Die Tür schließt sich.
Wie jeden Abend ziehst du sie hinter dir zu und das ist das Letzte, was ich von dir höre.
Der Tag ist vorbei, du bist vorbei und ich bleibe zurück zwischen meinen Büchern, atme den Staub der alten Seiten. Es sind so viele. In den Regalen, auf dem Boden und in einem alten Schrank hinter Glas.
Ich lege mich auf den Boden unter das Fenster. Mein Kopf ruht auf drei dicken Schinken, deren alter würziger Geruch mir in die Nase steigt. Das Licht der untergehenden Sonne lässt den Staub längst vergangener Zeiten tanzen. Ich hauche in den Sonnenstrahl und wirbele ihn durcheinander. Zauber. Der alte Zauber steigt auf und hüllt mich ein. Ich muss die Bücher nicht mehr aufschlagen. Ich kenne ihre Geschichten. Allein der Einband setzt das Leben in Gang. Es läuft durch meinen Kopf, berührt alle meine Sinne. Die Finger gleiten über Buchstaben, Worte und Sätze, die den Eingang in eine andere Welt bedeuten. Wälder rauschen. Gewitter ziehen über Seen. Das Meer, tausendfach beschrieben, trägt Nussschalen und Ozeanriesen, beherbergt vorstellbares und unvorstellbares Leben. Farben wirbeln durch meinen Kopf, Bilder verändern sich, lassen Steinwüsten entstehen, mit allen Facetten menschlichen Lebens. Gesichter tauchen auf und vergehen wieder im Wandel der Zeit. Ihre Leben, festgehalten in Poesie und Prosa, in Romanen und Biografien, existieren weiter. Inspirieren und regen zum Träumen an.
Hier fühle ich mich wohl. Ich bin zu Hause.
„Du hast es geschafft“, sagte sie ergriffen.
Er nickte, trat auf sie zu und nahm sie zärtlich in den Arm.
Dann drehte er sich mit ihr um und ließ den Blick über das weite Land schweifen. Er lächelte, denn er kannte die Frage, die jetzt kommen würde.
„Wie?“
„Ich gab den Dingen ihren Namen zurück.“ Sanft küsste er sie auf die Stirn.
„Sie verloren ihren Schrecken …“, flüsterte sie und schmiegte sich an ihn.
„Ja, sie sind jetzt das, was sie sind. Mit all ihrer Unvorstellbarkeit, ihren Folgen, ihren Schmerzen. Sie haben nichts davon verloren, nur eines …“
„… sie machen dir keine Angst mehr.“
„Nein, sie machen mir keine Angst mehr.“
„Schau …“, hauchte sie und zeigte auf einen weit entfernten, dunklen Punkt, der sich rasch näherte.
Ein Adler. Erhaben und schön zog er sorgsam seine Kreise. Er warf nur einen Schatten und eine Feder, bevor er weiterflog. Sein Schrei durchbrach ihre Stille.
Es blieb nur ein Gefühl.
Endlich frei …
Die Himmel sind weit.
Der Blick durchdringt die Finsternis und trifft mitten ins Herz. Selbstleuchtende Wolken tauchen den Horizont in schwaches Silber. Der Wind erzählt den Blättern der Silberpappeln leise Geschichten von fremder Sehnsucht.
„Du bist anders“, sagst du ebenso leise, wie der Wind.
Ich weiß das. Ich war es schon immer. Trotzdem möchte ich es von dir hören.
„Wieso?“
„Du bist immer noch da.“
Ja, ich bin immer noch da. Seltsam, doch keine bewusste Entscheidung. Es hat sich einfach so ergeben. Oder doch nicht?
„Warum auch nicht?“
Ich sehe dich an. Deine Augen leuchten in der Dunkelheit.
„Du hältst es aus.“
„Ja, ich halte es aus.“
„Wieso?“
Ich zucke mit den Schultern. Über uns breitet sich der Sternenhimmel aus.
„Die Sterne. Ich sehe deine Sterne. Vielleicht deshalb.“
„Meine Sterne sind durcheinander. Ein Großteil ins Dunkel gestürzt. Die Sonnen verglüht. Zuviel. Es ist einfach zu viel.“
Deine Stimme ist nur ein Flüstern. In der Dunkelheit taste ich nach deinem Arm. Meine Finger schlingen sich um deine. Wärme.
„Das Universum ist unendlich …“
„Genau wie du“, antwortest du.
Erst die Morgendämmerung bringt uns zurück.
„Die Ungewissheit des Lebens spiegelt sich in der Gewissheit des Todes“, sagst du und legst deinen Arm um mich.
„Du wieder“, lache ich. Oft lache ich über deine Worte, aber du nimmst es mir nicht krumm.
„Es gibt keine Gewissheit außer der einen. Nie.“ Deine Worte klingen ernst. Ernster als ich es in dem Moment erwartet hätte. Nebel steigt in mir auf.
„Ich weiß.“ Mein Flüstern verweht mit dem Nachtwind.
„Sei nicht traurig, Schatz. Menschen kommen und gehen.“ Deine Finger verirren sich in mein Gesicht und stecken mir die Strähne hinters Ohr.
„Ja. Aber sie alle lassen etwas von sich zurück. Niemals ist es hinterher so, wie vorher.“
„Spuren …“ Dein Kopf lehnt gegen meinen.
„… und ihre Worte. Sie brennen sich ein.“
„Vergiss sie.“
„Ich kann nicht.“
Es ist dunkel. So dunkel und mir ist kalt. Ich sehe und doch sehe ich nichts. Nur ein Bild. Deine großen Augen, als du mich hieltest. Deine warmen Hände. Ja, an die erinnere ich mich.
Jetzt ist alles dunkel. Manchmal höre ich etwas, aber ich kann es nicht greifen. Was ist das? Sirenen? Ich verstehe es nicht. Dunkelheit.
Wer bist du? Du hast mich gehalten. Mich gestreichelt, als ich nur noch den Himmel sah. In mir war Stille. Kälte. Doch da, wo deine Hände mich berührten, da war Leben. Daran hielt ich mich fest. An deinem Leben. Deinen Augen. So voller Schmerz. So voller Angst und Hilflosigkeit. Warum?
Noch immer bist du bei mir. Noch immer fühle ich deine Hände. Noch immer hältst du mich fest.
Ich will leben.
Es war schwarz. Bei jeder Anstrengung wurde ihr schwarz vor Augen. Immer wieder. Es war leichter sie geschlossen zu halten. Dann war es nicht so erschreckend, wenn ihr Bewusstsein sich in ihr Innerstes verkroch. Fühlte sich so Sterben an? Das fragte sie sich mehr als einmal, als sie dort lag. Du musst nur loslassen, flüsterte eine Stimme.
Es ist schön, antwortete ihr Herz.
Sie konnte sich nicht bewegen. Die Glieder gefüllt mit Blei lag sie auf der Liege und dachte immer nur. Das Denken hörte gar nicht auf, wunderte sie sich. Nein, das Denken hörte nicht auf. Nie.
Mal angenommen, es gäbe die Ewigkeit …
Ja, so lange.
Aber was?
Hast du nicht genug, worüber du nachdenken könntest?
Für den Moment schon, aber nicht für die Ewigkeit.
Wieso?
Ich hab noch nicht genug gesehen.
Willst du bleiben?
Wenn das ginge?
Nein, so funktioniert das nicht. Willst du bleiben?
Ja, ich will bleiben.
Ich sehe dich. Du bist ein guter Mensch. Ohne Arg und Tücke. Ein liebes Herz. Und du lebst. Lebst dein Leben, jeden Tag.
„Sei bei dir“, flüstert eine Stimme.
…
Ich kann nicht.
Ich spüre dich. Deine Liebe zu dem, was du dein Eigen nennst. Deine Freude an dem, was du tust.
„Steh zu dir“, wispert es in der Luft.
…
Ich kann nicht.
Ich höre dich und die Menschen, die dich brauchen. Höre deine Worte, Ausdruck deiner tiefen Gedanken.
„Verleugne dich nicht“, quält ein dunkler Ton.
…
Ich kann nicht.
Das Flüstern wird lauter. Bohrt sich in mein Denken, vergiftet jedes Gefühl. Zweifel wächst zu Verzweiflung und rankt sich um meine Seele. Erstickt sie. Nimmt ihr die Luft zum Atmen, versteckt das Licht.
„Was ist mit dir, wer bist du, wie sind deine Träume?“, tickt das Metronom meines Geistes.
Ich kann nicht mehr.
Ich muss es dir heute sagen.
Ich liebe dich nicht mehr.
Während mein Herz zerreißt, heilt meine Seele.
Der Kaffee schwappte leise.
Sie legte auch die zweite Hand um die Tasse, um sie ruhig zu halten.
Mit übergeschlagenen Beinen saß sie am Küchentisch, die Ellenbogen aufgestützt und warf einen Blick aus dem Fenster.
Nichts. Nur grau. Nebel hing in schweren Schwaden auf der Wiese. Tropfen glitzerten an den Sträuchern und Bäumen.
Vorsichtig nippte sie an dem Kaffee. Ihre Hände zitterten immer noch. Bleischwer lag die Müdigkeit auf den Augen, vernebelte ihren Kopf. Sie bekam ihn einfach nicht zum Schweigen. Nicht mal der Schlafentzug half diesmal. Und der viele Kaffee, der ihr den Magen zerfraß und das Zittern in den Händen hervorrief.
Er hatte sie gestern in seiner PN gefragt.
Warum weigerst du dich zu schlafen?
Ich kann nicht. Wenn ich die Augen schließe, kommen die Gedanken. Die Zweifel, die Ängste und …
Und?
Die Ohnmacht.
Dein Körper braucht den Schlaf.
Mein Körper braucht eine Gehirnwäsche, eine Hauttransplantation, eine neue Identität.
Sie fühlte ihn bei ihren Worten lachen. Das tat gut. Er tat gut.
Die Sonne geht auf.
Hier ist es noch dunkel, ich sehe sie nicht.
Ich bin dir zwei Stunden voraus. Vergiss das nicht immer.
Diesmal lachte sie. Er war ihr so nah. Sie vergaß ständig, das sie nur schriftlich verkehrten und er fast tausend Kilometer entfernt lebte.
Du hast auch nicht geschlafen.
Nein.
Dann las sie nichts mehr von ihm, er war wohl eingeschlafen. Nicht zum ersten Mal.
Sie war so froh, dass es ihn gab. Diese Worte im Netz. Das Phantom in ihrem Kopf. Ein antwortendes Tagebuch. Virtuell, ein Spiel, eine Fantasie. Eine Stimme gegen die Sprachlosigkeit.
Texte: Sappho Sonne
Bildmaterialien: Sappho Sonne
Tag der Veröffentlichung: 01.09.2013
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