Ich kann nicht mehr, ich gebe auf!
Wie oft hatte sie das schon gedacht? Wie oft stand sie nahe am Abgrund? Und wie oft kam eine Wendung?
Sie wusste es nicht mehr, es war schon zu oft gewesen.
Der Regen prasselte gemütlich auf die Fensterscheibe. Es war Musik in ihren Ohren. Musik, wie nur Menschen sie hören, die sich dafür Zeit nehmen.
Wer nimmt sich schon Zeit für Dinge, die eigentlich selbstverständlich sind?
Früher, war für sie alles selbstverständlich. Früher war noch alles anders.
Früher, verstand sie nicht viel…
Und heute… heute wünschte sie es wäre anders…
1. Kapitel
Der endlose lange Flur kam ins Bild. Er erstreckte sich und schien immer länger zu werden. Lisa versuchte zum anderen Ende zu kommen, doch etwas drückte sie nieder. Wie Steine die eine Tasche erschweren können, wurde sie niedergedrückt. Die Luft herausgesaugt und nur die leere Hülle blieb übrig. Es war, als würde jemand einen hinunter drücken, ertränken, festhalten.
Lisa gelangte zum Zimmer. Eigentlich war der Flur klein und schmal, eng.
Blaue Augen erfassten das Geschehen vor ihr. Es war, als würde die Zeit verlangsamt werden - Zeitlupe- als hätte jemand die Play-Taste betätigt und eine andere Taste um den Film langsamer abzuspielen. Der Ton bei diesem Film, war für sie nur als rauschen in den Ohren zu hören. Nur, dass es bei dem ganzen um keinen Film ging, sondern um ihre Mutter. Um Lisas Mutter.
Münder bewegten sich, welche sich gegenseitig etwas zuriefen. Lisa hörte nichts. Sie sah nur schweigend zu. Als wäre sie die Zuschauerin bei einem Theaterstück.
Vielleicht war es das auch. Vielleicht war es nur ein schrecklicher Albtraum!
Doch warum machte sich ein Gefühl der Leere breit?
Schweigend beobachtete sie.
Ein Mann mit Schere bewegte sich auf Lisas Mutter zu. Sie wollte etwas sagen.
Sie wollte nur sagen, dass das T-Shirt ihr Lieblings Shirt war. Dass die Fremden es ihr nicht kaputt machen sollten. Es kam kein Ton raus. Lisa schwieg.
Die Schere schnitt erbarmungslos den Stoff auf. Jeder Schnitt gab ein reißendes Geräusch von sich. Jeder Schnitt ließ das Mädchen schaudern. Kälte machte sich breit. Marie lag ausgestreckt auf dem Bett. Leblos und Leer. Ein Mensch ohne Emotionen. Das Lachen fehlte. Wo war ihr Lachen hin? Wo war Maries Strahlen hin?
Jemand ging an Lisa vorbei. Eine Frau wies den Männern etwas an. Lisa wusste jedoch nicht was. Ein Gerät wurde ausgepackt und zwei ovale Scheiben wurden an zwei Stellen geklebt. Jemand verabreichte ihr eine Spritze. Lisa hasste spritzen. Sie taten weh.
Aber Marie, ihre Mutter, bewegte sich nicht. Kein bisschen. Nicht einmal ein zucken. Sie blieb ruhig. Dann wichen alle vom Bett zurück.
Dass kleine Mädchen verstand den Grund dafür nicht.
Als die Mutter einen Elektroschock bekam und leicht hochgehoben wurde, riss Lisa die Augen auf. Der Mund leicht geöffnet starrte sie ihre Mutter an. Wieder einen Elektroschock, wieder diese Bewegung, wieder endlos lange Minuten die diese Stille noch mehr erdrückend machten.
Eine Berührung, flüchtig, ohne Bedeutung. Trotzdem hob Lisa den Kopf und starrte in hellbraune Augen. Ein Mann in einem roten Pullover und einem weißen Kreuz stand neben ihr. Er sagte etwas, doch Lisa verstand es nicht. Sie nickte nur. Als er ging, folgte sie ihm. Wie in Trance sah sie, wie er die Stiegen hinab ging und sie folgte, schweigend. Die Stiegen kamen ihr in diesen Moment endlos groß vor. Beinahe hätte sie auch gefragt, wo sie war. Dabei wusste sie es doch, sie war zu Hause. Ein Zuhause, was ihr Fremd vorkam. Fremd wegen den vielen fremden Menschen.
Dann hatten sie die letzte Stiege erreicht. Die Haustür war offen. Wieder fremde Menschen.
Polizisten gingen ein und aus. Draußen konnte sie einen Blick erhaschen, wie zwei Polizisten in einen Mistkübel schauten, ihren Mistkübel. Hatten sie etwas verloren?
Die verwirrende Szene verschwand aus ihrem Gesichtsfeld. Ein Mann tauchte wieder auf und führte sie in das Wohnzimmer. Ihr kleiner Bruder, Simon, kauerte auf der Couch. Eine Nachbarin saß bei ihm und las ihm etwas vor.
Nach endlos langen Sekunden stand das Mädchen bei ihnen und setzte sich ganz automatisch dazu. Die Augen jedoch richtete sie nicht auf das Buch, sondern sah nach oben. Lisas Vater stand im Rahmen einer Tür. Augenringe ließen sein Gesicht düster und matt wirken. Er sah fast unheimlich aus. Fremd.
Ein Polizist stand neben ihn und schien etwas zu sagen, denn ihr Vater nickte nur.
Das Gefühl der Leere kam wieder. Was war eigentlich passiert? Warum erklärte es ihr niemand? Ihr Herz tat weh. So weh, dass sich heiße Tränen die Wangen hinab bahnten….
„Lisa Rutka!“
Erschrocken hob die angesprochene den Kopf. Tränen stiegen ihr hoch und sie konnte es nur krampfhaft vermeiden, dass sie auch ausbrachen. Die Lehrerin schien irgendetwas gemerkt zu haben, denn ihr Gesicht veränderte sich. Wurde weicher.
„Ist alles in Ordnung?“ Alle in der Klasse drehten den Kopf. Jetzt war sie im Mittelpunkt. Toll, genau dass wollte sie nicht.
„Klar, ist alles in Ordnung…ich habe mich nur gerade an einen alten Witz erinnert!“ Lisa wünschte, es wäre nur ein Witz gewesen...
Es wäre um so viel schöner...
Die Gesichtszüge veränderten sich zu einem genervten Ausdruck. „Dann komm heraus und schreib die Antwort, bevor du weiter herumträumst!“
Lisa tat was sie wollte, obwohl sie gar nicht mehr wusste, was gesagt wurde. Sie wusste überhaupt nicht mehr, was das Thema von heute war.
Es war ihr egal. So wie vieles ihr schon egal war.
2. Kapitel
„Na, du!?“ Lisa drehte den Kopf und sah in ein lächelndes Gesicht.
Ihr war nicht nach lächeln zumute. Trotzdem zog sie die Lippen leicht nach oben.
„Was geht?“, fragte Mike sie noch immer lächelnd. Lisa zuckte die Schultern. „Nicht viel und bei dir?“
Er war eine Klasse über ihr und demnach achtzehn. Und er war der einzige Freund, mit dem sie sich verstand. Obwohl, am Anfang hatten sie immer viel gestritten, aber das war auch schon drei Jahre her.
„Auch nicht viel, Lust heute Eis essen zu gehen?“ Lisa sah hinaus. Es regnete.
„Ja, warum nicht.“ Seine Augen begannen zu strahlen. „Wusst ichs doch, dass ich mich auf dich verlassen kann…“
Die Schulglocke ließ ihr grässliches Klingen ertönen. Mike drehte den Kopf, seufzte und verdrehte die Augen, während er wieder zu ihr sah.
„Wir haben Fr. FoltertgernekindermitMathematik …bis dann….wir sehen uns!“ Er drehte sich um und verschwand in seiner Klasse. Und sie war wieder alleine.
Lisa ließ die fröhliche Maske fallen und machte sich daran zum Turnsaal zu kommen. Zwei Stunden turnen, dann nach Hause.
Da wurde ihr bewusst, dass sie froh war nicht gleich nach Hause zu müssen.
Das Eis essen gehen kam ihr gerade gelegen.
Nach dem Sport huschte sie schnell unter die Dusche. Sie war einer der wenigen, die nach Sport duschen ging. So hatte sie wenigstens mehr warmes Wasser für sich und sie konnte später nach Hause.
Etwa eine halbe Stunde später war sie die Letzte im Umkleideraum. Sie trödelte.
Als ihr Schrank ein klicken von sich gab, während sie diesen öffnete, schlüpfte sie gleich danach in ihre schwarze Regenjacke, schnappte sich ihren Rucksack und verließ den Raum.
Ihr Herz begann leicht zu rasen als sie Mike sah. Verwirrt über ihr Herzrasen, hielt sie kurz inne, um darüber nach zu denken, doch dann war es schon wieder weg.
Nachwirkungen vom Sport, wegen dem Herzrasen. So lautete ihre Erklärung.
„Warmes Wasser genossen?“ Lisa lächelte leicht. Sie meinte es ehrlich. „Ja, was denn sonst?!“ Sein Lachen löste in ihr eine Gänsehaut aus.
Nicht weil es so schrecklich war, ganz im Gegenteil. Sein Lachen war für sie etwas Angenehmes, Beruhigendes, wie warme Sonnenstrahlen auf der Haut.
Mike war der einzige der wusste, dass ihre Mutter Tod war. Er war der einzige der mehr wusste, als andere. Für andere war sie die Freche, die Ruhige, die Zickige Lisa.
Für sie selbst, war sie Lisa, die, die aufgeben wollte.
3. Kapitel
Der Regen ließ nach. Die Wolken lockerten sich. Einsame Sonnenstrahlen brachen durch die dichte Wolkendecke. Es sah wunderschön aus.
Lisa genoss einen Moment den Anblick der Natur bevor sie unruhig wurde. Mit dem rechten Bein begann sie unkontrolliert zu zittern. Es war ihr nicht einmal wirklich bewusst.
Sollte sie Mike sagen, wie es ihr ging? Nein, sie konnte ihn nicht belasten. Er hatte genug Probleme.
Seine Eltern wollten sich gerade scheiden lassen und da…nein, sie würde es nicht sagen, mit welchen Gedanken sie spielte. Mit welchen Gedanken sie schon lange spielte.
Es war zu viel. Zu viel auf einmal.
Ihre Mutter hatte sich umgebracht. Selbstmord. Erklärung? Die Vergangenheit hatte sie eingeholt. Ihr wurde es zu viel, ihre Mutter hatte es nicht mehr ausgehalten. Und jetzt, jetzt konnte Lisa es nicht mehr aushalten.
Die Erinnerung schlichen sich immer heimlich in ihre Gedanken, brachten sie durcheinander, verunsicherten und ängstigten sie. Und da war noch eine Stimme, die sie zum aufgeben überredete. Die immer sagte, was quälst du dich noch? Mach Schluss! Mach es deiner Mutter nach. Dann musst du nicht mehr leiden.
Unbewusst hatte Lisa ihre Hand zu einer Faust geballt. „Lisa?“
Erschrocken hob sie den Kopf. Mike sah sie stirnrunzelnd an.
„Hm?“ Sie hatte ein Kloß im Hals. Woher hatte sie auf einmal den Kloß her?
Die braunen Augen sahen sie immer noch an. Lisa sah normal aus. Sie hatte blaue Augen und brünette Haare. Sie verstand nicht, warum er sie so lang anschauen konnte.
„Was ist los?“
Hitze stieg in ihr hoch. Sie spürte die Hitze wie Feuer. Feuer, dass sich in ihrem Gesicht breit machte. Wie eine Seuche die sich ihr im Gesicht ausbreitete. Feuer, welches jedoch nicht ausbrach.
Ihr war, als hätte er sie erwischt.
„Nichts…mir ist nur schlecht!“ Sie belog ihn. Wieder einmal.
Seine Haselnussbraunen Augen ruhten noch auf ihr. Er schien ihr nicht glauben zu wollen. Lisa lächelte. Besser gesagt sie versuchte zu lächeln. Sie hatte es vergessen. Langsam aber sicher schaffte sie es. Mit erhobenen Lippen sah sie ihn an. „Wahrscheinlich zu viel Eis!“ Er lachte. Wieder durchströmte sie ein angenehmes Gefühl. „Zuviel Eis? Lisa…du hattest nur Vier Kugeln! Und davon hast du nur zwei gegessen und den Rest ich!“ – „Oh…“ Sie hatte das nicht ganz mitbekommen.
„Dann vielleicht zu wenig Eis?!“ scherzte sie und brachte ihn erneut zum Lachen.
Sie liebte es wenn er lachte.
Lisa setzte ihr Glas zum Trinken an. In dem Moment wurde sein Blick wieder ernst. „Morgen ist der Todestag deiner Mum….“
Er hatte nur geflüstert. Es leise erwähnt, als wollte er es schon die ganze Zeit sagen, wusste aber nicht wie. Und jetzt war es raus.
Lisa überkam eine Kälte, wie sie es noch nie erlebt hatte. Jedes Gefühl wich aus ihrem Körper, schien zu flüchten. Sich verstecken zu wollen. Und dann war sie leer. Sie spürte gar nichts mehr.
Genau an DAS, wollte sie sich nicht erinnern. Sie hatte es vergraben. Tief in ihr vergraben. Mit einem Deckel zu gemacht und das Leben gelebt.
Und jetzt, mit nur einem Satz war der Deckel offen. Der eine Satz trieb Tränen in ihre Augen und ließ sie noch mehr zittern.
Lisa stand auf. Wut machte ihrem Schmerz Platz. Innere Wut. Wut auf die Welt. Wut auf ihre Mutter. Wut auf alle!
„Lisa, es tut mir leid…ich…!“
Sie hörte es nicht mehr, sie war schon draußen. Es war, als würde man ihr die Luft zu schnüren. Als würde jemand sie vom Atmen abhalten.
Sie begann zu rennen.
Ihre Beine trugen sie, ohne dass sie wusste wohin. Es tat gut zu rennen. Die Luft jedoch blieb noch immer weg.
Lisa wollte atmen. Sie wollte, konnte jedoch nicht. Sie wurde schneller.
Um sie herum verschwamm alles. Weinte sie etwa?
Es war ihr egal.
Die Straße unter den Füßen wurde unebener. Schotter ersetzte Asphalt. Die Leere breitete sich wieder aus. Wie Lauffeuer verzehrte es alles, was es zu fassen bekam. Jegliches Gefühl war verschwunden. Nur der Knoten in der Brust, der war da.
Licht.
Grelles Licht blendete sie.
Lisa drehte den Kopf zur Seite. Ein Zug raste auf sie zu.
Erschrocken schnappte sie nach Luft. Sie war zu den Zügen gelaufen und stand mitten auf einer Schiene. Es regnete. Ihr war gar nicht aufgefallen dass es regnete.
Der Zug kam noch näher. Sie jedoch, bewegte sich nicht. Sie starrte ihrem Tod entgegen. Ja, jetzt konnte sie aufgeben. Dann würde es ihr gut gehen. Der Schmerz in der Brust würde versiegen. Dann konnte sie wieder lächeln.
Plötzlich packten sie Hände und wirbelten sie herum.
Haselnussbraune Augen starrten sie wütend an. Wütend und entsetzt?
Hinter ihr spürte sie den Luftzug, als der Zug vorbei raste.
Dann kam ein anderer Schmerz hinzu. Die Hände drückten ihre Arme zusammen. Fest. Es tat weh.
Der Regen ließ dem Jungen die Haare ins Gesicht fallen. Er sah abgehetzt aus. Als wäre er gerannt. Vielleicht war er das auch. Sein T-Shirt war vollkommen durchnässt. Lisa fiel auf, dass sie ihre Jacke nicht anhatte. Sie war auch nass.
Mike starrte sie immer noch an. Sein Atem ging schnell. Seine Augen jedoch schienen in Flammen zu sein. Die Minuten verstrichen. Es sagte noch immer keiner was. Lisa wusste auch nicht was sie sagen sollte.
Dann kam etwas unerwartetes, etwas dass sie nicht erwartet hatte.
Eigentlich hätte sie gedacht er würde schreien, schimpfen und sagen, warum sie nicht nach links und rechts geschaut hatte. Jedes Kind wüsste es.
Stattdessen, ließ er sie los, um sie gleich darauf zu umarmen. Fest zu halten, zu drücken und ihr Wärme zu geben.
Es war so unerwartet, dass Lisa tief einatmete.
Sie begann zu schluchzen. Tränen vermischten sich mit dem Regen.
Und dann ließ sie alles raus. Wut, Zorn, Hass, Trauer….alles kam heraus und vermischte sich mit den Tränen und dem Regen.
Als sie aufhörte, ließ er langsam, fast zögernd los und nahm ihr Gesicht in die Hände.
Lisa senkte die Augenlider. Stattdessen hob er ihren Kopf höher, so dass sie ihm in die Augen sehen musste.
Langsam beugte er sich hinunter. Sie konnte seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht spüren.
Zarte Lippen berührte ein Auge. Küsste die Tränen weg. Dann das andere Auge. Küsste dort die Tränen weg. „Tu… dass… nie wieder, Lisa! Ich…brauche…dich!“
Seine Stimme klang schwach, gebrochen. Als würde es ihm an Überwindung kosten, überhaupt zu reden. Sie verstand ihn. Ihr ging es genauso.
Er hatte sie noch nicht los gelassen. Er beugte sich noch tiefer. Ihr wurde auf einmal ganz warm, angenehm warm. Sie schloss die Augen.
Seine Lippen legten sich auf ihre. Sanft und doch hart schmiegten sich seine an ihre. Dann spürte sie seine Zunge. Tastend fuhr er über ihre Lippen. Fast automatisch öffnete Lisa den Mund und ließ ihn hinein. Feuer! Brennen!
Lisas Herz begann schneller zu schlagen. Wärme durchströmte ihren Körper.
Sie fühlte sich gut. Es ging ihr gut.
„Ich.liebe.dich!“
Drei Wörter. Drei einfache Wörter. Wieder dieses flüstern. Doch diese Worte saugte sie auf, gaben ihr halt. Es war eine Sonne in ihrem Herzen. Ein Strahl den sie vermisst hatte, Hoffnung. Er war der Regenbogen an verregneten Tagen. Er war ihre eigene Sonne. Er war für sie das Licht in der Dunkelheit.
In dem Moment wusste sie…
Ich werde nicht aufgeben, ich will Leben!
Texte: Text@me
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2011
Alle Rechte vorbehalten