Porzellanmärchen
So pass doch auf!
„Vorsicht, ist die Mutter der Porzellankiste!“
hat meine eigene Mutter immer entsetzt hinter mir her gerufen, als ich selbst noch ein Kind war.
Vorsicht, ist die Mutter der Porzellankiste.
…und auch heute noch klingt dieser geheimnisvolle Satz in meinen Ohren und was mich immer noch brennend interessiert, ist, warum meine Mutter ausgerechnet dieser wildfremden Dame so zu vertrauen schien und ob diese Porzellankistenmutter wohl recht nett war…?
Manchmal konnte es damals deshalb auf meinem Weg zur Schule vorkommen, dass ich beim Überqueren einer Ampel ganz plötzlich mitten auf der Straße stehen blieb, und mir daumenlutschend, folgende Gedanken machte:
Wenn diese Frau Vorsicht, also die Mutter war, dann musste die Porzellankiste selbst, also logischerweise, ihr Kind sein, oder nicht?! Aber wer war dann der Papa und wo wohnten sie eigentlich alle?
Und während ich mir, ganz alleine diese allerhand weisen Fragen stellte sprang die Ampel für die Autofahrer in der Zwischenzeit auf grün und meine Mutter schrie sogleich erschrocken auf und zerrte mich ein weiteres Mal mit diesem Satz von der Straße.
Viele Jahre später nun, stehe ich gerade selbst mit meinem Auto an einer roten Ampel, und vor mir, ein Kind das friedlich am aufgeweichten Daumen lutscht.
Noch Rot - Gleich Gelb - Jetzt Grün!
Hinter mir wird sofort wild gehupt aber ich lasse mich davon nicht weiter beeindrucken, steige schnell aus meinem Wagen und bringe das Kind sicher auf die andere Straßenseite.
Die Mutter, die eine Zehntelsekunde später angerannt kommt, umarmt mich sogleich erleichtert und bedankt sich noch immer bei mir, auch als ich schon längst wieder in meinem Auto sitze um davon zu fahren.
Und damit nie wieder ein Kind mitten auf der Straße stehenbleiben muss um sich über eines dieser vielen Erwachsenen–Geheimnisse Gedanken zu machen, klären wir heute, viele Jahre später und höchst überfällig, endlich wer diese Porzellankistenmutter eigentlich ist, und weil alles irgendwie damit zusammenhängt, auch noch, wie der Elefant in den Porzellanladen kam und seit wann genau Scherben Glück bringen!
Es trug sich nämlich wie folgt zu:
Alles fing in London an.
Dort gab es damals einen kleinen Laden, den ein noch kleinerer Mann namens Magorium betrieb. Stapelweise standen dort Kisten, Kistchen und Kartons, voll mit Kaffee, Tee und Gebäckservices herum. Denn Magorium liebte nichts mehr als Porzellan. Ab und an stolzierte er wie ein stolzer König durch sein buntes Lädchen, streichelte die zarten, schlanken Tässchen, spielte mit den Rotzlöffelchen fangen und bewahrte die vielen Kuchengabeln davor, sich gegenseitig die Zinken auszustechen.
Ah, es gab immer viel zu tun!
Ist ja schließlich auch eine große Verantwortung, tagein -tagaus auf so viel Zerbrechlichkeit Acht geben zu müssen!
Aber Magorium war inzwischen sehr alt geworden. Seine Knie taten ihm weh und seine Beine waren morgens nach dem Aufstehen, oft wie aus Blei gegossen.
Aber dennoch - die Kaffeetassen wollten weiterhin bemalt werden und drehten sich tagtäglich schmeichelnd vor ihm im Kreise herum und sogar die lustigen Teelöffel hatten sich beleidigt in einer dunklen Ecke versammelt weil Magorium von ihren wilden Faxen immer öfter genug hatte;
Müde, sah er sich an einem dieser grauen Tage wieder einmal ratlos um, nahm dann aber doch seine ganze Kraft zusammen, und setzte sich an den Schreibtisch um mit zittrigen Händen ein schluchzendes Gebäckförmchen wieder zusammenzukleben, das beim Versteckspielen vorhin einfach kaputtgegangen war.
Ah, aber Gott sei Dank, er war ja nicht ganz alleine!
Eine große Teekanne, die er von einer seiner vielen Reisen einmal aus einem fernen Land mitgebracht hatte, trat an einem dieser trüben Tage klirrend an ihn heran und legte ihm ihren Ausgießer kameradschaftlich über die Schulter.
Magorium, sagte sie, nimm es bitte nicht so schwer, ich bin ja auch noch da. Ich kenne meine Kinder und Gefährten gut, und mahne sie zur Ruhe bis sich alles Weitere von ganz alleine ergibt.
Du wirst schon sehen, sagte sie lächelnd, bald schon wird wieder alles gut werden, glaube mir nur!
sprach sie weiter und wackelt derweil so freudig mit ihren beiden Henkelohren hin und her, dass Magorium schließlich doch noch herzlich lachen musste und sie liebevoll mit seiner besten Porzellanfarbe bestrich.
Ja! Seit er sie hatte, war wirklich alles besser geworden, dass musste er schon zugeben! So sehr war sie darauf bedacht stets alle vor dem Zerbrechen zu bewahren, und zu Schönheit und Eleganz zu erziehen, dass sie –genau wie er selbst- selten zur Ruhe kam.
Sonderlich verkaufsfördernd war sie nicht, das gab er zu, denn nach einem besonders erfolgreichen Tage beispielsweise, ließ sie die bunten Verzierungen allzu oft ganz traurig hängen und ihr großer Ausgusshals war ganz verstopft vor Sorge, wie das neue Zuhause dem verkauften Porzellan wohl so gefallen würde.
Aber immer wenn es dann Abend im Porzellanladen wurde, rief sie die Kleinen mit ihrem großen Deckel, laut klappernd und längst auch schon wieder gut gelaunt in ihre Kisten zurück und schlichtete oft stundenlang die seltsamen Streitereien der eitlen Porzellanvasen, deren fadenscheinige Auslöser ihm -als Mensch und Mann, meist völlig schleierhaft waren.
Nun war es gerade Weihnachtszeit und der Porzellanladen war in dicke weiße Watte eingepackt. Überall in der kleinen Straße spielten die dicken Schneeflocken ihr lustiges Spiel und während die Erwachsenen mit gesenkten Köpfen und triefenden Nasen durch die Gegend stapften, hielten die Kinder lachend ihre Münder ganz weit auf um vom ersten Weihnachtsschnee zu kosten.
In London gab es zu dieser Zeit ein großes Kaufhaus, und wie jedes Jahr veranstaltete dieses Kaufhaus eine große Festparade in der Stadt.
Magorium selbst, mochte dieses Kaufhaus nicht besonders.
Dort boten sie nur totes Porzellan zum Verkauf, und ging man lauschend an der Dekorationsabteilung vorbei, waren stets nur ein paar letzte, traurige Seufzer daraus zu vernehmen.
Tausende von Trampeltieren rannten dann in der Vorweihnachtszeit durch das Kaufhaus und stellten, auf ihrer radikalen Suche nach Sonderangeboten, alles auf den Kopf was nicht niet –und nagelfest war.
Und DAS war Porzellan, wie jedes Kind weiß, ja weiß Gott nicht!
Dieses Jahr sollte die Parade allerdings direkt an Magoriums Laden vorbeiziehen und seit Wochen schon war ihm das gesamte Ladenporzellan damit in den Ohren gelegen, das Spektakel mit ansehen zu dürfen.
Unwillig dachte Magorium hin und her, aber weil er eigentlich so gut wie alles für seine Porzellanlieblinge tat, schob Magorium an diesem Tage und zur großen Freude des Porzellans, dann schließlich doch noch ein paar selbstgebaute Holztribünen in seine drei kleinen Schaufensterchen.
Die Kleinen und Neugierigen, kamen nach ganz oben ins Regal, damit sie besser sehen konnten und die Zerbrechlicheren und Älteren des Porzellanpublikums besetzten die stabileren Plätze am unteren Tribünenrand.
Und ganz vorne, im großen Mittelteil hatte es sich die alte Teekanne auf einem dicken Kissen gemütlich gemacht und verfolgte nun mit Argesaugen das zerbrechliche Treiben.
Die Parade beginnt, und allerlei Musikanten, bunte Tänzer und großartige Feuerschlucker ziehen dicht am Schaufenster vorbei. Den kleinen Kännchen bleibt vor Staunen der Deckel offen stehen und die Suppenteller waren ganz platt von den großen Zaubereien die da draußen vor sich gingen.
Da gab es Pferde und Weihnachtsmänner, Zauberer, Renntiere und riesengroße Drachen aus Pappmachè. Und vor allem die vielen Kinder die sich direkt vor dem Porzellanladen versammelt hatten, schrien und jauchzten jetzt mit dem Porzellan aufgeregt um die Wette!
Als Hauptattraktion gab dieses Jahr sogar einen echten Elefanten, der jetzt, zwar bunt und wunderhübsch gemacht, aber mit dicken Tränen des Heimwehs in den Augen und hängenden Ohren, durch die Menge schritt.
Angstvoll blickt der Elefant sich nach allen Seiten um und sein Blick bleibt im Vorbeigehen am alten Porzellanladen hängen. Die umsichtige Teekanne aber, entdeckt die Traurigkeit unter der bunten Elefantenschminke schnell und schenkt dem Elefanten sogleich einen ermutigenden Blick.
Und als sich die großen Augen aufhellen, und er schüchtern zurücklächelt, packt die alte Teekanne der Mut und sie wirft dem großen Unbekannten schnell einen vorsichtigen Kuss mit ihrer hübsch geschmückten Henkelhand zu.
Der traurige Elefant war wie gebannt.
Er hatte keine Ahnung in was für einem verrückten Land er da gelandet war, aber als er in die Verzierungen der Teekanne sah, sah er plötzlich auch die vielen Kinder die ihm hier freudig zujubelten und ihm die ersten freundlichen Blicke in seiner neuen Zwangsheimat bescherten; und da blieb er einfach stehen.
Langsam dreht sich der große graue Körper und der Elefant schreitet tatsächlich mitten durch die Menge hindurch! Alle erschrecken sich und wollen schon davonlaufen, aber der Elefant will keinem was tun, sondern tritt nur ganz vorsichtig ans Schaufenster des Porzellangeschäfts heran;
Zart reibt der Elefant, damit er Teekanne besser sehen kann, mit seiner weichen Rüsselspitze einen kleinen Kreis in die beschlagene Scheibe des Fensters, und hoffte dabei wirklich nichts mehr als das gerade SIE keine Angst vor ihm haben würde!
Noch nie hatte er nämlich schöneres Porzellan gesehen! So kurvig und glänzend, so perfekt weiblich, wie sie über die ihr Angetrauten wachte, dass er sein einsames Elefantenherz in diesem Moment unweigerlich an sie verlor.
Aber auch die Teekanne wechselte sekündlich ihre Farbe und wusste weder ein noch aus, noch wie ihr da gerade geschah.
So gerne wollte sie plötzlich ihren porzellanen Hals nach ihm ausstrecken, aber als sie es tat und gerade genügend Mut dazu aufgebracht hatte, da stieß sie nur gegen die kalte, nasse Schreibe des Schaufensters. Traurig sah sie den Elefanten an.
Aber der Elefant hielt es einfach nicht mehr aus! Er musste diese Teekanne unbedingt kennenlernen! Sie Fühlen! Sehen! Die großen Elefantenaugen suchen aufgeregt nach der Eingangstür und die riesigen Ohren wedelten wie wild die Schneeflocken durcheinander.
Ein paar Risse bekam die kleine Tür des Porzellangeschäfts dabei natürlich schon als das große Tier den Laden betrat, aber weil der Elefant aus Indien kam und die ja immer etwas kleinere Ohren haben als ihre Afrikanischen Verwandten entstand Gott sei Dank kein größerer Schaden.
Auch Magurium hatte diese Seltsamkeit die ganze Zeit über beobachtet und nimmt die glühende Teekanne jetzt vorsichtig von ihrem Platz und hält sie dem Elefanten hin..
Lange blicken sich die beiden ungleichen Wesen mit staunender Stummheit an, bis sich, ganz sachte Ausguss und Rüssel einander nähern, sich zart untersuchen um dann in einem Kuss zu verschmelzen.
Das Porzellan jubelt!Und auch einige neugierige Kinder die sich am dicken Elefantenhintern vorbei gezwängt hatten standen jetzt mit offenen Mündern im Laden.
Mitten in seinem Porzellanladen, hatte Magorium jetzt also einen Elefanten der seine Lieblingsteekanne, von jetzt auf gleich, zur Frau mitnehmen wollte! Eine wahre Weltsensation!
Die zwei aber hatten den Tumult um sich herum schon längst vergessen und küssen sich lange, lange Zeit-und dann-ganz plötzlich–und ohne Vorwarnung…
fällt die Teekanne vor lauter Küssen und Freude tatsächlich in Ohnmacht!
Mitten auf den Boden!
FATAL!
Alle schreien erschrocken auf und Magorium springt voller Sorge zum Scherbenhaufen hin.
Da lag sie. Die Mutter allen Porzellans in ihren eigenen Scherben am Boden!
Der Elefant konnte nichts tun, er hätte sie doch sofort kaputt getrampelt, aber Magorium wusste was zu tun war und bat alle Kinder die erschreckt im Laden standen, die Scherben schnell wieder aufzusammeln!
Auch die Winzigste, und noch so kleine, auf den ersten Blick unbedeutende Scherbe musste unbedingt gefunden werden!
Und da begannen die Kinder überall zu suchen. Sie hoben den dicken alten Teppich hoch, krochen unter Tische und Regale und untersuchten vorsichtig den geküssten Elefantenrüssel. Bald schon trat einer nach dem Anderen zu Magorium und legte große, kleine aber auch ganz winzige Scherbensplitter auf den alten Holzschreibtisch der nun zum OP-Tisch geworden war.
Magorium fragte alle Kinder die gerade so gut geholfen hatten die Scherben wieder aufzusammeln ob sie nicht noch ein wenig bleiben wollten wenn sie denn Zeit hätten…und die Kinder waren sehr froh über das Angebot des alten Mannes, denn sie wollten doch so gerne sicher sein dass am Ende alles gut gehen würde! Und so setzten sie sich -alle ganz still-auf den großen Teppich und trösteten geduldig das viele Porzellan, das vor lauter Trauer ganz zittrig war und auch ein paar Krügchen die sich sofort bereit erklärt hatten die großen Elefantentränen aufzufangen mussten jetzt immer wieder ausgeleert werden.
Und während Magorium sich an die Arbeit machte und man so wartete und gemeinsam um ein gutes Ende bangte erzählte Magorium den Kindern zur Aufmunterung viele Geschichten. Und er erzählte auch die Geschichte von den Teelöffeln, die nicht mehr mit ihm sprechen wollten. Und die Kinder mussten viel lachen als er ihnen erzählte wie zickig und kindisch sie sich benahmen weil sie nicht mehr mit Magorium herumtollen durften und immer leise sein mussten…
und noch während die Teekanne –Scherbe für Scherbe- wieder heil gemacht wurde, vereinbarten die Kinder, gemeinsam mit dem gesamten Porzellan einen Deal:
Alle würden sie wiederkommen und dem alten Mann fleißig helfen, und natürlich auch mit den Löffeln solange spielen bis die vor Müdigkeit nur so in ihre Kisten fallen würden wenn er ihnen stets nur eine Geschichten dafür erzählen würde…–Und erst als all das vereinbart war, lag sie da lag plötzlich; seine beste Freundin, noch etwas angeschlagen, aber schon wieder ganz die Alte, Verliebte, lächelte matt und sagte so leise, das nur Magurium es hören konnte:
Siehst du, ich habe dir doch gesagt es wird alles gut werden!
Ich danke dir, mein bester Freund!
Die Kinder klatschten erleichtert in die Hände und der Elefant trompetete vor Freude so laut das Magorium ihn lachend ein weiteres Mal ermahnen musste, damit nicht gleich wieder etwas kaputt ging!
Und dann lehnt Magorium sich langsam in seinem Sessel zurück, streckt seine schmerzenden Glieder und sagte feierlich zu dem Elefanten:
Nimm sie mit. Nimm sie mit, werdet glücklich und beweist unserer Welt damit dass Liebe, unter allen Umständen, immer funktionieren kann und Scherben Glück bringen!
Da nahm der Elefant die Mutter der Porzellankiste mit zu sich Nachhause und alle Kinder die dabei gewesen waren hielten ihr Versprechen und halfen Magorium von da an wo sie nur konnten. Und auch die Eltern die diese Geschichte von ihren Kindern erzählt bekommen hatten, liefen nie wieder wie wild durch die Porzellanauslagen, sondern sahen sich alles ganz genau an und gaben Acht das nichts mehr kaputt ging.
Ach ja, die Teekanne und der Elefant bekamen schon bald ein Kind.
Und ab und an konnte es vorkommen, dass dieses Kind gedankenverloren, mitten auf der Straße stehenblieb, bis es eben diese Geschichte zu hören bekam.
Tag der Veröffentlichung: 23.03.2012
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