Leseprobe
Wer vertraut, wird nichts beschleunigen wollen
(Jesaja 28,16*)
Beschleunigte Zeit
Ein ehrlicher Mensch erntet vielfachen Segen,
wer aber hastet, um sich zu bereichern,
bleibt nicht ungestraft.
(Sprichwörter 28,20)
Wer hastig rennt,
tritt fehl.
(Sprichwörter 19,2)
Ein Besitz, schnell errafft am Anfang,
ist nicht gesegnet an seinem Ende.
(Sprichwörter 20,21)
An Unrast denken
ist Wermut und Gift.
Gut ist es, schweigend zu harren
auf die Hilfe des Herrn.
(Klagelieder 3,19.26)
So spricht Gott, der Herr:
Seht her, ich lege einen Grundstein in Zion,
einen harten und kostbaren Eckstein,
ein Fundament, das sicher und fest ist:
Wer glaubt,
der braucht nicht zu fliehen.
(Jesaja 28,16)
tick tack tick tack
wir haben nur ein paar Minuten
tick tack tick tack
wir haben nur ein paar Sekunden
tick tack tick tack
wir brauchen alles immer schneller
tick tack tick tack
wir brauchen alles jetzt
tick tack tick tack
es ist vorbei.
Heute wird die Zeit immer genauer vermessen und exakter eingeteilt. Ihr herausragendes Merkmal ist Schnelligkeit. Zeit muss ausgenutzt und ausgekostet werden. Es darf keine verlorene Zeit und keine Langsamkeit geben. Keiner hat Zeit, also müssen wir Zeit sparen. Die Möglichkeiten der Zeitersparnis sind vielfältig. Modernste Fortbewe- gungsmittel bringen uns immer schneller an unser Ziel. Die Telekommunikation erhöht das Tempo der Beschleu- nigung noch weiter. Fernsehen und Internet liefern uns in Sekundenschnelle Weltereignisse und Weltorte ins Haus.
In einer digitalisierten Welt nimmt man an allem in
„Echtzeit“ teil. Der Austausch von Informationen in so genannter Echtzeit führt zu immer neuen Geschwindig- keitsrekorden. Die Herrschaft der kurzfristigen Zeit setzt sich durch. Alles wird in das Raster des Momentanen und Aktuellen gepresst. Die Kommunikationsmedien überfluten uns mit neuesten Informationshäppchen, die zum Sende- zeitpunkt schon veraltet sind und sofort durch neue ersetzt werden. Die Gegenwart „schrumpft“ zusehends. Sie umfasst immer kürzere Zeitspannen, weil das Geltende und Bestehende einer immer schnelleren Verfallszeit unter- liegt. Das Leben wird vom Instant-Effekt bestimmt. Es entsteht eine merkwürdige „Flüchtigkeit“ des Lebens: Was
heute „in“ ist, ist morgen „out“.
Dass die Gegenwart immer schneller veraltet und zugleich die Zukunft der Gegenwart immer schneller näher rückt, empfinden viele nicht als beklagenswerte „Gegenwarts- schrumpfung“, bringt sie doch zugleich eine willkommene „Beherrschbarkeit“ der Zeit mit sich. Mit der so genannten „Postmoderne“, so sagt man, sind „neue Zeiten“ an- gebrochen. Sie bergen ungeahnte neue Möglichkeiten und neue Freiheiten im Umgang mit der Zeit. Die sich an der Uhrzeit orientierende Zeitordnung wird abgelöst durch eine flexible, selbstbestimmte Gestaltung und Einteilung der Zeit. Jeder verfügt nunmehr über die Freiheit, sich sein Zeitmaß selbst wählen zu dürfen. Jeder Einzelne ist aufgefordert, sich quasi in eigener Regie in der Zeit zurechtzufinden und sich mit der Zeit zu „arrangieren“.
Diese neue Freiheit wird aber heute zunehmend als Last denn als Lust erfahren. Sie bedeutet einen permanenten Entscheidungsdruck und Zwang, den viele als Über- forderung erleben. Es gilt, immer wieder neu über „Zeit“, ihre Nutzung, ihre Gestaltung und Organisation zu entscheiden.
Die Angebote hierfür sind vielfältig, verwirrend, kaum überschaubar. Sei es das Handy als Alleskönner oder das verkabelte, komplett ferngesteuerte Wohnzimmer – die Werbung bombardiert uns mit immer neuen Geräten und Medien, die versprechen, das Leben angenehmer, leichter und schneller zu machen. Alle diese Angebote „verheißen“ Entlastung und Freiheit, aber man erlangt diese nur um den Preis, sie auch bedienen und nutzen zu müssen. Dafür aber braucht es Zeit. Und so kann es geschehen, dass man immer mehr Zeit „investieren“ muss, um am Ende etwas mehr Zeit zu haben. Ständig auf der Suche nach der gewonnenen Zeit, die die Nutzung der neuesten Geräte und Medien verspricht, kommen viele schließlich zu der desillusionierten Einsicht, dass all dies zu nichts Nutze ist, dass man rein gar nichts von der Zeit hat.
Wer mit den Medien Zeit verbringt, hat nicht nur die
von vielen angepriesene Möglichkeit, Zeit zu gewinnen.
Man kann mittels der Medien auch Zeit „totschlagen“. Zeit ist in der Mediengesellschaft zwar oft knapp, aber sie ist andererseits zuweilen auch im Überfluss vorhanden – als lange Zeit, als Langeweile. So stellt sich für viele heute das Problem, dass man alles daran setzt, Zeit zu gewinnen, aber am Ende mit der gewonnenen Zeit nichts anzufangen weiß. Die Medien bieten sich hier nicht nur als Zeit-Beschleu- niger, sondern auch als Zeit-Zerstreuer an.
Medien wie das Fernsehen lenken von der langen, leeren Zeit ab. Das Fernsehen zieht Zeitfurchen in den Alltag und strukturiert ihn. Sendetermine bestimmen den Tagesablauf, einzelne Programme setzen Fixpunkte. In Zeiten, in denen Lebenswelten medial geprägt sind, wird die Lebenszeit immer mehr zur Medienzeit. In dem Maße, in dem uns eben diese Medien – angesichts unseres vermeintlichen
Zeitmangels – helfen Zeit zu sparen, tragen sie zugleich zu einem Zeitüberfluss bei. Weil man oft nicht weiß, wie man die „überschüssige“ Zeit sinnvoll nutzen kann, greift man wiederum auf das Medienangebot zurück. So kommt man aus der Medien-Zeitschleife nicht mehr heraus.
Dass dies so ist, wird vielen aber oft nicht bewusst, weil sich die Möglichkeiten, Zeitsouveränität zu erlangen, vervielfältigt haben. Beschleunigung bedeutet an dieser Stelle längst nicht mehr nur, dass man das Tempo stetig steigert. Sie dient vielmehr dazu, die Grenzen von Zeit und Raum aufzuheben und Sein und Zeit gewissermaßen „gleichzuschalten“.
So führt vor allem die Digitalisierung der Weltauf ganz neue Möglichkeiten, Zeit und Raum zu beherrschen.
Mit schneller werdenden Transportmitteln können
wir Räume in immer kürzerer Zeit durchqueren, aber man braucht nach wie vor Zeit, um Entfernungen zu überwinden.
Mit elektronischen Kommunikationsmitteln muss man
sich erst gar nicht mehr auf den Weg machen und einen Ort aufsuchen. Der Ort selbst kommt „live“ auf den Bildschirm – aber eben „nur“ als Bild.
Die neu gewonnene Herrschaft über Zeit und Raum ist so fast vollkommen mediatisiert. Sie ermöglicht die Her- stellung einer „neuen“ Gegenwart, die Zeit und Ort „transzendiert“ und dabei das Gefühl eines unmittelbaren Dabeiseins vermittelt – gleichsam ein Überall-in der Welt-Sein.
Diese Überwindung der Raum-Zeit-Grenze bedeutet eine
Wirklichkeitserweiterung insofern, als man sich die Welt gleichsam ins Haus holen kann, ohne selbst außer Haus gehen zu müssen, um diese Welt im wahrsten Sinne des Wortes zu erfahren. Diese Mittelbarkeit der Erfahrung, in der alles auf Distanz gehalten wird und der „Zugriff“ auf die Wirklichkeit zunehmend zu einem medial vermittelten
Zugriff auf Bilder der Wirklichkeit wird, hat letztlich zur Folge, dass es immer weniger zu „greifen“ gibt. Paul Virilio spricht von einer Entwirklichung der Welt, einer Ent- fremdung des Menschen: Der Mensch wird zum „Tele- akteur“ mit einem neuen „optischen Körper“, der dazu dient, „weiter zu gehen, ohne sich zu bewegen, … mit anderen Augen zu sehen, mit anderen als seinen Händen zu berühren, um dort zu sein, ohne wirklich da zu sein, sich selbst fremd“.
Diese Entfremdung zeigt sich auch im Medienkonsum.
Man „zappt“ durch die Programme, man „surft“ durch
Bilderwelten. Die Wahrnehmung zielt nicht mehr auf das Ganze, auf das langsame Begreifen komplexer Inhalte, sondern auf ein fragmentarisches, ständig wechselndes „ZerZappen“ und „Anklicken“. Medienkonsum ist so geprägt von einer widersprüchlichen Haltung: dem „beständigen Hoffen auf das Sensationelle und Neue“ im nächsten Internet-Klick, im nächsten TV-Sender und der „ebenso permanenten Sorge um das gleichzeitig Versäumte im übernächsten“:
So erscheint die Figur des postmodernen Zappers heute als Gegenbild zu der des modernen Flaneurs. Wo der letztere gemessen und gemächlich durch städtische Wirklichkeiten schlenderte, die durch ihn empirisch „echt“ wurden, hastet Ersterer von einer imaginären Welt zur nächsten, ohne von seinem Fernsehsessel wirklich wegzukommen.
Ein Einlassen auf das Hier und Jetzt ist ihm nicht möglich, weil medial alles hier und jetzt verfügbar ist und damit auch genutzt werden muss: der Computer als „totale“ Welt.
Jeder ist in der digitalen Datenwelt, die man heute per Handy mit sich herumträgt, zu jeder Zeit an jedem Ort erreichbar und kann sich jederzeit an jeden nur möglichen Ort „versetzen“ lassen. Die „Homepage“ als neue Heimat ist nicht mehr an eine feste Räumlichkeit gebunden, an der man sich zu einer bestimmten Zeit aufhält oder zu der man anderen Zugang gewährt. Der Zugriff auf die „Homepage“ kennt keine Grenzen, er ist unabhängig von räumlicher Festlegung und zeitlichen Vereinbarungen. Alles ist überall und jederzeit möglich und kann abgerufen werden.
...
Copyright © Sankt Ulrich Verlag
Texte: ISBN: 978-33-86744-124-7
erschienen im Sankt Ulrich Verlag
Tag der Veröffentlichung: 18.06.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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