Wohnen für Hilfe
Ein Tauschgeschäft, von dem Senioren und Studenten profitieren
Vor der Haustür liegt die Süddeutsche Zeitung
. Das antike Klavier im Wohnzimmer und die zahlreichen Bücher – Romane von Grass, Lenz, Härtling und Kunstbände über Rodin, Chagall, Miró – lassen vermuten, dass hier jemand lebt, der interessiert und gebildet ist. Frau Bach wohnt hier, in dem Haus mit orangefarbener Außenwand, in einer Wohnstraße in Gröbenzell, am Stadtrand von München.
Sie ist eine der Senioren und Seniorinnen, die das Projekt „Wohnen für Hilfe“ in Anspruch nehmen.
„Wohnen für Hilfe“ ist eine Initiative, die es älteren Menschen ermöglicht, in der eigenen, vertrauten Woh- nung zu bleiben, und zwar auch dann noch, wenn sie Unterstützung im Alltag brauchen. Das Projekt verbindet die Interessen zweier sehr unterschiedlicher Gruppen miteinander: Studenten und Senioren. In vielen großen Studenten- städten gibt es Mangel an Wohnraum, und für Studenten mit kleinem Geldbeutel ist es nicht immer einfach, in den Universitätsstädten ein geeignetes Zimmer zu finden. Auf der anderen Seite haben oft ältere Menschen eine große Wohnung zur Verfügung.
„Wohnen für Hilfe“ bezeichnet den Tausch, bei dem ein
Student ein Zimmer oder eine Einliegerwohnung bewohnt, dafür keine Miete zahlt, sondern als Gegenleistung den Senior im Alltag unterstützt. Art und Umfang der Leistung legen die Beteiligten vertraglich fest.
Frau Bach lebt in einer großen Wohnung mit zwei Etagen. Früher wohnte sie hier mit ihrer sechsköpfigen Familie. Als sie später allein darin lebte, hatte sie meist einen Stu- denten oder eine Studentin als Untermieter. Seit vier Jahren benötigt sie Unterstützung bei manchen im Alltag anfallenden Tätigkeiten, und seitdem bietet sie ein Zimmer
gegen Hilfe an. „Der Wohnraum ist knapp und meine
Wohnung viel zu groß für mich allein. Ich habe kein gutes Gefühl, wenn oben ein Zimmer einfach leer steht“, sagt Frau Bach.
In dem Ort, wo Frau Bach lebt, gibt es viele Reihenhäuser, die damals für Familien ausgerichtet waren. Die Wohnun- gen haben entsprechend viele Zimmer, einen kleinen Garten, eine Spielstraße. Mittlerweile sind die Kinder aus dem Haus und die Eltern, nun 60 Jahre und älter, leben dort allein. Viele ziehen in die Stadt, weil ihnen das Haus zu groß geworden ist. Doch Frau Bach wollte hierbleiben, sie hat sich in all den Jahren, in denen sie hier lebte, an das Haus gewöhnt, ebenso an die Umgebung und die Men- schen in der Nachbarschaft. Über 40 Jahre hat sie in dem Haus verbracht.
Frau Bach ist 70 Jahre alt und ehemalige Grundschul- lehrerin. Sie hat einen wachen Blick und eine junge Ausstrahlung. Wenn sie spricht, fallen ihre geistige Lebendigkeit auf, ihr Allgemeinwissen und ihr reges Interesse.
Beim Gehen nimmt sie einen Stock zu Hilfe und das Bücken macht ihr Schwierigkeiten. Die Zeitung, die vor der Haustür liegt, kann sie selbst nicht hochheben, und das Treppen- steigen fällt ihr schwer, das Zimmer im obersten Stock kann sie gar nicht erreichen. Dort wohnt jetzt Klara, eine 28-jährige Studentin, die von ihrer Heimat Kasachstan zum Studieren nach München gezogen ist.
Klara wohnt seit einem Jahr im Haus von Frau Bach,
wo sie ein 16 m2 großes Zimmer bewohnt. Dafür zahlt
sie lediglich einen Anteil der Nebenkosten und hilft Frau Bach etwa vier Stunden wöchentlich. Wenn Frau Bach etwas braucht, das im oberen Stock oder im Keller ist und für sie schwer erreichbar, sagt sie es Klara, und sie bringt es ihr bei Gelegenheit.
Klara übernimmt die Dinge, die mehr Bewegung erfordern, als Frau Bach leisten kann. Sie wechselt zum Beispiel die Glühbirnen aus oder saugt Staub, denn der Staubsauger ist für Frau Bach zu schwer. Klara sorgt dafür, dass die Wohnung in Ordnung ist. Das heißt nicht, dass wöchentlich geputzt werden muss, Frau Bach sieht das nicht so genau, aber: „Ordentlich soll es halt sein!“
Die Vermittlung zwischen Frau Bach und Klara übernahm
der Verein „Seniorentreff Neuhausen“, der in Zusammen- arbeit mit dem Studentenwerk seit dem Wintersemester 1996/97 das Projekt „Wohnen für Hilfe“ in München organisiert.
Diese Wohnform gibt es in Deutschland seit 1992.
Das Debüt gab Darmstadt, 1995 erhielt dieses Wohn- projekt von der damaligen Familienministerin Claudia Nolte eine Auszeichnung.
Die Grundidee des Konzepts, dessen Vorreiter Spanien
und England waren, gibt es seit den 80er-Jahren. Es hat sich unter dem Begriff „Homesharing“ etabliert und weltweit verbreitet. Auch haben sich verschiedene Formen herausgebildet: Statt Miete erhalten Allein- erziehende Unterstützung bei der Kinderbetreuung, Menschen mit Behinderungen bei der Bewältigung des Alltags.
„Wohnen für Hilfe“ gibt es in einigen Studentenstädten, zum Beispiel Aachen, Köln, Frankfurt, Karlsruhe, Freiburg, Gießen, Münster, Stuttgart, München und im österreichi- schen Raum in Graz. Die Träger und Initiatoren sind verschieden, die Vermittlung erfolgt oft über die Studen- tenwerke der jeweiligen Städte. Für alle Initiativen gilt die Faustregel: Für einen Quadratmeter Wohnraum leistet der Student eine Stunde Hilfe im Monat, hinzu kommen lediglich die Nebenkosten.
So verschieden die Bedürfnisse der Senioren sind, so
unterschiedlich sind auch die Vereinbarungen. Während
es dem einen wichtig ist, dass der Student bestimmte Tätigkeiten erledigt, geht es dem anderen vorrangig um den Kontakt. Der gemeinsame Besuch von Veranstal- tungen oder Theateraufführungen kann deshalb ebenso Bestandteil der Vereinbarungen sein wie Einkaufen, Hilfe im Haushalt, Gartenarbeit, Erledigung von Behörden- gängen und Begleitung bei Spaziergängen. Um den Studenten nicht zu überfordern, sind pflegerische Tätigkeiten ausgeschlossen.
Besteht ein Bedarf an pflegerischer Hilfe, könnte diese zum Beispiel über einen ambulanten Dienst erbracht werden. Das Zusammenleben ist auf Zeit, denn der Studentenstatus ist ja zeitlich begrenzt, und so ist durchaus Flexibilität gefragt. Bei Frau Bach wohnten bereits mehrere Studen- tinnen, eine von ihnen brach ihr Studium ab und zog bereits nach drei Monaten wieder aus. Dennoch schätzt Frau Bach diese Wohnform, da sie weiterhin in ihrem Haus und ihrer gewohnten Umgebung leben kann, und sie genießt die Gesellschaft mit ihrer Mitbewohnerin.
Ein Schlaganfall: Und innerhalb einer Minute ist die
Lebenssituation eine völlig andere
Es war vor vier Jahren. Im Mai, am Muttertag, saß Frau Bach in ihrem Sessel im Wohnzimmer. Für den Abend war sie bei ihrer Tochter, die in der Nähe wohnt, zum Spargelessen eingeladen. Im Fernsehen lief eine Rede des Bundespräsidenten Horst Köhler. „Die wollte ich mir ansehen und später zu meiner Tochter fahren“, erzählt sie.
Plötzlich spürte Frau Bach, dass „da etwas nicht stimmte“, dass etwas mit ihr passierte. Ohne erkenntlichen Auslöser erlitt sie einen Schlaganfall. In ihrer Wohnung war sie allein. Als ihre Tochter dann vergeblich auf sie wartete, versuchte sie ihre Mutter anzurufen, und als sich keiner meldete, fuhr sie zu ihr. Sie fand ihre Mutter und rief den Notarzt. Frau Bach spricht von Glück, dass sie in ihrer Notlage so schnell entdeckt wurde und sofort ärztliche Hilfe kam.
Als sie dann im Krankhaus war, stellte sich bald heraus, dass sie nicht mehr so beweglich sein würde wie früher.
Viele Bewegungen und selbstverständliche Abläufe musste sie wieder mühsam erlernen. Schlafzimmer und Bad waren im ersten Stock – Treppen zu steigen war nicht denkbar. Sie wusste erst einmal gar nicht, wie es weitergehen sollte. Zunächst sah es so aus, als könnte sie sich nicht mehr selbstständig versorgen, die erste Zeit bewegte sie sich im Rollstuhl fort.
Ihre Kinder erkundigten sich und erfuhren von „Wohnen für Hilfe“. Während Frau Bach noch in der Rehabilitations- klinik war, nahmen ihre Kinder kleine Veränderungen im Haus vor, sodass es behindertengerechter wurde, und organisierten Frau Bachs erste Mitbewohnerin über dieses Projekt.
Als Frau Bach wieder zu Hause war, stand sie vor einer völlig neuen Situation. So hatte sie zunächst keine Vorstellung davon, wie das Zusammenleben mit ihrer neuen Mitbewohnerin unter den veränderten Umständen funktionieren würde. Sie konnte nicht einschätzen, wie sie zurechtkommen würde, und wusste noch nicht, welche Tätigkeiten für sie machbar und wo ihre körperlichen Grenzen waren.
Schon wenige Tage, nachdem Frau Bach wieder zu Hause war, zog die Studentin Alina ein. Als Frau Bach den Vertrag aufsetzte, wusste sie noch nicht, welche Hilfe sie brauchte und wollte. „Ich habe krampfhaft den Vertrag aufgesetzt und mir überlegt, welche Leistung ich möchte. Und da ich nicht mehr in die oberen Stockwerke konnte und auch nicht in den Keller, habe ich gesagt: ‚Sie ist meine Treppe‘.“
Wenn Frau Bach etwas von den oberen Stockwerken oder aus dem Keller brauchte, sollte Alina es ihr bringen. „Wir sind ins kalte Wasser gesprungen. Ich hatte keine Vorstellung, wie das jetzt aussehen sollte, und sie auch nicht. Es war ein Experiment. Und es ist gut gegangen“, erzählt sie.
Zurück aus der Rehaklinik, konnte sie viele Tätigkeiten im Haushalt, wie das Wäschewaschen, nicht mehr erledigen.
Das Kochen war mühsam, sie stieg zunächst auf Mikro- wellenessen um. So musste Alina mehr Arbeiten erledigen, als ihre Nachfolgerinnen: Sie wusch die Wäsche, bügelte, kochte hin und wieder, kaufte ein und hielt die Wohnung sauber.
Mittlerweile benötigt Frau Bach weit weniger Hilfe als in der Anfangsphase, sie ist beweglicher geworden. Sogar den ersten Stock kann sie wieder allein erreichen. Hatte sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt das Bett zunächst nach unten verlegt, schläft sie nun längst wieder oben.
Zu Hause leben:
Verschiedene Organisationen helfen dabei
Nach ihrem Krankenhausaufenthalt veränderten sich die
Prioritäten in Frau Bachs Leben. Pf legerische und medi- zinische Versorgung sowie Sicherheit waren für sie nun besonders wichtig. Da sie weiterhin ein möglichst selbstständiges Leben führen wollte, brauchte sie Ansprechpartner, an die sie sich wenden kann, wenn sie irgendwann intensivere Pf lege benötigen sollte. Auch kommt es im Alltag immer wieder zu Situationen, in denen sie Rat braucht, etwa bei behördlichen Angelegenheiten.
Ein Ansprechpartner für sie ist der Münchner Verein „Seniorentreff Neuhausen“. Hier bekam sie Rat, als Alina damals den deutschen Führerschein machen wollte. „Das war hochkompliziert“, bemerkt sie. „Allein hätte ich da nicht durchgeblickt.“ Auch bei Problemen im Zusammen- hang mit Aufenthaltsgenehmigung oder Arbeitsrecht der Studentinnen wird sie unterstützt.
Und dann gibt es den Sozialdienst im Ort, der, neben Seniorenberatung, pflegerische Dienstleistungen anbietet, die man je nach Bedarf anfordern kann. Dass dieser seinen Standort in der Nähe ihrer Wohnung hat, beruhigt Frau Bach.
Man könne auf dem Land sehr gut zu Hause leben, sagt sie, in ihrer Umgebung seien die ärztliche Versorgung und pflegerische Unterstützung gut gewährleistet. Es gibt verschiedene Stellen, die Hilfe und Beratung anbieten, die Entfernungen sind gering.
Auch für den Notfall ist vorgesorgt: Frau Bach trägt an ihrem Handgelenk einen Funk, über den sie mit dem Malteser Hilfsdienst in Verbindung steht. Sollte sie beispielsweise stürzen, betätigt sie den Knopf am Hand- gelenk und steht sofort mit der Hilfsorganisation in Kontakt. Einem Mitarbeiter schildert sie dann die Situation, der die notwendigen Vorkehrungen trifft, und falls Frau Bach nicht antwortet, den Notarzt schickt. Das Notruf- system gibt ihr Sicherheit, denn sollte sie stürzen, wäre sie selbst nicht in der Lage, allein aufzustehen.
Doch die Technik hat ihre Tücken: Einmal rutschte sie im Garten im Schnee aus und betätigte sogleich den Funk.
Dieser funktionierte jedoch nicht, denn durch den Schnee kam Feuchtigkeit an das Gerät. Zum Glück ist nichts passiert und das Gerät mittlerweile wieder funktionsfähig. Trotz des Vorfalls fühlt sich Frau Bach mit dem Sender am Handgelenk sicherer.
Notrufsysteme werden über die Telefonleitung und das Stromnetz angeschlossen. Der Senior trägt einen sogenannten Funkfinger am Körper, entweder am Armgelenk oder als Halsband. Der Alarm wird per Knopfdruck oder durch das Ziehen an einer Schlaufe ausgelöst und an die Notrufzentrale weitergeleitet.
Bei der Zentrale liegen alle notwendigen Daten des Seniors vor, sodass diese umgehend Hilfeleistung veranlassen kann. Manche Systeme – wie das von Frau Bach – sind mit einem Hausnotrufgerät verbunden, in dem Lautsprecher und Mikrofon integriert sind. Sie haben den Vorteil, dass sich die Senioren über eine Freisprechverbindung mit dem Mitarbeiter der Notrufzentrale verständigen können.
Notrufsysteme werden von Wohlfahrtsverbänden oder Hilfsorganisationen angeboten, mit denen die Senioren einen Vertrag abschließen. Für ältere allein lebende Menschen sind solche Systeme zu empfehlen, da sie mehr Sicherheit schaffen.
Sicherheit vermittelt natürlich auch die Wohnform „Wohnen für Hilfe“ selbst, da der Bewohner nicht allein in der Wohnung lebt.
„Es ist einfach beruhigend, zu wissen, dass jemand im Haus ist. Auch wenn jeder mit seinen Dingen beschäftigt ist. Ich weiß: Sie arbeitet oben, ich arbeite unten. Das ist ein angenehmes Gefühl“, erklärt Frau Bach.
Schließlich erlebte sie schon einmal, wie ihr die Anwesen- heit einer Studentin im Notfall Sicherheit gab. Denn eines Nachts stürzte sie im Bad und konnte nicht mehr aufstehen. Es war etwa 1.00 Uhr. Sie rief nach Alina, die sie sofort hörte und ihr hochhalf. „Da war ich schon sehr froh darüber, dass sie da war“, betont sie.
„Früher bin ich viel gereist – jetzt hole ich die ‚Reisen‘ zu mir nach Hause“
Das Besondere an dieser Wohnform ist, dass über die sachliche Vereinbarung hinaus auch eine zwischen- menschliche Beziehung entstehen kann. Frau Bach und Klara treffen regelmäßig aufeinander, obgleich die Kontakte nicht geplant sind. Manchmal frühstücken sie zusammen, mal treffen sie sich in der Küche, tauschen Lebensmittel aus, essen gemeinsam zu Abend, oder aus einem kurzen Gespräch entsteht eine längere Unter- haltung. Gelegentlich diskutieren die beiden anregend über Politik, Lebensentwürfe, Kindererziehung oder Literatur.
Wenn Frau Bach in der Zeitung einen Artikel sieht, der Klara interessieren könnte, dann schneidet sie ihn aus und legt ihn ihr hin. Später entwickelt sich manchmal ein Gespräch darüber. Ganz vorsichtig nähern sich die beiden einander an.
Gerade die persönliche politische Einstellung oder auch das Thema Religion erfordern, so Frau Bach, viel Einfühl- samkeit, vor allem, wenn Einstellungen manchmal erheblich divergieren. Man lernt sich immer näher kennen und erfährt zunehmend voneinander.
Die Art des Kontakts war bei den Studentinnen, mit denen sie zusammenlebte, verschieden. Manchmal entstand eine sehr persönliche Beziehung, wie bei Klara. Bei anderen Studentinnen war der Kontakt weniger intensiv, das Zusammenleben funktionierte dennoch gut.
Frau Bach und Klara haben jeweils ihren eigenen Tages- rhythmus. Frau Bach trifft sich regelmäßig zum Bridge- spielen und besucht vierzehntägig einen Schreibklub. Hier entwickelt sie zusammen mit anderen Kurzgeschichten. Es wird ein Thema festgelegt, wie beispielsweise „Abschied“, „Ankommen“, „Unverhofft“, und dann schreibt jeder darüber.
Alle Teilnehmer bekommen jeweils ein Exemplar des anderen und können Anregungen oder Verbesserungen dazuschreiben. „Es ist sehr interessant“, erzählt sie, „was für verschiedene Geschichten zu ein und demselben Thema entstehen.“
Ansonsten verbringt Frau Bach die meiste Zeit zu Hause und in ihrem Garten. Längere Ausflüge unternimmt sie kaum, sie würden sie zu sehr anstrengen. Deshalb tut ihr der Kontakt mit Klara gut, wie sie sagt. Diese erzählt ihr, was an der Uni passiert und was in München los ist: „Klara ist mein Tor zu Welt“, bemerkt Frau Bach.
Wenn sie erzählt, merkt man, dass zwischen ihr und Klara weit mehr besteht als eine Zweckgemeinschaft. Frau Bach bedauert, dass Klara morgen eine Prüfung hat, gerade an dem Tag, an dem wegen eines Streiks keine U-Bahn fährt, und Klara eine Stunde früher losgehen muss. Sie regt sich auch über die komplizierten Verwaltungsverfahren auf, die Klara als Ausländerin über sich ergehen lassen muss.
Die Vermittlung zwischen Vermieter und Student über- nimmt Frau Hoffmann, die Ansprechpartnerin für „Wohnen für Hilfe“ in München. Möchte jemand ein Zimmer gegen Hilfe anbieten, notiert sie den Ort, die Größe des Zimmers und die Bedürfnisse des Seniors. Dann kommt sie zu einem Hausbesuch vorbei. Von den Studenten hat sie ebenfalls die wichtigsten Informationen aufgelistet, zum Beispiel ihr Studienfach oder welche Arbeiten sie sich vorstellen können.
Frau Hoffmann lernt die Senioren und Studenten kennen und überlegt, wer zusammenpassen könnte. Auch später, wenn die Wohngemeinschaft bereits besteht, ruft sie in regelmäßigen Abständen an und erkundigt sich, ob alles in Ordnung ist.
Von Frau Bach weiß sie, dass diese gegenüber anderen Kulturen sehr aufgeschlossen ist. Deshalb ist es sicher kein Zufall, dass bisher eine Studentin aus Russland und eine aus Kasachstan bei ihr wohnten. „Fremde Kulturen interessieren mich. Ich werde da nicht mehr hinkommen und das nicht mehr sehen, also lasse ich mir die Welt hereintragen.
Früher bin ich viel gereist, jetzt hole ich die ‚Reisen‘ zu mir nach Hause. Ich hätte auch mal gerne jemanden aus Südamerika da, das würde mich interessieren!“
Soziale Kompetenzen sind gefragt
Wenn man sich für „Wohnen für Hilfe“ entschieden hat, ist man wie bei jedem Zusammenleben auch persönlich gefordert. Man muss aufeinander eingehen, Rücksicht nehmen und sich auseinandersetzen. Es ist eine sachliche Vereinbarung, aber es entspinnt sich eine Beziehung.
Als Frau Bach noch vermietete, lebte Marios, ein Student aus Griechenland, für einige Zeit bei ihr. Seine Mutter und Schwester meldeten sich an, die dann auch vier Wochen in ihrer Wohnung verbrachten. Marios’ Mutter eroberte die Küche für sich, und Frau Bach empfand deren Kommentare zunehmend als Einmischung.
Die Wohnung war nicht groß genug, zwei verschiedene Kulturen prallten aufeinander, was die eine als selbst- verständlich empfand, erlebte die andere als Beengung. Als die Familie die Wohnung wieder verließ, atmete Frau Bach auf.
Frau Bach meint, sie könne jetzt viel besser ihre Grenzen abstecken und wisse nun auch erst, was ihr beim Zusam- menleben wichtig ist. Bestimmte Dinge, die für sie wesentlich sind oder die sie nicht möchte, teilt sie gleich zu Beginn einer neuen Wohnpartnerschaft mit: „Ich habe die Erfahrung gemacht, wie viel ich gewähre, so viel wird auch selbstverständlich in Anspruch genommen. Mit der Zeit kann ich klarer vermitteln, was ich will und was nicht, und bestimme es von vornherein.“
Auch Forderungen an den anderen zu stellen, ist ein Balanceakt: „Die Leute sind nicht verfügbar. Ich kann nicht sagen: ‚Ich brauch dich jetzt morgen früh.‘ Sie haben einen Studienplan, einen festen Freund und Freunde, mit denen sie sich abends in der Stadt treffen möchten.“
Eine Studentin, die bei Frau Bach wohnte, hatte einen sehr straffen Studienplan, von morgens bis abends nahm sie an Vorlesungen und Seminaren teil. Nachts lernte sie, am Wochenende arbeitete sie dann für Frau Bach in der Wohnung. „Da hat man ja ein schlechtes Gewissen, wenn sie am Wochenende für einen arbeiten muss. Ich war eher darum besorgt, dass sich das Mädchen dann ausruht.“
Es sei ihr sehr wichtig, sagt Frau Bach, dass es der Studentin, die bei ihr lebt, gut geht. „Wenn sie sagt, sie kommt am Abend, und kommt nicht, mache ich mir Sorgen. Das ist wie bei meinen Kindern. Da muss ich aufpassen, dass ich nicht übergriffig werde.“
Neben Rücksichtnahme ist aber auch die Kompetenz gefordert, dem anderen seine Bedürfnisse mitteilen zu können. Neulich beispielsweise war so eine Situation: Die
Treppe, die zu Klaras Zimmer führt, ist aus Holz und die Benutzung kann bei manchen Schuhsohlen sehr laut sein.
Und so klapperte es oft, wenn Klara nach oben ging, was Frau Bach zunehmend störte. „Da habe ich zu ihr gesagt:
‚Bei der Alina, ihrer Vorgängerin, hat sich die Nachbarin beschwert, weil sie die Treppe so laut hinaufgegangen ist. Geht das ein bisschen leiser?‘ Dann meinte sie: ‚Ich kann
nicht leiser gehen, das liegt an den Schuhen.‘ Aber am nächsten Tag habe ich nichts mehr gehört. Seitdem ist sie beim Hochgehen nicht mehr so laut.“
Sollte es Schwierigkeiten zwischen dem Senior und dem Studenten geben, die sie selbst nicht lösen können, kann Frau Hoffmann hinzugezogen werden. Es wird dann zusammen mit ihr ein Vermittlungsgespräch geführt, in dem jeder sein Anliegen und Kritik vorbringen kann. Oft ist die Verständigung dann wieder hergestellt. Wenn das nicht klappt, wechselt der Student die Wohnung, und die beiden versuchen es mit einem neuen Mitbewohner.
Aber in den meisten Fällen ist das nicht notwendig, denn Senior und Student lernen sich vorher kennen und besprechen ausführlich, welche Erwartungen sie an das Zusammenleben haben. Beide profitieren vom Zusammen- wohnen, und das steht meist im Vordergrund.
Copyright © Sankt Ulrich Verlag
Texte: Sankt Ulrich Verlag
ISBN: 978-3-86744-117-9
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2010
Alle Rechte vorbehalten
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