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Wer zu spät kommt, ...

 

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

 

So war es wohl tatsächlich, dachte sie. Sie war zu spät gekommen. Wieder und wieder. Als liefe sie dem Leben hinterher. Ihren Bedürfnissen, ihren Wünschen, nicht zuletzt ihrem inneren Tonangeber. Dem Trommler, der in seinem Anschlag dem Rhythmus der Welt immer um einen Schlag hinterherhinkte. Wieso funktionierte der nicht richtig? Wer hatte ihr so einen humpelnden Rhythmiker verpasst? Was stimmte mit ihr nicht?

Seufzend stand sie auf. Der Sonnenplatz auf der Fensterbank war zu heiß geworden. Schweiß perlte auf ihrer von Falten zerfurchten, blassen Stirn. Die Sonne stand fast im Zenit. Es musste auf Mittag zugehen. Sie hatte noch nicht einmal gefrühstückt.

 

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

 

Ein blöder Satz, dachte sie. Soll das eine Entschuldigung sein? Eine Ausrede? Eine Schuldzuweisung?

Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. Sie war schon zu ihrer eigenen Geburt zu spät gekommen. Zwei ganze Wochen. Als die Ärzte drohten, sie zu holen, hatte sie sich doch noch spontan dazu entschlossen, freiwillig das Licht der Welt zu erblicken. So jedenfalls hatte ihre Mutter es ihr immer wieder erzählt. Einen Spätzünder hatten sie sie immer genannt, eine Spätentwicklerin. Als machte sie das absichtlich.

Erneut war sie zu spät dran gewesen. Das weiße Hemd leuchtete in der Sonne, als sie sich in den Sessel gleiten ließ. Zu spät, um sich noch für Kinder zu entscheiden. Zu spät, dass der Mann merkte, er war ihr wichtiger als ihr Chef. Zu spät begonnen, zu den Vorsorgeuntersuchungen zu gehen.

Und jetzt starb sie noch nicht einmal termingerecht. Die Prognose der Ärzte lautete zwei Monate. Gebärmutterhalskrebs im Endstadium. Das war jetzt schon über drei Monate her. War das die Strafe für ihre lebenslange Zuspätkommerei? Alle kleinen Strafen des Lebens zusammengefasst und in einer einzigen großen verabreicht? Sie streckte ihren dünnen blassen Arm aus und ließ die Sonne Wolkenschatten werfen. Ganz hell, fast durchsichtig schimmerte ihre Haut.

 

Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.

 

Würde es auf der anderen Seite so weitergehen? Gab es eine andere Seite? Womit bestrafte das Leben? Mit dem Tod? Scheinbar nicht. Sonst säße sie nicht mehr hier. Heute sogar weitgehend ohne Schmerzen. Nur die Müdigkeit störte sie ein wenig.

Sie war zu Hause geblieben. Nicht in die Klinik gegangen. Wozu auch? Für wen? Den letzten Tag in einem Klinikbett zu verbringen, das konnte sie sich nicht vorstellen. Sie würde vermutlich ohnehin zu spät kommen.

Wenn ich wiederkomme, dann gib mir bitte eine bessere Uhr, dachte sie noch, bevor sie einschlief.

 

Impressum

Texte: (c) Sappho Sonne
Bildmaterialien: (c) Sappho Sonne
Tag der Veröffentlichung: 21.07.2013

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