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Septembertod

Ich hab Dich das erste mal gesehen, da standest Du mitten in der Nacht auf dem Brückengeländer und sahst in die Tiefe. Eine Hand umklammerte den Stahlträger, die andere hattest Du in Deinem Haar. Deine Finger waren verkrampft. Du zögertest. Warum? Es wäre so einfach gewesen. Loslassen. Fallen. Aufschlagen. Untergehen. Alles hätte ein Ende gehabt. Zumindest für Dich. Aber Du tatest es nicht. Ich weiß nicht mehr, wie lange Du da gestanden hattest. Du musstest wohl meinen Blick auf Dir gespürt haben, denn Du drehtest Dich langsam um und sahst mich an. Unsicherheit las ich in Deinem Blick. Angst. Resignation. Ich verharrte stumm. Wenige Meter von Dir entfernt. Sollte ich einfach weggehen? Sollte ich bleiben? Was könnte ich Dir sagen? Ich kannte Dich gar nicht. Es hatte nichts mit mir zu tun, ob Du springst oder nicht. Ich blieb einfach stehen, wie versteinert und starrte Dich an. Du stiegst vom Geländer und liefst von der Brücke.

Die Zeit ging ins Land und ich dachte nicht mehr an Dich. Unerwartet sah ich Dich wieder. Du warst also wirklich nicht gesprungen. Aber so ganz schien Deine Todessehnsucht nicht gewichen zu sein. Oder wolltest Du nur nicht warten? Du krochst unter der Bahnschranke durch, gerade als der Zug herangebraust kam. Ich saß in meinem Auto auf der gegenüberliegenden Straße. Für einen Moment verlor ich Dich aus den Augen. Vielleicht hatte der Zugführer es nicht mal bemerkt. Aber dann war der Zug vorbeigefahren und Du tratest über die Schienen. Gesund. Unversehrt. Mit langen, nachdenklichen Schritten liefst Du an dem Auto vorüber. Das Gesicht hinter dem Kragen der Jacke versteckt, die Schultern hochgezogen. Kurz sahst Du zur Seite und trafst direkt auf meinen Blick. Erschrecken las ich in Deinen Augen. Erleichterung spürte ich in meinen. Du hattest mich also erkannt. Die Schranke hob sich und ich fuhr los.

Einen Monat später, es war bereits September, beobachtete ich Dich dabei, wie Du auf einem Schemel standest und in einer alten, leeren Scheune ein Seil über einen Balken warfst. Ich hielt am Wegesrand. Von hier aus hatte ich eine gute Sicht. Hatte ich ein Recht mich einzumischen? Stand es mir zu, eine Meinung zu Deinem Leben und Deiner Entscheidung zu haben? Würdest Du es diesmal durchziehen? Deine Bemühungen hatten so etwas Unbeholfenes. Beinah musste ich lachen, als ich Dir zusah. Immer wieder warfst Du das Seil in die Höhe und es fiel auf Dich zurück. Ich seufzte und stieg aus. Es wurde Zeit etwas zu unternehmen. Du zucktest zusammen, als ich plötzlich mitten im offenen Tor der Scheune stand. Das blonde etwas längere Haar fiel Dir in Dein fein geschnittenes Gesicht. Die blauen Augen weiteten sich schockiert. Die schmale lange Nase wies direkt auf einen sinnlichen Mund mit zusammengepressten Lippen.

Mit einer fahrigen Kopfbewegung wedeltest Du Dir die Haare aus den Augen. Verunsichert starrtest Du zu mir auf. Seufzend trat ich auf Dich zu.

„Gib her“, war alles, was ich zu Dir sagte. Du drücktest mir ohne Widerspruch das Seil in die Hand. Ich sah mich kurz in der Scheune um und fand einen Knüppel, den ich um das Seilende binden konnte. Damit schaffte ich es beim ersten Versuch. Nach zwei weiteren Umdrehungen war das Seil fest genug. Zur Sicherheit band ich das lose Ende an einem Stützbalken fest. Jetzt lag es an Dir. Mit großen Augen beobachtetest Du mich. Immer wieder strichst Du Dir das Haar aus der Stirn. Deine Lippen waren leicht geöffnet. Die Panik in Deinen Augen stieg an. Schweiß trat Dir auf die Stirn. Du tratest an den Strick, klettertest wieder auf den Schemel und knüpftest einen Knoten. Ich ließ Dich nicht aus den Augen und setzte mich auf eine Kiste neben das Eingangstor. Diesmal wollte ich, dass Du begreifst. Ich hatte keine Lust Dir bis ans Ende meiner Tage einmal im Monat bei Deinen selbstmörderischen Absichten zuzuschauen.

„Was tust du da?“, fragtest Du mit heiserer Stimme.

„Ich schaue dir zu“, antwortete ich ruhig.

„Wieso?“ Deine Stimme zitterte.

Ich zuckte mit den Schultern.

„Es wird Zeit, dass du es hinbekommst. Oder eine Entscheidung triffst. Für heute ist alles bereit. Du musst es nur noch tun. Ich werde dich danach runterholen und die Polizei verständigen. So brauchst du auch keine Sorge haben, dass dein Körper hier hängt, bis er zerfällt oder von Tieren zerfressen wird. Raben und Krähen freuen sich immer über Aas. Oder du entscheidest dich, es nicht zu tun. Endgültig. Dann räumen wir alles wieder ab und ich nehme dich mit zurück in die Stadt. Aber entscheide dich. Heute. Jetzt.“

„Du würdest mir zuschauen, wenn ich sterbe?“

„Sicher. Es ist deine Entscheidung. Welches Recht hätte ich dir zu sagen, du sollst leben, wenn du das Leben nicht ertragen kannst?“ Mein gelangweilter Ton malte Dir eine tiefe Falte auf die Stirn. Was hattest Du von mir erwartet?

„Wenn du diese Nummern aber immer nur abziehst, um Hilfe oder Aufmerksamkeit zu bekommen, dann finde ich das ziemlich schwach. Es gibt andere Möglichkeiten, um gehört zu werden.“

„Was würdest du tun?“

„Das ist hier nicht die Frage. Ich kann dir weder sagen, was ich an deiner Stelle täte, denn da bin ich nicht. Ich lebe dein Leben nicht, wie sollte ich dir sagen können, ob es lebenswert ist? Noch was mein Leben betrifft … nun ich sitze hier, atmend, nicht wahr? Das dürfte deine Frage beantworten.“

Du klettertest von dem Schemel und setztest Dich hin. Die Stirn gerunzelt, Deine Lippen in Bewegung, als würdest du etwas vor Dich hinmurmeln. Dein schmaler Oberkörper zusammengesunken. Die Arme auf Deine Knie gestützt. Der Kopf gesenkt.

„Entscheide dich“, sagte ich. Du hobst den Kopf und sahst mich durchdringend an. All Deine Emotionen lagen in diesem Blick. Angst, Verzweiflung, Wut aber auch Liebe, Hingabe, Hoffnung. Wie kann all das in einem Augenaufschlag stecken? Aber dieser Blick beantwortete mir meine unausgesprochene Frage. Du warst noch nicht bereit zu sterben. Noch hingst Du sehr am Leben.

„Ich möchte nicht sterben.“

„Was tun wir dann hier?“, fragte ich und stand auf. Erleichtert erhobst Du Dich und mit einem Mal veränderte sich Dein Erscheinungsbild. Du standest aufrechter, Dein Gesicht wirkte offener, Dein Blick klarer. Ich holte das Seil herunter und nahm es mit zu meinem Auto. Dein Gang energisch, voller Tatendrang marschiertest Du zu meinem Auto und setztest Dich wie selbstverständlich auf den Beifahrersitz. Ich warf das Seil in den Kofferraum.

Wir fuhren schweigend in die Stadt. Es war alles gesagt. Auf dem Marktplatz ließ ich Dich aussteigen.

„Danke“, flüstertest Du, bevor Du die Tür zuwarfst. Ich nickte Dir zu und gab Gas.

Ich sah Dich wieder. Lachend. Auf dem Weihnachtsmarkt. Du warst nicht allein. Soviel Leben in Deinen Augen. Soviel Liebe.

Erst jetzt begriff ich den Verlust, den Dein Tod bedeutet hätte. Ich war glücklich über Deine Entscheidung für das Leben.

 

Impressum

Texte: Sappho Sonne
Bildmaterialien: Sappho Sonne
Tag der Veröffentlichung: 27.04.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für all jene, die den Mut haben zuzugreifen ...

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