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"Mama.“
„Ja, mein Schatz.“
„Sterben Engel auch?“
„Nein. Wenn man einmal Engel ist, ist man für immer Engel.“
„Aber Mama, dann haben die kein Aua mehr. Man muss ja nur sterben, wenn man ganz viel Aua hat. Eben hatte ich starkes Aua. Werde ich jetzt ein Engel?“
„Marie, so schnell geht das nicht. Möchtest du denn gerne ein Engel sein?“
„Als Kinderengelchen kann ich fliegen.“
„Woher weißt du das?“
„Bei Oma Inge ist ein großes Bild mit Engeln, und die haben Flügel.“
„Ja, man sagt, die Engel kommen überall hin. Dann können sie bestimmt auch fliegen.“
„Mama, wenn ich bei den Kinderengelchen bin, kann ich ja auch zu dir und Papa fliegen. Ich komme doch dann überall hin.“
„Marie, mein Schatz, das weiß ich nicht. Das weiß keiner genau. Aber ich glaube, ja.“
„Aber dann ist es ja noch schöner als hier. Dann kann ich fliegen und habe kein Aua mehr. Und immer kann ich zu euch kommen. Immer wenn ich will.“
„Marie, ich glaube, wir können dich dann nicht sehen.“
„Wieso, sehe ich dann anders aus?“
„Das weiß ich nicht. Aber irgendwie müssen Engel für uns Menschen durchsichtig sein. Ich habe noch nie einen gesehen.“
„Kann ich dann auch nicht mit dir sprechen?“
„Doch bestimmt. Nur nicht so, wie wir jetzt sprechen.“
„Wie denn?“
„Ich denke, wenn Engel überall hinkommen, dann können sie auch alles verstehen. Sie brauchen nicht zu sprechen.“
„Na gut, wenn ich dann ein Engel bin, und du mich nicht sehen kannst, setzt sich immer ein Vogel vor dich hin. Dann weißt du, dass ich da bin. Mama, wenn du auch mal so starkes Aua bekommst, dann kommst du doch auch zu mir und wirst Engel und Papa auch. Ich finde es doch schöner, wenn ihr immer da seid.“
„Ach, Marie, schau mal, wie oft warst du gerne mit Tieren zusammen. Denke an das Schaf, dem du das Sprechen beibringen wolltest. Ich will dir damit nur sagen: Es hat
oft Momente gegeben, wo du dich so über ein Tier gefreut hast, dass du da nicht immer nur an mich und Papa gedacht hast. Das wäre auch ganz schön langweilig.“
„Na gut, da ist es bestimmt schön. Aber, wenn ich wieder zu euch will, weil ihr ohne mich traurig seid, kann ich dann wieder ein kleines Mädchen werden?“
„Nein, Marie, das geht nicht. Einmal Engel, immer Engel.
Ich verspreche dir, ich werde nicht traurig sein, damit es dir immer gut geht.“
„Mama, kannst du mich umarmen? Aber ganz vorsichtig, damit das Aua im Bauch und Knie nicht weh tut. Mama, wir lieben uns doch. Ich will doch lieber bei dir bleiben. Du musst mich dann nur oft trösten.“
Meine kleine Marie lag damals, fünf Tage vor Ihrem Tod, auf dem Wohnzimmersofa in Daunenkissen gehüllt direkt vor dem großen Fenster zum Garten. Sie wollte dort sein,
damit sie „den Himmel und die Wolken“ sehen konnte. Sie hatte gerade ihre starken Schmerzmittel genommen und wurde für die Zeit, in der sie wirkten, in Ruhe gelassen von
dem „Aua im Bauch und im Knie“.
Ganz ernst sah sie mich mit ihren blauen Augen an, und wir redeten über Engel und ein Leben nach dem Tod, wie andere Eltern mit ihren Kindern über einen Ausflug am nächsten Tag sprechen.
Aber Marie wusste nicht, dass sie von diesem Ausflug zu den Engeln nicht mehr zurückkehren konnte. Wie sollten wir auch einem kleinen Kind den Tod erklären.
Ihre Augen strahlten während unseres Gesprächs. Die Vorstellung, dass sie als Engel fliegen konnte, machte sie glücklich. Wie oft hatte sie alles, was flog oder flatterte, mit ihren staunenden Augen beobachtet. Selbst jetzt, liegend am Fenster, huschte oft ein ganz leichtes Lächeln über ihr Gesicht, wenn sie trotz Schmerzattacken aus dem Fenster sah und einen vorüberfliegenden Vogel bemerkte.
Schaute ich dann in ihre Augen, so hatte ich das Gefühl, sie fliegt ein wenig mit dem Vogel.
Kurz nachdem wir über ein Leben als Engel gesprochen hatten, schlief sie jetzt ohne Schmerzen mit diesem Anflug von Lächeln und ihrem Händchen in meiner Hand ein. Ich blieb sitzen und konnte nicht weggehen. Sie hatte ihr warmes Händchen in meine Hand gelegt, und ich be- trachtete sie, wie so oft in den letzten Tagen vor ihrem Tod, während sie schlief. Mein ständiger Begleiter war die Angst, dass sie nicht mehr aufwachen würde, denn schließlich wussten wir von den Ärzten, dass sie nur noch wenige Tage leben würde.
An ihrem letzten Abend hatte sie vor Schmerzen geweint und war dann endlich eingeschlafen, nachdem ich ihr eine weitere Dosis ihres Schmerzmittels gegeben hatte. Ich legte sie vorsichtig und langsam auf meinen Bauch. Aber ich schaffte es nicht, ohne sie zu stören. Ein kurzes Stöhnen unterbrach ihren tiefen, traumlosen Schlaf. Bei Schmerzen war diese Lage für sie am besten. Sie legte ihren Kopf auf meine Brust, und nach einer kurzen Zeit, die die Wirkung der Medikamente brauchte, schlief sie wieder ein. Jetzt ging es nur noch darum, sie schmerzfrei zu halten. Meine Angst vor dem Tod, der sie vielleicht im Schlaf holen konnte, war verschwunden, denn bei allem, was sie in den letzten beiden Tagen erleiden musste, erschien mir ein Ende wie eine Erlösung. Es war nur noch ein Dasein in Schmerzen oder einem tiefen Dahindämmern, hervor- gerufen durch starke Medikamente.
Wachend über ihren Atem, konnte ich nicht schlafen. Als ob ich geahnt hätte, dass es in dieser Nacht passieren würde. Um sie nicht aus ihrem schmerzfreien Schlaf zu holen, durfte ich mich nicht bewegen und ließ meine Tränen und Nase auf das Kopfkissen laufen. Wach werden hieß für Marie: Schmerzen ertragen zu müssen und nicht zu wissen, wie sie sich hinlegen sollte, denn alles würde ihr wehtun.
Während sie so in meinen Armen auf mir liegt und ich auf ihren leisen Atem höre, frage ich mich: Warum hatte das Leben keine Achtung und Rücksichtnahme vor ihr gezeigt, obwohl sie voller Achtung und Freude allem Lebendigen gegenüber war. Dann sehe ich ein Bild aus der Vergan- genheit vor mir:
Ich schlage Marie vor, einen kleinen Teil unseres Gartens als Gemüsegarten anzulegen. Zuerst müssen wir den Boden vorbereiten und umgraben. Ich teile ihr einen Teil der umzugrabenden Fläche zu und sage ihr: „Das ist dein eigener Garten, für den du selbst zuständig bist.“ Dann gebe ich ihr eine kleine Kinderschaufel. Während ich beim Umgraben der anderen Fläche bin, sehe ich, wie sie vor ihrer ersten umgegrabenen Schaufel sitzt und weint. Ich laufe bestürzt zu ihr und frage sie: „Marie, was ist?“ Sie weint noch heftiger und stößt verzweifelt hervor: „Ich habe alles kaputt gemacht, der arme Käfer und Regenwurm.“ Nach näherem Hinsehen weiß ich, was sie meint. Sie hat den Lebensraum des Käfers und des Regenwurms in ihren Augen zerstört. Also schlage ich vor, Krabbel- und Kriechtiere, die sie beim Umbuddeln entdeckt, in ihrem Eimer zu sammeln und an eine andere Stelle des Gartens zu bringen.
Copyright © Sankt Ulrich Verlag GmbH, Augsburg
Texte: ISBN: 978-3867441391
erschienen im Sankt Ulrich Verlag
Tag der Veröffentlichung: 29.04.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
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