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Das schüchterne Kind



Kleinkinder machen die seltsamsten Phasen durch. Das Kind, das sich eben noch jedem Menschen strahlend an den Hals geworfen hat und fröhlich in jede Kamera winkte, fängt von heute auf morgen an zu fremdeln. Ein Kind, das wochenlang vergnügt und spielerisch Vokale und Konsonanten lallend durcheinander mischte, antwortet einem plötzlich im ganzen Satz. Ein anderes Kind, das sich zwei Jahre lang kaum getraut hat, unter seinen Haaren hervorzugucken, brennt plötzlich vom Spielplatz durch und rennt los, um die weite Welt auf eigene Faust zu erkunden. Kein Blick zurück, es hatte einfach plötzlich die Erkenntnis, dass jetzt eine einsame Entscheidung angebracht war. Phasen wechseln bei Kindern gerne unmittelbar.
Man sieht sein Kind staunend an, fragt sich, ob es in der Nacht ausgetauscht wurde und wirft sicherheitshalber einen Blick in den Medizinschrank, um festzustellen, ob etwas Verdächtiges fehlt – aber tatsächlich hat sich im Kind nur einfach ein Schalter umgelegt. So ging es uns auch mit der Schüchternheit von Sohn I.
Nachdem er längere Zeit als Charmeur des Viertels bekannt war, der insbesondere bei fremden Frauen ein phänomenal erfolgreiches Flirtverhalten entwickelt hatte, um das ihn so mancher Möchtegern- Casanova beneidet hätte, wurde er von heute auf morgen schüchtern. Und zwar nicht in der dezent-niedlichen Variante mit leichtem Erröten, gesenktem Blick und dezenter Stimmlage, sondern in der schweren Variante, in der das Kind nicht einmal mehr in der Lage war, überhaupt noch mit anderen Menschen in Verbindung zu treten, wenn es nicht gerade die Eltern, der kleine Bruder oder die vertrauten Kindergärtnerinnen waren.
Ich ging eines Morgens in die Bäckerei, in der Sohn I bis dahin jeden Morgen heiter mit den Verkäuferinnen gescherzt hatte und fragte ihn wie jeden Morgen, was er haben wollte. Als ungewöhnlich lange keine Antwort kam, sah ich nach unten, wo das Kind hätte sein müssen, aber da war nichts. Ich sah mich um, kein Kind weit und breit.
Ich starrte den Fußboden an, der sich anscheinend gerade aufgetan hatte, um meinen Sohn zu verschlingen, als ich ein leichtes Ziehen am Hosenbein spürte. Das war Sohn I, der wie ein schmaler Schatten an der Rückseite meines Beins klebte und mich mit den Händen sachte zum Rückwärtsgang aufforderte – bloß raus hier. Die Verkäuferinnen beugten sich über den Tresen und sahen nach ihrem kleinen Liebling, der daraufhin hektisch um meine Beine herumwuselte, um nur bloß den Blicken der Damen zu entkommen, als wären es tödliche Laserstrahlen.
Er sah gehetzt aus. Nanu, dachte ich, da hat aber einer einen sehr schlechten Tag erwischt.
Nach kurzer Zeit merkten wir, dass es sich keineswegs nur um einen schlechten Tag, sondern viel eher um eine schlechte Phase handelte. Es war nicht mehr daran zu denken, dass der Sohn in einem Laden etwas selbst bestellte.
Es war auch nicht mehr daran zu denken, dass er im Beisein anderer Erwachsener den Mund aufmachte, und beim Betreten von Räumen, in denen sich Fremde aufhielten, entwickelte er verblüffende Talente darin, sich in Sekundenschnelle zu dematerialisieren.
Wir waren einmal auf einem Flohmarkt und ich trug ihn auf dem Arm, weil es um uns herum sehr voll war und er sonst nur Beine hätte sehen können, als eine der Verkäuferinnen ihn sah und begeistert „Oh, ist der süß“ rief.
Dann langte sie über ihren Tisch, um ihm einen Lolli zuzustecken.
Der Sohn, der auf meinem Arm weder weglaufen noch sich ausreichend verstecken konnte, wandte ohne Bedenkzeit einen alten Trick an, den man auch aus Tierfilmen kennt: er stellte sich tot. Ich hatte plötzlich einen vollkommen leblosen Körper im Arm, das Gewicht des Kindes schien sich in einer Sekunde zu verdoppeln.
Ein nasser Sack mit äußerst geringem Tragekomfort. Der Kopf kippte nach hinten, die Arme baumelten herab, weder durch Schütteln noch durch Ansprache war ihm irgendeine Reaktion zu entlocken. Hätte ich nicht gesehen, dass er durch den schmalen Spalt eines Auges die Hand der Verkäuferin mit dem Lolli darin weiter aufmerksam beobachtete, ich hätte mir tatsächlich Sorgen um ihn gemacht.
„Was hat der Kleine denn?“, fragte die Verkäuferin.
„Wir nennen es Schüchternheit“, sagte ich. Sie steckte mir den Lolli zu und ich versprach, ihn zu übergeben, sobald sich der Kleine wiederbelebt hätte, was wie durch ein Wunder bereits nach zwei, drei Schritten geschah. Sein Kopf tauchte wieder neben meinem auf, seine Hände tasteten suchend an mir herum: „Wo ist der Lolli? Der war für mich!“
Die Herzdame und ich versuchten, den Sohn wieder und wieder zu ermutigen. Wir forderten ihn bei jeder Gelegenheit zu kleinen und kleinsten Gesprächen mit Fremden auf, beteten ihm Formulierungen vor, verbanden kleine Erfolge mit Belohnungen. Es gab Kuchen, wenn er ihn selbst bestellte, es gab Schokolade, wenn er sie selbst bezahlte, er konnte so oft Karussell fahren, wie er wollte, wenn er selbst zum Schalter ging. Natürlich machten wir das nur, wenn es seiner Laune zuzumuten war. Also fast nie. Lange Zeit waren wir uns gar nicht sicher, ob diese Methode nützlich war oder nicht, großartige Fortschritte
waren nicht zu erkennen. Vielleicht war es auch falsch, den Jungen auf diese Art zu fordern, wir waren uns nicht sicher, vielleicht hätte man die Phase einfach hinnehmen müssen. Fast wäre ich in Versuchung gewesen, das Problem in einem Erziehungsratgeber nachzulesen. Kinder können einen manchmal wirklich bis zum Äußersten treiben.
Bis ich eines Morgens beim Bäcker stand, den Sohn wieder auf dem Arm. Ich sah mir die Auslage mit den Brötchen an, ich wusste nicht recht, was ich eigentlich haben wollte. Ich überlegte und überlegte, dem Sohn dauerte das nach einer Weile entschieden zu lange. Als ich mich nach einer ihm wohl unmenschlich lang erscheinenden Ewigkeit immer noch nicht für ein Brötchen entschieden hatte, beugte er sich vertrauensvoll über den Verkaufstresen und winkte die Verkäuferin heran. Als diese sich ihm zuwandte, teilte ihr der Sohn in freundlichen Worten leise mit: „Ich möchte ein Rosinenbrötchen. Aber das muss Papa gleich bestellen, weil ich bin doch so schüchtern.“
Dann hielt er unauffällig seine Hand auf. Die Verkäuferin nahm ein Rosinenbrötchen, reichte es ihm und sagte:
„Verstehe. Dann lassen wir das Brötchen besser von Papa bestellen. Aber bis dahin kannst du ja schon einmal abbeißen.“
Der sehr schüchterne Sohn nickte ihr verschwörerisch zu und knabberte dabei grinsend an dem Brötchen.
Es gibt Eltern, die ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Es ist alles nur eine Phase“ tragen. Ich verstehe das.

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Gewinnspiel




Wir verlosen 5 Exemplare von "Das Rosinenbrötchen oder Es ist alles nur eine Phase" unter allen Lesern, die folgende Gewinnfrage richtig beantwortet haben:


Was bestellt Sohn I in der Bäckerei?




1. ein Croissant
2. ein Rosinenbrötchen
3. eine Nussecke

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Einsendeschluss ist der 15.07.11

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Impressum

Texte: Sankt Ulrich Verlag ISBN: 978-3867441971
Tag der Veröffentlichung: 27.05.2011

Alle Rechte vorbehalten

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