüber. „Warum wollen Sie mich töten?“
Mit dieser direkten Frage konnte und wollte er nicht rechnen. „Weil man dich sucht. Wenn man jemanden sucht, dann findet man ihn auch. Die Frage ist nur, ob tot oder lebendig.“Er schloss die Tür hinter sich und ging langsam auf Jenny zu. „Sie können einfach so einen Menschen töten?“Er antwortete ihr nicht, stattdessen kam er immer näher und hockte sich schließlich vor sie. „Pass auf, Kleine. Manche Dinge geschehen einfach. Man kann nichts dagegen tun. Genauso wenig kannst du etwas dagegen tun, dass du sterben wirst.“
Vorsichtig begann er, ihr über die Beine zu streicheln. „Auch wenn das ein tragischer Verlust ist...“
Jenny zog ihre Beine näher an sich ran. Der Mann lies von ihr ab. Es war zu dunkel, um alles erkennen zu können, aber sie spürte, wie eindringlich er sie anschaute. Sie wartete nur noch drauf, dass er wieder über sie herfällt. „Ich glaube nicht, dass Sie mich töten wollen.“
Sie hoffte, ihn eine Weile hinhalten zu können. Vielleicht konnte sie ihn auch noch überzeugen, sie am leben zu lassen. Wobei sie sich nicht sicher war, ob der Tod nicht sogar besser ist, als weiterhin hier zu sein.
„Es ist mir egal, was du glaubst. Ich weiß was ich tun werde und was nicht.“Er kam ihr wieder näher und streichelte ihr nun über die Wange. „So sehr ich dich auch mag, ich kann kein Risiko eingehen. Das wirst du doch verstehen.“ Er lachte laut auf und ein ekliger Gestank kam bei Jenny an.
„Gut, dann tu es doch gleich.“ Jenny begann zu zittern. Was sie hier tat, war Provokation pur. Es war waghalsig und trotzdem die einzige Möglichkeit.
Erstaunt über diese Aussage, lies er seine Hand hinunter gleiten. Wortlos stand er auf und blickte von oben auf sie hinab. Sie versuchte seinem Blick stand zu halten, doch seine stechenden Augen machten das fast unmöglich. „Gut. Wie du willst.“ Aufgebracht verließ er den Raum.
Er knallte die Tür hinter sich zu. Das Gefühl, dass er gerade hatte, konnte er nicht definieren. Ein Teil von ihm war wütend und aufgebracht. Ein anderer erleichtert. Er musste jetzt nur noch das Messer holen und wieder zu ihr gehen. So wie damals. Aus einer Schublade zog er ein mit einem Tuch umwickeltes Messer heraus. Langsam entfernte er das Tuch und musterte die lange Klinge. Eigentlich wollte er sie nie wieder benutzen. Genauer gesagt hatte er sie nie benutzen wollen. Aber er hatte gelernt, dass alles im Leben anders kommt, als man es geplant hatte. Selbstsicher hielt er das Messer in seinen Händen und durchquerte den Raum erneut bis zur Tür. Doch kaum hatte er sie erreicht, kamen seine Zweifel wieder. Er wusste nicht genau, wo sie her kamen. Irgendetwas gefiel ihm an ihr. Dass sie ihn auch mag, stand für ihn außer Frage. Entschlossen legte er das Messer auf einen kleinen Tisch und betrat wie zuvor unbewaffnet den Raum.
„Sag, dass du mich liebst.“ Sie blickte ihn erstaunt an. „Wieso sollte ich so etwas sagen?“
„Weil ich weiß, dass es so ist. Und weil du sonst sterben wirst.“
Jenny musste nicht lange überlegen, wie sie handeln wird. Sie saß in der Falle und ihr Leben hing von der Stimmung eines geisteskranken Menschen ab. Wenn es nur darum ging, einen Menschen eine Liebe vorzugaukeln um am Leben zu bleiben, dann war das wohl ihr geringstes Problem, was sie hatte. Sie riss sich zusammen.
„Ich hatte gehofft, dass Sie meine wahren Gefühle nicht erkennen würden. Aber es stimmt. Ich liebe Sie...“ Den letzten Satz brachte sie nur schwer raus, aber sie war von sich selbst überrascht, wie glaubwürdig sie das rüber gebracht hatte.
Sie beobachtete ihn, wie er immer näher kam. „Du musst mich nicht Siezen“. Er stand nun wieder genau vor ihr. Jenny kauerte sich zusammen, sie rechnete mit dem schlimmsten. Doch er hielt ihr seine Hand hin. „Steh auf, Liebling.“
Kapitel 12
Draußen war es gerade dunkel geworden. Havill saß bei Familie Jones auf dem Sofa und unterhielt sich mit Jennys Mutter. „Leider haben wir noch immer keine Spur von ihrer Tochter. Aber wir tun unser bestes. Dieser Fall hat absoluten Vorrang.“Mrs. Jones schaute den Inspektor hoffnungsvoll an. „Denken Sie denn, dass sie noch lebt?“ „Nun, ich...“ Doch gerade als Havill ihr antworten wollte, wurden sie wie schon einmal von der Klingel unterbrochen. Mr Jones rief aus dem Flur „Ich geh schon“ und öffnete die Tür. Kurz darauf betrat Matt das Wohnzimmer. „Oh, hallo Matt. Setz dich doch.“ Mrs. Jones rückte ein wenig zur Seite, um Matt Platz zu machen, welcher sich neben ihr nieder lies. Er versuchte, dem Blick des Inspektors zu entkommen. „Mit Matt hat ihre Tochter wirklich einen wunderbaren Freund.“ Über diese unerwartete Aussage waren alle Anwesenden im Raum überrascht. Mrs Jones schaute den Inspektor unwissend an. „Wie kommen Sie jetzt darauf?“ Havill entschloss sich, die Geschichte der beiden Jungs zu erzählen und beobachtete Matt, wie dieser immer unruhiger auf der Couch hin und her rutschte. Seine Reaktion konnte er allerdings nicht nachvollziehen, schließlich setzte er sich unglaublich für seine Freundin ein.
„Wieso sind Sie hier?“ Jetzt richteten sich alle Blicke auf Matt. „Wieso suchen Sie nicht endlich mal nach Jenny?“
Völlig perplex schaute Havill Matt an. „Weil ich ihre Eltern auf den Stand der Ermittlungen bringen wollte.“
„Der Stand der Ermittlungen? Was für Ermittlungen? Sie machen doch gar nichts. Sie haben keinerlei Ansätze.“„Woher willst du denn bitte wissen...-“ „Woher? Sie sitzen doch schließlich hier, oder nicht? Sie sollten in ihrem Büro sitzen, verdächtige befragen. Aber hier nicht herum schleimen.“
Im Raum war es schlagartig ruhig geworden.
„Wir reden besser mal draußen weiter.“
Havill verließ das Wohnzimmer und wartete draußen auf Matt, der mit wütenden Schritten hinterher kam. „Ich habe nur die Wahrheit gesagt!“ „Weißt du Junge, ich kann dich wirklich gut leiden. Aber im Moment gehst du zu weit. Du bist gerade mal 16 Jahre alt. Du hast, um es mal grob auszudrücken, noch dein ganzes Leben vor dir. Ich verstehe, dass du zur Zeit völlig neben der Rolle bist. Jeder kann das verstehen. Aber du kannst nicht denken, du kommst hier an und mischt dich in unsere Arbeit ein. Versuch doch bitte, deine Nerven zu behalten. Auch wenn das schwer ist. Aber niemand kann hier etwas für die Situation und ich glaube kaum, dass es Jenny gefallen würde, wenn sie wüsste, wie du hier durchdrehst. Sie braucht dich jetzt verdammt. Und das nicht in dieser Verfassung. Also mach dir Gedanken, wie du dich gerade verhältst.“
Havill verabschiedete sich noch von Familie Jones und machte sich dann auf den Nachhauseweg. Auf der Fahrt machte er sich unentwegt Gedanken über das verschwundene Mädchen und Matt. Der Fall lies ihn einfach nicht los. Natürlich konnte er es verstehen, wenn Matt langsam die Nerven verlor. Bei ihm war es damals nicht anders. Aber trotzdem musste man jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren, mehr konnte man, leider, nicht für das Mädchen tun. Doch trotzdem musste er sich eingestehen, dass es langsam knapp wurde. Die Wahrscheinlichkeit, ein verschwundenes Mädchen nach mehr als drei Tagen noch lebend zu finden, ist verdammt gering. Zuhause angekommen begrüßte er seine Frau mit einem zarten Kuss auf die Stirn. Sie sah ihm an, dass etwas in ihm vorging. „Warst du wieder in deiner Gegend?“ Havill war gerade auf dem Weg, zur Essecke, als er durch diese Frage verwirrt stehen blieb. „Woher weißt du das?“ Sie legte das Geschirr, dass sie gerade abgewaschen hatte, auf die Ablage und ging zu ihm hinüber. „Glaubst du wirklich nach 10 Jahren Ehe weiß ich nichts von deinen Erinnerungsstücken aus unserem Keller? Ich merke doch, wenn dich etwas bedrückt.“ Sie schloss ihre Arme um ihn und drückte sich fest an ihn heran.„Schatz, ich weiß wie wichtig dir der Fall ist. Aber du kannst nicht das unmögliche möglich machen. Wenn man sie nicht finden kann, dann ist das nun mal so. Du brauchst dir da nicht die Schuld geben.“Havill streichelte seiner Frau über ihre langen schwarzen Haare. „Es ist nicht einfach nur ein Fall. Aber das verstehst du nicht.“ Etwas verärgert ging er an seiner Frau vorbei in Richtung Treppe. „Ich lege mich hin, der Tag war lang.“ Mit diesen Worten steig er die Treppen hoch und schloss die Schlafzimmertür hinter sich. Seine Frau schaute ihm nur traurig hinterher.
Matt saß mit seinem Laptop an dem großen Esstisch im Wohnzimmer und öffnete ein Suchportal. Neben ihm lag die Liste, von der er sich doch so viel erhoffte. 'Irgendwann finde ich dich', ging es ihm ständig durch den Kopf, während er jeden einzelnen Namen in das Suchfeld eingab. Doch keiner der Namen lieferte auch nur ansatzweise ein gutes Ergebnis. Das die Leute alle vorbestraft waren, dass wusste er ja sowieso schon. Nur die ein oder andere Geschichte, die hinter der Strafe stehen und veröffentlicht waren, ließen ihn teilweise zusammenzucken. Er verstand nicht, wie man nur so brutal sein kann. Nachdenklich lehnte er sich zurück und seufzte. Vielleicht ging er nicht richtig an die Sache ran? Aber was konnte er denn noch tun. An jedem Haus im Ort klingen? Was würde es denn bringen, wenn Jenny in einem anderen Ort war? Was, wenn sie gar im Ausland irgendwo saß?
Gedankenverloren tippte Matt ein paar Worte in die Suchmaschine ein. „Mädchen verschwunden Downshill“. Es erschienen einige Ergebnisse, viele davon beinhalteten die Vermisstenanzeige mit Jennys Bild darauf. Matt scrollte etwas weiter runter und stieß dabei auf einen älteren Artikel.
„Junges Mädchen westlich von Downshill vermisst.“ Er klickte auf den Link und las sich die Seite durch. Das Mädchen wurde damals entführt und es gab keinerlei Lebenszeichen, aber auch keine Erpressung. Weiter unten auf der Seite stand, dass das Mädchen tot in einem See aufgefunden worden war. Matt durchzuckte es den ganzen Körper. Erneut gab er die einzelnen Namen von der Liste im Internet ein. Er wollte wissen, ob der Täter gefasst wurde. Doch bei keinem stand auch nur etwas ähnliches, wie es dem Mädchen vor 22 Jahren passiert war.
Matt hatte einen schrecklichen Gedanke. Was, wenn der Kerl immer noch hier frei herum läuft? Würde mit Jenny das selbe passieren?
Ich darf nicht schlafen. Ich darf nicht schlafen. Jenny versuchte, sich wach zu halten. So, wie sie es die letzten Tage auch versucht und geschafft hatte. Nachdem sie ihm gezwungener Maßen ihre „Liebe“ gestanden hatte, verschonte er sie von jeglicher Gewalt. Er hielt sie lange in den Armen, sehr fest und bestimmt. Bisher hatte sie es noch nicht nutzen können, zu fliehen. Wahrscheinlich würde sie es auch nie schaffen. Vorher würde er sie umbringen. Sie konnte ihn einfach nicht einschätzen. Mal war er so, dann wieder so. Aber sie hasste ihn. Abgrundtief. Sie wollte ihn einfach nur noch tot sehen. Doch vorher sollte er leiden. So, wie sie gerade leiden muss. Nur ein bisschen schlimmer...
Kapitel 13
Havill hatte sich gerade mit seinem Becher Kaffee ins Büro geschleppt und auf seinen Sessel gehoben, als mit einem lauten Knall die Tür aufflog. Er zuckte zusammen und ließ vor Schreck seinen Kaffee fallen. Neben seinem Tisch bildete sich eine große, dampfende Kaffeelache. Verärgert hob Havill den Blick und sah Matt total aufgeregt vor ihm stehen. „Ich hoffe, du hast einen guten Grund jetzt hier zu stehen“, murmelte er drohend und versuchte, sich wieder zu fassen.
„Ich weiß, wer Jenny hat.“ Matt sah ihn ernst an. „Ich weiß, bei wem sie ist.“
Havill schaute ihn ungläubig an. „Woher willst du das wissen? Und wer soll das deiner Meinung nach sein?“
„Vor 22 Jahren“, begann Matt und ließ sich auf dem Stuhl gegenüber von Havill nieder. „Da gab ich schon einmal einen Fall. Ich weiß nicht so viel darüber, aber...“ „Moment“, unterbrach ihn der Inspektor. „Vor 22 Jahren?“
„Ja. Vor 22 Jahren. Ich bin im Internet gestern zufällig darauf gestoßen. Auf jeden Fall...“
„Wie kommst du bitte auf solche Artikel?“ Havill wurde unruhig. Es gefiel ihm nicht, wie sich der Junge da gerade einsetzte. Oder besser gesagt, es gefiel ihm nicht, dass er gerade wieder mit seiner Vergangenheit konfrontiert wurde.
„Habe ich doch gerade schon gesagt. Ich bin zufällig darauf gestoßen. Na ja, was ich sagen wollte...“ Doch erneut wurde er unterbrochen. „Der Fall hat nichts mit dem hier zu tun, Junge. Ich möchte, dass du gehst.“
Matt wurde wütend. „Jetzt hören Sie mir doch verdammt noch mal zu! Der Kerl wurde damals nicht geschnappt. Das Mädchen wurde in einem Stadtteil von Downhills entführt und tot aufgefunden. Was ist, wenn es der gleiche Typ von damals ist? Dann wird Jenny auch bald in einem See gefunden werden. Das möchte ich nicht...“
Traurig ließ Matt den Kopf sinken und hoffte darauf, dass der Inspektor etwas dazu sagen wird. Doch dieser schaute ihn nur misstrauisch an. „22 Jahre ist eine lange Zeit. Wahrscheinlich lebt der Kerl nicht mehr oder ist gleich nach der Tat verzogen, um nicht erwischt zu werden. Oder...“ Havill stoppte sich selbst und dachte leise weiter. 'Oder der Junge hat recht.' Er stand auf und ging zu seinem Bürofenster. „Ich werde es nachprüfen. Vielleicht können wir dann die alten Ermittlungen neu aufrollen. Ich danke dir für deinen Tipp.“
Langsam hob Matt seinen Kopf. „Und das wars? Jetzt schicken Sie mich raus? Ich will Ihnen helfen!“ „Du bist kein Cop, Junge! Du kannst nicht helfen.“
„Ach nein, kann ich nicht? Das werden wir ja sehen.“
Wutentbrannt verließ er das Büro des Inspektors und ging auf schnellem Wege zu sich nach Hause. Das er eigentlich in der Schule sein sollte, war ihm egal. Ob er jetzt im Mathematikunterricht die Wahrscheinlichkeit ausrechnet, ob Jenny noch lebt oder nicht und dabei alle Hinweise berücksichtigt oder ob er lieber dafür sorgt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch lebt, bei 100 % ist, so schien ihm das doch wesentlich sinnvoller.
Ohne es gemerkt zu haben, war Jenny doch eingeschlafen. Sie wurde von einem metallischen Geräusch wach und richtete sich schnell und erschrocken auf. Die Tür zu ihrem Gefängnis öffnete sich und herein kam der Kerl, den sie nicht mehr sehen konnte.„Ich habe dir Tee gemacht. Ich hoffe, er wird dir schmecken.“Ohne weiteres verließ er den Raum wieder und schloss laut die Tür hinter sich. Langsam ließ er sich vor der Tür nieder und lehnte nachdenklich mit dem Rücken an ihr. Was tat er hier eigentlich? Sie sollte doch schon längst tot sein. Jede Minute mehr, die sie am Leben ist, könnte die entscheidende für die Polizei sein. Ja, er musste es jetzt ein für alle mal beenden. Er konnte nicht mehr warten. Doch er wollte es. Etwas faszinierte ihn an der kleinen. Mehr noch, als es damals der Fall war. Da hatte er keine Probleme, ihr einfach den Hals aufzuschneiden. Doch was war es diesmal? Er konnte es sich nicht erklären, er wollte es sich nicht erklären. Er musste handeln, bevor es zu spät war. Aber zuerst sollte sie ihren Tee trinken. Schließlich soll es ihr solange noch gut gehen.
Matt stieg in einen Bus, der in die Richtung fuhr, aus der das Mädchen aus dem Artikel stammte. Er wusste nicht genau, was er suchte. Aber umschauen schadete ja nicht. Auch wenn er sich ziemlich sicher war, nach so langer Zeit dort nichts mehr finden zu können. Im Stadtteil Dearlins stieg er aus und lief durch die Reihen alter, verlassener Häuser. Ob er hier richtig war? Vor ihm lag ein großer Spielplatz. Er war wohl das einzige, was hier noch einigermaßen Instand gehalten wurde. Nachdem er ein paar Minuten gelaufen war, kam er in eine wohl belebtere Gegend. Die Häuser sahen halbwegs passabel aus und schienen auch bewohnt zu sein. Matt wurde schnell klar, dass es ihm nichts brachte, hier herum zu laufen. Nach einigen weiteren Metern beschloss er, umzudrehen und sich nochmal Gedanken zu machen. Da sah er eine ältere Frau, die gerade mit ihrem Australian Shephard auf der anderen Straßenseite spazieren ging. Kurzerhand ging er zu ihr und sprach sie an. „Entschuldigen Sie, könnte ich Sie etwas fragen?“ Die Frau lächelte ihn an. „Aber natürlich, Junge. Was liegt dir auf dem Herzen?“ „Nun, ich habe gehört, dass hier vor einigen Jahren etwas schreckliches passiert ist. Wissen Sie vielleicht, wovon ich spreche? Vielleicht wohnen Sie ja auch noch nicht so lange hier.“
„Oh, ich wohne schon seit meiner Kindheit hier und glaube mir, das sind nicht gerade wenige Jahre.“ Die ältere Dame lachte schrill auf, beruhigte sich aber schnell wieder. „Ich denke, ich weiß wovon du sprichst. Nun ja, so viel schreckliches passiert hier nun mal nicht. Und da du gerade in der Gegend suchst... Vermute ich mal, es geht um das junge Mädchen von damals. Die arme, sie wurde tot gefunden...“ „Ja, genau“, Matt unterbrach sie erfreut. Er erhoffte sich einige Informationen von der Frau. „Wissen Sie vielleicht, wo sie gewohnt hat?“
„Natürlich. Aber wozu willst du das denn wissen?“ „Wir.. ähm...“ Jetzt musste er sich etwas gutes einfallen lassen. „Wir reden gerade in der Schule darüber. Also, wie man so etwas vielleicht vermeiden kann später... und da brauchen wir ein paar Beispiele und ich fand dies hier sehr interessant, da ja der Täter auch, so weit ich weiß, nicht gefasst wurde.“
Das Misstrauen aus dem Gesicht der Dame verflog sofort. „Das finde ich ja super. Das man da heute in der Schule redet. Bei uns früher hätte es so etwas nicht gegeben. Hach, wenn ich so an damals denke...“
„Ich möchte ja wirklich nicht unhöflich sein...“ Matt stammelte etwas. „Aber ich habe wirklich nicht zu viel Zeit. Könnten sie mir vielleicht sagen, wo sie gelebt hat? Vielleicht kann ich mit ihren Eltern darüber sprechen.“ „Oh, das wird nicht möglich sein. Tut mir leid Junge, aber ihre Eltern sind beide tot.“
Enttäuscht schaute Matt auf seine Füße. Aber die Dame sprach weiter. „Sie hatte aber einen Bruder. Etwas jünger, als sie es war. Der lebt noch.“
„Wissen Sie, wo ich den finden kann? Lebt er denn noch hier?“
„Nein, die ganze Familie ist sofort nach dem Unglück in einen anderen Stadtteil gezogen. Was ja auch verständlich ist. Das Unheil, was die Familie erlebt hat... Da fällt mir auch eine Geschichte von früher ein, als ich 20 war, da war mein Freund...“
Matt hörte ihr nicht zu. Er ordnete die neuen Informationen, doch es fehlte noch etwas. „Wie hieß die Familie denn?“ Völlig perplex, dass sie in ihrem Schwelgen in der Erinnerung gestört wurde, starrte die Frau Matt an. „Was? Oh, ähm... So genau weiß ich das nicht mehr. Ich glaube Havins.. Oder so etwas in der Art.“
„Okay, vielen lieben Dank. Sie haben mir sehr geholfen.“ Matt gab der Frau zum Abschied die Hand und lief in die andere Richtung weiter.
Der Inspektor fand sich erneut im Wohnzimmer der Familie Jones wieder. Er hatte lange über das nachgedacht, was Matt recherchiert hatte. Dumm war der Junge nicht, dass musste er ihm doch immer wieder lassen. Nachdem er sein Büro verlassen hatte, suchte er sich die Nummer des zuständigen Kommissars von damals heraus und verabredete sich gleich mit ihm. Und von diesem Treffen erzählte er nun der Familie, denn was dabei heraus kam, war nicht ganz unwichtig.
„Es gab vor 22 Jahren einen ähnlichen Fall. Ein 17-jähriges Mädchen wurde entführt und man hörte 2 Tage nichts von ihr. Bis man sie in einem See fand. Sie war tot.“
Mrs Jones stöhnte entsetzt auf. „Vermuten Sie etwa, dass mit Jenny etwas ähnliches passieren könnte oder sogar vielleicht schon passiert ist?“Mr Jones versuchte seine Frau zu beruhigen. „Ach Schatz, solche Psychopathen wird es nicht viele geben. Und den damals werden sie geschnappt haben.“
Doch als er Havill in die Augen blickte, wurde ihm schnell bewusst, dass dem nicht so war. „Soll das heißen...?“ Havill nickte. „Wir können nicht ausschließen, dass die beiden Taten zusammenhängen. Zumal der Mord damals auch in Downhills verübt wurde. Der zuständige Kollege von damals hat mir erzählt, dass der Täter keinerlei Spuren zurück ließ. Zumindest mit den Techniken von damals. Ich habe einige Beweise heute noch einmal prüfen lassen und dabei konnte eine DNA Spur sichergestellt werden. Es handelt sich um einen Mann, weiß. Dieser ist jedoch nicht vorbestraft, dass heißt, wir haben eigentlich wieder nichts.“ „Sie sind gekommen, um uns mitzuteilen, dass unsere Tochter vermutlich von einem Irren Killer gefangen gehalten wurde und jetzt tot irgendwo herum schwimmt?“ Mrs Jones kämpfte mit den Tränen.„Ihre Tochter wurde noch nicht gefunden. Streifen sind rund um die Uhr unterwegs und suchen sämtliche Gebiete ab. Wir können also, sollte es sich tatsächlich um den selben Mann handeln, davon ausgehen, dass ihre Tochter noch lebt.“
Im Raum wurde es kurz ruhig, bis Mr Jones die Tatsache auf den Tisch brachte. „Das sie lebt ist aber nur eine Frage der Zeit.“
Kapitel 14
Matt lief noch immer durch die Straßen und schaute sich um. Er war total ziellos, schließlich hatte die alte Dame ihm dann noch doch nicht gesagt gehabt, wo die Familie einst lebte. Aber es hätte ihm ja so oder so nichts gebracht, schließlich würde er niemanden mehr von der Familie dort antreffen. Vielleicht sollte er wieder zum Inspektor gehen. Vielleicht hatte er ja etwas herausgefunden. Matt war kaum einem Menschen hier begegnet. Vermutlich waren sie alle arbeiten. Oder die Häuser sind eben doch nicht bewohnt, er konnte es nicht einschätzen. Er nahm den nächsten Bus nach Hause und machte sich erneut an seinen Laptop, ehe er ins Büro gehen und mit dem Inspektor reden wollte. Für den machte Matt hier doch eh nichts sinnvolles.
Hoffnungsvoll gab er den von der Dame genannten Name in seiner Suchmaschine ein und wartete auf ein Ergebnis. Doch außer einem Zahnarzt im nächsten Ort fand er nichts, was auf ein Familienmitglied des Mädchens schließen lies. Enttäuscht schloss er den Laptop. Wahrscheinlich hätte es ihm doch eh nichts gebracht.
Den ganzen Tag sah er diese verschiedenen Gesichter. Alle schauten sie ihn an, verurteilten ihn gerade zu. Ihm war klar, dass es Schwachsinn ist. Niemand konnte auch nur ahnen, was er zu verbergen hatte. Aber dennoch kam ihm jeder Blick bedrohlich vor, mit jedem Moment wuchs sein Entschluss, die kleine zu töten. Es ging hier schließlich um sein Leben, er konnte es sich nicht leisten, aufzufliegen. Er hatte hier seinen Job, fiel nicht auf und lebte auch lieber in seinem kleinen Haus als hinter schwedischen Gardinen. Doch er mochte sie. Er mochte sie wirklich. Aber er wusste es, es wird keine Zukunft geben für sie. Auch wenn er wusste, dass auch sie ihn liebte. Schließlich hatte sie es ihm ja gesagt. Er schloss kurz die Augen und sah sie vor sich. Sie und ihren nackten Körper. Er begehrte sie. Sie und sonst niemanden. Nein, er konnte sie nicht töten. Nicht jetzt. Sein Verlangen wuchs. Er konnte es kaum noch aushalten, er wollte jetzt zu ihr und sich holen, was ihm doch schon die ganze Zeit zusteht. Seine Finger begannen zu kribbeln und er konnte sich nicht mehr auf seinen Job konzentrieren. Nein, er konnte nicht warten. Kurzerhand meldete er sich für den Rest des Tages krank und machte sich auf den Weg nach Hause. Wahrscheinlich konnte auch sie es kaum noch erwarten, ihn zu sehen.
Jenny vernahm ein Geräusch vor der Tür. Sie schauderte. 'Normalerweise war er länger weg', stellte sie fest. Sie wurde misstrauisch. Die große schwere Tür glitt auf. Unbewusst wich Jenny zurück. „Na na, was hast du denn?“ Er kam immer näher. „Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?“ Während er ihr bedrohlich immer näher kam zog er seine Jacke aus und warf sie zur Seite. Mit einem Schlag wurde Jenny bewusst, was nun passieren wird. Sie dachte angespannt nach. Was könnte sie jetzt nur tun. Sie musste ihn doch irgendwie hinhalten. Sie konnte das alles nicht mehr, sie hielt es nicht mehr aus. Doch ihr fiel nichts ein. Nichts würde ihn aufhalten. Trotzdem versuchte sie es mit der Liebesmasche. „Doch, natürlich. Ich habe dich total vermisst. Ich wollte mit dir reden...“ Der Mann hielt inne und schaute sie an. „So? Nun, dass muss jetzt erst mal warten.“ Er stand nun genau vor ihr und strich ihr mit seinen Händen die Strähnen aus dem Gesicht. „Du bist wunderschön, weißt du das?“ Das war zu viel. Jenny sprang auf, schlug seine Hand beiseite und schubste ihn von sich weg. „Fass mich nicht an!“ Überrascht schaute er sie an. Doch schon gleich folgte sein abartiges grinsen. „Gut, wenn du es so willst...“ Er drückte Jenny mit einer solchen Gewalt gegen die Wand, dass ihr ganzer Körper von einem stechenden Schmerz durchzogen wurde. Sie stöhnte auf. Ihr Körper war am Ende, sie hatte keine Kraft, um sich zu wehren. Und genau das nutzte er aus.
„Matt, komm herein.“Havill bat Matt auf den Stuhl ihm gegenüber, wo sie sich bereits heute morgen bei Zeiten Auge in Auge saßen. „Ich muss wirklich sagen, ich hab viel nachgedacht über das, was du gesagt hast. Und ich muss auch eingestehen, dass da tatsächlich etwas dran sein könnte.“
Matt schaute auf den Boden. „Ja mag sein. Aber was bringt uns das. Wir wissen trotzdem nicht, wer es war.“
„Ich hab beschlossen, dass ich nachher vor Ort noch einmal nachschauen gehe. Wenn du willst, kannst du mich begleiten.“ Matt hatte schon auf dem Weg hier her überlegt gehabt, ob er dem Inspektor von seinem kleinen Ausflug erzählen sollte. Doch jetzt hat er seine Entscheidung gefällt. „Ja gerne. Vielleicht können wir ja irgendetwas heraus finden.“
Sie hatte das Bewusstsein verloren. Als sie wach wurde, konnte sie zunächst nicht erahnen, wo sie sich befand. Doch nur einige Sekunden später tauchten die schrecklichen Bilder vor ihrem Auge auf. Der Mann, der Raum, die Matratze, diese Gewalt. Den einzigen Wunsch, den sie jetzt noch verspürte, war der Wunsch zu sterben. Es würde sie eh niemand hier finden. Bevor sie so weiter lebte, wollte sie doch lieber tot sein. Er sollte sie umbringen. Sie wünschte sich so sehr, dass er genau das tat, wenn er wieder herein kam. Sie wollte nicht mehr.
Kapitel 15
Havill und Matt fuhren durch die Straßen, die Matt nur schon zu bekannt vor kamen. Ganz bewusst steuerte der Inspektor den Wagen auf einen kleinen Parkplatz vor einem heruntergekommenen Haus und stieg aus. „Wieso parken wir genau hier?“ Matt blieb noch sitzen.„Weil wir herausfinden wollen, was damals passiert ist. Und hier hat das ganze angefangen.“„Woher wissen Sie das?“ Havill verdrehte die Augen. „Die kleine hat hier gelebt. Ich habe heute mit dem zuständigen Kommissar von damals gesprochen und der hat mir die Daten gegeben.“
„Heißt das, wir gehen jetzt da rein?“ „Nein, was soll uns das bringen? Die Polizei hat doch damals schon alles auf den Kopf gestellt. Ich kenne die Wege, die sie gelaufen ist. Auch von dem alten Kollegen. Ich glaube zwar nicht dran, aber vielleicht kommt uns ja auf dem Weg ein neuer Gedanke. Wir müssen auch davon ausgehen, das der Kerl hier in der nähe gelebt hat oder sogar noch lebt. Man kann ihre Wege nicht kennen, sie hat nie die normalen genutzt.“ Matt sah den Inspektor fragend an. „Was meinen Sie?“ Havill zeigte nach links. „Siehst du den Wald? Da führt ein toller Radweg durch, auf dem man auch laufen kann. Sie hat den Weg nie genutzt, sie ist querfeldein gelaufen. Und genau da ist sie verschwunden, man fand ihre Tasche unter einem Gebüsch.“ „Wo führt der Weg hin?“
Doch anstatt zu antworten ging der Inspektor voran und lies Matt keine andere Möglichkeit, als ihm hinterher zu kommen.
Kurz vor dem Waldstück blieb er abrupt stehen. „Hier sollte sie an dem Tag aus dem Wald kommen. Es war der einzige Tag in der Woche, an dem sie so spät aus der Schule kam. Aber hier kam sie nie an. Ihre Tasche wurde etwa noch 400 m von hier gefunden, irgendjemand hat sie abgefangen.“ Matt schaute sich um und auch der Inspektor konzentrierte sich auf das, was er sah. „Das erklärt zumindest die Vermutung, das der Kerl irgendwo hier lebt. Er muss ihren Weg gekannt haben.“ Plötzlich gab es einen Knall und beide schreckten zusammen. „Was war das denn bitte?“ Der Inspektor schaute in die Richtung, aus der der Knall kam. „Ach, nur der Typ da hinten. Hat seine Garage geschlossen.“ „Das geht doch auch ein bisschen vorsichtiger“, murmelte Matt und beobachtete verärgert den Typ, der ihn fast mit einem Herzinfarkt ins Krankenhaus befördert hätte. Auch der Inspektor blieb mit seinen Blicken an ihm hängen. „Hey, ich kenne den Typ. Den habe ich vorhin hier schon gesehen.“ Matt biss sich auf die Zunge. So viel zum Thema, er wird es ihm nicht sagen. Havill wirbelte herum. „Vorhin? Du warst schon hier?“ Matt blieb nun nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen und er erzählte ihm alles, was er hier getan hatte. „Und der Kerl kam mir dann entgegen. Ich mein, was war nichts besonderes. Aber er kam mir bekannt vor.“
Havill kniff seine Augen zusammen, um den Mann besser sehen zu können. „Ja, da hast du recht. Mir kommt er auch bekannt vor. Warte mal...“
Er ging einige Schritte in die Richtung, wo bis vor einer Sekunde noch der Mann stand. „Das ist der komische Kerl von vor zwei Tagen. Der hat an meinem Auto geschnüffelt und sich dann erkundigt, was die Polizei hier sucht. Er kam mir damals schon so bekannt vor.“„Was haben Sie hier getan?“ Havill fühlte sich irgendwie ertappt. „Ich... habe einen alten Freund besucht.“ Er war glücklich als er sah, dass sich Matt mit der Antwort zufrieden zu geben schien und sich weiter am Waldrand umsah. „Ich glaube, das hier bringt nichts. Wenn die Polizei schon damals alles abgesucht hat, wird hier nichts mehr zu finden sein und nach 22 Jahren verändert sich hier auch einiges.“
Da musste er dem Jungen recht geben. „Ist gut. Ich fahre dich nach Hause und werde noch einmal im Büro recherchieren.“ Etwas enttäuscht gingen die beiden den Weg zum Auto zurück. Zwischendurch schaute Havill noch einmal zu der alten Garage, die mit dieser Wucht geschlossen wurde. Doch noch bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, riss er sich zusammen und brachte den Jungen nach Hause.
Im Büro rief er seinen Kollegen und Freund Jeremy zu sich. „Ethan, was ist los?“ Havill stützte seinen Kopf mit den Händen und schaute Jeremy an. „Wir haben einfach gar nichts. Keine Spur. Niemand, der verdächtigt wird und keine neuen Beweise. Die Spurensicherung hat jetzt schon alles eine Million mal abgesucht. Nichts. Bis auf die Kette. Aber daran konnten wir ja nichts finden.“Jeremy sah seinen Freund verständnisvoll an. „Wolltest du dich heute nicht noch einmal wegen dem einen alten Fall umhören? Hat sich da nichts ergeben?“ „Nein“, Havill schüttelte den Kopf. „das Einzige, was ich von dort mitnehmen konnte, war ein Hörsturz.“ Er versuchte zu grinsen. „Manche Leute gehen einfach nicht sehr vorsichtig mit ihren Dingen um.“ Jeremy schaute ihn fragend an. „Etwas besonderes?“
„Nein nein. So ein Kerl hat seine Garage zugehauen, als ich gerade nach Spuren gesucht hatte. Es war der komische, von dem ich dir erzählt habe.“
Es schien einen Moment zu dauern, bis Jeremy wusste, von was sein Freund da sprach. „Der mit deinem Auto? Ist dir inzwischen eingefallen, von wo du ihn kennst?“
„Ja, er arbeitet im Einkaufcenter an der Kasse.“ Jeremy war erstaunt. „Und solche Gesichter merkst du dir? Das ist ja Wahnsinn.“
Die beiden lachten und wechselten das Thema. Es hatte ja doch kein Sinn, über das zu reden, was sich niemand erklären konnte. Da waren die Baseballergebnisse doch schon etwas besser zu durchschauen.
Jeremy war gegangen, er hatte selbst noch einiges zu tun. Für Havill kam somit wieder die Zeit des Nachdenkens. Er fiel in seine Kindheit zurück, sah seine Familie um sich und atmete die saubere Luft ein. Oft hatte er sich einfach nur in den Garten gelegt, um sein Leben zu genießen, die Vögel zu hören und nicht an die Zukunft zu denken. Das war damals alles, was er wollte. Er war eben ein kleiner Junge. Havill lächelte mit geschlossenen Augen und gab sich der Erinnerung weiter hin. Dass genau diese Erinnerung der Schlüssel zu allem war, konnte Havill in diesem Moment nicht wissen.
Kapitel 16
„Liebling, warst du denn heute nicht in der Schule?“ Mrs Kinsley sah ihren Sohn besorgt an, als dieser das Haus betrat. „Findest du nicht, du solltest etwas sinnvolleres tun?“ Aufgebracht drücke sich Matt an seiner Mutter vorbei und eilte in sein Zimmer. „Du hast ja absolut keine Ahnung!“, rief er ihr vom Treppenansatz noch zu.Dort legte er sich auf sein Bett und dachte, wie immer, über alles nach. Doch was brachte es ihm? Er kam nicht weiter. Er konnte nur hier liegen und hoffen, dass sie noch lebt.
Gedankenverloren zog er sich seinen Laptop auf den Schoss und öffnete einen Videochat mit Steve, um ihm alles zu berichten, was er heute erlebt hatte. Beiläufig erkundigte er sich auch über die Schule und den Stoff, den sie gerade durchnahmen. Zwar interessierte es ihn nicht sonderlich, aber es gab ihm zumindest das Gefühl, noch halbwegs anwesend zu sein.
„Was soll ich dem Lehrer sagen, wo du bist? Er hat mich heute bestimmt drei mal gefragt, wo du steckst.“Matt dachte kurz nach. „Sag ihm, ich bin krank. Mehr hat ihn nicht zu interessieren.“ Nach kurzem überlegen nickte Steve. „Und wann kommst du wieder?“
Darauf hatte Matt selbst keine Antwort. Er wusste nur eins: nicht, bevor er sein Mädchen wieder in seinen Armen halten konnte.
Havill schreckte hoch. Sofort griff er nach dem Hörer auf seinem Tisch und wählte eine Nummer. Kurz darauf begann er zu sprechen.„Ich brauche eine Streife zum Einkaufcenter. Sofort.“ Mit diesen Worten legte er auf, griff nach seinem Mantel, der ruhig an seiner Sessellehne hing und stürmte aus dem Raum.
Im Flur rempelte er Jeremy an, hatte aber keine Zeit, dem verdutzt dreinschauenden Kommissar aufzuklären.
Er startete den Motor des Autos und lies die Reifen beim Anfahren bedrohlich quietschen. Während seiner riskanten Fahrweise nahm er sein Handy zur Hand und drückte die Kurzwahltaste für seine Frau. In Windeseile berichtete er ihr von seinem Vorhaben und erklärte ihr, dass er es wohl nicht rechtzeitig zum Abendessen schaffen würde. Sie hatten schon oft Streit deswegen, doch jetzt war für ihn nicht der Richtige Zeitpunkt sich über solche Kleinigkeiten Gedanken zu machen.
Vor dem Einkaufcenter konnte er schon die von ihm herbestellte Streife sehen. Die Kollegen schienen auf ihn zu warten. Gekonnt parkte der Inspektor den Wagen neben der Streife und stieg schwungvoll aus dem Auto. „Ich weiß nicht, wen genau wir suchen. Ich kenne seinen Namen nicht. Alles was ich kenne, ist sein Gesicht. Sobald ich ihn sehe, werde ich euch ein Zeichen geben. Dann nehmt ihr in fest.“
Ohne weitere Worte betrat Havill die riesige Eingangshalle und steuerte direkt auf den Supermarkt auf der rechten Seite zu. Die Schiebetüren öffneten sich schnell und geräuschlos, von Innen kam eine angenehme, kühle Luft heraus. Von seinen Kollegen gefolgt, schritt der zielsicher durch die Regale, blickte nach links, dann nach rechts, beobachtete alles und jeden. An der Kasse blieb er stehen und prüfte die Gesichter der sich dort aufhaltenden Personen. Nichts.
„Ihr wartet hier, ich versuche hier jemanden zu finden, der mir helfen kann.“
Havill stellte sich an Kasse Nummer 4 an und wartete, bis sich die Kassiererin voll und ganz auf ihn konzentrierte. „Ja?“ „Inspektor Havill, guten Tag. Ich suche hier jemand verantwortlichen. Kann ich Ihren Chef vielleicht sprechen?“ Verwirrt schaute die junge blonde Frau ihn mit ihren großen grünen Augen an. „Einen Moment.“
Vorsichtig wählte sie eine kurze Nummer in ihrem Diensthandy und es dauerte nur einige Sekunden, bis sie zu sprechen begann. Die Frau redete zu leise, als dass Havill irgendetwas hätte verstehen können. Dann legte sie auf. „Warten Sie bitte kurz hier, mein Chef wird gleich da sein.“„Ist gut.“ Havill nickte und machte für die anderen Kunden ein wenig Platz. Kurz darauf erschien ein seriös wirkender Geschäftsmann an der Kasse. „Guten Tag. Sind Sie der Inspektor?“ „Ja, der bin ich.“ Aus Gewohnheit und bevor er gefragt werden konnte, zog er seinen Ausweis hervor und hielt es dem Mann unter die Nase. Ich müsste kurz mit Ihnen reden.“ Kritisch wurde er von dem Mann beäugt. „Um was geht es?“
„Um einen Ihrer Angestellten.“
Er hatte keine andere Möglichkeit. Es war ihm schon lange bewusst, doch jetzt war es vorbei. Es musste nur ein kleiner Fehler sein, den er machte und sofort wäre alles aufgeflogen. Nein, dass konnte er sich nicht leisten. Die Liebe war groß, doch der Hass noch stärker. Manchmal wusste er doch selbst nicht, was er fühlte. Die Gefühle, sie kamen einfach so. Irgendwann und ganz plötzlich. Er konnte nichts dagegen tun. Behutsam legte er die schwarze Mülltüte, die er heute Mittag aus der Garage holte, vor sich auf den Tisch. Dann ging er hinüber zu seinem Schrank, öffnete die Schublade und zog das Messer aus ihr heraus. Er würde sie nicht sofort töten, nein. Das Leiden musste er sich ansehen. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Das war es dann wohl“, flüsterte er sich selbst zu und ging mit dem Messer zu ihr. „Nun ist es endgültig vorbei.“
Vorsichtig öffnete er die schwere Tür und beobachtete sie, wie sie sich erschrocken nach hinten bewegte. Er genoss diesen Anblick immer wieder aufs Neue.
„Na süße, ein bisschen abgeregt? Ich hab da etwas tolles für dich.“ Noch verbarg er das Messer mit der glänzenden scharfen Klinge hinter seinem Rücken. „Willst du sie sehen?“
Jenny schüttelte schnell den Kopf. Sie wollte gar nicht wissen, was er für sie hat. Es war nicht schwer, zu erahnen, was er in den Händen hält. Es war doch nur eine Frage der Zeit gewesen. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Zwar wollte sie bis gerade sterben und wahrscheinlich würde sie das immer noch wollen.Doch wenn es dann mal so weit ist, ist die Situation wieder etwas ganz anderes. Wieder lief ihr Leben wie ein Film vor ihr ab. Ihre Familie, ihre Freunde, Matt. Alles, was sie so sehr liebte, würde jetzt ohne sie auskommen müssen. Das Einzige, was sie nun noch hoffte, war, dass er es schnell machen würde. Schnell und schmerzlos.
Doch da kannte sie ihn schlecht.
Die Kollegen von der Streife standen noch immer neben dem Büro des Geschäftsführers, als Havill mit schnellen Schritten dieses verließ. „Wir müssen nach Dearlins. Sofort. Und fordert noch Verstärkung an.“
Die Beamten machten sich schnell auf den Weg zu ihren Autos und fuhren mit Sirene los in Richtung Dearlins. Havill hatte dem Geschäftsführer des Supermarktes gesagt, um was es geht. Er war alles andere als erfreut, als er hörte, dass einer seiner Angestellten ein Mädchen ermordet und ein weiteres noch in seiner Gewalt haben soll. Doch ehe der Name des Mannes gefunden wurde, dauerte es. Denn auf Havills Beschreibung des Mannes passte, wie er sich selbst auch eingestehen musste, auf so ziemlich alle Mitarbeiter des Supermarktes. Eigentlich auf fast 40 % der männlichen Bevölkerung. Schließlich konnte er sich nicht mehr so recht erinnern. Doch er hatte einen Trumpf. Er fragte nach der Adresse sämtlicher Mitarbeiter und dann blieben plötzlich nur noch zwei, die in Frage kamen. Gerade wollte Havill gehen und beide überprüfen, als der Geschäftsführer noch einen Einwand hatte. „Moment. Da ist noch was. Der hier, Thomas Blane, hat sich heute krank gemeldet. Er kam zwar zu seiner Schicht, beendete sie aber nach ein paar Stunden. Er meinte, ihm sei übel und er könnte nicht arbeiten. Ich fand es ungewöhnlich für ihn, denn in all den Jahren, die er nun schon hier arbeitet, kam etwas ähnliches vor. Eigentlich war er nie krank, wenn ich recht überlege.“ Das genügte dem Inspektor. Er hatte das Schwein. Hoffentlich war er noch nicht zu spät.
Kapitel 17
Er saß nun genau vor ihr, streichelte ihr mit der einen Hand über das Gesicht, während der die andere weiterhin hinter seinem Rücken versteckt hielt. Er wollte doch die Überraschung nicht verderben.„Wirklich schade. Ich mochte dich. Aber leider kann ich es nicht ändern.“ Die Kleine zitterte, er spürte es. Doch es gefiel ihm. Es gab ihm ein Gefühl der Befriedigung.
In einem kurzen Moment, als er merkte, dass sie nichts mitbekam, lies er die Hand mit der Waffe hinter sie gleiten. Noch berührte die Klinge nicht ihre Haut. Trotzdem bemerkte sie die zweite Hand und schaute hin erschrocken an. Die Angst in ihren Augen. Es war einfach zu schön. Langsam drehte er das Messer in seiner Hand, führte es an den nackten Rücken des Mädchens. Eine Träne kullerte ihr über die Wange. Er lachte laut auf. „Ich hoffe, es wird dir genauso gefallen wie mir.“
Seine Augen funkelten, er setzte das Messer selbstsicher an.
Sie spürte einen kurzen, brennenden Schmerz und nahm etwas warmes wahr. Etwas warmes rann ihr den Rücken herunter. Ihr liefen die Tränen über das Gesicht und sie wimmerte leise vor sich hin. Sie wollte nicht schreien, wollte ihm nicht das geben, wonach er sich doch so sehr zu sehnen schien. Doch im nächsten Moment blieb ihr nichts übrig. Er lies die Klinge über ihren Arm gleiten, schnitt tief in ihr Fleisch. Noch nie hatte sie einen solchen Schmerz verspürt. Kurz darauf war ihr Körper geprägt von Schnitten, überall spürte sie den Schmerz und das Blut. Kraftlos brach sie zusammen, vor ihren Augen verschwamm alles und wurde dunkel. Er holte erneut aus, zielte auf ihren Hals. Das war alles, was sie noch vernahm, ehe sie bewusstlos liegen blieb.
Die Sirenen schreckten ihn auf. Natürlich könnte er Glück haben und es ging nicht um ihn. Wieso auch, wer hätte schon auf ihn kommen können? Das war total absurd. Trotzdem lies er von ihr ab und trat aus dem Raum heraus. Am Fenster blieb er stehen und sah die Straße entlang. Nirgends war ein Auto zu sehen, doch der Alarm kam immer näher.
Nein, zu mir wollen die nicht. Er versuchte, sich selbst zu beruhigen. Es gab doch gar keinen Grund zur Unruhe. Trotzdem blickte er nervös an sich herab. An seinem T-Shirt und seinen Händen klebte Blut, er sollte es sich vielleicht doch sicherheitshalber abwaschen. Schnell ging er ins Bad, zog sich aus und wusch sich das Blut von den Händen und Armen. Die Sirenen schienen nun direkt vor seinem Haus zu sein – und tatsächlich, es klingelte an der Tür.
Thomas Blane. Ja, hier musste es sein. Havill ging, nachdem er die Klingel betätigt hatte, einige Schritte von der Tür weg und hielt seine Waffe im Gürtel bereit. Zwei Streifenwagen gaben ihm von der Seite Schutz. Es dauerte einige Augenblicke und Havill war kurz davor, erneut zu klingeln, als die Tür schließlich doch geöffnet wurde. „Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?“
Havill starte den Mann an, der da so halbnackt und nur mit einem Handtuch bekleidet, vor ihm stand.
„Inspektor Havill. Mr Blane, ich habe da einige Fragen an Sie. Komme ich...“,er zeigte auf das Handtuch. „etwa ungelegen?“ Der Mann zuckte zunächst kaum merklich zusammen, lächelte dann jedoch. „Aber nein, kommen Sie nur herein. Ich war gerade fertig mit dem Duschen.“
Er lies Havill eintreten und bat ihn im Wohnzimmer, sich doch zu setzen. „Nun, um was geht es denn?“ Havill blieb stehen und sah sich in dem großen Raum um. „Ein Mädchen wurde vor einigen Tagen entführt.“Mr Blane schaute ihn schockiert an. „Das ist ja schrecklich. Aber wie kann ich Ihnen da weiterhelfen?“
Das ist eine gute Frage, gestand sich der Inspektor ein. Es gab keinerlei Beweise gegen ihn. Er hoffte, hier in der Wohnung etwas zu finden. Mit dem Mann stimmte etwas nicht. Da war er sich sicher. Er räusperte sich. „Wir befragen nur einige Leute. Haben Sie vielleicht etwas ungewöhnliches bemerkt? Oder haben Sie das Mädchen vielleicht sogar gesehen?“ Mit dieser Frage zog Havill ein zusammengefaltetes Bild aus der Hosentasche und legte es vor dem ernst dreinschauenden Mann auf den Tisch. Langsam schüttelte dieser jedoch mit dem Kopf. „Nein, tut mir leid.“
Er versuchte ruhig zu atmen, als der Inspektor ihm das Bild der Kleinen zeigte. So unschuldig, so hübsch. Und doch wird es zu spät sein. Zu unauffällig verhielt er sich, nichts deutete hier auf ein Verbrechen hin. Trotzdem interessierte es ihn, wie er gerade auf ihn kam. „Kann ich denn noch etwas für Sie tun?“ Mit kritischem Blick beobachtete er den Inspektor, der da in seinem Wohnzimmer umher ging. Dabei blieb sein Blick auf einem kleinen Armband hängen, dass er auf seiner Kommode liegen hatte. Auch der Inspektor hatte es gerade bemerkt und ging auf das Armband zu. Sein Herz begann zu rasen, doch er beruhigte sich schnell wieder. Woher sollte er wissen, wem dieses Armband gehört? Er hatte es schon einige Jahre hier liegen. Zu seinem Glück wendete sich der Inspektor schnell wieder ab und drehte sich zu ihm um. „Nein, danke. Entschuldigen Sie bitte die Störung und einen schönen Abend noch. Ich finde selbst heraus.“
Er schaute dem Inspektor noch hinterher und lies sich zufrieden nach hinten fallen, als er die Tür ins Schloss fallen hörte. Immer wieder überlegte er, ob er etwas übersehen hatte. Vielleicht gab es ja irgendeine Spur, die den Mann zu ihn führte. Er lies die letzten Minuten Revue passieren. Nach einigen Sekunden schreckte er hoch. Was hatte dieser Mann gesagt, wie er heißt? Havill? Konnte es tatsächlich dieser Havill sein? Der, den er noch als kleinen Jungen von neben an kannte? Sollte es ihn wirklich zur Polizei verschlagen haben? Und außerdem... Ihm wurde schlagartig schlecht. Wieder schaute er zu dem bunten Armband hinüber. Schnell wurde es ihm klar – er muss verschwinden. Das Mädchen musste er zurücklassen. Unvollendet. Es machte ihn traurig, doch ihm blieb nun nichts anderes mehr übrig. Er hatte sich zu viel Zeit mit ihr gelassen, das wurde ihm in diesem Moment auf bittere Art und Weise klar.
Zum Glück hatte er für diesen Fall einen kleinen Koffer gepackt bereit stehen. Schon seit 22 Jahren wartete dieser darauf, im Notfall gebraucht zu werden. Er eilte zum Fenster und beobachtete den Inspektor, wie er sich mit seinen Kollegen unterhielt. Es war die perfekte Möglichkeit, über den Garten abzuhauen. Sein Auto musste er wohl oder übel zurück lassen, er brauchte jede Sekunde der Unaufmerksamkeit. Er zog sich schnell ein frisches T-Shirt und eine lange, schwarze Hose an und schlich hinüber zum Gartenausgang. Mit schnellen und leisen Schritten lies er sein Haus hinter sich. Sein Haus und sein Opfer. Vielleicht stirbt sie ja noch. Wenn er sie genug verletzt hat, dann würde sie schon tot sein noch bevor man sie finden konnte. Doch wollte er es überhaupt? Unsicherheit machte sich in ihm breit, aber er konnte jetzt nicht stehen bleiben. Er musste weiter, irgendwo hin, wo man ihn nicht vermuten konnte.
„Also gut, Kollegen. Wir haben leider nichts gegen ihn in der Hand, das heißt wir können abziehen.“ Einer der Beamten räusperte sich. „Sir, wie kommen Sie überhaupt auf diesen Mann? Er ist nicht vorbestraft und es gab keinerlei Hinweise auf ihn als Täter.“
„Das mag sein“, begann Havill. „Aber trotzdem stimmt was nicht mit ihm. Nennen Sie es Eingebung oder sonst irgendwie. Das müssen Sie nicht verstehen.“
Die Beamten stiegen alle nacheinander in ihre Wägen und fuhren, diesmal ohne Sirene, zur Zentrale zurück.
Havill zog sein Handy heraus und wollte gerade die Nummer seiner Frau wählen, als irgendetwas ihm Kopfzerbrechen bereitete. Etwas war in dem Haus. Er lies sich auf den Fahrersitz fallen und starrte das Haus vor ihm an. Was war es nur? Gedanklich ging er das Zimmer noch einmal durch, in dem er sich gerade noch befand. Doch er kam nicht drauf. Seufzend blickte er auf seine Uhr – und da fiel es ihm ein. Das Armband! Er kannte das Armband, er wusste, wem es gehörte. Und der Besitzer war garantiert nicht dieser Kerl. Es gehörte einem Mädchen. Jetzt nahm er wieder sein Handy und wählte eine Nummer – die von der Zentrale. Er bat erneut um Unterstützung und forderte auch noch zusätzlich einen Krankenwagen an. Schließlich wusste er nicht, was ihn drinnen erwartete.
Mit gezogener Waffe ging er erneut zur Tür und betätigte dreimal hintereinander die Klingel. Keine Reaktion. Er nahm seine ganze Kraft zusammen und schmiss sich gegen die Tür, die bei seinem Gewicht krachend nachgab. „Blane? Kommen Sie raus!“ Er hätte draußen auf die Verstärkung warten sollen, dass war ihm klar. Doch er wollte keine Zeit verlieren, er hoffte darauf, das Mädchen lebend zu finden.
Vorsichtig schaute er um jede Ecke, achtete auf jedes Geräusch. Doch die Wohnung war wie ausgestorben. Im Wohnzimmer bemerkte er die offenstehende Tür, die zum Garten zu führen schien. „Verdammt!“, rief er aus und eilte zur Tür. Auf dem Grundstück war niemand mehr zu sehen. „Jenny? Jenny, bist du hier irgendwo?“ Er lief rufend durch die Wohnung. Aber es kam keine Reaktion. War er vielleicht doch schon zu spät? Neben der Küche bemerkte er eine unheimliche große Tür. Sie passte einfach nicht hier in diese Wohnung, das Eisen passte nicht zu dem Eichenholz der restlichen in der Wohnung. Die Tür lies sich jedoch nicht öffnen. „Jenny? Bist du hier drin?“ Er klopfte laut gegen die Tür, vernahm aber keine Geräusche auf der anderen Seite. Nervös drückte er sich gegen die Tür, doch sie war zu schwer, um nachzugeben. Eilig sah er sich in dem Zimmer nach einem Schlüssel um, doch er konnte nichts finden. Da hörte er schon die Sirenen näher kommen. Die Kollegen waren da. Schnell lief er hinaus und winkte sie aufgebracht zu sich. „Hat einer von Ihnen ein Dietrich Set dabei?“ Fragend schauten die beiden Kollegen ihn an. „Ich habe keines“, antwortete der eine. Der andere stutze noch. „Was ist mit Ihnen?“, fuhr Havill ihn an. „Haben Sie eines dabei?“
„Ich... Ich bin mir nicht ganz sicher. Vielleicht hinten im -“ „Herr Gott noch mal, gehen Sie schon nachschauen!“ Der noch recht junge Beamte fuhr zusammen und rannte nach hinten zum Kofferraum, um in seiner Ausrüstungstasche nachzuschauen. Nach wenigen Sekunden kam er zurück. „Hier ist es.“ Er überreichte es Havill, welcher zurück in das Haus sprintete und sich vor der großen Tür niederkniete. Mit geschickten Kniffen öffnete er die Tür innerhalb weniger Minuten. Doch der Anblick, welcher sich ihm im Inneren des Raumes bot, verschlug ihm den Atem. Die beiden Kollegen starrten fassungslos an ihm vorbei, der jüngere von beiden schlug sich die Hand vor den Mund. „Oh... mein... Gott...“
Kapitel 18
Matt lag noch immer nachdenklich in seinem Bett, als seine Mutter in sein Zimmer trat. In ihrer Hand hielt sie das Telefon. „Es ist für dich. Ein Inspektor Havill.“
Sie reichte ihm das Telefon und hörte zu, was Matt sprach. „Ja? … Was? ... Ja, natürlich, ich bin sofort da. … Wie meinen Sie das? … Ja, ist gut.“ Schnell reichte er seiner Mutter das Telefon zurück. „Jenny ist im Krankenhaus, sie konnten sie rechtzeitig finden.“ Glücklich schmiss er sich in die Arme seiner Mutter, bevor er sich eine Jacke überzog und die Treppen zur Haustür hinunter lief. Mit dem nächsten Bus dauerte es nur noch weitere 20 Minuten, bis er endlich vor dem Krankenhaus ankam, zu dem ihn der Inspektor bestellt hatte. Dieser erwartete ihn bereits vor dem Klinikeingang. „Was ist denn passiert?“ Matt kam atemlos vor dem Inspektor zum stehen. „Wo war sie denn? Haben Sie den Kerl festgenommen? Kann ich zu ihr?“ Havill legte seine Hand auf Matts Schultern, um ihn zu beruhigen. „Matt. Das sind alles Dinge, die wir später besprechen können. Jetzt ist es wichtig, dass es Jenny sehr schnell wieder besser geht. Es sieht nicht gerade gut aus...“ „Ja das sagten Sie bereits am Telefon. Was hat sie denn?“
Havill atmete tief ein. „Sie... wurde schwer missbraucht. Ihr Körper ist übersät von Messerschnitten und sie ist nicht bei Bewusstsein.“ Die Farbe aus Matts Gesicht verwand restlos. Er war so froh, dass sie lebte. Doch was mit ihr passiert war, konnte er einfach nicht glauben. „Kann ich denn zu ihr?“ Erwartungsvoll sah er den Inspektor an. „Ja“, dieser nickte. „Ihre Eltern sind auch schon da. Ich zeige dir, wo du hin musst.“ Zusammen gingen sie durch die Korridore des Krankenhauses, bis Havill auf eine der Türen links von ihnen zeigte. Matt öffnete behutsam die Tür und trat ein. Der Inspektor folgte ihm. Jennys Eltern saßen neben ihr auf dem Bett, ihre Mutter tätschelte ihre Hand. Als sie den Inspektor sah, lies sie ihre Tochter los und deutete dem Inspektor, kurz mit ihr vor die Tür zu gehen. Matt nahm ihren Platz neben seiner Freundin ein und strich ihr über ihr Gesicht.
„Ich muss Ihnen wirklich danken,“ begann Mrs Jones, als sie die Zimmertür hinter sich geschlossen hatte. „Sie hätte jetzt tot sein können. Nur wegen Ihnen hat sie die ganze Geschichte überstanden.“ Havill freute sich zwar über diese Worte, doch trotzdem wusste er genauso gut wie die Familie, dass es noch lange nicht überstanden war. Dass Jenny noch lebte, ja das war einfach nur Glück gewesen. Doch ihr zustand war nicht gerade super. Der behandelnde Arzt machte sich große Sorgen um ihren Gesundheitszustand. Er wusste nicht einmal, ob Jenny die kommende Nacht überleben würde. Aber an all das wollte hier niemand denken.
„Ich lasse Sie jetzt besser alleine.“ Der Inspektor gab Mrs Jones die Hand. „Machen Sie es gut. Und … ich wünsche Ihnen wirklich das beste.“ Mit diesen Worten schritt Havill davon. „Danke...“, flüsterte Mrs Jones noch einmal hinter ihm her. Doch er war bereits zu weit weg, als das er noch etwas hören konnte.
Sie merkte, dass etwas mit ihr nicht stimme. Doch sie konnte es nicht definieren. Vor sich sah sie wilde und verschwommene Bilder, in weiter Ferne konnte sie gleichmäßige Töne hören. Sie kannte diese Töne, aber woher, dass wusste sie nicht. Es kam ihr vor, als würden sich die Bilder immer schneller bewegen. Immer schneller, immer verschwommener. Gerade waren die Bilder noch bunt, zu bunt. Doch nun verloren sie an Farbe. Allmählich konnte Jenny nur noch graue Schattierungen sehen. Grau. Dann schwarz. Das Geräusch in der Ferne verschwand, alles wurde schwarz. Plötzlich spürte sie nichts mehr.
Matt schreckte hoch. Der lange unaufhörliche Piepston hatte ihn geweckt. Besorgt schaute er auf die Anzeigen der Monitore – und schnappte entsetzt nach Luft. Schon flog die Zimmertür auf und mehrere Krankenschwestern stürmten herein. Eine von ihnen schickte Matt hinaus. Er wusste nicht, wie ihm geschieht. Draußen auf dem Gang begann er zu realisieren. 'Sie stirbt da drin gerade', ging es ihm jede Sekunde durch den Kopf, während er den langen Gang auf und ab ging und sich dabei durch seine schwarzen Haare fuhr.Nach einigen Minuten, Matt kamen sie vor wie Stunden, trat eine der Schwestern aus dem Zimmer in den Flur und sah sich nach ihm um. Matt rannte zu ihr. „Wie geht es ihr? Hat sie es geschafft?“ Die Schwester sah ihn traurig an. „Es ist kritisch. Wir mussten sie ins Koma legen, sonst hätte sie keine Chance gehabt.“
Matt schossen viele Geschichten in den Kopf, die er über Komapatienten gehört hatte. Die meisten gingen nicht gut aus. „Wird sie denn wieder aufwachen?“ „Ich muss nun erst mal ihre Eltern benachrichtigen. Ich hoffe, du kannst das verstehen.“
„Nein, warten Sie. Was ist mit meiner Frage? Wird sie wieder aufwachen?“ Er wiederholte seine Frage mit mehr Nachdruck, doch die Schwester ging zielstrebig in das Schwesternzimmer am anderen Ende des Ganges und griff nach dem Telefon. Matt hingegen lies sich auf einen der weißen Stühle nahe eines Fensters fallen und blickte hinaus in die Nacht. Sie hatten sie doch gerade erst gerettet. Es konnte nicht einfach vorbei sein. Nicht jetzt und nicht so!
Auch der Inspektor wurde informiert. Für Notfälle hatte er immer sein Mobiltelefon mit am Bett liegen, sehr zum Leidwesen seiner Frau. Verschlafen nahm er das kleine kreischende Gerät in seine Hand und nahm den Anruf entgegen. Plötzlich spring er aufgeregt aus dem Bett. „Was ist denn los?“ Seine Frau schaute ihn verwundert an. „Ist was passiert?“
Havill sprang in seine Hose, die über dem Bettende lag. „Die Kleine ist ins Koma gefallen. Man weiß nicht, ob sie wieder aufwachen wird.“
Seine Frau seufzte. „Aber du musst doch da jetzt nicht hin. Es reicht doch, wenn du morgen vorbei schaust. Schatz, versteh doch bitte, es ist nicht deine Familie, es geht dich nichts -“ Doch weiter kam sie nicht, ihr Mann unterbrach sie forsch. „Es geht mich nichts an?“, erregt sprach er den Satz weiter. „Mag sein, dass es nicht meine Familie ist. Aber es ist einer meiner wichtigsten Fälle. Ich möchte nicht, dass die Familie so leiden muss.“
Mit diesen Worten verließ er das Schlafzimmer und ließ wenig später die Haustür ins Schloss fallen. Seine Frau blieb noch immer verwundert zurück. Sie verstand einfach nicht, was an dem Fall so viel anders war, als an den anderen. Schon oft sind Mädchen gestorben. Ermordet von Verrückten. Doch bei keinem sah sie ihren Mann so aufgelöst, wie in diesem.
Im Krankenhaus herrschte bereits viel Chaos. Die Familie stand bei dem behandelnden Arzt und sprach aufgebracht mit ihm. Matt hielt sich etwas abseits und starrte noch immer in die Nacht hinaus. Havill ging zu ihm und legte ihm seine Hand auf die Schulter. „Es wird schon alles gut werden“, versuchte er ihn zu ermutigen. Doch Matt schien das nicht zu interessieren. Sein Blick galt weiterhin der Nacht. Einige Momente später jedoch drehte er sich zu dem Inspektor um. „Sie war doch gerade erst wieder da. Sie kann doch nicht wieder -“ Seine Stimme versagte ihm. Traurig wand er sich wieder ab und schaute hinaus. Havill konnte sein Gesicht im Fenster beobachten. Er sah die Träne, die ihm das Gesicht hinunter lief.
„Die Welt ist leider ungerecht. Aber du darfst die Hoffnung niemals aufgeben, hörst du? Sie ist hier in den besten Händen.“ Havill ließ Matt allein und ging hinüber zu dem Arzt, der gerade fertig mit den Eltern gesprochen hatte. „Kann ich Sie kurz sprechen?“ Dr. Karens sah ihn verwundert an. „Was machen Sie denn hier?“ „Ich wurde über den Zustand des Mädchens per Telefon informiert.“ Der Doktor nickte. „Ja, das weiß ich. Aber dass Sie sich sofort Zeit dafür nehmen, damit hätte ich nun wirklich nicht gerechnet.“ Havill lächelte schwach. „Nun, man sieht wohl immer etwas neues, nicht wahr.“
Die zwei Männer entfernten sich etwas vom Rest und sprachen über Jenny.
„Was ist denn genau passiert?“
„Das wissen wir so genau noch nicht. Ihr Herz hörte auf zu schlagen, die Geräte haben zum Glück schnell angeschlagen. Das ihr Zustand kritisch ist, hatte ich Ihnen ja bereits gestern mitgeteilt.“
Resigniert nickte Havill. „Das haben Sie. Und trotzdem wünscht man sich, dass der Arzt mal unrecht hat.“ Der Doktor lächelte. „Glauben Sie mir. Ich hoffe oft, dass ich unrecht habe. Und ich weiß nicht, ob ich mit gutem Gefühl sagen kann, dass ich es nicht hatte, oder ob ich mich dafür schämen sollte, eine solche Aussage im Hinblick auf das Ableben mancher Personen getätigt zu haben.“
Havill hatte schon immer Respekt vor dem Berufsbild des Arztes. Er selbst hatte es sich damals überlegt, seine Karriere in diese Richtung zu lenken. Doch ihm wurde von einigen abgeraten, gerade weil Ärzte viel arbeiteten. Viel zu viel. „Arbeiten Sie eigentlich viel?“ Die Frage des Inspektors brachte den Arzt etwas raus. „Wie meinen Sie das?“ „Na ja, ich glaube kaum, dass Sie seit unserer letzten Begegnung vor...“ Havill blickte kurz auf seine Uhr. „...vor etwa 8 Stunden zu Hause waren. Und wie ein Feierabend Kandidat kommen Sie mir auch nicht vor.“
Der Arzt lachte kurz auf. „Da haben Sie wohl recht. Vor 7 Uhr werde ich hier auch nicht raus kommen. Aber ich tu das gerne. Meine Frau sieht das zwar anders, aber nun ja. So ist das eben. Warum fragen Sie mich das?“ „Ach, einfach nur so“ bemerkte Havill lächelnd und bedankte sich bei dem Arzt, der zu seinem nächsten Patienten weiter lief.
Havill schaute sich auf dem Gang um und sah, wie Mr Jones seiner Frau ein Taschentuch reichte, da diese aufgelöst vor der Tür zu ihrer Tochter lehnte.
Leider konnte er nicht viel für die Familie tun. Jetzt hieß es warten und hoffen, dass Jenny bald wieder auf dem Koma aufwachen wird. Und natürlich, dass sie keine bleibenden Schäden davon trug. Schon morgen, das schwor sich Havill, würde er sich wieder auf die Suche nach dem Kerl machen. Er wird es bereuen, dass er das Mädchen angefasst hat. Und das er das andere getötet hatte.
Es waren seit dieser Nacht einige Tage vergangen. Jennys Krankenzimmer war stets gefüllt von Menschen. Ihre Mitschüler und Familie ließen sie nie alleine. Vor allem Matt saß an ihrem Bett und sprach immer wieder mit ihr. Er wusste nicht, ob sie ihn hören würde. Doch er hatte gehört, dass es Komapatienten immer mitbekommen, wenn man zu ihnen sprach. Vielleicht würde Jenny ihn auch hören. Havill hatte einige Ermittlungen angestellt, kam aber zu keinem Ergebnis. Andere, aktuelle Fälle wollten bearbeitet werden, so dass sein Vorgesetzter ihm kaum eine Gelegenheit gab, weiter zu kommen. Trotz der anderen Fälle, anderen Menschen hatte Havill doch nur die eine Geschichte im Kopf: die von Jenny. Er wollte diesen Kerl nicht davon kommen lassen, unter keinen Umständen. Seine Frau bemerkte seine stetige Anspannung, hielt sich jedoch zum Wohl der Kinder und der eigenen Beziehung zurück.
Mr und Mrs Jones unterhielten sich viel über Jenny und ihren Zustand. Sabrina wusste hingegen nicht, dass ihre Schwester im Koma lag. Sie hätte ja doch nichts damit anfangen können. Ihr hatten sie gesagt, Jenny liege mit einer schweren Erkältung im Krankenhaus und komme bald wieder. Aus Angst vor einer Ansteckung, so schoben sie es vor, nahmen sie ihre jüngste Tochter nie mit ins Krankenhaus.
Eines hatten sie alle gemeinsam: Angst und Wut. Angst um das Leben von Jenny. Um die Zeit nach dem Krankenhaus, sollte es diese überhaupt geben. Wut und Hass gegenüber dem Mann, der ihnen das alles angetan hat. Der nicht nur Jennys Leben verändert und zerstört hatte. Die Ärzte konnten bislang nicht sagen, wie es weiter gehen wird. Jenny lag noch immer im Koma, war jedoch nicht Hirntod, was keine Chance auf ein wieder aufwachen gelassen hätte. Und so hofften sie weiter, noch zwei Wochen lang, bis sich ihr Leben erneut auf einen Schlag ändern sollte.
ZWEITER TEIL
Kapitel 1
„Könnte ich kurz mit Ihnen reden?“ Der Arzt stand plötzlich in der Tür zu Jennys Zimmer, als er ihre Eltern ansprach. Matt schaute ebenfalls auf. „Aber natürlich.“ Mr und Mrs Jones folgten dem Arzt aus dem Zimmer, während Matt bei seiner Jenny zurück blieb.
„Es hat sich da... Nun, wie soll ich es ausdrücken...“ Die drei standen vor dem Krankenzimmer. Dr. Karens schien die richtigen Worte nicht zu finden. „Es ist so, dass sich bei einer Untersuchung herausgestellt hat... Ihre Tochter ist... Sie ist schwanger.“
Mrs Jones überkam das Gefühl eines Herzinfarktes, während ihr Mann den Arzt erstaunt ansah. „Schwanger?“, wiederholte er ihn ungläubig. „Ja. Sie ist bereits in der 4. Woche. Daher können wir auf die Umstände der Befruchtung schließen. Aber ich glaube, ich muss ich Ihnen nicht weiter erläutern.“ Betroffen schaute der Arzt zu seinen Füßen. Er konnte sich vorstellen, dass diese Nachricht nicht gerade einfach aufzunehmen ist. Allein die Tatsache der Schwangerschaft, in diesem Alter unnötig. Dann aber noch von dem Menschen, der sie Tagelang misshandelt und vergewaltigt hat, ist dann doch noch mal eine psychische Belastung mehr.
Ermutigend legte er seine Hand auf die Schulter von Mrs Jones, die wie benommen ins Leere starrte. „Ich lasse Sie nun allein.“ Dr. Karens ging davon. „Warten Sie!.“ Mrs Jones erwachte aus ihrem Schockzustand und rief dem Arzt hinterher. „Sie können es doch wegmachen, oder nicht? Ich meine... So ein Kind... Das brauchen wir nicht. Können Sie es denn... entfernen?“
Hoffnungsvoll schaute sie dem Arzt ins Gesicht. Er wusste, was sie spürt. Und er verstand ihre Frage nur zu gut. „Wissen Sie, das Problem ist, dass Ihre Tochter zu schwach für eine Abtreibung ist. Sie liegt schließlich im Koma. Würden wir die Schwangerschaft beenden, riskierten wir auch das Leben Ihrer Tochter. Ich glaube nicht, dass sie das wollen.“ Der Doktor seufzte. „Es tut mir wirklich leid. Aber wir müssen warten, bis sie wieder aufwacht.“
Er schien sich verhört zu haben. Zumindest dachte er das. Es konnte doch nicht wirklich sein? Konnte es möglich sein? Nie hatte er an Verhütung gedacht, wieso auch. Er hatte ja schließlich nie vor, seine Kleine am Leben zu lassen, wieso also dieses aufwendige Verfahren, wenn es sich doch ohne sowieso am besten anfühlte.
Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. Schnell wand er sich ab, damit ihn niemand beobachten konnte. Wie er da stand und erfreut war. Er hatte etwas neues erschaffen, ein neues Leben. Ein Kind, welches er sich doch schon immer gewünscht hatte.
Freudig dachte er an das Zimmer, dass er doch extra für Kinder hat einrichten wollen. Die bunten Farben, ein paar Plüschtiere, ein bequemes Bett. Er schüttelte kurz den Kopf, um wieder zu klarem Verstand zu kommen. Das Kind. Er wollte es unbedingt haben. Sie war die Mutter, sie die ihm doch so viel bedeutet hat. Allmählich freute er sich über den Verlauf der Geschichte. Wo er doch gestern noch tief deprimiert war, notdürftig untergebracht bei einem Freund ein paar Orte weiter, verbreitete sich nun zunehmend gute Laune.
Ein Name lies ihn aus seinen Gedanken hochschrecken. „Oh Inspektor Havill. Schön, Sie zu sehen.“ Schnell griff er nach einem Gesundheitsmagazin über Tumore und hob es sich vor das Gesicht. Natürlich hatte er sich verkleidet. Dennoch konnte er nicht vorsichtig genug sein. Schließlich hatte gerade dieser Inspektor zwei Gründe, sich ihn zu schnappen. Und Gefängnis war nicht sein Ding. Er konnte noch so viel erreichen.
Vorsichtig beobachtete er den Inspektor und den Arzt, wie sie miteinander sprachen. Aufgrund der Reaktion von ihm, konnte er sich ausmalen, was wohl gerade das Gesprächsthema war. Er unterdrückte sich ein Grinsen. Dieses Gefühl der Macht kehrte zurück. Es stärkte ihn ungemein.
Der Inspektor beendete gerade das Gespräch und betrat den Raum seiner Kleinen.
Vorsichtig legte er das Magazin nieder und schlich sich in Richtung des Zimmers. Er spähte am Vorhang vorbei und sah sie da liegen. So ruhig und friedlich. Er beschloss, zu gehen. Es war an der Zeit. Doch er würde wieder kommen. Er wird sich seinen Sohn holen. Es konnte ja keine Tochter werden, nicht bei ihm, nein. Schnell schlüpfte er am Fenster vorbei und schielte dabei noch einmal kurz hinein. Er würde wieder kommen. Ganz sicher.
Matt hatte Jennys Eltern nach dem Gespräch mit dem Arzt gefragt gehabt, doch sie meinten, es sei nur Allgemeines gewesen. Wie es momentan aussieht mit ihr und ihrem Zustand. Mr und Mrs Jones hatten beschlossen, Matt nicht zu beunruhigen. Für den Moment.
Als der Inspektor herein kam, sahen sie ihm gleich an, dass er auf dem selben Stand war, wie sie es ebenfalls waren.
„Inspektor! Was machen Sie denn hier? Gibt es eine neue Spur?“
„Leider nein. Ich wollte nur nach Jenny sehen, wie es ihr geht. Aber wie ich sehe, hat sich seit her nicht viel getan. Das tut mir leid.“
Bedrücktes Schweigen machte sich im Raum breit. Niemand wollte daran denken, was wäre, wenn es sich gar verschlimmern würde.
Havill kam sich etwas fehl am Platz vor. „Nun, ich denke, ich werde Sie wieder verlassen. Wenn es etwas neues gibt, werde ich mich bei Ihnen melden. Machen Sie es gut.“
Er verließ den Raum und zuckte kurz zusammen, als er bemerkte, dass Mr Jones ihm gefolgt war. „Inspektor? Haben Sie mit Dr. Karens gesprochen?“
Havill nickte und schaute seinen Gegenüber ernst an. „Ich kann sehr gut verstehen, dass es für Sie eine schwere Situation ist. Aber wie Ihnen der Doktor schon gesagt hat, können wir leider nur warten und hoffen, dass Jenny bald wieder aufwacht.“
Mr Jones drehte sich und schaute durch das Fenster in den Raum auf Matt. „Wir haben es ihm nicht gesagt.“ Havill folgte seinem Blick. „Wir wollten ihn nicht beunruhigen. Schließlich ist sie seine Freundin. Und... Nun ja. Sie wissen was ich meine.“
Havill verstand sehr gut. Auch er hätte es Matt nicht mitgeteilt. Nicht jetzt. Es gab im Moment wichtigeres. „Es wird alles gut werden“, sagte Havill ermutigend. Zumindest hoffte er, dass seine Stimme überzeugend klang. Mr Jones lächelte und verabschiedete sich.
Als Havill zu Hause ankam, saß seine Familie bereits beim Abendessen. Er setzte sich dazu, aß jedoch nichts, und hörte den typischen Gesprächen am Tisch zu. Seine kleinen Mädchen erzählten immer so aufgeregt von dem, was sie in der Schule und im Kindergarten alles erlebt hatten. Es gefiel ihm einfach, ihnen zuzuhören. Diese kindliche Unbeschwertheit. Zu lange war es bei ihm schon her. Damals, als noch alles in Ordnung war...
„Daddy, hörst du denn nicht zu?“ Havill schreckte auf. „Was?“ Seine Frau blickte ihn ernst an. „Deine Tochter hat dich gerade gefragt, ob du das damals auch immer getan hast.“
Überrascht schaute er zu seiner jüngsten. „Ob ich was damals auch immer getan habe?“
„Mami, er hört gar nicht richtig zu.“ Sharon schaute ihren Vater trotzig an. „Daddy ist nur müde von der Arbeit, Liebling. Geht euch doch schon mal für das Bett fertig machen. Ich komme auch gleich nach.“ Die zwei Mädchen standen auf und liefen lachend zum Badezimmer. „Ethan... Was zur Hölle ist nur mit dir los? Der Fall ist gelöst, du kannst durchatmen. Du kannst für deine Kinder da sein. Und für mich. Was lässt dich nicht los?“
Havill stand auf und durchquerte den Raum. Er hatte keine Lust, mit seiner Frau zu sprechen. Zumindest nicht darüber. „Du rennst jetzt nicht schon wieder weg!“, schrie seine Frau und er blieb augenblicklich stehen. Langsam drehte er sich um. „Was soll schon sein, Destiny? Ich bin müde – mehr nicht. Das hast du ja selbst gerade vor den Kindern perfekt festgestellt. Ich habe wirklich keine Lust auf dieses ständige ausgefragt werden. Hast du nicht irgendwelche eigene Probleme, um die du dich kümmern kannst?“
Verärgert setzte Havill seinen Weg fort und ließ seine Frau erneut alleine zurück. Hätte er sich nur eine Sekunde später umgedreht, so hätte er wahrscheinlich die Träne gesehen, die ihr nun über die Wange lief.
Es verging eine weitere Woche, ehe sich das Schicksal auf die Seite der Familie Jones zu schlagen schien.
Kapitel 2
Matt war heute der einzige Besucher. Jennys Eltern waren mit ihrer jüngeren Tochter bei deren Großmutter und verbrachten den Tag zusammen. Er hatte das Gefühl, dass sie es hier drin nicht mehr ertragen konnten. Den Anblick von Jenny, die Geräusche der ganzen Geräte, die ungesagten Gedanken, die im Raum herum schwirrten. Doch Matt konnte Jenny nicht von der Seite weichen. Selbst die Schule hatte er fast immer geschwänzt. Konzentration wäre ohnehin nicht da gewesen. Er war müde, doch an Schlaf dachte er nicht. Mit etwas Kleingeld trat er auf den Gang hinaus und ließ sich einen Kaffee aus einem kleinen Automaten heraus. In einer Stunde war die Besuchszeit zu ende. So lange würde er noch hier bleiben. Vielleicht auch wieder länger, wenn die Schwestern ein Auge zudrückten. Mit seinem Kaffee stellte er sich an das große Fenster und schaute hinaus in den immer dunkler werdenden Himmel. In seinen Gedanken sprach er immer wieder zu Jenny.
Er wollte sie nicht verlieren.
Schließlich ging er zurück in Jennys Zimmer und setzte sich neben sie aufs Bett.
„Jenny“, murmelte er leise vor sich hin. „Ich liebe dich. Bitte, du musst wieder aufwachen. Wir werden alles wieder hinbekommen, alles wird so sein wie früher. Ich verspreche es dir, ich bleibe immer an deiner Seite. Egal, was passiert. Nur musst du jetzt aufwachen. Bitte.“ Seine Stimme brach ab und er unterdrückte eine Träne.
Wenn doch nur irgendetwas passieren würde.
Diese Stimme, sie war zu weit weg. Von wo kam sie? Wo musste sie lang, um zu ihr zu kommen? Sie vertraute dieser Stimme. Die Dunkelheit machte ihr Angst. Wer oder sprach da mit ihr? Vor allem, was sprach die Stimme? Sie versuchte sich auf sie zu konzentrieren, ihr zu folgen. Es fiel ihr so schwer. Das Schwarz um sie herum bekam allmählich einen helleren Farbton. Sie konnte nicht mehr. Noch immer hörte sie die Stimme sprechen. Sie hörte einen Namen. War es ihrer?
Immer mehr Geräusche traten zu ihr durch. Ein Piepsen. Ihr kam es bekannt vor. Wo war sie? Noch einmal nahm sie ihre ganze Kraft zusammen. Langsam konnte sie ihren Körper fühlen. Ob sie sich bewegen konnte? Ihre Kraft lies wieder nach. Sie ließ sich kurz die Ruhe. Lauschte weiterhin der Stimme. Kannte sie die Stimme? Sie gehörte keiner Frau, so viel stand fest. Und es war ihr eine vertraute Stimme. Sich riss sich zusammen und kämpfte. Mit sich und ihrem Körper. Sie konnte beinahe ihren ganzen Körper fühlen. Sie spürte, wie jemand neben ihr saß und ihre Hand hielt. Sie lenkte all ihre Konzentration auf ihre Finger. Einfach nur mehr spüren, dass wollte sie. Ihr Finger bewegte sich, aber nur sehr schwach. Mehr Kraft brachte sie einfach im Moment nicht auf. Die Stimme verschwand. Die Angst kam – wird nun alles wieder so dunkel? Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen, doch sie konnte nicht. Da kam die Stimme wieder. Sie verstand sie so klar und deutlich. „Jenny? Jenny, bist du... bist du wach?“ Nun erkannte sie die Stimme. Es war Matt. Matt, ihr Freund, den sie liebte. Er war hier, hier bei ihr. Warum war sie hier? Was war hier überhaupt? Sie musste die Augen irgendwie öffnen. Es muss gehen. „Jenny, mach die Augen auf! Ich weiß, dass du mich hörst!“
Ihre Kraft reichte einfach nicht aus. Erschöpft gab sie auf und schlief ein.
Matt war aufgeregt. Er hatte doch da etwas gespürt. Jenny war da, er hatte es gemerkt. Sie konnte ihn hören. Schnell rannte er auf den Gang hinaus, auf dem ihm bereits eine Krankenschwester entgegen kam. „Matt, du musst jetzt leider -“, doch sie wurde jäh unterbrochen. „Jenny, sie ist wach! Bitte kommen sie, sie hat sich bewegt!“
Erstaunt schaute die junge Frau ihn an. „Bist du dir da sicher?“
„Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen. Sie kann mich hören, sie hat sich bewegt!“
Matt zog die Schwester hinter sich her in das Zimmer. Immer wieder sprach er auf Jenny ein, doch keine Reaktion.
Für die Schwester war es eindeutig. „Nun, ich glaube, du hast etwas gesehen, was du gerne sehen wolltest. Ich glaube nicht, dass sie wirklich...“ Sie hörte auf zu sprechen. Ihr Blick fiel auf einen der vielen Monitore neben dem Bett. Plötzlich rannte sie aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einem Arzt herein. „Sehen Sie sich das an.“ Aufgeregt tippte die Schwester auf den Monitor.
Der Arzt begutachtete den Monitor gründlich und beugte sich dann über Jenny. Er entfernte einen Schlauch an ihrem Mund und hielt sein Ohr über ihren Mund.
Er nickte und überprüfte noch einige andere Funktionen ihres Körpers. Der Herzschlag und Puls wurden überprüft, die Augenlider angehoben und die Augen unter Kontrolle genommen. „Das gibt es nicht. Hast du hier irgendwas gemacht?“ Er wand sich an Matt. „Ich... Ich habe mit ihr gesprochen, mehr nicht. Ich schwöre es. Was ist denn los?“
„Ihre Eltern sollten sich bei dir bedanken. Du hast ihre Tochter aus dem Koma geholt, Junge.“
Tag der Veröffentlichung: 08.04.2012
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