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Blechpilger und echte Pilger

Erfahrungen: Pamplona bis Lorca



Richtig zur Ruhe gekommen bin ich nicht in meiner ersten Nacht auf dem Camino. Viel zu aufgewühlt bin ich, zu viele Eindrücke habe ich zu verarbeiten, viel zu viele Über- legungen anzustellen, viel zu eingeengt habe ich mich im Schlafsack gefühlt, viel zu viele, viel zu viele, viel zu viele ...
So bin ich froh, als der Morgen graut. Endlich darf ich mich erheben, endlich meine robusten Wanderschuhe aus- probieren, endlich den mir unbekannten Weg beschreiten, endlich, endlich, endlich ...
Noch weiß ich nicht, was mir bevorsteht, was ich erleben werde, was mir Freude bereiten wird, was mich zum Weinen bringen wird, was mich, was mich, was mich … Und so mache ich es einfach wie alle Pilger: erledige meine Morgentoilette, breche mein Nachtlager ab, verstaue alles im Rucksack und schnüre meine nagelneuen Stiefel.
Eigentlich kann es losgehen. Ein paar schnelle Worte gewechselt mit dem Iren, „Buen Camino“ gewünscht – was soviel heißt wie „guter Weg“ – und ab auf die Piste. Doch was ein echter Pilgerfreund ist oder einer werden will, der hat stets einen guten Ratschlag bereit für seinen Kame- raden.
Und das darf ich von meinem irischen Kollegen erfahren.
Als er nämlich bemerkt, dass meine Schuhe aussehen,
als kämen sie direkt aus der Fabrik, ich ihm das auch noch bestätige und ihm zu verstehen gebe, dass es meine größte Sorge sei, Blasen an den Füßen zu bekommen, muss er mir unbedingt einen alten Wandertrick verraten. Dazu zieht er einen seiner bereits geschnürten Stiefel aus und zeigt mir,
dass er seine Socken links herum angezogen hat. Die Wulstnaht an den Zehen zeigt nach außen. Ich empfinde die Szene als ziemlich rührend, doch insgeheim denke ich „armer Geselle“.
Nun kann ich nicht mehr anders, schnüre auch einen
meiner Schuhe auf und zeige ihm meine speziellen Wandersocken, die überhaupt keine Wulst aufweisen. Jetzt ist er beruhigt, und wir machen uns marschbereit.
Euphorisch gestimmt verlasse ich allein die Herberge, das Gewicht des Rucksacks auf dem Rücken, meine Stöcke in der Hand. Ich will erst einmal ohne Begleitung meinen Weg wandern. Dabei sind mir die Pilger, die etwa zeitgleich aufbrechen, eine willkommene Orientierung während der ersten Kilometer aus der Stadt heraus, denn ich muss noch
lernen, auf die Markierungen zu achten und ein Gespür für den Weg zu entwickeln. Und so bin ich froh, zirka hundert Meter vor mir zwei rucksackbepackte Wanderer zu haben.
Doch als sie pausieren, ich zu ihnen auflaufe und dann an ihnen vorbeiziehe, bin ich voll auf mich gestellt. Ganz konzentriert halte ich Ausschau nach den gelben Pfeilen, die an Bäumen, an eigens dafür aufgestellten Schildern und auch auf der Straße aufgemalt sind. Immer wieder blicke ich zurück, um mich zu vergewissern, ob mir andere Pilger folgen und ich mich auf dem richtigen Weg befinde.
Die äußeren Rahmenbedingungen sind günstig. Schöne
Wege führen aus Pamplona hinaus, zunächst durch eine
Parkanlage, vorbei an der Zitadelle, wieder durch Grün- anlagen, und nach ein paar Minuten, in denen ich eine gewisse Sicherheit hinsichtlich der Streckenführung erlange, kann ich meinen Weg erstmals genießen. In einem kleinen Café am Ortsausgang versorge ich mich mit zwei Gebäckteilen, die ich sofort verdrücke. Das Wetter ist gemischt, teils stark bewölkt, immer wieder fällt leichter Nieselregen, und gelegentlich schaffen es einige Sonnen- strahlen, sich für einen kurzen Augenblick durch die Wolkendecke zu mogeln.
Dann – nach fünf Kilometern – beginnt mein erster
Aufstieg. Ich freue mich schon auf den Berg, da ich sowohl eine gute Verfassung als auch Kondition mit auf den Weg bringe und hoffe, mein Körper wird sich den ungewohnten Anstrengungen relativ schnell anpassen.
So werden mir die zu bewältigenden knapp 300 Höhen- meter bestimmt nichts ausmachen. Was aber den Unterschied zwischen Kondition und dem Wandern in neuen Wanderschuhen einschließlich Gepäck ausmacht, erfahre ich nur allzu bald. Aber erst einmal stellt dieser sportlich nicht anspruchsvolle Berg kein großes Hindernis dar. Auf gut begehbaren Schotterwegen beginnt zunächst eine leichte Steigung.
Später wird der Weg immer schmaler und steiler, und,
da es immer wieder kurz regnet, auch glitschiger. Langsam nähere ich mich einer Gruppe von drei Pilgerinnen.



Mein Start in Pamplona – die Calle del Carmen – die alte Pilgerstraße



Genau in dem Moment, als ich zu ihnen aufgelaufen bin, führt der Weg über fünf Holzstufen nach unten. Ich stehe direkt hinter den Frauen und beobachte, wie konzentriert und bedächtig sie die glitschigen Stufen nach unten schreiten. Wie in Zeitlupe und fast ängstlich erscheint mir ihre übertriebene Vorsicht. Als ich dann an der Reihe bin, dauert es genau zwei Stufen, bis ich auf dem Hosenboden
sitze und die drei folgenden Stufen auf genau diesem herunterrutsche, um schließlich im klebrigen Matsch zu landen.
Die drei Pilgerinnen blicken besorgt zu mir zurück, doch glücklicherweise ist bis auf eine verschmutzte Hose und Regenjacke nichts Schlimmeres passiert. Es ist im übrigen mein einziger Sturz auf meinem etwa 700 Kilometer langen Camino, denn ich weiß, meine Lehren zu ziehen.
Angekommen auf der Passhöhe des Puerto del Perdón ist mein erster Berg geschafft, und ich kann mich an dem hier aufgestellten Kunstwerk, den sogenannten Blechpilgern, erfreuen: einer Gruppe von etwa zehn Pilgern, die auf Pferden und Eseln ihren Weg bestreiten. Mein Auge kann sich kaum sattsehen, an den Pastellfarben von Wiesen, Äckern und fernen Hügelketten. Wie ich den nun fol- genden steilen und steinigen Abstieg bewältige, ist eigentlich selbstverständlich und nicht erwähnenswert – nämlich höchst konzentriert und respektvoll.
Im nächsten Dorf betrete ich dann meine erste Camino-Bar. Doch im Gegensatz zu den meisten Pilgern, die draußen an den Tischen Platz genommen haben, um sich einen Milchkaffee und eine kleine Brotzeit einzuverleiben, versorge ich mich lediglich mit Obst und wandere ohne Rast weiter. Ich will ja heute abend wieder auf den Iren, meine erste Kontaktperson auf dem Jakobsweg, treffen, und der plant ja, bis Estella zu wandern, was ich ebenfalls schaffen möchte.
Wieviel ich noch zu lernen habe auf diesem Weg und vor allem, auf welche Weise ich lernen werde, weiß ich zum Glück noch nicht. So marschiere ich zielstrebig weiter bis ins nächste Dorf, wo ich auf einen Deutschen aus Gedern treffe, mit dem ich gleich ins Gespräch komme. Er ist zirka Mitte Fünfzig und macht einen sehr fitten Eindruck, so dass ich die Gelegenheit nutze, mich von seinem Marschtempo mitziehen zu lassen, um möglichst rasch vorwärts- zukommen. Genau wie ich ist auch er allein unterwegs und deutet mir kurz an, dass er eine persönliche Auszeit genommen habe. Gemeinsam laufe ich mit ihm bis in den nächsten größeren Ort. Bei der ehemaligen Templerkirche erreichen wir Puente la Reina, wo mein Begleiter seinen heutigen Marsch beenden möchte.
Aber das kann doch nicht sein, denke ich, es ist doch noch früh, und von Pamplona bis hierher sind es nur 25 Kilometer.



Die Blechpilger



Das ist doch nicht die Welt, außerdem kann man doch
nicht am Nachmittag schon aufhören zu wandern. Und im übrigen wird mein irischer Freund sicherlich auch weiterlaufen.
Für mich gibt es keine lange Überlegung, ich verabschiede mich freundlich von dem Gederner und bin voller Elan bald wieder auf der Piste.
Nach Verlassen des Städtchens führt mein Weg durch
idyllische Landschaften nahe einem Flusslauf, am Weges- rand säumen bunte Blumen den schmalen Pfad. Die mich umgebende Stille ist geradezu greifbar. Anfangs genieße ich diese angenehme Ruhe, doch nach einigen Kilometern bemerke ich irritiert, schon seit über einer Stunde keinem anderen Pilger begegnet zu sein. Offensichtlich bin ich neben dem Iren der einzige Irre, der um diese Zeit noch eine weitere Etappe bewältigt.
Schon längst erwarte ich die nächste Ortschaft – leider vergebens. Dann, nach etwa einer Viertelstunde, stehe ich plötzlich vor einer riesigen Rampe. Ein scheinbar endlos langes Band aus roter Pampe, dessen Spitze nicht ein- sehbar ist, erstreckt sich gen Himmel. Doch mir bleibt keine Wahl, ich muss da hinauf. Mitten im Hang pausiere ich kurz, greife zu meiner Wasserflasche – und nehme den letzten kleinen Schluck! Die Sonne, die sich seit Mittag ihren Weg durch die Wolken erkämpft hat, scheint jetzt gnadenlos auf mich herab. Völlig verschwitzt komme ich oben an, setze meinen Rucksack ab und schnaufe für einige Augenblicke durch. Lange kann ich hier nicht bleiben, ich muss weiter. Zum ersten Mal stelle ich besorgt fest, wie meine Kräfte schwinden; die Beine werden immer schwerer, das ungewohnte Gewicht des Rucksacks belastet die Schultermuskulatur, und der Kreislauf scheint etwas aus dem Lot. Zwangsläufig werde ich langsamer und begegne keiner Menschenseele!
Dann – völlig unerwartet – laufe ich in einem kleinen, weltverlorenen Nest mit windschiefen Schindeldächern zum zweiten Mal an diesem Tag auf eine Gruppe von drei Pilgerinnen auf. Sofort nimmt die ältere, sehr schlanke Maria mit mir Kontakt auf, die beiden anderen, zwei Schwergewichte, trotten langsam vor uns her. Innerlich bin ich unbeschreiblich froh, auf diese Gruppe gestoßen zu sein, die zu diesem Zeitpunkt genau die richtige Marschgeschwindigkeit für mich hat. Natürlich will ich dies nicht zugeben. Mehrmals werde ich von den Dreien ermutigt, mich von ihnen nicht aufhalten zu lassen und davonzuziehen. Aber nur ich weiß, warum ich ihr Angebot ablehne.




Königinnenbrücke in Puente la Reina




Nach zirka einem Kilometer kommen wir an einer meter- langen Schlickgrube vorbei, die links und rechts durch lehmige, zu passierende Abrutschkanten begrenzt ist. Diesmal will ich mich bei dem Frauentrio nicht blamieren, gehe höchst konzentriert voraus und bewältige die Passage problemlos – die Frauen übrigens auch.
Da Maria, kurz nachdem wir dieses glitschige Hindernis geschafft haben, sehr langsam wird, schließe ich mich den beiden Schwergewichten, Christine, genannt Schiddi, und Irene an. Zu dritt marschieren wir gemächlich auf das malerische Dorf Cirauqui zu. Marschieren ist leicht übertrieben, denn die beiden hinterlassen zu diesem Zeitpunkt einen noch abgekämpfteren Eindruck als ich. Die Schweißperlen stehen ihnen auf der Stirn. Kein Wunder, denn sie haben neben dem Rucksack auch ihr In der Ortschaft angelangt, verschnaufen die beiden auf der nächsten sich bietenden Bank. Im gleichen Moment kommt eine Gruppe von sogenannten Bus- bzw. Spaßpilgern aus der nahen Kirche geströmt. Nachdem sie sich wechsel- seitig vor dem spätromanischen Portal fotografiert haben, entdecken sie die beiden völlig abgekämpften und verschwitzten Schwergewichte, zücken sogleich erneut ihre Kameras und lichten sie ungeniert von allen Seiten ab. Zwei so erschöpfte Pilger sind ihnen noch nie vor die Linse gekommen. Ich beobachte die Szene ein wenig irritiert, unsicher, ob ich mich amüsieren oder empören soll. Wie Tiere im Zoo werden die beiden behandelt, zur Krönung fehlen nur noch dargereichte Bananen.
Als die Pseudopilger ob ihrer einzigartigen Fotos befriedigt abgezogen sind, überwinde ich mich und bitte Irene, mir von ihren Trinkvorräten etwas abzugeben, da ich schon seit mehr als einer Stunde ohne Wasser unterwegs bin und dem Verdursten nahe. Da die lebenslustige, 63jährige Hessin das zu ihrem Körperumfang passende Herz hat, teilt sie ohne Zögern. Auch ihre 42jährige Freundin Schiddi zeigt sich mitfühlend und bietet mir eine erste Zigarette nach mehreren Stunden Abstinenz an.
Mittlerweile ist auch Maria eingetroffen, und ich erfahre, dass sie allein auf Pilgerschaft ist und nur kurzzeitig mit Schiddi und Irene wandert, die den Weg nach Santiago zusammen bestreiten. Da Maria in diesem Ort noch einige Zeit verweilen möchte, entschließen wir uns, ohne sie weiterzugehen.
Von Anfang an fühle ich mich bei den beiden Frauen
recht wohl und habe keineswegs den Eindruck, sie in ihrer Zweisamkeit zu stören, im Gegenteil, ich scheine ihnen eine willkommene Abwechslung zu sein, und so nehmen wir unser für heute neu anvisiertes Tagesziel Lorca gemeinsam in Angriff.
Der Weg dorthin gestaltet sich wider Erwarten noch sehr beschwerlich, doch mit dem ansteckenden, erfrischenden Humor der beiden ist es dann doch zu schaffen. Unterwegs bekomme ich von Irene nochmals zu trinken, und ich kann mich bei Schiddi mit dem einen oder anderen Müsliriegel revanchieren, um ihren plötzlich auftretenden Heißhunger zu dämpfen. Wir ergänzen uns prima und haben trotz der Anstrengungen reichlich Spaß.
Etwa zwei Kilometer vor Lorca wird unser Trio von einem Mann überholt, den ich schon fast vergessen habe – mein irischer Pilgerfreund, der ebenfalls in Lorca Station machen will. 39 Kilometer scheinen auch ihm ausreichend zu sein. Etwas ausgepowert und ziemlich durstig, aber zufrieden erreiche ich mit den beiden Frauen mein erstes Tagesziel auf dem Camino und bin in der Pilgerschaft angekommen. Nur meine schmerzenden kleinen Zehen beunruhigen mich, die anscheinend in den neuen Wanderstiefeln nicht den Platz gefunden haben, der notwendig ist, um nicht ständig am Leder zu scheuern. Die so gefürchteten Blasen deuten sich an.
Meine beiden Begleiterinnen haben die lange Etappe großartig gemeistert, haben tapfer gekämpft, sehen aber auch sehr abgekämpft aus. Unser gemeinsames Pilger- menü am Abend einschließlich des vorzüglichen spanischen Rotweins haben wir uns redlich verdient. Vor dem Zubettgehen sitzen wir noch lange zusammen, lernen uns näher kennen und tauschen Erfahrungen aus.


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Texte: erschienen im Sankt Ulrich Verlag ISBN: 978-3867441216
Tag der Veröffentlichung: 17.06.2010

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