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Für eine Verbindung zu den Essenern spricht auch, dass das Wirken des Johannes, zumindest dem vierten Evangelium zufolge, an einem Ort namens „Bethanien, auf der anderen Seite des Jordan“ (Joh 1,28) begann. Schon im 3. Jahrhundert störte sich Origenes daran, dass es keine Stadt dieses Namens gab. So folgerte er, dass die Kopisten einen Fehler gemacht haben und der Evangelist das Dorf Bethabara („Haus des Übergangs“) nahe der Mündung des Jordan in das Tote Meer gemeint haben muss. Das erschien ihm schon deshalb plausibel, weil die tatsächliche Taufstelle (wie wir noch sehen werden) keine acht Kilometer davon entfernt lag. Aufgrund der ähnlichen Schreibweise, so Origines, sei es wohl zur Verwechslung mit dem Dorf Bethanien am Osthang des Ölbergs ge- kommen, wo Jesus den Lazarus wieder zum Leben erweckte. Heute wissen wir, dass Origenes es sich dabei zu einfach gemacht hat. Selbst in den frühesten Handschriften des vierten Evangeliums aus dem 2. Jahrhundert ist stets von „Bethanien“ die Rede, erst aus der Zeit nach Origenes ist die alternative Schreibweise „Bethabara“ bezeugt.
Bethabara aber kann gar nicht gemeint sein, weil es aus jüdischer Perspektive „diesseits des Jordans“ und eben nicht „auf der anderen Seite“ lag und liegt. Auch eine Identifikation mit der Landschaft Batanäa, wie sie u. a. von Pater Bargil Pixner vorgeschlagen wurde, ist auszuschließen. Schließlich lag die Batanäa nicht am Jordan, in dem Jesus nach einhelliger Meinung aller vier Evange- listen getauft wurde, sondern östlich der Gaula- nitis, der heutigen Golan-Höhen.
Auch grammatikalisch scheidet sie aus, denn bei der Ortsangabe fehlt ein Artikel, wie er sprachlich notwendig gewesen wäre, um eine Landschaft zu kennzeichnen. Zudem ist die Batanäa auch viel zu weit entfernt, als dass sich „ganz Judäa und alle Bewohner Jerusalems“ (Mk 1,5) dorthin begeben haben könnten. Eine ungefähre Ent- fernungsangabe finden wir schließlich im Johannes- evangelium.
Als sich Jesus im März des Jahres 30 erneut „auf der anderen Seite des Jordan, an dem Ort, wo Johannes zuerst getauft hatte“ (Joh 10,40), aufhielt, dauerte es exakt einen Tag, dass ihn die Nachricht vom Tod seines Freundes Lazarus erreichte. Jesus blieb noch zwei Tage, dann legte er den Weg in einem weiteren Tag zurück, so dass Lazarus „schon vier Tage im Grab“ (Joh 11,17) lag, als Jesus ihn erweckte. Eine Tagesreise entsprach 35–40 Kilometern, viel zu wenig also für die 140 Kilometer Luftlinie entfernte Batanäa, aber genau richtig, um das rechte Jordanufer bei Jericho zu erreichen (von Bethanien am Ölberg aus eine Wegstrecke von ca. 35 km).
Aber konnte es tatsächlich zwei Siedlungen mit demselben Namen gegeben haben, die eine bei Jerusalem, die andere am östlichen Jordanufer? Und war es ein Zufall, dass Jesus in beiden wirkte? Eine verblüffende Antwort auf diese Frage bietet der britische Neutestamentler Brian J. Capper von der Canterbury Christ Church University an.
Bethanien, so Capper, war zunächst einmal kein Ort, sondern eine Institution, Teil eines Netzwerkes esse- nischer Wohlfahrtshäuser und -Siedlungen, die beth anya, wörtlich: „Haus der Armen“ genannt wurden. Hier kümmerten sich Angehörige des Ordens, unterstützt von reichen Gönnern, um die Bedürftigen. Das Netzwerk war Teil des Bestrebens der Essener, eine neue, gerechte und gottesfürchtige Gesellschaftsordnung zu begründen, die als Neuer Bund bezeichnet wurde. Hier fand schließlich Jesus, der ähnliche Werte vertrat, begeisterte Aufnahme.
Tatsächlich beschreibt auch Flavius Josephus die Essener- Gemeinschaft quasi als Vorläufer späterer christlicher Orden: „Den Reichtum verachten sie, und bewundernswert ist bei ihnen die Gemeinschaft der Güter ... alle verfügen wie Brüder über das aus dem Besitztum der einzelnen Ordensmitglieder gebildete Gesamtvermögen“.
In jeder Stadt gäbe es Gemeinschaftshäuser, in denen ein Essener alles finden würde, was er zum Leben braucht. Gleichzeitig betont er ihre Fürsorge für die Bedürftigen: „... in zwei Dingen besitzen sie völlige Freiheit, in Hilfeleistung nämlich und in der Ausübung der Barmherzigkeit. So ist es jedem gestattet, Unterstützungsbedürftigen beizu- springen, wenn sie dessen würdig sind, und den Dar- benden Nahrung zu reichen.“
Die Tempelrolle der Essener, die man in den Höhlen von Qumran fand, verlangt: „Du sollst auch machen drei Plätze östlich der Stadt, abgesondert voneinander, wo jene hingehen sollen mit einer Hautkrankheit, einem Ausfluss oder einem (nächtlichen) Samenerguss“.
Dort sollten diese Unreinen sich reinigen und warten können, bis es ihnen nach den jüdischen Reinheits- vorschriften gestattet war, die Stadt des Tempels zu betreten. Man kann sie mit gutem Recht mit den Pilger- hospizen des Mittelalters vergleichen, aus denen unsere Hospitäler entstanden. Diese „drei Plätze“, so erfahren wir weiter in der Tempelrolle, sollten mindestens 3000 Ellen (etwa 1500 Meter) von der Stadt entfernt liegen und zwar so, dass man vom Tempel aus nichts Unreines sieht.
All diese Kriterien erfüllen drei Orte am Südostrand des Ölbergs, nämlich En-Shemesh, Betfage und Bethanien. Und auch aus einem weiteren Grund lagen sie günstig: Hier führte die Straße von Jericho nach Jerusalem vorbei, der Weg, den die meisten Pilger nahmen, die das aggressive Samaria mieden und lieber über die jüdischen Gebiete östlich des Jordans anreisten, um bei Jericho erneut den Fluss zu überqueren. Daher ist anzunehmen, dass hier die Essener ihre „Sozialstationen“ im Zeichen des „Neuen Bundes“ errichteten.
Wer auf der Wanderschaft Opfer einer Hautkrankheit wurde, einen Ausfluss oder einen Samenerguss erlitt, konnte sich hier der drei- bis siebentätigen Reinigung unterziehen, die vorgeschrieben war, bevor der Tempel betreten werden durfte. Zugleich dienten die Häuser wohl der Fürsorge für die Notleidenden. Es waren Pilgerhospize, Armenküchen und Krankenhäuser in einem, behauptet Capper.
Eine ganze Reihe von Indizien spricht für diese These. Zunächst sind da einmal die Personen, die in den Evan- gelien als Bewohner von Bethanien am Ölberg genannt sind. An ihnen ist einiges auffällig.
Da wäre einmal das Geschwistertrio Lazarus, Maria und Martha. Dass sie offenbar als Unverheiratete zusammen- wohnten, obwohl es sich bei allen dreien um erwachsene Menschen handelte, war unter Juden mehr als ungewöhn- lich. Schlielich galt ihnen eine frühe Ehe und das Zeugen von Kindern als Pflicht vor Gott. Die einzige Ausnahme bildeten die Essener, die, wie Flavius Josephus betont, „in Enthaltsamkeit und Beherrschung der Leiden- schaften ... die Tugend erblickten. Über die Ehe denken sie gering“ – die meisten von ihnen lebten zölibatär. Dann wäre da „Simon der Aussätzige“, in dessen Haus Jesus zu Gast war und von dem wir nicht wissen, ob er einst wirklich an Lepra litt und geheilt wurde oder ob sein „Aussatz“ nur eine Hautkrankheit, etwa Neurodermitis, war.
Lange wurde von Exegeten bestritten, dass die echte Lepra (auch Hansen-Krankheit) zur Zeit Jesu überhaupt in Palästina verbreitet war. Gerne erklärte man ganz pauschal alle „Aussätzigen“ zu Trägern relativ harmloser Hautkrankheiten. Erst seit Juni 2000 weiß man, dass diese Erklärung falsch ist. Damals entdeckten die Archäologen
James Tabor und Shimon Gibson auf dem „Blutacker“
Hakeldama auf der anderen Seite des Hinnom-Tales gegenüber der Südmauer Jerusalems ein altes Felsengrab. Es war vor kurzem ausgeraubt worden, die Fragmente von Ossuarien (steinernen Knochentruhen) und menschliche Gebeine lagen noch verstreut vor seinem Eingang. Was die Grabräuber nicht interessiert hatte, waren die zum Skelett zerfallenen Überreste eines Menschen, die, noch
in die Überreste eines antiken Grabtuchs verhüllt, in einem der Schächte (kokhim) des Grabes lagen. Für die Archäologen war dies eine unglaubliche Entdeckung. Sofort schickten sie ein Fragment des Grableinens zur Radiokarbondatierung in die USA; es stammte aus dem 1. Jahrhundert. Gerichtsmediziner, die daraufhin die Knochenreste untersuchten, kamen zu dem Schluss, dass der Tote an Tuberkulose und Lepra litt. Ein Mittelfuß- knochen wies Veränderungen auf, wie sie als Folge der Hansen-Krankheit typisch sind.
Damit war der Skelettfund der erste Beweis dafür, dass Lepra zur Zeit Jesu im Heiligen Land verbreitet war – und zumindest einige der „Aussätzigen“, denen er begegnete, tatsächlich mit ihr infiziert sein konnten.
Dass dieser Simon der Aussätzige in Bethanien ein Haus hatte, scheint den Charakter der Siedlung als Essener- Kolonie für kultisch Unreine zu bestätigen. Daran ändert auch nichts, dass Simon offenbar ein Pharisäer war (Lk 7,36–44), denn die Essener sympathisierten mit den Pharisäern; ihre gemeinsamen Gegner waren die Sad- duzäer, die „Tempellobby“. Das stärkste Indiz aber ist archäologischer Natur. 1951 machte der bekannte Dominikanerarchäologe und Leiter der École Biblique in Jerusalem, Pater Pierre Benoit, in Bethanien eine sensa- tionelle Entdeckung. Im Garten des Klosters der Vinzen- tinerinnen stieß er auf eine Anlage, die er zunächst für ein judenchristliches Baptisterium hielt. Über eine in den Kalkstein geschlagene Treppe steigt man in eine Höhle hinab, die in ein fünf Meter breites und vier Meter tiefes Becken mündete. Erstaunt stellte Benoit fest, dass die Treppe durch einen niedrigen Maueransatz in der Mitte der Stufen in einen Auf- und einen Abgang geteilt war. Die mit einer Kalktünche verputzten Wände waren über und über mit Graffiti bedeckt. Über einen Kanal war der „Taufkeller“ mit einer Zisterne verbunden, die das Becken offenbar mit frischem Wasser versorgte.
Heute steht fest, dass die Anlage ursprünglich eine jüdische Mikwe war, durch die Zuleitung versorgt mit „lebendigem Was126 ser“. Mikwen nach diesem Muster fanden sich in Qumran, auf dem Jerusalemer Zionsberg – wo sich laut Flavius Josephus das Essener-Viertel befand – und im unmittelbaren Tempelbereich. Sie war zu groß, zu aufwendig, um einem privaten Zweck zu dienen. Alles deutet darauf hin, dass sie das Reinigungsbad des Essener-Hospizes von Bethanien war. Hier könnten auch Jesus und seine Jünger gebadet haben, bevor sie in die Stadt des Tempels kamen.
Offenbar lag ein zweites beth anya, ein Hospiz für Jerusalempilger, am Ostufer des Jordan gegenüber von Jericho, dort, wo die Pilgerströme den Fluss überquerten. Von hier aus war es nur noch ein Tagesmarsch nach Jerusalem. Grund genug, an dieser letzten Etappe der Wallfahrt noch einmal innezuhalten, sich körperlich und spirituell zu reinigen und, wenn man Hilfe benötigte, die Fürsorge der Essener zu suchen. Für den Orden war der Ort von Bedeutung.
Hier hatte einst Josua den Fluss überquert, um Kanaan zu erobern, hier wollten die Essener mit ihrer neuen, spirituel- len Land- nahme beginnen. Die geistige Verbindung zu Josua war Jesus von Geburt an mit auf den Weg gegeben. Denn Josua und Jesus sind nur zwei Variationen desselben biblischen Namens Jehoshua (Gott ist Hilfe), woraus zunächst in der Kurzform Joshua, später, zur Zeit des Zweiten Tempels, aber Jeshu wurde, der Name also, den wir zu Jesus latinisierten.
Der Name war nicht selten. Flavius Josephus nannte 21 seiner Träger, bei jüdischen Ossuarien (Gebeinurnen) -Inschriften rangiert er an fünfter Stelle mit elf doku- mentierten Beispielen, weshalb der Gottessohn außerhalb seiner Heimat nur durch den Zusatz „von Nazareth“ (ha-Nozri) oder gleich als der Nazarener (Nazari) identifiziert wurde. Doch so häufig der Name war, er hatte eine tiefere Bedeutung, sonst hätte ihn nicht der Engel gleichermaßen seiner Mutter (lt. Lk 1,31) und seinem Stiefvater (lt. Mt 1,21) offenbart.
Er war tatsächlich der neue Josua, der das neue Israel in das Reich Gottes führen würde, und auch er begann damit am Ostufer des Jordans. Es war also kein Zufall, dass ausgerechnet hier das öffentliche Wirken Johannes’ des Täufers und Jesu seinen Anfang nahm.
Noch ein weiteres Detail ist interessant. Nach der essenischen Gemeinderegel für das Israel der Endzeit, die in der ersten Höhle von Qumran entdeckt wurde, gab es für jede Aufgabe in der Gemeinschaft ein Mindestalter. Mit 20 wurde ein Junge zum Mann, durfte er der Sekte beitreten und, wenn er nicht zölibatär leben wollte, auch heiraten. Mit 25 konnte er seinen Dienst in der Gemein- schaft beginnen, doch erst mit 30 galt er als mündig und reif, an einem Streitgespräch teilzunehmen oder eine Führungsaufgabe zu übernehmen. Johannes war 31, als er im Herbst 27, vor dem Versöhnungsfest, seine Mission begann, Jesus war 31, als er im Januar 28 an die Taufstelle am Jordan kam.
Doch es gab zwei große Unterschiede zwischen Johannes und den Essenern. Der eine lag in ihrer Zielgruppe. Der Orden war elitär, sonderte sich bewusst von der „Welt“ und den „Männern des Irrtums“ ab, der Täufer richtete seinen Ruf an alle Menschen. In den Qumran-Schriften begegnet uns eine Gesetzesfrömmigkeit, mit der sie sogar die penibelsten Pharisäer übertrafen. Selbst wenn ein Mensch am Shabbat in einen Brunnen fiel, war es den Essenern verboten, ihn zu retten. Aus ständiger Sorge um kultische Verunreinigung unterzogen sie sich mehrfach täglich rituellen Waschungen.
Die Taufe des Johannes lehnte sich zwar in ihrer Form an diese Waschungen an – der Jordan als Fluss war die Ur-Mikwe, sein „lebendiges Wasser“ genügte allen Vorschriften der Halacha –, doch er verfolgte mit ihr einen anderen Zweck. Es ging ihm nicht um die Reinigung des Körpers, sondern der Seele. Seine Wassertaufe war nur eine Vorbereitung auf die Taufe mit dem Heiligen Geist, die er kommen sah. Trotzdem scheint zumindest ein Teil der Essener erst Johannes, den sie für einen Propheten hielten, und dann auch Jesus unterstützt zu haben.
Bethanien jenseits des Jordan war für Johannes nicht nur deshalb interessant, weil hier Josua den Jordan überquerte, um das Gelobte Land zu erobern. Der Ort stand auch in enger Beziehung zu einem alttestamentarischen Propheten, mit dem er sich sehr verbunden fühlte: Elija. Auch von ihm heißt es (in 2 Kön 2,7), er habe an der Furt auf der Höhe von Jericho den Jordan überschritten, um auf der anderen Seite des Flusses in einem feurigen Wagen zum Himmel aufzufahren. Seit alter Zeit wurde dort eine Höhle verehrt, in der Elija gewohnt haben soll, und ein Hügel, von dem aus er in den Himmel geholt wurde. Der Prophet würde wiederkommen, um den Messias an- zukündigen, hieß es bei den Juden. „Er wird mit dem Geist und der Kraft des Elija dem Herrn vorangehen, um das Herz der Väter wieder den Kindern zuzuwenden und die Ungehorsamen zur Gerechtigkeit zu führen“ (Lk 1,17), hatte der Engel seinem Vater Zacharias vor der Geburt des Johannes verkündet.

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Texte: Sankt Ulrich Verlag ISBN: 978-3867440929
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2010

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