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III. Die Viren der Mütter, die zu sehr lieben
Wir sind eben so: leicht kompliziert.
Fiorella Mannoia
Leicht kompliziert
An dieser Stelle sollten wir uns kurz mit den wichtigsten psychologischen Viren vertraut machen, die dazu führen können, daß Mütter zu sehr lieben.
Hat eine Mutter die eigenen emotionalen Schwächen erst einmal kennengelernt und ihre Wirkung beobachtet, kann sich eine gewisse Vertrautheit einstellen. Treten sie regelmäßig auf, kann es sein, daß sie sie irgendwann nachsichtig als „meine kleine Macke“ bezeichnet. Sie stößt sich nicht mehr daran.
Das sind die leicht komplizierten Eigenheiten jeder Frau und jeder Mutter.
Das Virus „Ich habe Angst, daß er es nicht ohne mich schafft“
„Ich weiß nicht, warum“, erzählt eine Mutter, „aber wir Eltern denken immer, daß unsere Kinder uns ständig brauchen und daß wir ihnen helfen müssen, auch wenn sie uns gar nicht darum bitten.
Als ich selbst noch gedacht habe, daß meine Kinder nicht auf mich verzichten können, war es genauso: Sie haben mich tagsüber so oft gerufen, daß ich es schon gar nicht mehr gehört habe. Sie waren vollkommen von mir abhängig. Sie konnten nicht einmal mehr allein
entscheiden, was sie im Fernsehen anschauen wollten.
Von den Hausaufgaben ganz zu schweigen … Endlose Nachmittage habe ich damit zugebracht, mit ihnen am Tisch zu sitzen und sie immer wieder anzutreiben: ‚Mach weiter, mach weiter …‘. Sie hatten nicht die geringste Motivation oder Eigeninitiative … Aber ich habe mich geändert. Und die Kinder haben verstanden, daß ihre Mama da ist, daß sie für sie da ist, auch wenn sie nicht immer neben ihnen sitzt.
Zu Alice habe ich gesagt, daß sie anfangen muß, selbst klarzukommen, und daß ich nicht mehr soviel Zeit hätte, sie bei den Hausaufgaben zu beaufsichtigen. Mit dem Aufräumen war es genauso … Das Gesundheitsamt hätte ihr Zimmer wahrscheinlich für unbewohnbar erklärt: Es war unordentlich, staubig, überall lagen Spielsachen herum, und ihre abgelegten Klamotten hingen über dem Bettrand ...
Und dann, von einem Moment auf den anderen, sobald ich die Nabelschnur ‚durchtrennt‘ hatte, sobald ICH mich von ihren Forderungen unabhängig gemacht hatte, geschah das Wunder. Alice fing an zu lernen und ihre Hausaufgaben zu machen, ihren Schulranzen selbständig zu packen, Dinge zu organisieren. Morgens nimmt sie sogar alleine den Bus, und auch den Rückweg von der Schule schafft sie ohne Hilfe. Unglaublich!
Und ihr Zimmer? Sauber, aufgeräumt, alles steht an seinem Platz, auch wenn es noch besser werden könnte.
Und Giorgio? Was die Hausaufgaben angeht, sind wir mit ihm noch ein bißchen hinterher, aber ich stelle schon fest, daß er versucht, es alleine zu schaffen. Der allergrößte Fortschritt, den wir erzielt haben, ist die Sache mit dem Schlafen. Er hatte angefangen, im Ehebett bei mir zu schlafen. Ich dachte schon, daß ich mich aus dieser Sklaverei nie würde befreien können.
Nun, ich dachte, daß er bei mir schlafen wollte, doch das eigentliche Problem war vielleicht (oder sogar sicher), daß ich das eben nur dachte und daß ich ihn auf diese Weise daran hinderte, „groß“ zu sein und in seinem eigenen Bett zu schlafen.
Ohne allzugroßes Aufhebens habe ich ihm also eines Abends gesagt, daß er ab sofort in seinem eigenen Bett schlafen würde, und zu meiner gewaltigen Überraschung hat er meine Entscheidung anstandslos akzeptiert. Jetzt schläft er allein, er wacht nachts nicht mehr auf, und ich habe morgens endlich keine Rückenschmerzen mehr.“
Die irrige Vorstellung, daß das Kind es nicht alleine schafft, ermüdet die Mutter unnötig und hindert das Kind daran, sich selber anzustrengen.
Außerdem wird es auf diese Weise um das befriedigende Gefühl betrogen, schon groß zu sein.
Ein Kind, „das könnte, wenn es nur wollte“, braucht diese Art der Hilfestellung nicht.
Es kostet nur ein wenig Aufmerksamkeit, die Situation richtig zu beurteilen.
Copyright © Sankt Ulrich Verlag
Texte: Sankt Ulrich Verlag
ISBN: 978-3867441834
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2011
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