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II. Das Rollenverständnis von Mutter und Tochter



Ein außergewöhnlich vertrautes Verhältnis – die Mutter als Vorbild im Kindesalter



Zwischen Mutter und Kind besteht ein ganz besonderes Band. Wer beobachtet, wie Mütter mit all ihrer Energie über das Kind wachen und wie Kinder mit all ihren Sinnen an ihrer Mutter hängen, erkennt die einmalige und unvergleichliche Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind. Mutter und Kind leben zeitweise in Symbiose, zum Beispiel während der Schwangerschaft, wenn das Ungeborene in völliger Einheit mit der Mutter heran- wächst. Auch die Zeit des Stillens nach der Geburt ist für Mutter und Kind eine wichtige symbiotische Erfahrung.
Für Mütter verändert sich dieser Zustand viel zu schnell. Kinder möchten zunehmend selbstständig werden und entdecken ihr eigenes Ich, ihren eigenen Willen und nicht zuletzt, dass sie eine eigenständige Person sind. Dadurch wird die anfängliche Symbiose zur Mutter stückweise aufgelöst.
Die Selbsterkennung des Kindes beginnt zunächst im Spiegel. Irgendwann spricht ein Kind nicht mehr von sich in der dritten Person. Der eigene Wille kommt oft mit heftigem Mütter und Töchter Nachdruck zum Vorschein. Das Kind möchte am liebsten alles auf einmal und vor allem möglichst alles allein machen, obwohl es dazu noch nicht in der Lage ist. Diese Sturm- und Drang-Zeit zu überstehen, ist weder für das Kind noch für die Mutter leicht. Sie erfordert Geduld, Verständnis und Grenzen: Geduld, um dem Kind zu helfen, selbstständig zu werden, Verständnis für die Unausgeglichenheit des Kindes und Grenzen, damit es Orientierungshilfe bekommt.
Der Weg in die Selbstständigkeit ist schwer: Der Wunsch nach Geborgenheit ist ebenso groß wie der Drang nach Unabhängigkeit.
Es widersprechen sich zwei starke Gefühle. So
geborgen es bei der Mutter ist, so spannend und heraus- fordernd ist die glitzernde Welt da draußen. Das Kind ist hin und hergerissen. Diese starken inneren Gefühle sind ja auch nicht so leicht zu verstehen. Sie machen unsicher.
Wenn das Kind in den Kindergarten geht, eröffnet sich ihm eine neue Welt. Für die Mutter heißt das: Haltgeben und Loslassen und Akzeptieren, dass es keine Exklusiv- beziehung mehr zum eigenen Kind gibt, sondern dass es außer ihr nun noch andere Bezugspersonen gibt, mit denen sie die Liebe ihres Kindes teilen muss. Während der Schulzeit entfernen sich die Kinder immer weiter von der Mutter als symbiotischer Bezugsperson. Es gibt nun Freundinnen und Lieblingslehrer(innen), die für das Kind wichtig sind und es beeinflussen.
Trotz der zunehmenden Einflüsse von außen bleiben Eltern für Kinder, insbesondere Mütter für ihre Töchter, Vorbild und Orientierungshilfe zugleich. Kinder orientieren sich am gleichgeschlechtlichen Elternteil. Mädchen ahmen ihre Mutter nach, denn Mädchen wissen, dass sie einmal eine Frau und vielleicht auch eine Mutter werden. Sieht ein Junge seinen Vater nachdenklich oder betrübt, macht ihm das vielleicht kurzzeitig Sorgen. Er wird aber später eher in der Lage sein, diese Stimmungen selbst zu zeigen. Sieht ein Mädchen die Mutter tanzend und übermütig, wird sie sich auch dieses abgucken.
Aus dem, was Mütter ihren Töchtern vorleben, entwickelt sich die Identität der Töchter, die entweder prägende Merkmale ihrer Mütter bewusst oder unbewusst übernehmen oder einen völlig anderen Lebensentwurf wählen. Auch die Reaktionen der Mütter haben auf das Verhalten der Töchter einen großen Einfluss. Für welches Verhalten werden sie gelobt oder getadelt? Typische Verhaltensweisen der Töchter werden zu einem großen Teil durch die Erwartungen der Mütter gefördert: Wird eine Tochter für ihre Eigenwilligkeit eher bewundert oder erntet sie dafür Tadel? Kinder spüren sehr genau, was von ihnen erwartet wird. Kinder sind zunächst in der Ausprägung ihrer Geschlechterrollen nicht festgelegt. Genau dies ist die große Chance, dass Fähigkeiten und Eigenschaften nicht verschüttet werden. Wichtig ist der Spielraum, den Mütter ihren Töchtern lassen. Töchter brauchen vielleicht abgewetzte Jeans und schrille Frisuren.
Sie müssen ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten kennenlernen und die Möglichkeit bekommen, stolz darauf zu sein, ein Mädchen zu sein.
Wie schwer es für Mütter ist, ihre bisherige Vertrauens- stellung im Ablösungsprozess der Töchter zu verlieren, zeigt folgendes Beispiel:

Irene, 42:



„Zu meiner Tochter (16) hatte ich bis jetzt ein sehr enges Verhältnis. Sie wusste immer, dass sie sich in schwierigen Phasen auf mich verlassen kann. Wir hatten ein außer- gewöhnlich vertrautes Verhältnis zueinander und Probleme – wenn es sie mal gab – auf den Tisch gebracht und in aller Offenheit besprochen. Wir ließen uns gegenseitig Anteil nehmen an unserem Leben. Jeder wusste von jedem über die besten Freunde Bescheid.
Nach Veranstaltungen war es auch üblich, den anderen, die nicht dabei waren, das Wichtigste zu erzählen. Das hörte vor circa einem halben Jahr auf, als unsere Tochter plötzlich ihren ersten Freund hatte, den sie mir und meinem
Mann verheimlichte. Ich bin dann irgendwie durch
Zufall dahintergekommen. Natürlich kann ich mir erklären, dass sie dieses neue „Erlebnisfeld“ eben nicht mit mir oder uns teilen will, aber diese Veränderung der einst so offenen Beziehung zueinander tut mir unheimlich weh. Es ist schwierig für mich, mit jemandem zusammen zu wohnen, der sich so verschließt. Ich kann mich immer eine ganze Zeit zusammennehmen, aber irgendwann kommt dann doch wieder diese Verletztheit (oder ist es Eifersucht) in mir hoch, und es kommt zum Krach. Diesen Krach provoziere meistens ich durch Sticheleien.
Auf normale Gesprächsversuche reagiert meine Tochter aber nicht, das Thema ‚Freund‘ blockt sie ab. Ich bin traurig und weiß nicht, ob es irgendwann wieder ein enges, vertrauensvolles Verhältnis geben wird oder ob ich mich mit ihrem Rückzug abfinden muss?“
Aus der Sicht der Tochter sieht das folgendermaßen aus:
„Meine Mutter hatte einen großen Einfluss auf mich. Wenn Mama gesagt hat, ihrer Meinung nach soll ich so oder so reagieren, dann hatte ich ein Problem, meine Meinung von ihrer zu trennen. Ich habe mich gefragt, bin ich jetzt dafür, weil sie es gesagt hat oder bin ich eigentlich auch selbst dafür? Oder bin ich dagegen, nur weil sie dafür ist?
Irgendwann muss man als Tochter erwachsen werden
und eigene Entscheidungen treffen. Und in der Zeit, in der man lernt, selbst die Verantwortung für sein Leben zu übernehmen, ist es schwierig, wenn eine starke Mutter da ist, die einem ständig sagt, was richtig und falsch ist. Bei mir wurde das Verhältnis wieder deutlich besser, als ich ausgezogen bin und ich mir in meinen Entscheidungen sicherer wurde. Heute kann ich einen Rat von meiner Mutter annehmen oder auch nicht. Aber es ist jetzt ein Rat und kein Befehl mehr.“
Dieses Beispiel zeigt, dass sich das enge Verhältnis mit Nähe und Vertrautheit verändert, sobald Töchter erwachsen werden, sich von ihren Müttern „abnabeln“ und sich dadurch von ihnen entfernen.

Copyrighht © Sankt Ulrich Verlag

Impressum

Texte: Sankt Ulrich Verlag ISBN: 978-3867441780
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2011

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