Cover

Kapitel 1

Die Regentropfen klatschen auf meine Fensterscheibe. Langsam rinnen sie runter und verbinden sich mit den anderen Tropfen, welche ebenfalls mein Fenster entlang rinnen. Fasziniert beobachte ich sie. Es ist so, als ob sie Kettenfangen spielen würden. Dieser Vergleich bringt mich zum Grinsen und ich genieße diese angenehme Stille, die sich in meinem Raum gemütlich gemacht hat. Mal abgesehen von dem Regen, der von draußen zu hören ist, herrscht in meinem Zimmer totenstille. Langsam aber sicher werde ich müde. Vielleicht sollte ich mich hinlegen? Ich schließe meine Augen und lausche dem Regen. Plötzlich höre ich mein Handy klingeln. Seufzend nehme ich es aus meiner Hosentasche und nehme ab.

"Maya! Na, wie geht es dir?" dringt mir die laute Stimme meines besten Freundes in mein Ohr. Ich grinse und frage mich, was er dieses Mal vor hat. Er ruft mich mit Sicherheit nicht an, nur um mich nach meinem Wohlbefinden zu fragen. So ein Kerl ist er nicht.

"Kannst du dir vorstellen" murmle ich ins Handy und starre wieder aus dem Fenster. Ich bin viel zu faul zum Reden, das sollte er doch wissen...

"Oh nein, störe ich dich etwa? Das tut mir natürlich leid..." entschuldigt er sich gespielt traurig. Ich kann sein Grinsen schon hören. "Und jetzt beweg deinen Hintern raus aus dieser Höhle und geh mal ein bisschen spazieren." setzt er unbekümmert fort. Ich stutze. Ist dem Kerl denn noch zu helfen? Es regnet draußen wie aus Eimern und das versuche ich ihm auch klar zu machen. "Bist du wasserlöslich?" fragt er belustigt. Ich schüttel den Kopf und komme erst dann darauf, dass er mich gar nicht sehen kann. Trotzdem bleibe ich stumm. Wie schon gesagt...ich bin viel zu faul zum Reden.

"Eben"  Innerlich verdrehe ich die Augen. Immer muss er Recht haben.

"Was willst du Michael?" frage ich und gähne mitten im Satz, was ihn zum kichern bringt.

" Bist wohl müde, was?" fragt er. Ich bleibe stumm. Er seufzt kurz und fängt dann an zu erzählen.

"Du bist gemein. Naja, egal, komm einfach raus."

"Nein" antworte ich ihm schlicht. Ich höre ihn auf der anderen Leitung seufzen. Langsam lasse ich mein Blick durch mein Zimmer schweifen. Es ist noch recht leer. Das ist ja auch kein Wunder, wenn man bedenkt, dass wir erst vor kurzem hier eingezogen sind. Ich habe mir schon vor Tagen fest vorgenommen, mein Zimmer zu dekorieren, jedoch habe ich noch immer keine Idee, wie ich es verschönern könnte. Ich bin gerade dabei, mir vorzustellen, wie ein paar Bilder meine Wände sehr verschönern würden, verwerfe den Gedanken aber schnell wieder, da ich nicht vorhabe, aus meinem Raum gleich ein Museum zu machen. Plötzlich reißt jemand meine Zimmertür auf und ein grinsender Michael betritt den Raum. Wie ist er...und wann...? Was macht er hier? Ich starre ihn geschockt an und er zuckt nur mit den Schultern, während  sein Grinsen breiter wird.

"Du hast nicht abgeschlossen" erklärt er und nimmt mein Handgelenk. Ich bemerke, dass ich mein Handy noch immer in der Hand halte und lege auf, schließlich steht mein Gesprächspartner jetzt vor mir. Bevor ich überhaupt realisiere, was da vor sich geht, schleppt er mich schon aus dem Zimmer und befielt mir, in meine Schuhe zu schlüpfen. Hätte das wer anderer gemacht, hätte ich ihm den Scheibenwischer gezeigt, ihn rausgeworfen und die Polizei gerufen. Okay...vielleicht übertreibe ich ein wenig...Jemandem den Scheibenwischer zu zeigen ist unhöflich. Und vielleicht sollte ich die Polizei wegen sowas nicht stören...aber ihn rauswerfen, das würde ich definitiv!

 

Seufzend schlüpfe ich in meine Schuhe und ziehe mir meine Jacke an. Während ich nach meinem Hausschlüssel greife, schubse ich Michael aus der Wohnung und knalle dann die Eingangstür zu. Als wir das große Gebäude verlassen und in den Regen treten, ziehe ich fluchend meine Kapuze hoch und sehe Michael wütend an. Wegen diesem Arsch werde ich noch krank! Der grinst sich nur einen ab und zieht mich wieder am Handgelenk und entfernt mich somit von meinem süßen, kuscheligen Bett, das gerade nach mir ruft.

 

Da hocken wir also...in einem verlassenen Park...unter einem großen Baum und bekommen jeden fünften Regentropfen ab. Warum zur Hölle tu ich mir das an? Kann mir das mal wer sagen? Ich habe nämlich keine Ahnung!

"Was jetzt?" frage ich Michael und sehe ihn wütend an. Er zuckt nur wieder mal mit seinen Schultern, bevor er wieder grinst. Jemand sollte ihm mal die Fresse polieren.

"Wir sollten öfter mal was miteinander unternehmen, schließlich bist du extra wegen mir hier her gezogen. Du hast dich sogar in der gleichen Schule angemeldet. Dank dem muss ich nicht mehr mit dem bescheuerten Bus fahren, um mit dir irgendwas zu unternehmen."

"Was redest du? Das war doch nicht wegen dir. Meine Eltern sind dafür verantwortlich. Außerdem haben sie das nur gemacht, damit ich mich nicht mehr so alleine fühle, während sie mal wieder auf Geschäftsreisen unterwegs sind und erst nach Monaten wieder zurück kommen. Und sie wollten mir weder einen Bruder noch ein Haustier schenken."

"Wie auch immer." Er setzt sich im Schneidersitz und sieht mich an. "Ich muss dir was sagen."Er klingt ernst. "Wen hast du jetzt umgebracht?" scherze ich rum, weil mich sein ernster Ton nicht wirklich gefällt. Er schnaubt und sieht mich wütend an.

"Wie oft soll ich dir denn noch sagen, dass ich noch nie jemanden umgebracht habe, noch habe ich das vor. Alles was ich mache ist, Leute zu beschatten, das ist doch nicht so schlimm! Und wie oft hab ich dich schon darum gebeten, mit mir mit zu kommen, nur um dir zu beweisen, dass das alles gar nicht so schlimm ist, wie du vielleicht denkst. Aber nein, du willst ja nicht." regt er sich auf.

"Wenn ich einmal mit dir mitkomme, bin ich für immer drinnen, denkst du, ich weiß das nicht? Glaubst du wirklich, ich könnte noch frei herumlaufen, wenn ich wüsste, auf welche Art und Weise ihr eure Geschäfte betreibt? Und denk doch mal darüber nach. Was macht dein Anführer mit diesen Informationen, die du ihm übergibst? Ich geb dir mal einen Tipp: Er plant sicher kein Kaffekränzchen, um sich mit seinen Opfern über das miese Wetter zu unterhalten."  Schon seit Jahren bietet mir Michael an, ihn bei seinen "Ausflügen" zu begleiten. Ich als 17-jährige, habe jedoch keine Lust, bei der Ausrottung der Menschheit zu helfen, also habe ich jedes Mal abgelehnt. Jetzt fragt ihr euch sicher, wie jemand seiner Freundin nur sowas anbieten kann, aber ich verstehe es. Er will mir beweisen, dass er kein Monster ist und denkt dabei nicht daran, dass ich, sobald mich jemand während seiner Missionen in seiner Nähe sieht und  merkt, dass er mich kennt, eine wandelnde Zielscheibe für alle seine Gegner bin. Er tötet zwar keinen, aber seine Informationen helfen dabei, ein Leben nach dem Anderen zu ruinieren und das macht ihn nicht gerade beliebt. Das ist eine Tatsache, über die er gerne hinwegsieht, denn er würde alles für seinen Anführer machen. Michael respektiert seinen Boss mehr als alles andere und das hat auch einen Grund. Er steht in seiner Schuld.

 

Vor ein paar Jahren wurde Michael von ein paar Jungs angegriffen und fast zu Tode geprügelt, weil er mit einem Mädchen rumgemacht hat, das die Freundin von einem dieser Typen war. Er wusste es nicht, aber das interessierte diese Idioten natürlich  nicht. Jedenfalls war Michael kurz davor, die Radieschen von unten beim Wachsen zu beobachten, als sich sein Anführer einmischte und ihm half. Seit diesem Abend ist Michael ihm nicht mehr von der Seite gewichen und ist auch sofort seiner Gang beigetreten.

"Woher weißt du, was er macht? Hast du etwa Erfahrung mit solchen Sachen oder was?" fragt er mich wütend und versucht ihn in Schutz zu nehmen.

 

In dieser Gegend gibt es nicht nur eine Gang. Ich will jetzt nicht sagen, dass es hier von diesen äußerst menschenfreundlichen Grüppchen nur so wimmelt, es gibt nur mehrere als eine. Die meisten Menschen kriegen sie gar nicht mit, da sie sich wie Vampire nur am Abend zeigen. Am Tag sind sie ganz normale Menschen und gehen ihren alltäglichen Pflichten nach, wie Arbeiten oder zur Schule gehen. Manche haben sogar eine Familie und Freunde, so wie dieser Vollkoffer, der gerade vor mir hockt und mich dumm anstarrt. Ich zucke mit den Schultern.

"Du gibst sehr interessantes Zeug von dir, wenn du stockbesoffen bist." Er wird rot und ich lache. Ihm ist es jedes Mal peinlich, wenn er sich betrinkt und ich ihm am nächsten Tag ein Video von ihm zeige, wo er irgendeinen Quatsch labert, der genauso viel Sinn ergibt wie ein Staubsauger in der Wüste.

Er muss wohl gemerkt haben, dass wir vom Thema abgekommen sind, denn er schüttelt nur seinen Kopf und sucht wieder meinen Blick, bis er ihm begegnet. Da ist er wieder. Dieser ernste Ausdruck. Er seufzt und schließt die Augen.

"Ich habe eine Freundin." beichtet er mir und ich habe das Gefühl, gerade erst aus einem Traum erwacht zu sein. Er hat was? Ich muss ihn wohl erschreckt angeschaut haben, denn er winkt mit beiden Händen abwehrend vor meinem Gesicht herum und fügt noch schnell hinzu:

"Keine Angst, sie ist echt süß."Er denkt wohl, dass ich Angst um ihn habe... dass ich glaube, dass er mit einem gebrochenem Herz nicht fertig wird. Aber dieses Mal denke ich nicht an ihn.

"Und du kennst sie" sagte er und holt mich aus meinen Gedanken. Ich kenne sie?

"Wer ist es?" frage ich und versuche dabei so ruhig wie möglich zu klingen. Er lächelt unbekümmert, was mich nicht wundert. Er weiß schließlich nicht, was er mir damit antut.

"Das wirst du heute noch erfahren. Wir treffen uns nämlich nachher mit ihr!" sagt er lachend und umarmt mich. Schöne Scheiße...Er umarmt mich noch eine ganze Weile und sagt, dass wir uns um fünf Uhr vor unserem Lieblings Cafe treffen.

 

Seufzend trockne ich mir meine nassen Haare und schaue mich im Spiegel an. Ein paar meiner braunen Haarsträhnen kleben noch an meinem T-Shirt und durchnässen dieses. Ich presse meine Lippen zusammen und versuche, nicht gleich loszuheulen. Gleich würde ich seine Freundin kennenlernen. Noch eine. Ist ja nicht so, dass er seine Freundinnen öfter wechselt als seine Unterhosen, nein, jetzt nimmt er sogar noch eine, die ich kenne. Ich kann diese blöde Kuh nicht leiden, das weiß ich jetzt schon. Aber ich muss mich mit ihnen treffen. Für Michael. Ich wäre eine schlechte beste Freundin, wenn ich es nicht täte.

Ich föhne mir schnell meine Haare und beginne dann meine grün-braunen Augen zu schminken. Zum Abschluss tusche ich sie noch ein wenig und ziehe mich dann um, wobei ich besonders darauf achte, dass meine Wimpern nicht mein T-Shirt streifen. Manche schminken sich, nachdem sie sich umgezogen haben, diese haben aber mit Sicherheit noch nie die Bürste von einer Wimperntusche als Pinsel missbraucht und ihr eigenes T-Shirt so verunstaltet, dass es gleich für den Müll war. Und  das nur, indem sie die Bürste einmal aus der Hand fallen gelassen haben und dann Probleme damit gehabt haben, sie aufzufangen, bevor sie den Boden berührt. Auch das habe ich schon hinbekommen.

Beim Anziehen entscheide ich mich für eine dunkle Jeans und einem einfachen türkisen Top. Ich werfe noch einen letzten Blick auf mein Spiegelbild und nicke zufrieden. Ja, so kann ich unter Menschen treten.

 

Ich stehe nun vor dem Cafe und schaue durch die durchsichtige Wand. Der vordere Bereich des Cafes ist aus Glas. Meiner Meinung nach, sieht es wunderschön aus.

Vielleicht ist Michael ja schon da. Da ich ihn nicht entdecke, will ich schon rein gehen, als ich plötzlich eine Hand auf meiner rechten Schulter spüre und mich von hinten ein "Buh!" erschreckt. Geschockt stolpere ich Rückwerts und hätte fast mit dem Boden Freundschaft geschlossen, hätte diese Person nicht einen Arm um meine Hüfte gelegt und mich zurückgezogen. Ich weiß sofort, wer diese Person ist. Michael.

"Vorsicht, Süße." Ich blicke auf und sehe in zwei wunderschöne blaue Augen. Die goldblonden Haare, die mich immer an eine Löwenmähne erinnern, hängen ihm jetzt in nassen Strähnen vom Kopf. Er sieht so unglaublich süß aus. Unsere Gesichter sind nur noch ein paar winzige Zentimeter voneinander entfernt und mit Schrecken sehe ich, wie sich ein verschmitztes Grinsen auf seinem Gesicht bildet. Oh nein...weiß er davon? Kann er etwa mein schnelles Herzklopfen  hören? Verdammt! Ich reiße seinen Arm von meiner Hüfte und schubse ihn sicherheitshalber weg von mir. Fast wäre er auf den Hintern gefallen, doch er haltet sich an das Schild, welches vor der Tür des Cafes steht und die Menschen herzlich willkommen heißt, noch rechtzeitig fest. Verwirrt schüttelt er den Kopf.

"Ist alles in Ordnung mit dir?" fragt er und will wieder auf mich zu kommen. Ich bin vollkommen nervös und mein Gesicht brennt wie eine Tomate. Da bin ich mir sicher.

"Ja, ja, alles bestens." Ich renne in das braun gestrichene Gebäude und suche für uns einen freien Tisch. Und es gibt tatsächlich einen freien Tisch. Sogar neben der riesigen Fensterscheibe. Ich gehe geradeaus darauf zu und setze mich auf einen Stuhl hin. Der Stuhl, welcher sich links von mir befindet, wird von Michael gerade zurückgezogen und die Stühle, die sich gegenüber mir und auf meiner rechten Seite befinden, sind noch leer. Wann kommt denn diese blöde Schnepfe? Glaubt das Prinzesschen wirklich, dass ich den ganzen Tag auf sie warten werde? Ich werde von einem kichernden Michael aus den Gedanken gerissen.

"Was ist?" frage ich genervt und schaue ihn gelangweilt an. Er grinst erneut und gibt ein "Nichts" von sich. Wütend schaue ich ihn an. Das ist Michael. Egal in welcher Situation er sich befindet, er versucht immer das Beste daraus zu machen und strahlt alles und jeden um ihn herum an. Er hat die Menschen in seiner Umgebung schon so oft mit seiner guten Laune angesteckt, dass es mich wundert, dass es nicht bereits als Krankheit bezeichnet wird. Michael ist nett, höflich und immer hilfsbereit, egal um was es geht. Er ist das komplette Gegenteil von mir.

Ich bin faul, die meiste Zeit mies gelaunt, was ich jedes Mal auf die Pubertät schiebe, selten nett und höflich bin ich schon gar nicht. So weit kommt's noch! Was die Hilfsbereitschaft angeht, muss ich jedoch sagen,  dass ich sehr wohl etwas davon in mir habe. Auch wenn ich es gerne verstecke.

"Du wirkst deprimiert. Das letzte Mal habe ich dich so erlebt, als du in der achten Klasse ein Referat halten musstest, du den halben Text vergessen hast und anschließen auf die Füße von Mrs. Falls gekotzt hast. Mann, das waren noch Zeiten. Du hast mich panisch angerufen und ich musste alles fallen und liegen lassen, um zu dir zu fahren und dich zu trösten. Als ich dann bei dir war, hast du mich mit deinen Straßenschuhen beworfen und mich gefragt, was so lange gedauert hat." Er musste schmunzeln und auch ich konnte mir kein Grinsen verkneifen. "Das war gemein, Kotzbrocken." fährt er fort. Arschloch. "Kotzbrocken" war der Spitzname, den mir Michael damals gegeben hat. Er hat ihn zwar nach einer Weile vergessen, trotzdem bin ich damals angefressen gewesen. Er hat es jedem erzählt. Mir war es damals natürlich egal, was andere über mich dachten. Nachdem ich Michael den kleinen Finger gebrochen hatbe, versteht sich. Es ist zwar keine Absicht gewesen, aber meiner Meinung nach, hat er es verdient. Die Ärzte hatben ihn wieder "repariert", wie er es zu sagen pflegt, also war alles halb so schlimm. Heute kann er ihn natürlich wieder bewegen und man merkt gar nicht, dass er früher einmal in eine ungesunde Richtung gezeigt hat.

"Du hast ja auch länger gebraucht als sonst. Selber schuld." wehre ich mich. Er grinst mich an, sieht dann nach draußen und plötzlich verändert sich sein Gesichtsausdruck. Sein Grinsen verwandelt sich plötzlich in ein liebevolles Lächeln und seine Augen, die beim Grinsen normalerweise immer enger werden, nehmen einen Verträumten Ausdruck an. Verwirrt folge ich seinem Blick und was ich sehe, lässt mich fast versteinern. Das Mädchen, welches ihre langen, gruseligen und blonden Schlangenhaare nach vorne gelegt hat und die ihr somit über den Schultern gehen, lächelt uns an und winkt uns zu. Ich hasse diese Kreatur. Mich wundert es, dass wir noch nicht zu Stein verwandelt sind. Ich kenne sie wirklich. Und wie ich das tue. Sie hat mir nur vier Jahre lang mein Leben zur Hölle gemacht. War also nichts besonderes.

 

Vollkommen bewegungsunfähig starre ich sie an und sehe zu, wie sie die gläserne Tür aufmacht und direkt auf uns zu steuert. Mit einem "Entschuldigung für die Verspätung" lässt sie sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen und küsst Michael. Lange... Sehr lange...Wie zur Hölle können sie nur so lange die Luft anhalten?! Plötzlich öffnen sich die Augen des Mädchens und suchen meine. Im nächsten Moment werde ich von einem Paar braune Augen angestarrt. Miststück. Ich drehe meinen Kopf und schaue nach draußen, nur um nicht weiter mit verfolgen zu müssen, wie mein bester Freund gerade von diesem Monster aufgefressen wird. Der Regen ist inzwischen schon stärker geworden und die Menschen rennen durch die Gegend, nach Schutz suchend. Manche haben sich ihre Kapuzen hochgezogen, andere wiederrum benutzen ihre Taschen und Rucksäcke als Schutz gegen den kalten Regen. Einem Mann fällt sein Handy aus der Hand und es kommt fast auf den nassen Boden auf, doch er kann es noch rechtzeitig auffangen. Fast breche ich in Gelächter aus. Ich weiß, ich benehme mich wie ein Arschloch. Ist ja auch verständlich, ich bin schließlich mies drauf.  Nach einer gefühlten Ewigkeit lösen sich die beiden endlich voneinander und sehen mich an. Ich schaue zurück. Michael räuspert sich kurz.

"Maya, das ist meine Freundin. Alina." Ach ne, ich dachte, das wäre deine Großmutter, die dir gerade mal einfach so ihre Zunge in den Hals gesteckt hat. Vollidiot. Angewidert schüttle ich den  Kopf.

"Schatz, das ist Maya, meine beste Freundin. Ach, was soll das Vorstellen überhaupt? Ihr kennt euch  doch." Schüchtern lächelt er vor sich hin. Pussy. Ich bin gerade so wütend auf ihn, ich kann gar nicht erklären, wie sehr.

"Hallo Maya, lange nicht mehr gesehen." begrüßt mich diese miese Made übertrieben freundlich und streckt mir ihre Hand entgegen. Was soll ich mit der? Mir den Arsch abwischen? Gott, das ist ja abartig! Was für kranke Ideen habe ich denn bitte noch in meinem Kopf? Als ob ich das meinem Arsch jemals antun würde...

"Ich kann dich nicht leiden." stelle ich kühl fest. Das ist gut...Die Wahrheit ist immer sehr wichtig und sehr viele Menschen wissen es auch sehr zu schätzen, wenn man ehrlich ist.

"Maya!"zischt Michael. Ups. Er gehört wohl nicht zu dieser Art von Menschen. Sein Problem. Vollkommen unbeeindruckt zucke ich mit den Schultern und starre auf den Tisch. Alinas Hand schwebt noch immer über ihm. Die kann lange warten.

"Nun...ich gehe uns dann mal was zu trinken kaufen. Was wollt ihr? Lin, Cappuccino oder? So wie immer?" fragt er diese billige Abklatsche einer Kakerlake. Sie nickt mit dem Kopf. "Ja Schatz." kichert sie.

"Maya, du?" Oh... Er klingt leicht genervt. Er hat sie Lin genannt. Und sie ihn Schatz. Sie haben jetzt schon Spitznamen für einander. Michael hat mir noch nie einen Spitznamen gegeben. Mal abgesehen von "Kotzbrocken" aber wie schon vorher erwähnt, hat er ihn nach einer Weile wieder vergessen. Laut Michael, sind Spitznamen "kindisch". Ist klar. Leicht beleidigt verschiebe ich diesen Gedanken und widme mich der nächsten Frechheit. Er weiß was dieses kranke Weib trinken möchte, weiß aber nicht, was seine beste, ich wiederhole: beste Freundin jedes Mal trinkt? Vielleich bin ich etwas kindisch drauf. Aber es verletzt mich sehr. Wirklich. Ich komme mir hier so fehl am Platz vor. Ich hasse seine Freundin. Und seine Freundin hasst mich. Michael mag sie anscheinend und weiß noch nicht einmal mein Lieblingsgetränk in diesem Laden.  Michael bestellt sich immer einen Kaffe mit Milch und sehr viel Zucker. Jedes Mal, wenn er seinen Kaffe bekommt, stellt er mit einem angeekeltem Gesicht fest, dass er viel zu bitter ist, deshalb schüttet er noch extra Zucker dazu. Er reißt immer nur ein Säckchen mit Zucker auf und schüttet es in seine Tasse. Ich hingegen kann Kaffe nicht leiden, weshalb ich immer nur eine heiße Schokolade bestelle. Er hat mich deshalb jedes Mal ausgelacht und jetzt weiß er plötzlich nicht mehr, was ich immer trinke?

"Heiße Schokolade." murmle ich und lasse mich tiefer in meinen Sitz gleiten. Ich will nachhause...

"Ahja. Bin gleich wieder da." murmelt er und lässt uns alleine. So ist es gut. Lass ruhig zwei Erzfeindinnen alleine zurück. Was kann schon passieren? Es könnten höchstens unschuldige Menschen ins Krankenhaus landen. Sag ich doch...ist nur halb so schlimm. Mein Sarkasmus meldet sich heute aber sehr oft in meinen Gedanken. Ich seufze und starre weiter auf den gelben Tisch vor mir. Er ist sauber und ich kann nicht ein einziges Staubkörnchen erkennen.

"Wie geht es dir so? Ich habe schon lange nichts mehr von dir gehört." redet Alina und ich blicke auf. Redet diese blöde Kuh tatsächlich mit mir? Ist sie lebensmüde? Inzwischen hat sie ihre Hand weg genommen, wie ich gerade merke. Ich schaue ihr in die Augen. Müde reibe ich mir die Stirn und schließe kurz die Augen.

"Was willst du hier? Und was soll diese Scheiße mit Michael?" frage ich und versuche so desinteressiert wie möglich zu klingen.

"Ich liebe ihn." antwortet sie. Ich lache auf.

"Versuch was anderes. Das zieht nicht bei mir."

"Aber ich-"

"Du" greife ich wieder ihren Satz auf. "liebst noch nicht einmal dich selbst." Sie schließt ihren Mund und schaut mich nur an. Das ist ein Zeichen für mich, einfach weiter zu reden. Es ist mir scheißegal, ob sie mir zuhört oder nicht, ich muss diese Wut an irgendwen auslassen, warum also nicht gleich an die Person, die für all diese über Jahre aufgestaute Wut verantwortlich ist?

"Du bist eine bescheuerte Lügnerin, die mal wieder versucht mich zu verletzen. Du liebst es mich leiden zu sehen. Noch immer! Wieso auch immer... Ich habe dir noch nie etwas getan, was du bei mir nicht behaupten könntest. Du hasst mich, das ich vollkommen akzeptiere, denn mir geht es bei dir nicht anders. Aber, dass du dich jetzt an meinen besten Freund vergreifst, nur um mir eins auszuwischen, das ist das Letzte. Wann wirst du es einfach mal gut sein lassen? Wann? Wenn ich einsam und allein verrecke? Wenn ich mich selbst umbringe?"Bei der letzten Frage muss ich sarkastisch auflachen.

"Das wird niemals passieren. Und hör mir jetzt genau zu: Lass Michael da raus. Er ist viel zu naiv, um zu merken, was für eine hinterhältige Schlampe du bist. Er denkt wirklich, er würde dir etwas bedeuten. Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Also hau ab! Damals hab ich einfach nur zugeschaut und dich machen lassen. Warum? Weil nur ich diejenige war, die verletzt wurde. Es war mir also scheißegal. Und gespürt habe ich dabei nach einer Zeit auch nichts mehr. Ich war depressiv, bin es wahrscheinlich noch immer, aber wenn du meinen besten Freund dafür ausnutzt, dann verspreche ich dir, ich mache dir das Leben unerträglich."

Plötzlich breitete sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus.

"Wie es scheint, kann ich dir wohl wirklich nichts vorspielen. Wie gut. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn es anders wäre. Und tut es schon weh? Dein bester Freund liebt mich. Nur mich. Er wird dich niemals so lieben, wie mich, merk dir das."

Schlampe! Diese verdammte...!

"Hey Mädels, na wie geht's euch?" Gerade in diesem Moment kommt Michael mit unseren Getränken angetanzt und stellt sie auf den Tisch.

"Bestens, Mike." antwortet sie kichernd und zieht ihn an seinem blauen T-Shirt zu sich runter und küsst ihn. Mal wieder. Mein Herz zieht sich krampfhaft zusammen. Michael würde mich nie so lieben. Niemals. Ich bin nur sowas wie sein Tagebuch. Er stopft jegliche Geschehnisse und Gedanken rein und öffnet es nur dann wieder, wenn er wieder irgendetwas raus lassen muss. Das bin ich für ihn. Mehr nicht.

 

Ich habe plötzlich keine Lust mehr. Auf gar nichts. Weder auf einen Streit mit dieser angeschissenen Unterhose mit blonden Haaren da vor mir, noch darauf, irgendetwas für den bescheuerten Hübschling da links von mir, der so von der falschen Liebe geblendet ist, zu tun.

"Ich hau ab." sofort stehe ich auf und steuere auf den Ausgang zu. Ich höre Michael von hinten nach mir rufen, aber das ist mir egal. Er kann mich mal. Beide können mich mal. Kreuzweise. Wütend stoße ich die Tür auf und trete in den kalten Regen.

 

Ich überquere die fast menschenleere Straße und verschwinde zwischen ein paar Bäumen. Dahinter befindet sich der Park, in dem Michael und ich uns heute Vormittag getroffen haben. Ich setzte mich auf eine Schaukel und fange langsam an zu schaukeln. Das tu ich immer. Jedes Mal, wenn ich traurig bin, ich Probleme habe oder Sonstiges, schaukel ich einfach bis zum Umfallen und bin dann viel zu müde, um noch darüber nachzudenken. Manche benutzen dafür Alkohol. Ich benutze eine Schaukel. Meine Variante von Problemverschiebung ist definitiv gesünder.

"Maya!" ruft Michael und bleibt vor mir stehen. Er sieht mich eine Weile einfach nur an und scheint nachzudenken. Ich starre stur auf den Boden. Nach einem langen Seufzen von seiner Seite, setzt er sich auf die andere Schaukel neben mir und beginnt auch zu schaukeln.

"Was ist los mit dir?" fragte er und klingt ein wenig besorgt.

"Ist hasse deine Freundin" knurre ich und ignoriere seinen überraschten Blick.

"Liegt das etwa an eurem kleinen Streit? Ich weiß, du bist sehr nachtragend, aber ich hab gehofft, du würdest versuchen, meinetwegen mit ihr klar zu kommen." Ein Streit? Ein Streit?!Ungläubig starre ich ihn an.

"Das hat sie dir erzählt?" flüstere ich geschockt.

"Ja natürlich. Denkst du etwa, dass meine Beziehung auf Geheimnisse und Lügen aufgebaut ist?" fragt er schmunzelnd. Ich beginne zu lachen. Laut. Sehr laut. Und ich kann einfach nicht aufhören. Wenn der arme wüsste, dass das was ich denke, zu 100 Prozent stimmt, würde er sterben. Er mag diese Nutte wirklich. Das hat mir sein Blick verraten, als er sie draußen vor dem Cafe gesehen hat. Das ist ein Grund mehr, sie aus tiefster Seele zu hassen. Allmählich beruhige ich mich und wische mir die Lachtränen aus dem Gesicht. Ich sehe langsam zu Michael und bemerke, dass er mich vollkommen verwirrt anstarrt.

"Das ist sie auch." Er würde sterben, wenn er die Wahrheit über seine Beziehung mit Alina wüsste. Aber ich kann ihm das trotzdem sagen. Ich muss keine Angst davor haben, ihn umzubringen. Er glaubt mir sowieso nicht. Aber es unterstreicht trotzdem meinen Hass, den ich ihr gegenüber empfinde.

"Sag mal, kann es sein, dass es nicht nur an eurem Streit liegt, dass du sie hasst?" fragt er mich und ich erstarre. Plötzlich lacht er los.

"Weißt du, Alina liebt es, Witze zu reißen. Gerade vorhin meinte sie, dass du auf sie sauer bist, weil du eifersüchtig bist. Sie meint, dass du in mich verliebt bist. Sie hat irgendwas von "Große Liebe" geschwafelt. Das mit der Eifersucht glaube ich ja noch, schließlich bist du meine beste Freundin und du könntest ja Angst haben, dass ich nicht mehr so viel Zeit mit dir verbringen werde, weil ich jetzt plötzlich eine feste Beziehung habe. Aber das mit der großen Liebe, das finde ich einfach nur zum Schreien komisch. Wie kommt sie nur auf so einen Quatsch?" fragte er lachend und steigert sich immer mehr und mehr da rein.

Nach einer Weile fällt er von der Schaukel und rollt sich lachend am Boden herum. Sie hat es also getan. Sie hat es ihm erzählt. Es wundert mich nicht, dass sie davon Bescheid weiß...Immerhin hat sie uns öfters zusammen gesehen und sie kennt mich gut genug, um zu merken, wenn ich jemanden mag. Dafür sind wir früher lange genug befreundet gewesen. Kaum zu glauben, ich weiß, aber ich bin früher wirklich einmal mit ihr befreundet gewesen.

Jetzt stehe ich als eifersüchtiges Miststück da und sie als unschuldige feste Freundin, die am Boden zerstört ist. So eine scheiß Kröte.

Plötzlich hört Michael auf zu lachen und setzt sich auf. Er dreht seinen Kopf zu mir und sieht mich fragend an. "Findest du das nicht lustig?"fragt er und sieht mir in die Augen. Was soll ich denn jetzt machen? Soll ich lügen?

"Nein" antworte ich kühl. Schmunzelt fragt er:"Warum denn nicht?"

"Weil es stimmt. Alles." Jetzt ist es raus. Scheiße. Michaels Miene verfinstert sich automatisch und er dreht seinen Kopf wieder weg von mir. Er starrt Löcher in den Sandboden. Einige Minuten vergehen, bis er endlich weiter spricht.

"Das ist ein Witz." Darauf erwidere ich nichts. Was soll ich auch sagen? Ich will nicht wieder verneinen, ich komm mir so auch schon dumm genug vor.

"Wie lange schon?" fragt er jetzt kühl. Er ist nicht mehr der Michael, der er immer ist. Er lächelt nicht mehr und aus seinem Gesicht ist jegliche Freundlichkeit gewichen.

"Fünf Jahre." Ja...fünf Jahre ist eine verdammt lange Zeit.

"Fünf Jahre..."flüstert er geschockt und schaut jetzt auf seine Hände. Er hat sie vor sich ausgestreckt und starrt jetzt auf sie, als hätte er jemanden umgebracht.

"Fünf Jahre. Du stehst fünf verdammte Jahre auf mich und hast es noch nie für nötig gehalten, mir das zu sagen?!" schreit er mich an. Ich zucke erschrocken zurück. Ich habe ihn schon lange nicht mehr so ausrasten sehen.

"Hätte das irgendetwas geändert? Du hättest dich höchstens von mir abgewendet und hättest mich vergessen." antworte ich so gefühlskalt wie nur möglich. Er hat kein Recht, so mit mir zu reden. Als ob ich es leicht gehabt habe. Erschrocken weicht er zurück. Er muss wohl langsam aber sicher meinen Ton ihm gegenüber gemerkt haben. Gut.

"Fünf Jahre..." wiederholt er wieder flüsternd. "Verdammt Maya, wir kennen uns fünf Jahre lang! Willst du mir damit sagen, dass du von Anfang an-"

"Ja." antworte ich.

"Verdammte Scheiße!" Er schlägt mit seinem rechten Fuß auf den Boden ein. Mit dem Fuß, den er sich damals beim Fußballturnier in der 5. Klasse gebrochen hat. Damals bin ich überglücklich zum Turnier gegangen, nur um heulend wieder zurück zu kommen, weil ich Angst um ihn gehabt habe. Ich höre auf zu schaukeln und will ihn an der Schulter berühren, um ihn zu beruhigen, er weicht jedoch zurück von mir.

"Fass mich nicht an." faucht er mich an. Was hat er gerade gesagt?

"Was?" Ungläubig schaue ich ihn an und kann nicht glauben, was er mir gerade gesagt hat. Sein Blick ist voller Wut und Verzweiflung. Er steht auf und geht weg. Er geht einfach so weg. Und lässt mich alleine im Regen sitzen.

Kapitel 2

Maya! Wo warst du denn? Es regnet draußen, geh schnell rein, bevor du dir noch eine Erkältung holst." Mrs. Mayer, die nette Frau von neben an, putzt gerade ihren kleinen Teppich vor der Türe und lächelt mich an. Ihre Brille rutscht ihr dabei etwas von der Nase, die sie gleich wieder hochschiebt.

"Hallo, Mrs. Mayer." begrüße ich sie und gebe mir Mühe, meine miese Stimmung zu verstecken. Ich bin gerade dabei, die letzten Betontreppen zu erklimmen, als mein Wohnungsschlüssel, den ich noch vorher in der Hand gehalten habe, mir aus der Hand fällt. Wie auf Kommando muss ich niesen und ich fühle mich plötzlich so schwer. Ich versuche mich am Treppengelände festzuhalten. Mrs. Mayer kommt daher geeilt und stützt mich.

"Du meine Güte, Mädchen, geht es dir gut? Wie lange warst du denn draußen? Du bist so nass, als wärst du baden gegangen." Langsam richte ich mich auf und schenke ihr ein dankbares Lächeln.

"Geh schon rein und geh duschen. Zieh dir dann was trockenes an und trink einen Tee. Und dann geh schlafen. Es ist viel zu spät, für ein so hübsches Mädchen wie dich, um diese Uhrzeit noch unterwegs zu sein. Und Abschließen nicht vergessen." ich bedanke mich und erklimme noch die letzten Treppen und bleibe vor der Tür stehen, um meinen Hausschlüssel aus dem großen Schlüsselbündel in meinen Händen, zu suchen." Nathan! Bring endlich den Müll raus, wie oft soll ich dich denn noch darum bitten?!" keift sie ihren Sohn an. Genervt kommt dieser durch ihre Wohnungstür, mit einem grünen Müllbeutel im Schlepptau.

"Hast du nicht vorhin noch gesagt, dass hübschen Mädchen um diese Uhrzeit draußen nichts zu suchen haben?"fragt er sie genervt, woraufhin seine Mutter ihm einen belustigten Blick zu wirft. Ich breche in schallendes Gelächter aus. Das war einfach zu süß! Mit Lachtränen in den Augen, drehe ich mich nochmal zu ihnen um und bemerke, wie sie mich beide anschauen. Beide haben ein riesiges Grinsen im Gesicht. Das ist peinlich, verdammt!

"'Tschuldigung." murmle ich und lasse den Kopf sinken. Peinlich, peinlich, peinlich.

"Hey Maya" begrüßt mich Nathan und grinst mich schief an.

"Hallo Nathan" Ich lächle zurück, wobei mir ein Gähnen entweicht. Er lacht. "Normalerweise habe ich nicht so eine Wirkung auf Frauen" erklärt er. Das glaube ich ihm sofort. Nathan sieht gut aus. Ziemlich gut. Er hat schöne dunkelbraune Haare, genauso wie seine Mutter, nur sind seine kurzgeschnitten und stehen in allen möglichen Richtungen ab. Seine hellbraune Augen wirken freundlich aber irgendwie auch verträumt. Er sieht aus wie ein kleiner Bär, der gerade aus seiner Winterruhe erwacht ist. Dieser Vergleich bringt mich zum Grinsen.

"Du hast recht. Andere Frauen beleidigen dich. Und nun geh. Husch, husch!" verscheucht seine Mutter ihn und schubst ihn vorwärts, die Treppen runter. Mit einem "Ist ja gut, ich geh ja schon. Gute Nacht, Maya!" verabschiedet er sich. "Gute Nacht!" rufe ich ihm hinterher und auch seiner Mutter wünsche ich eine gute Nacht, bis ich die Wohnungstür schließlich aufsperre und reingehe.

 

Nach dem Duschen mache ich mir einen Tee. Während ich auf das kochende Wasser warte, wage ich einen Blick auf die große schwarze Uhr, die in unserer Küche hängt. Es ist bereits neun Uhr. Etwas mehr als drei Stunden hab ich vorhin alleine im Regen verbracht. Dieses Mal hat mich noch nicht einmal das Schaukeln auf andere Gedanken gebracht. Es ist vorbei. Eine plötzliche Welle der Erleichterung überfällt mich. Es ist raus. Die Gefühle, die ich fünf Jahre lang vor ihm verheimlicht habe, sind endlich raus. Er weiß es. Alles. Das plötzliche "Klack" meines Wasserkochers reißt mich aus meinen Gedanken. Schnell schütte ich das heiße Wasser über den Teebeutel in meine Tasse. Nachdem ich den Tee getrunken habe, lege ich mich schlafen und schlafe auch recht schnell ein.

 

"Alina! Alinaaaaa!", rufe ich und renne zu dem kleinen blondhaarigen Mädchen, dass mich mit einem breiten Grinsen im Gesicht, erwartet. Ich befinde mich gerade in der Schule und habe Mittagspause. Als ich stehen bleibe, fallen mir meine langen braunen Haare ins Gesicht und ich wische sie hastig weg. Lächelnd strecke ich die Hand aus und nehme ihre in meine. Langsam hole ich den kleinen Gegenstand aus meiner Hosentasche und überreiche ihn ihr.

"Wow...",flüstert Alina und starrt das Ding in meiner Hand an. Es ist ein kleiner Schlüsselanhänger mit einem kleinen Tiger.

"Und ich habe einen Panda!", sage ich kichernd und hole auch meines mit der anderen Hand raus, da ich ihre jetzt losgelassen habe.

"Woher hast du die?", fragt sie lächelnd und nimmt mir endlich ihren Tiger aus meiner Hand.

"Von Mama und Papa!" lache ich und sehe zu, wie sie mir meinen Panda aus der Hand nimmt.

"Da, guck mal!", lacht sie und wartet, bis ich zu ihr sehe.

"Panda und Tiger, für immer vereint!", schreit sie laut und kassiert dafür ein paar komische Blicke von den anderen Grundschülern. Ich lache darüber und spüre eine angenehme Wärme in mir. Stolz erfüllt mich. Ich habe eine so nette Freundin!

Plötzlich verschwindet die Szene und alles ist dunkel um mich herum.

"Na Maya, wo wollen wir denn hin?", höre ich plötzlich Alinas Stimme. Angst erfasst mich und ich beginne zu laufen. Sie sieht jetzt definitiv älter aus. Ich kenne diesen Traum, den habe ich früher als ich kleiner war, fast jede Nacht geträumt. Trotzdem kann ich nichts gegen diese Gefühle...Ich habe Angst.

"Nicht so schnell, Kleine!", höre ich jetzt noch eine andere Stimme. Miranda. Plötzlich erscheint langsam ein Bild vor mir, ich renne gerade durch den Schulkorridor und weg von Alina und ihren neuen Freunden. Plötzlich werde ich von hinten an der Schulter gepackt und nach hinten gerissen. Ich pralle mit meinem Rücken an der Wand ab und spüre schon im nächsten Moment etwas kaltes meinen Nacken herunter rinnen. Irgendwas schweres ist auf meinem Kopf und als ich darauf tippe, merke ich, dass es ein Eimer ist. Was sucht ein Eimer in der Schule? Muss wohl dem Hausmeister gehören, denke ich mir.

Schallendes Gelächter ertönt und ich hebe meinen Kopf. Das ganze kalte Wasser tropft an mir herunter und bildet eine große Pfütze auf dem Boden. Alina lacht mich aus. Warum tut sie das? Eine plötzliche Traurigkeit überkommt mich und ich schlucke.

Auch dieses Mal verschwindet die Szene und plötzlich erscheint mein altes Klassenzimmer vor mir. Vorsichtig betrete ich den Raum und sehe mich um. Auf der rechten Seite hängen zwei große grüne Tafeln und davor steht der Lehrertisch. Auf der anderen Hälfte des Raumes befinden sich die restlichen Schülertische und ich steuere direkt auf meinen zu. Traurig streiche ich über die glatte Oberfläche. Die Schule war damals die reinste Hölle.

"Da bist du ja!", schreit jemand und ich drehe mich hektisch um. Eine grinsende Alina steht im Türrahmen und beobachtet mich wie ein Raubtier. Bevor ich überhaupt merke, was gerade passiert, spüre ich einen starken Schmerz in meinem Kopf. Ich unterdrücke einen Schmerzensschrei. Das ist es, was sie hören möchte. Und ich werde es ihr nicht geben. Auf keinen Fall.

"Tut es weh?", fragt Alina mit einem überheblichen Grinsen und ich schüttle nur stumm den Kopf. Sie zieht mich an den Haaren und drückt meinen Kopf wieder gegen den harten Tisch. Gerade, als mein Kopf gegen den Tisch knallt, werde ich aus dem Traum gerissen.

 

"Ya...Ma...MAYA!" Ich werde von einer zuknallenden Tür aus dem Schlaf gerissen

Erschrocken setzte ich mich auf und sehe in einen wütenden Michael. Was will der hier? Müde reibe ich mir den Schlaf aus den Augen und versuche, nicht an den vorigen Traum zu denken. Stattdessen werfe einen Blick auf meine Hello Kitty Bettwäsche. Sie ist Rosa und Türkis gestreift und sehr viele Hello Kitty-Köpfchen sind hier und da zu sehen. Ab und zu steht auch "Hello Kitty" in türkiser Schnörkelschrift, welche noch rosa umrandet ist. Ich liebe diese Bettwäsche. Und das nicht nur deshalb, weil ich sie von meinen Eltern zugeschickt bekommen habe und ich praktisch einen Teil von ihnen bei mir habe, sondern weil sie auch wunderschön ist. Ich höre ein Seufzen und blicke auf. Michael, stimmt ja. Er ist noch da.

"Was ist?" murmle ich und starre ihn böse an. Er hat mich geweckt. Arschloch. Obwohl...wenn ich so an den Traum denke, bin ich ihm auch ein wenig dankbar.

"Ich habe mich mit Alina gestritten." gibt er zu und lässt sich auf den Boden fallen. Dieser Name befördert meine Laune jetzt total in den Keller. Danke, Michael. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, also beginne ich einfach, die Hello Kitty-Köpfchen zu zählen. Eins, zwei, drei...

"Willst du dazu nichts sagen?" fragt er. Ich ignoriere ihn und zähle weiter. Vier, fünf, sechs...Was sollte ich denn schon sagen? Dass es mir leid tut? Das wäre schlicht gelogen.

"Sie sagt, sie kann nicht mit jemanden zusammen sein, dessen beste Freundin in ihren Freund verliebt ist. Sie dachte, sie würde dich gestern überreden können, mich zu vergessen... Ich wusste davon nichts, ehrlich." Ist die Tussi irgendwo angerannt?

"Sie sagt, sie würde sich schlecht dir gegenüber fühlen, wenn sie mit mir zusammen ist, obwohl sie weiß, dass du mich magst." Natürlich...Und Schweine können fliegen...Wie dumm ist dieser Junge vor mir überhaupt?, frage ich mich in Gedanken.

"Hätte sie darüber nicht nachdenken können, bevor sie mit dir zusammengekommen ist? Immerhin wusste sie von mir." frage ich genervt. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Wie viele verdammte Lügen werden noch aus ihrem bescheuerten Mund kommen?

"Darüber hab ich gar nicht nachgedacht..." Toll...

"Und was hast du ihr gesagt? Du hast ihr doch sicher gesagt, dass du mich als beste Freundin behalten willst, oder?" frage ich und kann mir ein leichtes Lächeln nicht verkneifen. Er ist Michael. Mein bester Freund. Er würde mich nie alleine lassen. Niemals.

"Kannst du nicht einfach sagen, dass das, was du mir gestern erzählt hast, nur ein Scherz war? Alina irrt sich sicher. Du kannst mich nicht mögen." Er ignoriert einfach meine Frage. Warum?

"Würdest du mir denn glauben, wenn ich das sagen würde?" frage ich und schaue ihn an. Er starrt stur auf den Boden. Also nein. Er wollte ihr und sich selbst etwas vormachen, nur um weiter mit ihr zusammen zu bleiben. Und was ist mit mir?

"Hast du nur einen Moment an mich gedacht? Wie würde ich mich fühlen, wenn ich die Wörter zurücknehmen würde?" frage ich und bin so kurz davor, los zu heulen. Aber ich möchte nicht heulen...nicht vor ihm.

"Ich liebe sie." sagte er und ich höre ihn schlucken.

"Was hast du ihr gesagt, als sie meinte, sie könnte mit dir wegen mir nicht zusammen sein?" wiederholte ich die Frage von vorher nochmal.

"Ich liebe sie." wiederholt er nochmal. Langsam werde ich wütend. Ich springe aus dem Bett und bin nach nur wenigen Schritten bei ihm. Ich greife in seine Haare und ziehe seinen Kopf zurück. Er muss mir in die Augen schauen.

"Sag es." verlange ich. Er versucht wieder meinem Blick auszuweichen, was ihm jedoch nicht gelingt, denn ich ziehe etwas an seinen Haaren, sodass er automatisch wieder her schaut. Ich tue ihm nicht weh, das ist er schon von mir gewohnt, dass ich leicht...gewalttätig werde, wenn ich sauer bin. Und vor allem, wenn ich geweckt werde.

"Ich hab ihr gesagt, ich würde mit dir darüber reden. Und dass du nicht zulassen würdest, dass sie mich wegen so einem Blödsinn verlässt." Blödsinn? Blödsinn?! Also sind meine Gefühle Blödsinn?! Mein  Hals ist vollkommen trocken und ich versuche zu schlucken.

"Vielleicht würde ich das ja tun. Wenn es nicht Alina wäre. Michael, sie benutzt dich nur. Sie hasst mich und will mich verletzten, indem sie dich mir wegnimmt. Einen Teil meiner Familie. Ich habe nicht wirklich erwartet, dass du mich jemals so mögen wirst, wie du andere Mädchen magst. Aber es war mir egal. Ich wollte es dir auch nie sagen. Bedank dich dafür also bei ihr. Jedenfalls bist du mir sehr wichtig und ich will nicht, dass du wegen ihr verletzt wirst."

"Sie hatte recht." flüstert er. Was?

 "Sie wusste, dass du das sagen würdest. Du hasst mich, stimmt's? Du willst mich nur von ihr fern halten. Du willst nicht, dass ich glücklich werde! Was bist du für ein Mensch?!" Was zur Hölle ist nur mit ihm los?! Das kann er doch nicht ernst meinen!

"Denkst du das wirklich?"frage ich und hoffe auf eine Verneinung. Doch sie kommt nicht. Er schnaubt nur und steht auf, wobei meine Hand aus seinen Haaren verschwindet.

"Du hast doch nur Angst davor, irgendwann mal alleine zu bleiben. Wenn ich gehe, hast du niemanden mehr! Denkst du, das weiß ich nicht? Das ist der Grund, warum du nicht willst, dass ich mit ihr zusammen bin. Du willst, dass ich für immer bei dir bleibe, egal ob ich dabei glücklich oder unglücklich bin! Du hasst mich! Warum?!" schreit er mich an. Bevor mir überhaupt bewusst wird, was ich da gerade mache, rast meine Hand auch schon auf seine Wange zu und lässt ein sehr schmerzhaftes Geräusch erklingen.

"Ich liebe dich du Arschloch! Falls du es vergessen hast, ist das doch gerade das verdammte Problem, wie kannst du also behaupten, ich würde dich hassen?!" schreie ich noch lauter als er. Ich habe langsam echt die Nase voll von diesem Quatsch.

"Ich will deine scheiß Liebe aber nicht!" schreit er zurück. Autsch. Mein Herz krampft sich zusammen. Wenn ich vorhin noch gegen die Tränen ankämpfen musste, so ist das jetzt nicht mehr Fall. Sie sind weg. Ich fühle keine Traurigkeit, über die Bedeutung seiner Worte. Ich fühle auch keine Wut über seine Dummheit. Ich fühle...nichts. Rein gar nichts. Ihm wird wahrscheinlich erst jetzt klar, was er da gerade gesagt, denn seine Augen weiten sich und er will irgendwas sagen, doch ich lasse ihn nicht.

"Raus. Und wage es nicht, jemals wieder hier her zu kommen." Ich nicke mit meinem Kopf in Richtung meiner Zimmertür.

"Maya, ich...E-Es tut.." Es tut ihm nicht leid. Er hat alles so gemeint, wie er es gesagt hat. Das einzige, was ihm möglicherweise leidtun könnte, ist seine Wortwahl. Letzten Endes ist es doch egal welche Wörter er benutzt, die Bedeutung ist und bleibt die Gleiche. Er will meine Liebe nicht. Anscheinend macht sie ihn krank, denn in diesem Moment scheint es ihm sehr schlecht zu gehen. Er ist verrückt geworden. Okay. Message angekommen.

"Raus." wiederhole ich diesmal knurrend. Er bleibt nur wie angewurzelt stehen. Ich öffne meine Tür, stoße ihn raus und öffne dann die Eingangstür. Auch durch diese stoße ich ihn und begleite ihn somit hinaus. Laut knalle ich die Tür zu und schließe ab. Sogar zwei Mal. Gestern Nacht hab ich anscheinend vergessen, abzuschließen. Schon wieder.

 

Ich fühle mich leer. Aber ich will nicht weinen. Noch nicht. Kaum zu glauben, aber dafür bin ich im Moment viel zu müde. Ein Gähnen entweicht mir und ich blicke auf die kleine Uhr, welche im Vorzimmer hängt. Sie zeigt dreizehn Uhr an. Warum um Gottes Willen, hab ich so lange geschlafen? Plötzlich verspüre ich eine große Lust, spazieren zu gehen. Ich schlüpfe also aus meinem Schlafanzug, den ich mir gestern vor dem Schlafengehen angezogen habe, und ziehe mir was bequemes an. Ich brauch was süßes. Angeblich hilft das gegen Herzschmerz. Es ist zwar im Moment nicht unerträglich, aber sobald ich etwas  munterer bin, werde ich mir die Seele aus dem Körper heulen, das weiß ich. Deshalb brauch ich Munition. Welcher Idiot zieht schon ohne Munition in den Krieg? Ich habe nur ein Problem...Heute ist Sonntag. Woher krieg ich an einem Sonntagnachmittag was Süßes? Plötzlich macht es "Klick" in meinem Kopf. Ein Hoch auf Tankstellen!

 

Ich hoffe sehr, dass Michael verschwunden ist und bin sehr erleichtert, als ich aus der Wohnung trete und das tatsächlich der Fall ist. Er ist weg. Wahrscheinlich für immer. Plötzlich höre ich eine Tür aufgehen. Erschrocken zucke ich zurück.

"Oh, guten Morgen, Maya. Ist alles in Ordnung? Vorhin war es ganz schön laut bei dir." Mrs. Mayer ist rausgetreten und schaut mich nun besorgt an. Ich hoffe nur, dass sie nicht alles gehört hat. Das wäre peinlich.

Sie ist gerade dabei, ihre Eingangstür mit einem Lappen zu putzen. Sollte ich auch mal machen, ist sicher keine schlechte Idee.

"Alles okay. Ich hoffe, ich habe euch nicht geweckt. " Sie schüttelt den Kopf.

"Blödsinn, natürlich hast du uns nicht geweckt. Nathan ist schon seit einer Weile draußen und ich bin schon seit sechs Uhr wach. Keine Sorge. Da fällt mir ein: Wie geht es denn deinen Eltern? Haben sie sich schon bei dir gemeldet?" Traurig schüttle ich den Kopf. Meine Eltern sind hart arbeitende Menschen, deshalb haben sie nicht wirklich viel Zeit, um sich zu melden. Aber ich verstehe das. Und ich weiß auch, dass sie sich immer melden, sobald sie die Möglichkeit dazu haben. Ich bin ihre Tochter. Und ich weiß auch, dass, egal wie viele Freunde mich im Leben noch enttäuschen werden, meine Eltern immer für mich da sein werden. Sie wollten ihren Job schon öfter als einmal schmeißen, aber ich wollte das nicht. Sie lieben ihren Job. Meine Eltern sind Meeresbiologen. Das war schon immer ihr Traumberuf. Und wer bin ich, um ihnen die Freude an ihrem Arbeitsleben zu nehmen? Ich meine sicher, ich bin ihr einziges Kind. Aber trotzdem ist das meiner Meinung nach kein Grund, sie an mich zu fesseln. Ich bin siebzehn Jahre alt, alt genug um auf mich selbst auf zu passen. Das glaube ich jedenfalls. Auf jeden Fall bin ich bis jetzt prima klar gekommen! Außerdem bekomme ich jede Woche ein Paket von ihnen zugeschickt, indem sich sehr viele Fotos, Briefe, manchmal ein Geschenk und auch Geld befindet. Man kann also nicht sagen, dass sie nicht für mich sorgen.

 

"Na dann Kopf hoch! Das werden sie sicher bald machen. Ich lasse dich jetzt mal lieber gehen, wie es aussieht, wolltest du noch irgendwohin. Viel Spaß noch." Nathans Mutter winkt mir lächelnd zu und ich kann nichts anderes machen, als zurück zu lächeln. Diese Frau ist seit wir hier eingezogen sind, jedes Mal nett zu mir gewesen. Ich mag sie. Sie hat was von einem Sonnenschein an sich. Ich bedanke mich und mache mich auf den Weg zur Tankstelle.

 

Ich verlasse die Tankstelle mit meiner Plastiktüte und Süßigkeiten. Drei Tafeln Erdbeerschokolade befinden sich in meiner Tüte und werden mir dabei helfen, über Michael hinweg zu kommen. Ich suche mir einen geeignete Platz und setze mich auf den Boden hin, den Rücken an die Wand gelehnt. Sowohl sie als auch die Wand sind etwas kühl, aber das interessiert mich im Moment wenig. Es ist mal wieder der Park, wo sich Michael und ich gestern getroffen haben, in dem ich gerade hocke.  Ich winkle meine Beine an und stütze meinen Kopf auf meine Hände. Nachdenklich betrachte ich den bewölkten Himmel.

 

In den letzten zwei Tagen ist das passiert, wovor ich schon immer Angst gehabt habe. Michael hat eine Freundin mit der ich gar nicht klar kommen kann und nicht will. Wir hassen uns. Michael kennt meine Gefühle und hasst mich jetzt wahrscheinlich auch. Ich werde von zwei Menschen gehasst, das ist ja wunderbar. Warum muss es denn unbedingt Michael sein? Hätte ich nicht einfach den gruseligen Straßenpenner, der immer in der Nähe unserer Schule hockt, mögen können? Oder Nathan? Warum hab ich mich nicht einfach in ihn verknallt, als ich ihn das erste Mal gesehen habe? Der ist doch immer so nett zu mir...und schlecht sieht er auch nicht gerade aus...aber nein. Natürlich konnte ich das nicht.

"Kannst du nicht einfach sagen, dass das, was du mir gestern erzählt hast, nur ein Scherz war?", rufe ich mir wieder in Erinnerung, was er zu mir gesagt hat.

"Ich liebe sie."

"Sie wusste, dass du das sagen würdest. Du hasst mich, stimmt's? Du willst mich nur von ihr fern halten. Du willst nicht, dass ich glücklich werde! Was bist du für ein Mensch?!" , hat er gefragt.

"Du hast doch nur Angst davor, irgendwann mal alleine zu bleiben. Wenn ich gehe, hast du niemanden mehr! Denkst du, das weiß ich nicht? Das ist der Grund, warum du nicht willst, dass ich mit ihr zusammen bin. Du willst, dass ich für immer bei dir bleibe, egal ob ich dabei glücklich oder unglücklich bin! Du hasst mich! Warum?!" Ist es das? Habe ich wirklich Angst davor, alleine zu bleiben? Ich schüttle hastig meinen Kopf. Auch wenn das stimmen sollte, ich würde Michael nie zwingen, bei mir zu bleiben.

Ich spüre, wie mir schon die Tränen die Wange runter rollen.  Es ist okay...,denke ich mir. Du muss jetzt einmal weinen. Einmal und dann nicht mehr. Nie mehr wieder...jedenfalls nicht wegen ihm.

Ich habe schon immer gewusst, dass er nicht immer bei mir bleiben kann.  Und mit der Tatsache habe ich mich auch schon angefreundet. Aber nicht mit ihr. Nicht mit Alina. Diese bescheuerte Tussi empfindet nichts für ihn. Gar nichts. Sie nutzt ihn nur aus. Wann wird er das nur merken?

"Ich will deine scheiß Liebe aber nicht!" Mein Herz bekommt noch einen Stich zu spüren. Es tut weh, verdammt! Er will sie nicht? Fein! Ist mir doch egal! Arschloch!

 Noch mehr Tränen verlassen meine Augen und mir ist arschkalt. Zitternd mache ich mich an die erste Packung Erdbeerschokolade zu schaffen und stopfe mir gleich drei Stück auf einmal in den Mund. Ich schließe meine Augen, wobei noch ein paar Tränen meine Wangen runter rinnen und genieße den süßen Geschmack in meinem Mund. Es ist das perfekte Gegenteil zu meinem bitteren Leben. Erdbeerschokolade  war schon immer  Medizin für meine Seele und wird es auch immer sein...

 

Irgendetwas kaltes tropf auf meinen Nacken. Mich durchfährt eine Gänsehaut und ich sehe mich um. Ich sitze noch immer auf dem Boden. Verwirrt schaue ich nach oben. Es regnet. Und dunkel ist es auch schon geworden. Ich muss wohl eingeschlafen sein, denke ich. Vollkommen ausgelaugt stehe ich auf und schnappe mir meine Plastiktüte. Mir den Dreck von den Sachen klopfend, mache ich mich auf den Weg nachhause.

 

Die Straßen sind nur schwach beleuchtet, was mich an eine Kulisse eines Horrorfilms erinnert. Langsam aber sicher bekomme ich Angst, was mich dazu bringt, meinen Gang zu beschleunigen. Ich habe gerade den Park überquert und kann mein Wohnhaus schon geradeaus sehen, als ich erleichtert ausatme. Ich habe es geschafft. Meine Erleichterung wird noch größer, als ich eine mir bekannte Person im schwachen Licht erkenne, die gerade dabei ist, den Müll in dem großen Mülleimer vor dem Wohnhaus wegzuwerfen.

"Hey, Nath-" rufe ich, doch plötzlich spüre ich von hinten eine Hand auf meiner Schulter und werde heftig nach hinten gerissen. Instinktiv versuche ich zu schreien, jedoch vergebens. Jemand hält mir den Mund zu und erstickt somit meinen Schrei. Ich trete um mich, treffe aber nichts. Ich schaue nach hinten und versuche einen Blick auf die Person, die mich festhält, zu erhaschen und blicke schon im nächsten Moment in zwei zusammengekniffene dunkelbraune Augen.

"Halt die Schnauze oder ich bring dich gleich um", flüstert er und kramt irgendwas aus seiner dunklen Jacke raus. Ein Tuch. Er reißt seine Hand weg und bevor ich überhaupt nur einen Ton rausbringen kann, drückt er mir das Tuch auch schon aufs Gesicht. Meine Augen weiten sich. Was macht der Kerl bloß mit mir?! Ich muss weg von hier!

Ich muss weg!

Ich muss hier...

Ich muss...

Ich...

Kapitel 3

Ja, ich hab eine. Ja, genau. Ungefähr 16, 17, höchstens 18 Jahre. Ist ganz schön hübsch. Ja, sie wird ihm sicher gefallen. Wann krieg ich die Kohle?"

Scheiße, tut mein Kopf weh!

Langsam öffne ich meine Augen und blinzle ein paar Mal. Wo zur Hölle bin ich? Ich sehe nichts. Scheiße, was stimmt mit meinen Augen nicht? Bin ich vielleicht...Oh.

Langsam erkenne ich eine Person weiter hinten. Sie sitzt auf einen Tisch und hält irgendwas an ihr Ohr. Was ist das? Sieht aus wie eine Kartoffel..., denke ich.

"Willst du mich verarschen?! Was heißt hier Mittwoch? Ich will die Kohle jetzt sofort! Wenn die Kleine aufwacht und abhaut, könnt ihr sie wieder einfangen!" Warum schreit der Kerl in eine Kartoffel? Was um Gottes Willen ist hier los? Träume ich?

 

Der große Raum wird von nur einer kahlen Glühbirne beleuchtet. Alles was ich sehen kann, sind ein paar riesige Würfel, die ich als Kisten zu identifizieren wage. Seit der Kartoffel, trau ich meinen Augen nicht mehr...Sie sind rechts und links von mir, zu einer Pyramide gestapelt. Etwas weiter, ungefähr im Zentrum des Raumes sehe ich den Typen mit der Kartoffel. Jedenfalls glaube ich, dass es ein Kerl ist. Seine Stimme klingt recht männlich.

Plötzlich wird mir bewusst, was passiert ist. Ich wurde entführt! Von dieser Kotzkrücke da vorne!Der hat mir irgendwas aufs Gesicht gedrückt. Ich hoffe, es war nicht seine Unterhose.  Angeekelt schüttle ich den Kopf, stoppe jedoch gleich wieder, da mich die Kopfschmerzen fast zum Schreien bringen. Ich muss still sein. Wenn der Kerl merkt, dass ich wach bin, bin ich dran. Ich muss abhauen!

 

Ich versuche meine Hände zu bewegen, doch es geht nicht. Mit meinen Fingern versuche ich irgendetwas zu ertasten. Es ist ein Seil. Meine Hände sind mit einem Seil gebunden. So ein Arsch!

Ich höre Schritte und lasse schnell meinen Kopf fallen. Ich zwinge mich, ruhig zu atmen, damit er denkt, ich würde noch schlafen.

"Ja. Nein. Okay. Wenn du in zehn Minuten nicht da bist..." Er beugt sich zu mir runter und ich spüre seinen stinkenden Atem auf meinem Kopf. Zähne Putzen ist für ihn wohl ein Fremdwort... "ist sie tot. Ja, das meine ich vollkommen ernst." beendet er das Gespräch mit der Kartoffel und  steht wieder auf. Schnellen Schrittes geht er zurück zu seinem Tisch und wirft die Kartoffel  auf ihn. Ich habe noch nie eine schwarze Kartoffel gesehen... Er bückt sich neben den Tisch und verschwindet aus meiner Sicht hinter den Kisten, dann taucht er wieder mit einer Glasflasche auf. Darin ist eine honigfarbene Flüssigkeit und ich bezweifle, dass es sich hier um Apfelsaft handelt. Er trinkt und nimmt dabei große Schlucke, bis die Flasche nur noch zur Hälfte voll ist. Dann schraubt er sie wieder zu, schnappt sich irgendeinen schwarzen Gegenstand und kommt wieder auf mich zu. Schnell schließe ich meine Augen und zwinge mich wieder, ruhig zu atmen.

 

Wie beim vorigen Mal, kniet er sich wieder vor mir hin und diesmal legt er zwei Finger unter mein Kinn und zwingt mich so, ihn anzusehen. Natürlich mache ich die Augen nicht auf, so blöd bin ich auch nicht.

"So ein hübsches Gesicht..." schnurrt er und ich würde mich am liebsten auf der Stelle übergeben. Sein Atem stinkt jetzt nach Alkohol und würde ich nicht schon auf dem Boden sitzen, wär ich höchstens jetzt umgefallen. Ich spüre, wie mir etwas immer näher kommt...Oh nein, er will mich doch nicht...Bevor ich noch einmal darüber nachdenken kann, was ich machen soll, spucke ich schon automatisch vor mich hin. Ich höre einen erschreckten Schrei und öffne die Augen.

"Schlampe!"zischt er und schon im nächsten Moment spüre ich einen starken Schmerz auf meiner Wange. Hat er mich etwa geschlagen?, fliegt es mir durch den Kopf. Er hebt seine rechte Hand und schon im nächsten Augenblick hält er mir eine Knarre an den Kopf. Scheiße.

"Scheiß auf die 10 Minuten, ich blas dir den Kopf jetzt gleich weg." knurrt er und fasst mir in die Haare. Mit einem festen Ruck, zieht er an ihnen und ich gebe einen Schmerzensschrei von mir. Erst jetzt, kurz vor meinem Tod, nehme ich mir die Zeit, um meinen Gegenüber genauer zu mustern. Es ist ein Mann mittleren Alters, mit braunen, mich wütend musternden Augen und einer Nase, die einer Tomate gleicht. Seine Lippen sind geöffnet und schiefe, ungepflegte Zähne kommen zum Vorschein. Dagegen, dass sie schief sind, kann er nichts, aber er könnte sich ruhig einmal eine Zahnbürste zulegen, wenn er mich erst mal ins Jenseits befördert hat. Das ganze Gesicht wird von dunklen Locken umrahmt.

 

"Wann warst du denn das letzte Mal beim Zahnarzt?" Meine Stimme klingt kratzig, was an der ganzen Heulerei von vorhin liegen könnte. Die Frage entweicht mir unabsichtlich und ich ohrfeige mich in diesem Moment in meinen Gedanken selbst. Ich sitze gerade mit gefesselten Händen vor einem pädophilen Idioten, der vorhatte, mich zu verkaufen und jetzt eine Knarre auf mich richtet und ich denke tatsächlich über seinen letzten Zahnarztbesuch nach? Für diese Dummheitgehöre ich wirklich erschossen. Vollkommen perplex starrt er mich an. Hey, wenn ich schon sterbe, dann will ich ihn wenigstens zur Weißglut bringen. Ich höre schon die noch vorhandenen Zahnrädchen in seinem Hirn langsam arbeiten und warte auf seine Reaktion. Sein Blick verfinstert sich und er bleckt seine Zähne wie ein Hund.

"Sag 'Tschüss', Kleine." knurrt er und entlädt die Knarre. Tschüss, mein Leben. Tschüss Mom und Dad, ich hoffe, ihr findet einen Seestern und benennt ihn nach mir. Tschüss Michael, ich hoffe, du merkst irgendwann mal, wer Alina wirklich ist und vergisst mich nicht so schnell. Macht's gut, Mrs. Mayer und Nathan. Ihr hattet recht, Mädchen sollten wirklich nicht um diese Uhrzeit noch draußen sein...Plötzlich bin ich traurig. All diese Menschen...ich werde sie nie mehr wieder sehen. Nie mehr wieder...

"Tschüss" sage ich und grinse provokant . Mein Mörder soll nicht merken, dass es mir was ausmacht zu sterben. Dafür bin ich zu stolz. Er lacht humorlos auf und drückt die Waffe fester auf meinen Kopf. Ich schaue ihm in die Augen und warte auf den Schuss, doch er kommt nicht. Plötzlich fällt ihm die Waffe aus der Hand und er wird nach hinten gerissen. Er schreit auf und fällt mit dem Rücken auf den Boden.

"Steven! Julian! Kommt her!" Schreit mein Entführer und schon kommen zwei Kerle mit den Namen Steven und Julian auf mich zugerannt. Mein Entführer wird von jemanden an der schwarzen Jacke gepackt und erneut auf den Boden gedonnert. Ein schriller Schrei ertönt, doch ich kann mich nicht mehr darauf konzentrieren, denn Steven und Julian bleiben direkt vor mir stehen. Der eine hält mir ein Messer an die Kehle und warnt mich, still zu bleiben, während der andere mich von dem Seil befreit. An den Haaren ziehend, zwingen sie mich aufzustehen und schubsen mich durch den Raum. Das Messer ist inzwischen von meinem Hals verschwunden, jedoch bohren sich nun ihre schlanken Finger in meinen Rücken und zwingen mich, weiter zu gehen. Plötzlich werden auch sie von mir gerissen und ich höre sie laut aufstöhnen. Verwirrt schaue ich mich um. Was um Himmels Willen ist hier nur los? Als ich auf den Boden schaue, sehe ich die beiden Kerle vor mir herum rollen und stöhnen. Sie halten sich an den Bauch und fluchen. Ihre blonden Haare sind nass und kleben ihnen auf der Stirn und ihre Augen sind schmerzhaft zusammengepresst, genauso wie ihre Lippen. Erst auf den zweiten Blick wird mir bewusst, dass sie vollkommen gleich aussehen. Sie sind Zwillinge.

"Nate! Los!" höre ich jemanden rufen und zucke zusammen. Wer zur Hölle ist jetzt Nate? Doch nicht etwa noch ein Typ, der mich...

Ich komme gar nicht dazu, zu Ende zu denken, denn jemand schnappt mich am Handgelenk und zieht mich schnell mit sich.

"Lass mich los, verdammt! ", schreie ich und trete wild um mich, doch er lässt mich nicht los. Ein Schrei entweicht mir, als ich gegen eine Kante renne und mein Oberschenkel zu schmerzen beginnt. Fluchend falle ich zu Boden.

"Sorry", murmelt dieser Nate und zieht mich wieder auf die Beine. Einen letzten Blick auf das Ding werfend, das mich verletzt hat und sich als Tisch entpuppt, bemerke ich die schwarze Kartoffel, in die mein Entführer vorhin rein gesprochen hat.

"Es ist keine schwarze Kartoffel..." flüstere ich fasziniert. Es ist ein Telefon.

"Maya, alles o-" der Kerl, der komischerweise meinen Namen kennt, wird plötzlich von hinten niedergedrückt und küsst den Boden. Das soll doch wohl  'n Witz sein!

"Verdammt, Tyson! Bring sie raus!" schreit dieser Nate, der gerade von einem Kerl mit dunklen Haaren erdrückt wird. Die Stimme...kommt mir irgendwie bekannt vor...

"Alles muss man selber machen..." beklagt sich dieser Tyson von der anderen Seite des Raumes.

"Ich würde es ja machen, aber dieses Schwein versucht mich gerade zu vergewaltigen!" schreit der Kerl neben mir und ich versuche in sein Gesicht zu schauen, was dieses "Schwein" , das auf ihn liegt, aber nicht zulässt. Plötzlich bewegt sich das Schwein und ich bekomme ein Gesicht zu sehen, das ich sehr wohl kenne.

"Scheiße, Nathan?!", schreie ich geschockt und werde von hinten von jemanden hochgehoben, umgedreht und schließlich wie ein Kartoffelsack auf die Schulter geworfen.

"Lass mich los, du Arsch! Nathan! Verdammt, ich muss zu ihm!" , schreie ich dem Arsch dieser Person zu, welcher in dunkle Jeans steckt, an. Jetzt wo ich so genauer hinschaue, sieht er schon irgendwie knackig aus... Verdammt, Maya! Halt die Fresse, du schwebst noch immer in Lebensgefahr!, versucht mich meine innere Stimme zur Vernunft zu bringen. Ich schlage ihm mit meinen zu Fäusten geballten Händen auf den festen und starken Rücken, aber nichts passiert.

"Maya, geh' mit ihm! Ich komme gleich nach.", ruft mir Nathan zu und ich starre ihn ungläubig an. Wie will er...?

Schon im nächsten Moment rammt Nathan dem Schwein ober ihm sein Knie in den Bauch und wirft ihn keuchend von sich. Ich habe nicht gewusst, dass Nathan so stark ist. Das Schwein sieht nicht gerade leicht aus...

"Drake! Komm, wir verziehen uns!", schreit Nathan und kommt auf mich zu. Dieser Tyson, der mich noch immer trägt, stößt eine schwere Metalltür auf und schon befinden wir uns im Freien. Obwohl mich dieser Typ an den Beinen festhält, damit ich nicht runterfalle, habe ich trotzdem Angst, weshalb ich mich aufrichte und meine Arme um seinen Hals schlinge. Ich hab meinen Retter noch nicht einmal gesehen, aber ich bin ihm jetzt schon dankbar. Nathan natürlich auch.

 

Die Kälte schlägt uns entgegen und der Regen prasselt erbarmungslos auf uns und ich bin so erleichtert, wieder frei zu sein. Ich bin frei. Ich habe nie gedacht, dass ich jemals wieder lebend rauskommen würde. Eine Welle der Erleichterung überkommt mich und ich merke, wie sich eine Schwärze in mein Sichtfeld schiebt. Ich höre noch jemanden nach mir rufen, von dem ich glaube, dass es Nathan ist und dann herrscht plötzlich eine schreckliche Stille.

 

Von einem wohlriechenden Geruch aufgeweckt, wache ich auf. Langsam öffne ich meine Augen.  Das riecht so gut...Sind das...sind das...?

"Pfannkuchen!" , keuche ich und setzte mich auf. Wo bin ich denn hier? Das ist definitiv nicht mein Zimmer...Bin ich tot? Bin ich ein Geist? Nein, das kann nicht sein..., beruhige ich mich in Gedanken. Wenn ich wirklich ein Geist wäre, würde ich durch das Bett fallen und da ich das nicht tu, bin ich demnach also auch kein Geist. Erleichtert atme ich aus. Wie bin ich hier her gekommen? Seufzend schäle ich mich aus der warmen Kuscheldecke und sehe mich um. Das Zimmer ist groß und geräumig, und die Wände sind in ein kräftiges Grün gestrichen. Links von mir befindet sich ein großes Fenster mit breiten weißen Rahmen und einer breiten Fensterbank. Jemand hat die Rollläden runter gelassen und verhindert somit, dass das Licht von draußen den Raum erhellt.

Gegenüber dem Bett (auf welchem ich noch immer sitze) befindet sich ein schwarzer Schrank, was wahrscheinlich ein Kleiderschrank ist. Links davon, genau in der linken Ecke des Raumes befindet sich ein schwarzer Schreibtisch, auf dem ein Laptop zugeklappt liegt. Links neben dem Bett steht noch ein kleines -ebenfalls schwarzes- Nachttischchen, aus dem sich ein Wecker befindet.  Er zeigt 5:30 Uhr. Auf der anderen Seite des Doppelbettes ist auch so ein Tischchen zu sehen, nur liegt diesmal ein Handy darauf.Rechts auf der Wand befindet sich eine schwarze Tür, welche wahrscheinlich aus dem Raum führt.

Das Zimmer ist mir vollkommen fremd. Ich bin heute zum ersten Mal da, aber wo bin ich? Ich setze mich in den Schneidersitz, lege meine Arme auf meine Knie und winkel  diese an, sodass ich meinen Kopf darauf legen kann. Plötzlich durchfährt mich ein starker Schmerz und ich schaue auf meinen Oberschenkel, nach irgendwelche Verletzungen suchend. Und tatsächlich...ich habe einen blauen Fleck in der Größe einer Kartoffel auf meinen linken Oberschenkel. Plötzlich werde ich von all den Geschehnissen überrumpelt. Die Kartoffel! Ich wurde entführt, fast verkauft und beinahe erschossen, was dank Nathan und seinen Freunden verhindert wurde. Sie habe mich gerettet. Aber das erklärt nicht, was ich hier zu suchen habe...schlafend in einem fremden Bett. Haben sie mich vielleicht am Ende doch noch erwischt? Ich schlucke trocken und merke, wie sich bereits ein Knoten in meinem Hals gebildet hat. Langsam steige ich aus dem Bett und öffnete ein wenig die Tür. Nur ein kleiner Spalt trennt  die Tür vom Türrahmen, doch es ist genug für mich, um Stimmen von draußen zu hören.

"Was machen wir jetzt mit ihnen?" fragt jemand und im nächsten Moment höre ich ein Knurren.

"Um die Wichser kümmer' ich mich später." Entsetzt atme ich auf und kralle meine Fingernägel in meine grau-blau-karierte Boxershorts. Moment...meine was? Hastig schaue ich an mir runter und tatsächlich- Ich habe Boxershorts an...und als ob das nicht noch genug ist, auch noch ein großes graues T-Shirt, das mir genauso wenig gehört. Erschrocken schreie ich auf. Wer um Himmels Willen hat mich umgezogen?! Und warum? Wo zur Hölle bin ich, verdammt! Ich vernehme schnelle Schritte und schon im nächsten Moment liege ich wieder im Bett und täusche vor, zu schlafen.

"Vielleicht hat sie nur schlecht geträumt..." höre ich jemanden sagen. Langsam glaube ich, die Stimme zu erkennen. Ich glaube, es ist Nathan... Ich höre, wie sich mir Schritte nähern und ich halte die Luft an. Ich spüre wie die Matratze unter einem Gewicht nachgibt und sich zwei Fäuste in die diese drücken.

"Unsinn, die Kleine  ist wach." sagt die Stimme bestimmt in mein Ohr und jagt mir dadurch eine Gänsehaut durch den Körper.

"Maya?" fragt wieder die andere Stimme und dieses Mal bin ich mir sicher, dass sie Nathan gehört.

"Nathan..."murmle ich erleichtert und gebe mir Mühe, nicht auf der Stelle vor Erleichterung los zu heulen. Sie habe mich nicht bekommen...Gott sei Dank.

Ich setze mich auf und kreische, als ich plötzlich ein Gesicht vor mir sehe. Erschrocken weicht die Person von mir. Es ist ein Kerl. Er hat schwarze kurze Haare und grüne Augen. Seine Nase ist gerade und er hat volle Lippen. Im Großen und Ganzen ist der Typ eine wahre Schönheit. Er hat ein schwarzes T-Shirt und dunkle Jeans an. Er kann nicht älter als 19, höchstens 20 Jahre alt sein.

"Wer bist du?" frage ich und versuche so monoton wie möglich zu klingen. Der Typ ist so gut aussehend, dass es mir fast den Atem verschlägt. Er grinst süffisant und antwortet mit gehobener Augenbraue:"Das würde ich gerne von dir wissen, schließlich liegst du da in meinem Bett."

Oh...

"Ich bin Maya.", antworte ich.

"Das habe ich inzwischen auch schon mitbekommen, Bienchen...", seufzt er. Wie bitte? Will der mich verarschen? Bienchen?!

"Was willst du dann von mir wissen?"frage ich schroff und recke mein Kinn etwas nach vor.

"Nachname, Größe, Blutgruppe, Erfahrung, Alter...", zählt er auf.

"Erfahrung? Erfahrung in was?", frage ich vollkommen ahnungslos. Plötzlich taucht wieder dieses Grinsen in seinem Gesicht auf und ich ahne schlimmes.

"Im Bett. Du bist noch Jungfrau, oder? Und nur, dass wir uns verstehen...Mit Größe meine ich nicht deine Körpergröße." Ich erstarre. Scheiße...ist das so offensichtlich, dass ich noch Jungfrau bin? Woher weiß er das? Ich sehe nichts schlimmes daran, dass ich noch unerfahren bin, was das angeht. Ich bin froh, dass ich nicht wie andere Mädchen in meinem Alter bin und alles an mich ranlasse, das ich gerade zu Gesicht bekomme. Mich wundert es nur, woher er das weiß.

"Welche denn dann?" Sein Blick sinkt etwas und starrt auf irgendwas. Verwirrt folge ich dem Blick und sehe an mir herunter. Plötzlich trifft es mich wie ein Blitz. Diese Größe! Dieser Perverse will meine scheiß Körbchengröße wissen! Kannst'e knicken, Alter. Obwohl ich das alles albern finde, kann ich nicht verhindern, sofort wie eine Tomate rot anzulaufen.

"Du willst mich wohl verarschen." stelle ich kühl fest und meide seinen Blick. Wo ist Nathan? Der muss mir doch irgendwie helfen...Da! Er lehnt an der Wand und sieht uns amüsiert zu. Warum macht er das? Er war doch immer so nett und...ah, vergiss es. Soll er halt zuschauen. Penner.

"Antworte, Bienchen." knurrt er in mein Ohr und schonwieder bekomme  ich eine Gänsehaut. Ich hole tief Luft. Dann werde ich es ihm wohl sagen müssen...

"Sag ich nicht. Weiß ich nicht. Weiß ich nicht. Sage ich dir ganz sicher nicht. Und das sage ich dir auch nicht. Und nenn mich nicht so!"schnauze ich ihn an. Ich höre Nathan lachen und den Typen seufzen.

"Also doch Jungfrau...die sind die schlimmsten." murmelt er und ich werde sauer.

"Du bist ein Arsch." stelle ich klar und steige aus dem Bett. Dann gehe ich zu Nathan und bleibe direkt vor ihm stehen.

"Wer von euch Arschgeigen hat mich umgezogen? Und wo sind meine Sachen?" Er schaut ich verwirrt an.

"Maya, alles klar? Was hast d-"

"Wo sind meine Sachen, Nathan?" frage ich nochmal und diesmal eine Spur ernster.

"Im Bad. Lucy hat dich umgezogen und die Sachen dann gewaschen und getrocknet."

"Danke" murmle ich und verlasse den Raum. Lucy ist ein sehr schöner Name. Ein Mädchen in meiner Klasse heißt genauso. Obwohl ich sehr wenig mit ihr rede, bewundere ich sie. Sie ist eine Spitzenschülerin und lächelt immer. Naja, das kann man dann doch nicht wirklich sagen, weil ich sie einmal heulend vor der Schule gesehen habe. Auch wenn ich wollte, konnte ich damals nicht zu ihr gehen, da sie fast von der ganzen Schule umzingelt und gefragt wurde, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Natürlich war mit ihr alles in Ordnung. Deshalb hat sie ja auch geheult. Idioten.

 

Seufzend betrete ich einen weißgestrichenen Flur und gehe einfach gerade aus. Und sieh einer an, ich finde das Bad und wie Nathan schon behauptet hat, liegen meine Sachen schon frisch gewaschen und getrocknet auf dem Trockner.

 

Auf der Wand gegenüber gibt es ein großes Fenster, welches geöffnet ist und drunter steht ein weißes Waschbecken, über dem noch ein Spiegel hängt. Auf der rechten Seite steht die Toilette und auf meiner linken Seite befindet sich eine Badewanne und noch etwas weiter hinten eine Dusche. Es ist ganz schön hell hier.

 

Ich greife nach meinen Sachen und ziehe mich um. Die karierte Boxershorts und das graue T-Shirt falte ich zusammen und lege es auf den Trockner. Fertig angezogen, verlasse ich das Bad und gehe zurück in das Schlafzimmer. Nathan und dieser Kerl sind noch immer im Zimmer und unterhalten sich.

"Die Kleine ist ziemlich frech." beklagt sich dieser  schwarzhaarige Kerl und tretet ans Fenster. Nathan seufzt.

"Du hättest auch nicht so mit ihr reden sollen, Tyson." erklärt Nathan.

"Sie ist echt in Ordnung." versichert er noch. Das ist also Tyson. Mein Retter. Nathan muss mich nicht vor ihm in Schutz nehmen. Das will ich nicht. Ich räuspere mich und betrete den Raum.

"Danke für's Retten. Lebt wohl." , verabschiede ich mich von ihnen und mache mich auf die Suche nach der Haustür.

"Maya, warte!", ruft Nathan und rennt mir hinterher. Ich bleibe stehen und drehe mich fragend um.

"Iss zuerst was...Es ist schon sechs Uhr und du musst bald in die Schule. Bis du zuhause ankommst und dich umziehst wirst du keine Zeit mehr zum Essen haben. Lucy hat Pfannkuchen gemacht." Ich lache humorlos auf.

"Nein, danke. Jungfrauen sind in diesem Haus nicht willkommen, deshalb habe ich auch keine Lust, hier noch eine Sekunde zu bleiben. Nicht, dass ich sein Geschirr noch mit meiner Jungfräulichkeit anstecke.", motze ich ihn an. "Was den Hunger angeht, keine Sorge. Ich kann sowas schon aushalten.", versichere ich ihm. Gerade schlüpfe ich in meine Schuhe, als die Eingangstür aufgeht, jemand mich mit der Tür rammt und reinkommt.

"Tschuldigung...", murmelt diese Person und ich weiche überrascht zurück.

"Lucy?!" quicke ich und starre sie ungläubig an. Das ist Lucy. Die Lucy aus meiner Klasse. Die fröhliche Lucy. Was macht sie bei diesem Affen? Sie lächelt mich an. Ihre langen blonden Haare fallen ihr gelockt über die Schultern. Ihre Wangen sind leicht gerötet. Entweder ist es arschkalt draußen oder sie ist gerannt. Sie hat eine schwarze Jacke an und blaue Jeans.

"Hallo Maya. Na, gut geschlafen?" Ich schnaube.

"Wohl kaum. Bis dann." Ich dränge mich durch die Tür.

"Maya, warte! Du weißt ja gar nicht wo du hin musst!" schreit mir Nathan hinterher, als ich schon in den Gang hinaustrete.

"Ich werde schon klar kommen!"schreie ich zurück und steige die Betontreppen runter. Das Schild auf der Wand verratet mir, dass sich Tysons Wohnung im dritten Stock befindet. Na super. Auch noch Sport am Morgen... Gerade springe ich von der letzten Treppe und öffne die Eingangstür, als sich eine Person von hinten auf mich wirft und mich fast umschmeißt. Noch rechtzeitig schaffe ich es, mich an der Tür fest zu halten. Erschrocken schaue ich nach hinten, wo sich eine grinsende Lucy wie ein Affe an mich klammert.

"Was willst du?", frage ich sie und mache den ersten Schritt nach draußen. Es ist sehr frisch und ich friere ein wenig. Wenn ich in die Schule gehe, muss ich auf jeden Fall eine Jacke mitnehmen.

"Ich begleite dich, was denn sonst?", fragt sie grinsend und denkt anscheinend noch nicht einmal im Traum daran, mich loszulassen. Aber wenn ich ehrlich sein soll, ist es mir egal, ob sie weiter an mir hängt oder nicht. Ich bin viel zu faul, um sie weg zu schütteln.

"Musst du nicht.", murmle ich."Will ich aber...Du wohnst im selben Gebäude wie Nathan, oder?" Ich nicke stumm und gehe weiter.

"Das ist doch super!", sagt sie und springt auf und ab. Wie gesagt, sie ist immer fröhlich. "Nathan hätte dich ja selber hingebracht, aber er und Tyson müssen noch was erledigen. Gott, hab ich mich erschreckt, als sie mich um elf Uhr am Abend angerufen haben, mit der Begründung, sie hätten einen Notfall. Sie haben von einem ohnmächtigen Mädchen erzählt, das einer Kugel entkommen ist und nun nicht mehr aufwachen will. Die beiden waren vollkommen aus dem Häuschen.", kichert sie. Warum erzählt sie mir das alles?

"Wir müssen über die Straße und dann auf den Bus warten.", sagt sie und schubst mich über die Straße. Stumm lasse ich es geschehen.

"Warum waren sie aus dem Häuschen?", frage ich und sie bedenkt mich mit einem Lächeln.

"Weil du ein Mädchen bist." , sagt sie.

"Ähm....'tschuldigung? Ich hab's mir nicht ausgesucht...", murmle ich und sie bricht in schallendes Gelächter aus. Sie wischt sich ein paar imaginäre Lachtränen aus dem Gesicht.

"Du bist echt putzig.", gackert sie und lacht wieder. Ist die betrunken? Ich bin doch nicht putzig. Ich schnaube und gebe ein sarkastisches "Danke." von mir. Langsam beruhigt sie sich und fährt fort.

"Sie sind, was Mädchen angeht noch recht...unerfahren. Bis jetzt war ich das einzige Mädchen unter ihnen. Naja, da ist natürlich noch Taysons Schwester, aber sie bekommt man eher nur selten zu Gesicht. Ich bin ja so froh, dass ich nicht mehr alleine bin! ", gibt sie strahlend von sich und lächelt mich an. Bis jetzt war sie das einzige Mädchen unter ihnen? Bis jetzt? Sie ist froh, dass sie nicht mehr alleine ist? Was labert die?

 

Der Bus bleibt vor uns stehen und öffnet seine Türen. Wir steigen ein und ich kaufe mir eine Fahrkarte, da ich meine Monatskarte in meinem Rucksack zuhause habe. Lucy nimmt ihren Rucksack von den Schultern (Ich hab bis jetzt noch nicht einmal mitbekommen, dass sie ihren dabei hat) und steuert auf die einzigen leeren Plätze zu. Nachdem ich abgezwickt habe, gehe ich zu ihr und setze mich auf den Platz daneben. Wie gesagt, das ist der einzig leere Platz. Anscheinend fahren Menschen jetzt schon zu ihrer Arbeit.

"Wie spät ist es ?", frage ich Lucy. Sie holt ihr Handy raus und seufzt.

"Schon sechs Uhr. Wir müssen in zwei Stunden in der Schule sein."

"Scheiße...schaffen wir das?", frage ich. Schließlich fahre ich zum ersten Mal mit diesem Bus und sie anscheinend nicht, da sie ja weiß, wo Nathan wohnt.

"Klar, keine Sorge.", sagt sie und beginnt dann wie verrückt zu grinsen. Ich hebe meine Augenbraue.

"Was ist?" Sie grinst noch breiter.

"Du hast noch nie so viel mit mir geredet. Überhaupt habe ich dich selten in der Schule reden hören. Wenn, dann hast du dich nur in den Pausen mit irgend so 'nem blonden Typen unterhalten. Ansonsten warst du immer still.", erklärt sie und mein Herz verkrampft sich. Ein blonder Typ. Sie meint Michael. Michael war der einzige, mit dem ich mich wirklich unterhalten habe. Ich habe oft Probleme, wenn ich neue Leute kennenlerne, deshalb wollte ich es gar nicht mal riskieren, mit den anderen zu reden. Natürlich spreche ich mit meinen Klassenkameraden, aber eben nur das Wichtigste. Ich zucke mit den Schultern.

"Ich rede nicht gerne.", gebe ich zu und sie seufzt.

"Wie gut, dass du jetzt mich hast", kichert sie und legt mir einen Arm um die Schultern. Was?!

"Was?", frage ich geschockt und drehe meinen Kopf zu ihr. Sie kichert nochmal.

"Jetzt guck' doch nicht so. Zugegeben, am Anfang fand ich dich ein wenig komisch. Ich hab mich gefragt, wie einer so wenig reden kann. Aber jetzt haben wir geredet und ich muss zugeben, ich mag dich. Wir werden sicher sehr gute Freundinnen!", kreischt sie und ich muss mich zusammenreißen, um ihr nicht eine zu Klatschen.

"Nicht so laut.", knurre ich. Verdutzt sieht sie sich um und ihre Augen weiten sich. Sie hat wohl vergessen, dass sie nicht die einzige in diesem Bus ist.

"Sorry!", schreit sie durch den ganzen Bus und steht auf. Ich knalle meine linke Hand auf meine Stirn. Gott, ist das peinlich.

"Setz' dich wieder hin.", zische ich und drücke sie wieder in den Sitz. Sie grinst mich an und legt wieder ihren Arm um mich. Dann zieht sie mich zu sich, sodass sich unsere Köpfe berühren.

"Lass das", zische ich und schubse sie von mir. Lachend lehnt sie sich an mich und schaut dann für den Rest der Fahrt aus dem Fenster. Super...das wird ein toller Tag.

 

Kapitel 4

Wir sind ungefähr eine halbe Stunde mit dem Bus gefahren, als wir schon ausgestiegen sind. Jetzt stehen wir in der Nähe des Parks und müssen ihn nur noch überqueren, um zu meinem Wohngebäude zu kommen. Ich habe ein wenig Angst. Hier wurde ich vor ein paar Stunden entführt und fast umgebracht. Mach dir nicht in die Hosen, Maya. Willst du jetzt für immer dem Park fernbleiben? Mach dich nicht lächerlich! Ich schüttle den Kopf. Ich muss mich zusammenreißen. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meine Schulter und drehe meinen Kopf nach hinten. Lucy lächelt mich aufmunternd an.

"Was ist?", frage ich und schüttle ihre Hand weg. Sie schüttelt nur lächelnd den Kopf und nickt in die Richtung des Park.

"Nichts. Komm, wir müssen uns beeilen. Es ist schon Zehn vor Sieben. Wir kommen noch zu spät." Sie schubst mich vor sich her und ich lasse es geschehen. Es ist schon Zehn vor Sieben? Anscheinend sind wir länger gefahren, als gedacht. Sie hat recht, wir müssen uns beeilen.

Vor dem Wohnhaus angekommen, suche ich in meinen Jeans nach den Schlüsseln. Scheiße, die Taschen sind leer! Mist, kein Wunder, sie waren ja auch in der Wäsche!

"Hier." , sagt Lucy und reicht mir meine Schlüssel. Woher...?

"Ich hab sie vor dem Waschen rausgeholt und in meinen Rucksack gepackt, bevor ich dir hinterhergerannt bin.", erklärt sie und lächelt mich an.

"Danke." Ich setzte mich in Bewegung und marschiere geradeaus Richtung Wohnhaus, als ich verwirrt stehen bleibe. Ich drehe mich um und sehe eine stillstehende Lucy. Sie steht einfach nur da, auf der anderen Straßenseite und sieht mir hinterher.

"Was wird das?", frage ich verwirrt und sehe sie mit gehobenen Augenbrauen an.

"Was meinst du? Ich warte bis du fertig bist. Beeil dich.", sagt sie und springt auf und ab, während sie ihre Arme verschränkt und ihre Oberarme auf und ab streicht. Ihr ist kalt.

"Vergiss es. Du kommst mit rein. Beweg dich.", befehle ich und sehe wie sich ihre Augen überrascht weiten. Also wirklich...ich bin doch kein Monster...warum ist sie so überrascht? Augen verdrehend drehe ich mich um und betrete das Wohnhaus. Dann steige ich die Treppen rauf, bis in den ersten Stock, wo sich meine Wohnung befindet. Vor meiner Tür angekommen, suche ich mir meinen Schlüssel, schließe auf und warte auf Lucy. Ich muss gar nicht lange warten, schon taucht sie vor mir auf. Ich öffne die Tür und lasse sie zuerst eintreten. Ich folge ihr hinein und schließe die Tür.

"Geh gerade aus, dann links. Da ist das Wohnzimmer. Ich geh schnell duschen und mich umziehen. Dann können wir los. Willst du was trinken?", frage ich und gehe in die Küche. Ich setze Wasser zum Kochen auf und gehe wieder in den Flur. Lucy ist gerade dabei, sich die Schuhe auszuziehen. Sie hat mich wohl nicht gehört...

"Das musst du nicht machen, wir gehen gleich wieder." Mein Blick fällt auf die Uhr im Flur und ich fluche.

"Ich geh schnell duschen und mich umziehen. Falls du Tee willst, das Wasser kocht noch. Im Schrank oberhalb des Herds, findest du 'ne Schachtel mit verschiedenen Teesorten. Bis gleich.", verabschiede ich mich und stürze ins Bad. Ich hab ihr nicht gesagt, wo die Tassen sind. Ah egal, sie wird sie schon finden. Ich ziehe mich aus und steige unter die Dusche.

Fünfzehn  Minuten später, mit geföhnten Haaren und frisch angezogen Sachen, gehe ich in die Küche und sehe Lucy mit einer Tasse in der Hand. Sie sitzt auf einen Küchenhocker. Als ich die Küche betrete, sieht sie auf und lächelt mich an.

"Hey, da bist du ja. Wow, das war schnell. Tee?", fragt sie und hält mir eine Tasse mit der anderen Hand hin. Sie hat mir Tee gemacht. Wieso? Das hätte sie nicht machen müssen. Das ist nett von ihr, denke ich.Ich zucke mit den Schultern und nehme die Tasse an mich. Lächelnd (Warum lächle ich?)schnuppere ich daran...Kamille. Ich liebe Kamillentee. Einen Schluck nehmend, schaue ich auf die große schwarze Küchenuhr, die auf der Wand hängt und verschlucke mich fast. Scheiße! 07:05Uhr!

"Alles okay?", fragt Lucy besorgt und ich nicke nur. Da der Tee noch etwas heiß ist, gehe ich in mein Zimmer und hole meinen Rucksack. Ein Glück, dass die meisten Bücher in meinem Schrank in der Schule sind. Wäre ja super, wenn ich jetzt noch meinen Rucksack packen müsste.

Ich schnappe mir meine Tasse und trinke den Tee in drei Zügen aus. Jetzt hab ich mir meine Zunge verbrannt, super. Während ich unter Schmerzen mein Gesicht verziehe, gehe ich zur Spüle und wasche die Tasse.

"Warum beeilst du dich denn so? Wir haben doch noch Zeit!", beschwert sich Lucy, doch ich schüttle nur den Kopf.

"Wenn wir zu Fuß gehen, dann nicht.", antworte ich. Sie sieht mich fragend an.

"Zu Fuß? Du gehst wirklich zu Fuß dahin?", fragt sie und ich nicke. Ich weiß, dass ein Bus bis zu unserer Schule fährt, aber ich gehe immer zu Fuß. Ich hasse Sport zwar über alles, vor allem in der Früh, aber das ist immer noch besser als in einem Bus zwischen dreißig  Menschen eingequetscht zu sein. Jedenfalls sehe ich das so. Ich drehe das Wasser ab und drehe mich wieder zu ihr. Lucy zuckt mit den Schultern.

"Okay. Bin dabei.", sagt sie und schluckt in einem Zug den restlichen Inhalt ihrer Tasse runter. Verwundert schaue ich sie an.

"Du musst nicht mit. Kannst ja den Bus nehmen.", erkläre ich aber sie schüttelt den Kopf.

"Ich mag Sport. Das ist kein Problem für mich.", erklärt sie und ich bin mir sicher, dass ich sie in genau diesem Moment so ansehe, als sei sie eine Kakerlake. Ist das ihr Ernst?! Sie mag Sport? Was ist sie? Ein Alien? Ich schüttle den Kopf. Kann mir doch egal sein, was sie mag. Dann mag sie halt Sport...ist nicht mein Problem.

"Wie du meinst.", sage ich kühl und werfe mir meinen schwarzen Rucksack über die Schulter. Ich schnappe mir die Schlüssel vom Schuhkasten im Vorzimmer, öffne die Tür, warte bis Lucy rausgegangen ist und schließe die Wohnungstür dann ab. Dann machen wir uns auf den Weg zur Schule.

"Sag mal, wo sind denn deine Eltern?", fragt Lucy nach zehn Minuten stillem Gehen. Warum will sie das wissen?

Ich zucke mit den Schultern.

"Du redest nicht wirklich gerne über dein Leben, oder?", fragt sie und sieht geradeaus auf den Bürgersteig.

"Nicht wirklich.", murmle ich.

"Das geht mir auch so. Ich mag's nicht, wenn Fremde was von meinem Leben wissen wollen,  was sie gar nichts angeht. Zum Beispiel, als ich vor ein paar Tagen mit meiner Mum telefoniert habe und ich sie gefragt habe, wann sie aus dem Krankenhaus rauskommt, hat mich Melissa dabei belauscht und tagelang darüber ausgefragt. Ich hab ihr natürlich nichts verraten und  jetzt erzählt sie jedem, meine Mutter ist todkrank, obwohl sie erst vor kurzem meinen kleinen Bruder zur Welt gebracht hat. Sein Name ist Raphael.", erzählt sie und lächelt beim letzten Satz glücklich. Warum erzählt sie mir das? Hab ich sie darum gebeten? Kann mich nicht dran erinnern...

"Gratuliere.", sage ich. Sie sieht mich fragend an.

"Wegen deinem Bruder."

"Oh... Danke." Sie lächelt mich an.

"Sie sind Arbeiten." erzähle ich. "Meine Eltern." Was tu ich da nur? Warum erzähle ich ihr das? Bin ich noch zu retten?! Sie hingegen strahlt übers ganze Gesicht.

"Was sind sie? Also ich meine, was ist ihr Beruf? Mein Dad ist Architekt und meine Mum Krankenschwester.", erzählt sie und ich würde ihr am liebste eine kleben. Warum sagt sie mir das alles?! Jetzt muss ich ihr wieder was über mich verraten...verdammt.

"Meeresbiologen...", murmle ich und hoffe wirklich darauf, endlich in der Schule anzukommen.  Dann würde ich mich einfach auf meinen Platz setzen und die Pause bis zum Unterricht durchschlafen. Und die Pausen zwischendurch.

"Das ist ja cool. Oh, wir sind da.", sagt sie und nickt in die Richtung, in der sich die Schule befindet. Eine Welle der Erleichterung überfällt mich. Endlich. An dem Schultor angekommen, kann ich Michael neben seinen Freunden erkennen. Wie jeden Morgen stehen sie unter der großen Tanne im Schulhof und lachen sich die Seele aus dem Leib. Aber heute lacht Michael nicht. Ganz im Gegenteil, er sieht sogar richtig scheiße aus. Er hat sich wohl wieder mit seiner Freundin gestritten, denke ich und sogar in meinen Gedanken trieft meine Stimme nur so vor Sarkasmus. Ich starre auf den Boden und gehe an ihm stumm vorbei, als ich plötzlich seine Stimme höre.

"Maya!", ruft er mich, doch ich ignoriere ihn. Lucy stupst mich von der Seite mit ihrem Ellbogen an. Sie ist ja auch noch da. Ups.

"Willst du nicht stehen bleiben?", fragt sie doch ich verneine. Sie grummelt ein "Wie du willst." und folgt mir dann stumm. Sie fragt nicht nach, das ist ein Pluspunkt. Andere hätten mir bis jetzt wahrscheinlich die Ohren Grün und Blau gefragt.

 

Endlich in der Klasse angekommen, setze ich mich direkt auf meinen Platz, packe meine Sachen, die ich vorhin noch aus meinem Schrank geholt habe, aus und knalle meinen Kopf auf den Tisch. Ich bin scheiß müde.  Wie lange habe ich eigentlich geschlafen? Lucy meinte vorhin, die Idioten hätten sie um elf Uhr angerufen... Und ich bin um halb sechs aufgewacht. Scheiße, manchmal schlafe ich noch kürzer und bin nicht so fertig wie jetzt. Ich kann mir ein Gähnen nicht verkneifen und halte nach Lucy Ausschau. Auch sie hat es sich auf ihren Platz ganz vorne gemütlich gemacht und redet fröhlich mit ihrer Sitznachbarin. Gwendolyn Connor. Noch so eine hyperaktive überfröhliche Kreatur, genauso wie ihre Sitznachbarin. Kein Wunder, dass die sich so gut verstehen. Aber ich mag ihren Nachnamen. Ich weiß nicht wieso...es ist einfach so. Connor...Dieser Name strahlt so viel Intelligenz aus...Und irgendwie ist er auch ziemlich Geheimnisvoll. Ah du meine Güte, ich bin wirklich übermüdet...

 

Seufzend lehne ich meinen Kopf auf meine Hände und beobachte meine Klasse. Ich sitze ganz hinten, das heißt, ich kann so ziemlich alles und jeden sehen. Hinten zu sitzen hat Vorteile (man kann sich zum Beispiel sehr gut vor Lehrer verstecken) aber auch Nachteile (zum Beispiel schläft man sehr schnell ein und kriegt selten die wichtigsten Sachen auch wirklich mit...) Ich hänge gelangweilt meinen Gedanken hinterher, als sich plötzlich jemand auf den Sessel neben mir fallen lässt. Darf ich vorstellen: Leonie Parker, meine Sitznachbarin. Ihr Name erinnert an eine noble und höfliche Person. Leider ist sie alles andere als das...Sie besucht die Schule nur aus einem Grund, nämlich Erpressung. Ihre Eltern drohen ihr, sie rauszuwerfen und sich von ihr loszusagen, sollte sie ihre Bildung nicht "ernst genug nehmen". Ich kenne ihre Eltern. Asoziale Snobs sind das, denen ihr Image am wichtigsten ist. Einerseits tut mir Leonie ein wenig leid aber wenn ich so recht überlege, dann andererseits doch nicht...Sie ist schließlich für die hohe Mobbingrate, die in der Schule  herrscht, verantwortlich. Sie macht andere fertig, um sich besser zu fühlen. Klingt logisch, oder? Jop...ich versteh's auch nicht.

 

Sie stößt einen frustrierten Seufzer aus. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, sie zu fragen, ob alles okay sei. Beim letzten Mal hat sie mir so viele Beleidigungen an den Kopf geworfen, dass ich letzten Endes in schallendes Gelächter ausgebrochen bin. Daraufhin habe ich nur einen unglaubwürdigen Blick von ihr geerntet, während ich mir die Lachtränen aus den Augen weggewischt habe. Alinas frühere Mobbingversuche haben mich gegen solche Sachen immun gemacht. Immerhin haben ihre Taten eine positive Seite. Ich glaube seit dem hat Leonie aufgehört, mich als menschliches Wesen zu betrachten. Jeder normale Mensch hätte an meiner Stelle wahrscheinlich geheult. Tja...zugegeben, ich bin komisch. Aber hey, normale Menschen werden schnell langweilig, oder nicht?

 

Die Klingel reißt mich aus dieser sehr amüsanten Erinnerung und schon kommt Mr. Hudson in die Klasse hereinspaziert. Und somit fällt meine Laune in den Keller. Mr. Hudson ist ein recht netter Lehrer und ich habe auch nichts gegen ihn, aber ich habe sehr wohl was gegen sein Fach. Musik. Mein schlimmster Feind. Danach folgt Mathematik.

"Guten Morgen, meine Lieben. Ich hoffe, ihr hattet ein schönes Wochenende.", begrüßt er uns und lächelt unbekümmert in die Runde. Schönes Wochenende? Schön ist was anderes..., denke ich, als ich mich an die Geschehnisse erinnere.

"Und ich hoffe, dass ihr für den heutigen Test gelernt habt."Scheiße! Shit! Shit! Shit! Der Test! Verdammt! Ich hab's total vergessen...Ah was soll's...ich schaff das schon...irgendwie. Mr. Hudson teilt die Tests aus und schon kehrt Stille im Raum ein. Nur das Kratzen der Bleistiftmienen, wenn sie über das Papier gleiten, sind zu hören. Ein paar Leute wackeln mit einem Fuß und treten dabei immer wieder gegen die Tischbeine. Ich atme tief durch und lese mir die Fragen durch. Scheiße, ich bin im Arsch.

 

Inzwischen ist es schon Mittag und unsere einstündige Mittagspause beginnt gerade. Ich habe Musik irgendwie überlebt und habe keine Ahnung wie der Test ausfallen wird. Hoffentlich reicht es für eine noch positive Note. Ich seufze über mich selbst. Andere haben Probleme in Englisch, Geographie, Biologie, Physik, Chemie und so weiter. Ich bin zwar auch in diesen Fächer nicht gerade eine Spitzenschülerin, aber auf jeden Fall besser als in Musik und Mathematik.

 

Auch die danach folgenden drei Stunden habe ich irgendwie überlebt. Und nun liege ich in meiner Klasse halb auf dem Tisch und sterbe vor Hunger. Mein Magen hat sich schon während den letzten Stunden ein paar Mal gemeldet aber jetzt ist es schlimmer geworden. Vielleicht hätte ich doch die Pfannkuchen von heute Morgen akzeptieren sollen... Jungfrauenfeindliches Ambiente  hin oder her. Plötzlich rollt ein Bleistift aus meiner Federschachtel und ich schau ihn mir genauer an. Er ist grün,  gespitzt und hat einen Radiergummi am Ende. Er sieht ganz schön knackig aus....und lecker. Langsam greife ich nach ihm. Viele Schüler kauen auf Bleistifte rum und leben noch. Warum sollte ich es also nicht auch einmal probieren? Ein erneutes Seufzen ertönt neben mir. Auch dieses Mal ist es Leonie. Sie hat die Augen geschlossen und ihre Beine auf den Tisch gehoben und überkreuzt. Unter ihren Haaren sehe ich zwei schwarze Kabel und nehme an, dass sie Musik hört. In dieser Position erinnert sie mich an einen Mafiaboss aus einem Film. Wenn man sich die Kopfhörer weg- und eine Zigarette in der Hand dazu denkt. Ich widme mich wieder meinem Bleistift zu. Soll ich nun zubeißen? Nur einmal. Mein Magen meldet sich mal wieder und panisch sehe ich mich in der Klasse um. Mal abgesehen von Leonie und mir ist niemand da, was nicht wirklich ein Wunder ist. Sie haben besseres zu tun, als in der Klasse zu hocken und sich zu langweilen. Ich hingegen bin viel zu faul für irgendwelche Aktionen und Leonie schläft sowieso meistens in den Pausen. Oder hört Musik. Oder beides, wer weiß das schon, wenn sie die Augen jedes Mal geschlossen hat. Als ich erleichtert merke, dass niemand das Knurren gehört hat, lege ich meine Hand auf meinen Bauch und beleidige ihn. Anschließend knurre ich ihm zu, er solle endlich die Fresse halten. Plötzlich kommt mir eine Idee. Eine blendende Idee! Ich könnte mir doch einfach etwas zu essen kaufen! Verdammt! Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Hektisch krame ich in meinem Rucksack rum und suche nach meiner Geldbörse. Urplötzlich knallt etwas auf meinen Tisch und ich sehe überrascht auf. Etwas liegt in Alufolie verpackt auf meinen Tisch. Fragend hebe ich meinen Kopf und blicke in zwei karamellbraune Augen. Lucy steht vor mir.

"Was ist das?", frage ich und sehe sie verwirrt an. Sie lächelt und holt noch Papiertaschentücher aus ihrem Rucksack. Dann öffnet sie die Folie, schnappt sich irgendetwas und stopft es sich in den Mund.

"Pfanfufen", bringt sie mit vollem Mund raus. Angestrengt denke ich darüber nach, was sie meinen könnte...Ich schaue nach unten und mir wird schnell bewusst, was da vor mir liegt. Pfannkuchen!

"Woher hast du die?", frage ich und kann mir ein überraschtes Auflachen nicht verkneifen. Schnell schluckt sie runter und antwortet.

"Hab ich heute Morgen noch schnell eingepackt. Greif zu.", sie nickt in Richtung Pfannkuchen. Und in Richtung meiner Rettung. Wollte ich vorhin nicht noch was kaufen gehen? Orangesaft! Ich schnappe mir meine Geldbörse und stehe auf.

"Wo gehst du hin?", fragt Lucy.

"Komme gleich." schreie ich und renne aus der Klasse, direkt in den ersten Stock und in die Cafeteria.

 

Ich kaufe drei Päckchen Orangensaft (Vielleicht will Leonie ja auch eines), knalle das Geld auf den Tresen und renne zurück in die Klasse. Sie ist leer. Wo sind sie hin? Und damit meine ich nicht die Pfannkuchen, die liegen nämlich verlassen auf dem Tisch. Seufzend setze ich mich auf meinen Platz und warte, bis sie wieder kommen, doch nichts passiert. Nach ungefähr zehn Minuten (Ich kann nicht mehr warten, ich habe wirklich Hunger!), packe ich die Pfannkuchen wieder ein und verstaue sie mit den Orangensäften in meinen Rucksack. Wer sie anfasst, kann sich gleich von seinen Fingern verabschieden! Etwas genervt mache ich mich auf die Suche nach den beiden, durchsuche den ganzen Gang, jeden Klassenraum im Erdgeschoss, doch vergebens. Sie sind wie vom Erdboden verschluckt.

 

Plötzlich höre ich etwas krachen und ich bin mir sicher, dass das aus dem Mädchenklo kommt. Natürlich! Das Mädchenklo! Mann, heute bin ich wirklich dämlich, ärgere ich mich in Gedanken über mich selbst.

Ich reiße die Tür zum Mädchenklo auf und bleibe davor stehen. Vor mich hat sich Leonie groß aufgebaut. Ich kann nicht weiter.

"Komm raus, Kleine!", schreit sie. Ich höre ein kreischen und gleich darauf ein "Nein!". Das ist Lucys Stimme.

"Raus!", brüllt Leonie jetzt und nähert sich der Tür. Belustigt beobachte ich die Szene, die sich gerade vor mir abspielt. Sie spielen Katz und Maus und das sieht unglaublich lustig aus.

Leonie tretet plötzlich wild und stark auf die Kabinentür, in der sich Lucy befindet ein und langsam beginnen bei mir die Alarmglocken zu läuten. Ich habe es nur für einen kleinen Streit gehalten. Aber Leonie ist wirklich stinksauer und ich bezweifle, dass sie zögern würde, Lucy zu verletzen, wenn sie sie erst einmal da raus bekommen würde.

"Geh weg!", schreit Lucy jetzt und klingt so, als würde sie in diesem Moment in Tränen ausbrechen. Ich höre ein Schluchzen.

"Lass mich durch.", sage ich an Leonie gerichtet und schiebe sie von der Kabinentür weg.

"Bist du bescheuert?!", schreit sie mich jetzt an und kommt mir gefährlich nahe. Ich zucke nur mit den Schultern und sehe sie ruhig an.

"Maya? Bist du das?", schnieft Lucy und ich höre, wie sie sich die Nase putzt. Wahrscheinlich benutzt sie dazu Klopapier.

"Ja.", sage ich und schaue Leonie weiterhin seelenruhig an. Das scheint sie noch mehr zu provozieren, denn sie knurrt nur und schreit dann:

"Kannst du nicht reden, verdammt?!" Ihr Gesicht ist etwas gerötet und ich breche in schallendes Gelächter aus. Nennt mich ruhig lebensmüde, aber in diesem Moment sieht sie einfach zum totlachen aus. Sie schlägt mit der Faust neben mir auf die Klotür, was Lucy ein kreischen entlockt, mich jedoch nur noch mehr zum Lachen bringt. Während ich mich langsam beruhige, wische ich mir die Lachtränen aus dem Gesicht.

"Keine Ahnung was dein Problem ist, aber löse es. Du benimmst dich wie eine Hochschwangere und bist noch unerträglicher als sonst.", gebe ich kichernd von mir und beruhige mich dann. Vollkommen verwirrt starrt sie mich an, beleidigt uns (Ich möchte lieber nicht sagen, als was sie uns bezeichnet hat) und stürmt fluchend aus dem Mädchenklo. Eine angenehme Stille breitet sich in dem Raum aus und ich atme erleichtert aus. Ich habe noch nicht einmal gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe. Anscheinend hat mich die Aktion doch nicht so kalt gelassen, wie ich gedacht habe. Leonie konnte ein riesiges Arschloch sein, wenn sie wollte und dass sie vorher nur beim Tür-Verprügeln geblieben ist, war reines Glück. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn sie mich wirklich getroffen hätte. Mit Sicherheit nicht Verteidigen, denn das konnte ich gar nicht. Wisst ihr noch, als ich gefragt habe, welcher Idiot ohne Waffen in den Krieg ziehen würde? Gerade jetzt wird mir bewusst, dass ich so ein Idiot bin. Ich habe mich gerade mit einer Teufelsbrut, ohne über Verteidigungskünste zu verfügen, angelegt und das nur für ein Mädchen, welches mich die letzten Stunden nur vollgequasselt hat.  Ich bin echt bescheuert.

 

Ein Klacken ertönt hinter mir, das mir sagt, das Lucy gerade die Tür aufgesperrt hat. Ich entferne mich von der Tür, damit sie mich nicht wieder mit der Tür rammt und bleibe vor der grünen Wand vor mir stehen.

"Ist sie weg?", fragt sie leise und öffnet die Tür nur einen kleinen Spalt breit. Langsam steckt sie ihren Kopf durch. Ich drehe mich zu ihr um und bemerke, dass sie mich ansieht. Ihr Gesicht ist etwas gerötet, doch bei ihr sieht das nicht im geringsten so lustig aus wie bei Leonie. Es bringt mich nicht zum Lachen. Ganz im Gegenteil, irgendwie fühle ich mich ein wenig traurig. Sonst lächelt sie doch immer...Ich verwerfe den Gedanken wieder und schiebe alles auf den noch immer vorhandenen Hunger, welcher droht, mich umzubringen. Ich nicke leicht lächelnd und mache die Tür ganz auf. Warum lächle ich?

 

In der Klasse angekommen, mache ich mich endlich über die heiß ersehnten Pfannkuchen her. "Wo bist du denn eigentlich plötzlich verschwunden?", fragt Lucy und mir wird schlagartig bewusst, dass ich den Orangensaft total vergessen habe. Kauend (Ich komme mir gerade wie eine Kuh vor), krame ich in meinen Rucksack rum und hole zwei Orangensaftpäckchen raus. Das dritte lasse ich noch im Rucksack, vielleicht will Lucy es ja später noch trinken. Oder Leonie, sollte sie hier aufkreuzen. Seit dem Vorfall fehlt jede Spur von ihr. Wahrscheinlich hat sie sich irgendwo auf dem Schulgelände verdrückt und verflucht die ganze Welt. Soll mir recht sein.

"Du hast uns Orangensaft gekauft?", fragt sie und nimmt den Orangensaft lächelnd an sich. Ich nicke nur und trenne ein weiteres Stückchen vom Pfannkuchen, welches ich mir anschließend in den Mund stopfe. Sie sind so lecker. Lucy hat sehr großes Talent, was das Kochen angeht.

"Wie süß", kichert sie und ich ignoriere diese Bemerkung gekonnt. Schließlich ist sie gerade einer sehr bösen Leonie entkommen und wahrscheinlich steht sie noch unter Schock. Die arme.

"Warum war sie eigentlich vorher so wütend?", frage ich und nicke in Richtung Leonies Platz neben mir. Lucy zuckt mit den Schultern und beginnt zu reden.

"Keine Ahnung, was mit ihr los ist. Sie hat plötzlich begonnen, vor sich hin zu fluchen und ich hab' sie nur gefragt, was los ist. Dann hat sie mich beleidigt, ich bin wütend geworden, woraufhin sie mich angeschrien hat. Ich hab zurückgeschrien, was anscheinend ....ein großer Fehler war, wie ich vorhin festgestellt...habe.", bei dem letzten Satz wird sie immer langsamer. Jop, das war ein riesen Fehler von ihr.

"Dann ist sie wütend aufgesprungen und hat mich am T-Shirt festgehalten. Ich hab ihr dann gegen's Schienbein getreten und bin dann weggerannt.", erzählt sie wütend weiter und ich mache große Augen.

"Du bist ganz schön gewalttätig.", stelle ich fest. Sie zuckt mit den Schultern.

"Sie hat mich zuerst festgehalten.", verteidigt sie sich.  "Aber sie wurde immer wütender, ich hab dann echt Angst bekommen. Was glaubst du, hätte sie mit mir angestellt, wenn sie mich bekommen hätte?", fragt Lucy mit einem leichten Anflug von Panik.

"Dich verunstaltet." , antworte ich wahrheitsgemäß und trinke einen Schluck Orangensaft. Niemand darf sich mit Leonie anlegen, vor allem nicht, wenn sie stinkig ist. Die letzte Person, die Leonie körperlich angegriffen hat, fehlte die vier darauffolgenden Schultage. Das war das erste, das ich an meinem ersten Schultag mitbekommen habe, als wir hier her gezogen sind. Bis jetzt konnte ich ernsten Streitereien mit Leonie aus dem Weg gehen. Die Frage ist nur, wie lange mir das noch gelingen wird. Es ist nicht gerade einfach, ihre Sitznachbarin zu sein. Und es ist nicht so, dass ich mir diesen Sitzplatz ausgesucht habe. Er war damals der einzige, der frei war. Ihre ständigen Wutausbrüche und Beleidigungen, die sie den anderen an den Kopf wirft sind manchmal so nervig, dass ich sie schon gekonnt ignoriere.

"Oh." Sie schluckt. "Wie gut, dass du da warst. Kann ich dich um was bitten?", fragt sie und sieht mich an. Ich zucke mit den Schultern und warte darauf, dass sie weiter redet.

"Erzähl Tyson nichts von dem, was heute passiert ist.", bittet sie und trinkt einen Schluck Orangensaft.

"Wem?", frage ich und bin sichtlich verwirrt. Sie sieht mich erschrocken an. Was denn?

"Tyson? Dem Kerl, der dir gestern das Leben gerettet hat?", fragt sie fast hysterisch. Ah der! Ups.

"Du meinst den Jungfrauenfeindlichen Arsch? Sicher, warum sollte ich ihm was erzählen? Seh' ihn wahrscheinlich eh nie mehr wieder.", murmle ich und höre Lucy in lautes Gelächter ausbrechen.

"Jungfrauenfeindlicher Arsch? Wie nett.", sie klingt belustigt. Ich zucke mit den Schultern und schnappe mir ein weiteres Stückchen Pfannkuchen. "Und ob du ihn heute noch sehen wirst. Er holt uns später ab", sagt sie gut gelaunt und ich verschlucke mich. Schnell schnappe ich mir meinen Orangensaft und versuche das Essen in meinem Hals runter zu spülen. Lucy springt schnell auf und klopft mir fest auf den Rücken. Zu fest. Es tut schon weh.

"Was?", krächze ich, nachdem ich endlich geschluckt und mich beruhigt habe. Ich fühle mich, als hätte ich einen Flummi verschluckt. Sie grinst mich an und in diesem Moment geht die Klassentür auf und Leonie betritt den Raum. Lucy schluckt und schon ist ihr ihr Grinsen aus dem Gesicht gewichen. Geschieht ihr recht. Wortlos setzt sich Leonie neben mich und verschränkt die Arme vor der Brust.

"Hab mich beruhigt.", murmelt sie kaum hörbar, doch ich habe sie gehört. Ich bücke mich unter den Tisch und krame ein weiteres Mal in meinem Rucksack rum, bis ich endlich das Gesuchte finde.

"Gut.", antworte ich ihr und lege das dritte Päckchen Orangensaft vor ihr hin. Sie starrt es eine gefühlte Ewigkeit nur stumm an. Ihr Augen sind zusammengekniffen. Sie sieht es an, als stünde ihr schlimmster Erzfeind gerade vor ihr und würde eine Waffe auf sie richten. Dann grummelt sie aber ein "Danke." und öffnet das Päckchen. Nanu? Sie kann ja auch nett sein...Dann fängt sie an zu trinken und ich höre Lucy vor mir überrascht aufatmen.

"Ihr seid echt komisch.", sagt sie und sieht zwischen uns hin und her.

"Wieso?", frage ich und nehme mir noch ein Stückchen Pfannkuchen. Wollte sie etwa vom Thema ablenken? Der Jungfrauenfeindlicher Arsch wird mich mit Sicherheit nicht abholen. Wozu überhaupt? Ist ja nicht so, dass ich nicht weiß, wo ich wohne...

" Zuerst jagt sie mich bis zur Mädchentoilette, schreit uns  an, schlägt dich fast und beleidigt uns nicht gerade harmlos und dann kommt sie einfach wieder zurück und tut so, als wär nichts gewesen? Und du machst da noch mit?", fragt sie ungläubig und trinkt noch einen Schluck Orangensaft. Ich zucke mit den Schultern.

"Tut mir leid.", murmelt Leonie und Lucy und ich drehen uns gleichzeitig zu ihr um. Dass sie sich vorhin noch bedankt hat, ist ein Wunder, aber das...das schlägt alles. Lucy kichert.

"Mir auch.", bringt sie kichernd raus und macht eine wegwerfende Handbewegung. Wie war das vorhin nochmal mit dem "wir sind komisch"? Sie reicht Leonie die Pfannkuchen rüber, doch Leonie lehnt ab. Genau in diesem Moment läutet die Glocke. Die Mittagspause ist zu Ende. Ein paar Schüler betreten schon den Raum und sehen fragend in unsere Richtung. Ich ignoriere sie und denke nur noch an eines: In ein paar Stunden wird Tyson uns abholen. Ich muss fliehen.

 

Nach der letzten Stunde packe ich meine Sachen in Rekordzeit zusammen und renne aus der Klasse. Ein paar Schüler schenken mir verwirrte Blicke, doch ich habe gar keine Zeit darauf zu achten. Ich muss hier raus.

Mit schnellen Schritten steuere ich direkt auf den Ausgang zu und renne raus. Ich verstecke mich hinter der großen Tanne und wage vorsichtig einen Blick auf das Tor. Da steht ein Typ mit kurzen schwarzen Haaren, der einen Schlüsselbund in die Luft wirft und den dann wieder auffängt. Er hat ein weißes T-Shirt, drüber ein blau-weißes kariertes Hemd, welches aufgeknöpft ist und noch immer die dunkle Jeans an. Scheiße, es ist Tyson. Okay Maya, beruhige dich, denke ich. Solange er dich nicht entdeckt, ist alles in Ordnung. Dann wartest du einfach so lange hinter diesem Baum, bis er Lucy einsammelt und sie weg sind. Er darf nur nicht merken, dass du in der Nähe bist.

"Maya! Verdammt, warum bist du heute Morgen einfach so weiter gegangen? Ich wollte mit dir reden.", schimpft Michael und ich könnte ihm in diesem Moment den Hals umdrehen. Drei Mal hintereinander. Plötzlich kommt mir eine Frage auf. Warum verstecke ich mich eigentlich vor Tyson? Ich kenne ihn nicht. Ich habe ihm schon heute Morgen gedankt, was will er also noch von mir?

"Halt's Maul!", zische ich, doch zu spät. Genau in dem Moment dreht Tyson sich zu uns um und sieht uns. Scheiße. Er grinst mich an. Arschloch.

"Maya!", beschwert sich Michael und greift nach meinen Armen. Angefressen reiße ich mich los und gehe in Richtung Tor. Muss ich mich ihm halt stellen. Musste früher oder später sowieso soweit kommen. Besser jetzt als später.

"Hallo Bienchen.", begrüßt er mich und grinst sich einen ab. Idiot.

"Tyson?", fragt jetzt jemand hinter mir. Es ist Michael. Wow, halt! Die kennen sich?

"Was machst du denn hier? Hast du eine Aufgabe für mich?", fragte Michael ihn und mir wird schlagartig bewusst, wer der Kerl im weiß-blau karierten Hemd ist. Michaels Anführer. Dieser sieht ihn lächelnd an.

"Michael.", sagt er, als hätte er ihn erst jetzt bemerkt. "Ich bin hier um meine...Assistentin abzuholen." Er mein Lucy, denke ich erleichtert. Ganz bestimmt.

"Und Lucy.", fügt er noch beiläufig hinzu. Seine Assistentin? Wer? Auch Micheal sieht verwirrt aus. Doch dann grinst er plötzlich.

"Oh Mann. Wer ist die arme?", erkundigt sich Michael und Tyson nickt in meine Richtung. Ich werde kreidebleich. Ich? Aber warum? Michael sieht geschockt aus.

"Maya?  Aber wieso das denn? Was hast du gemacht?", fragt mich Michael und ich sehe ihn nur an. Genau. Was habe ich denn gemacht? Naja...ich hab ihn heute Morgen beleidigt, aber das hat er doch auch verdient, oder? Oder? Ja, das hat er. Definitiv. Aber würde nicht jeder normale Mensch versuchen, von mir fern zu bleiben?  Ich bin immerhin nicht grad nett zu ihm gewesen. Ist er vielleicht Masochist? Tyson schnappt überraschend nach Luft.

"Moment...ihr kennt euch? Maya? Das ist doch nicht etwa...", er zeigt auf mich.

"Kotzbrocken Maya, oder?", fragt er fast flüsternd und sieht uns mit großen Augen an. Ich werfe Michael einen tödlichen Blick zu. Mistkerl. Dieser sieht überrascht Tyson an und dann mich. Als jetzt auch noch plötzlich jemand seine Hand von hinten auf meine Schulter legt und mich mit einem lauten " Maya, wo warst du nur?", erschreckt, frage ich mich, warum Gott mich so sehr hasst. Okay...ich bin gemein. Frech. Einfach ich. Aber es gibt doch viel schlimmere Menschen als mich, verdammt. Und die haben nicht so viel Pech. Also warum nur ich?

 

Tyson bricht in schallendes Gelächter aus und ich muss mich zusammenreißen, um ihn nicht anzuspringen. Wahrscheinlich lacht er über "Kotzbrocken". Ich seufze nur und drehe mich zu Lucy um. Sie ist sichtlich verwirrt und starrt Tyson einfach nur an. Was habe ich nur verbrochen? Nach dem kleinen Lachanfall von Tyson, bugsiert er Lucy und mich in Richtung seines Wagens und gibt uns mit einem Kopfnicken zu verstehen, einzusteigen. Lucy krabbelt auf den Rücksitz und schnallt sich an. In diesem Moment erinnert sie mich an ein fünfjähriges Kind. Ich hingegen rühre mich keinen Zentimeter und stehe vor dem Auto wie angewurzelt, während ich Michael und Tyson beobachte. Als er bemerkt, dass ich noch draußen stehe, knurrt er ein "Bienchen, rein.", was ich jedoch schulterzuckend ignoriere. Plötzlich schnellt Michaels Kopf in meine Richtung und starrt mich erschrocken an. Seine Augen sind geweitet und ich sehe ihn Schlucken. Fast zitternd kommt er auf mich zu und nimmt mich kurzerhand in eine feste Umarmung. Schlagartig werde ich mir seiner Nähe bewusst, spüre Schmetterlinge in meinem Bauch herumflattern. Seine Umarmung hat mir gefehlt. Aber das werde ich ihm gegenüber nie zugeben. Und ich bin noch immer stinksauer wegen dieser Tussi. Er hat sich doch glasklar für sie entschieden, was gibt ihm also das Recht, mit mir überhaupt noch zu reden, geschweige denn mich in den Arm zu nehmen?

"Es tut mir so leid.", flüstert er. "Ich hätte da sein müssen." Warst du aber nicht. "Ich hätte dir helfen müssen.", flüstert er weiter. Hast du aber nicht. "Ich hab es dir versprochen, verdammt! Dich immer zu beschützen, egal wovor.", murmelt er nun neben meinem Ohr. Das stimmt. Das hat er mir wirklich versprochen. Vor genau fünf Jahren.

"Bienchen...", höre ich Tyson murmeln und erst da wird mir bewusst, dass ich die Augen geschlossen habe. Und ich weine. Wegen Michael. Schonwieder. Und Tyson hat das gesehen. Plötzlich packt mich eine so große Wut, dass ich anfange, am ganzen Körper zu zittern. Ich bin stinksauer auf Michael aber vor allem auf mich selbst. Ich habe mir fest vorgenommen, nie mehr wieder wegen ihm zu weinen. Und ich habe versagt. Michael hat mich verletzt, beleidigt,  auf meine Gefühle herum getrampelt und sie nieder gemacht. Und dann kommt er ernsthaft noch mit dem kleinen Versprechen von vor fünf Jahren zu mir her getanzt  und bringt mich zum heulen? Nein! Fluchend wische ich mir über die nassen Augen und stoße ich ihn dann von mir, sodass er geschockt nach hinten stolpert.

"Ich brauche deinen Scheiß Schutz nicht!", knurre ich etwas lauter und balle meine Hände zu Fäusten. Seine Augen weiten sich, als ihm bewusst wird, dass er sowas ähnliches vor ein paar Stunden zu mir gesagt hat.

"Und was das Versprechen angeht, das brauche ich auch nicht von dir. Das kannst du auch vergessen. Vergiss am besten gleich alles.", knurre ich und schnappe mir meinen Rucksack, welcher sich komischerweise neben mir auf dem Boden befindet und stolziere davon. Weit komme ich jedoch nicht, da ich von hinten an den Schultern festgehalten, umgedreht und schon wieder wie ein Kartoffelsack über eine riesige Schulter geworfen werde. Ich muss nicht lange nachdenken, um zu wissen, wer das ist. Diesen knackigen Po würde ich immer wieder wiedererkennen. Genervt über mich selber, schüttle ich den Kopf. Was zur Hölle denke ich denn da überhaupt?

"Lass mich los!", schreie ich und trete wild um mich herum, doch er denkt noch nicht einmal daran. Er öffnet die rechte Hintertür und schmeißt mich wörtlich auf den Sitz und schnallt mich an. Dann knallt er die Tür zu und sagt irgendwas, das ich nicht wirklich verstehen kann, da ich im Moment viel zu sehr mit dem Gurt beschäftigt bin. Fluchend zerre ich an dem Ding, doch es will sich einfach nicht öffnen. Scheiß Auto. Mit einem "Bis später.", startet er den Wagen und fährt davon. Ich nehme mal an, dass das "Bis später" an Michael adressiert  gewesen ist. Ohne auch nur einen einzigen Blick an ihn zu verschwenden, lasse ich mich schließlich seufzend auf den Sitz fallen und schließe die Augen. Das war ein scheiß Schultag. Und der Tag wird sich sicher nicht bessern, das weiß ich jetzt schon...

Kapitel 5

Ich weiß nicht, wie lange wir gefahren sind. Vielleicht zehn Minuten, vielleicht sogar fünfzehn, keine Ahnung. Jetzt stehen wir jedenfalls vor einem riesigen gelben Wohnhaus. Ich muss nicht lange überlegen, um zu wissen, dass Tyson hier wohnt. Was sollen wir hier? Was soll ich hier? Tyson ist gerade dabei, seinen schwarzen Wagen zu parken und mit Bewunderung muss ich feststellen, dass er das ganz gut hinbekommt. Ich weiß nicht, ob ich das jemals so gut hinbekommen würde. Ich habe zwar einen Führerschein aber leider kein Auto. Naja, kein eigenes. Mum und Dad haben ein Auto aber ich lasse gerne die Finger davon. Sollte irgendwas passieren, wie zum Beispiel auf mysteriöser Art und Weise ein Kratzer auftauchen, werde ich schuld sein und darauf habe ich wirklich keine Lust.

"Komm schon.", sagt Lucy lächelnd und zieht mich am Arm Richtung Haus. Ich bleibe ruckartig stehen und schüttle den Kopf. Ich will da nicht rein. Ich bin nicht dazu gekommen, mich entjungfern zu lassen, da werde ich dieses Haus ganz bestimmt nicht wieder betreten.

"Was ist denn los?", fragt sie jetzt und versucht mich weiter zu ziehen. Ich bewege mich keinen Millimeter weiter und schüttle weiter den Kopf.

"Bist du etwa noch immer sauer auf mich? Komm schon, das war heute Morgen.", ertönt Tysons Stimme hinter uns. Wütend funkel ich ihn an. Ich mag ihn nicht.

"Das ist mir egal.", brumme ich und drehe ihm den Rücken zu. Ich könnte jetzt auf der Stelle nachhause fahren. Ich habe mir vom letzten Mal den Weg bis zur Busstation gemerkt. Ich könnt jetzt locker losrennen und auf den Bus warten. Dann einsteigen und gemütlich nachhause fahren. Aber ich tu es nicht. Warum tu ich das nicht?!

"Soll ich dich wieder tragen?", flüstert mir Tyson von hinten ins Ohr. Mich überkommt  eine Gänsehaut. Verdammt, warum macht er das? Er legt beide Hände auf meine Schultern und macht Anstalten, mich wieder hochzuheben. Geschockt weiche ich zurück und drehe mich zu ihnen um.

"Schon okay!", schreie ich und folge Lucy hinein. Ich muss jetzt drei Stockwerke hoch klettern! Vielleicht hätte ich Tysons Angebot doch annehmen sollen... Plötzlich wird mir bewusst, dass Lucy gar nicht die Treppen ansteuert, sonder eine silberne Tür. Sie drückt einen Knopf daneben und...oh. Das Gebäude hat einen Lift. Ich bin das letzte Mal so schnell raus gerannt, dass ich ihn gar nicht bemerkt habe. Warum sage ich eigentlich immer "das letzte Mal"? Das war heute Morgen, verdammt! Seufzend steige ich in den Fahrstuhl und warte, bis wir im dritten Stock angekommen sind. Tyson sperrt die Wohnungstür auf und erneut betrete ich die Anti-Jungfrauen-Wohnung.

"Komm schon.", sagt Lucy fröhlich und zieht mich weiter vor. Wir befinden uns nun in den weißen Gang, den ich heute Morgen schon durchqueren musste, als ich das Bad gesucht habe. Sie zieht mich gleich in den ersten Raum auf der linken Seite. Der Raum ist in Eisblau gestrichen und auf der rechten Seite befindet sich ein riesiges Bücherregal, voll mit Büchern. Etwas weiter vorne, ein schwarzer großer Holztisch mit acht Stühlen, der wie ein Esstisch aussieht. Warum sind da acht Stühle? Wohnen hier etwa acht Personen?! Michael hat immer erzählt, dass sein Boss alleine leben würde.

 

Auf der Wand gegenüber ist ein Fenster geöffnet, daneben ein großer Flachbildschirmfernseher angebracht  und davor ein kleiner schwarzer Couchtisch, auf dem eine Fernbedienung liegt. Hinter und vor dem Couchtisch liegt je eine schwarze Ledercouch. Warum sind eigentlich alle seine Möbel schwarz?

 

Auf der linken Seite ist noch ein offenes Fenster und in der Ecke befinden sich um die zwanzig hellblaue Kissen auf dem Boden. Das soll wohl sowas wie eine Leseecke sein. Es sieht sehr bequem aus. Darauf könnte man locker schlafen. Oh mein Gott! Ich will nicht wissen, was Tyson mit seinen One -Night-Stands auf diesen Kissen aufführt, wenn sie es nicht bis zu seinem Bett schaffen! Oder die Couch! Oh mein Gott! Was stimmt nicht mit mir, verdammt?!

 

Lucy schleppt mich zur Couch und lässt sich dann selbst drauf fallen. Die vorigen Gedanken bei Seite schiebend, setze ich mich langsam hin.

"Was wollt ihr trinken?", fragt Tyson, der gerade den Raum betreten hat.

"Cola!", schreit Lucy fröhlich und grinst. Und schon wieder hat sie etwas von einer fünf-jährigen an sich. Sie benimmt sich so...glücklich in Tysons Gegenwart. Ob sie wohl zusammen sind? Innerlich ohrfeige ich mich selbst wegen diesem Gedanken. Kann mir doch egal sein, ob die was miteinander haben. Sind eh beide nervig...irgendwie. Tyson verlässt irgendwas murmelnd den Raum und kommt zwei Minuten später mit einer Flasche Cola und drei Gläsern wieder, legt sie vor uns auf den kleinen Couchtisch ab und schüttet jedem was ein. Dann nimmt er sich ein Glas und setzt sich auf die Couch gegenüber.

"Irgendwelche Fragen?", fragt er und schaut mich mit hochgehobenen Augenbrauen an. Ob ich Fragen habe? Ja, verdammt! Sogar n' Haufen!

"Wie habt ihr mich gefunden?", frage ich und starre das volle Glas gegenüber mir an. Er seufzt und legt das Glas wieder auf den Tisch ab. Genau in dem Moment nimmt Lucy ihres und beginnt gemütlich zu schlürfen.

"Nathan hat mitbekommen, wie dich jemand überfallen hat und dann mitgenommen. Wir hatten Glück, dass ihn Nathan doch noch erkannt hat. Dann hat er mich angerufen und mir ungefähr ne' viertel Stunde die Ohren voll gelabert, ich solle ihm helfen, dich zu retten. Nach einer Weile konnte ich ihn nicht mehr hören und hab dann zugestimmt. Dann haben wir uns überlegt, wo so ein Idiot wie Markus seine Geschäfte betreiben würde. Er ist immer so dumm und schnappt sich Mädchen, die er in der Nähe findet. Dafür ist er bekannt. Deshalb wussten wir, dass du irgendwo in der Nähe sein müsstest. Und wo könnte er sich mit seiner Beute besser verstecken, als in einem dunklen und verlassenen Lagerraum?", erklärt er und setzt einen zufriedenen Gesichtsausdruck auf. Ich habe wirklich Glück gehabt. Hätte Nathan nicht genau in dem Moment den Müll weggeworfen, hätte ich niemals nach ihm rufen können und er hätte mich auch niemals bemerkt. Dann wäre ich verkauft worden. Oder getötet. Mein Hals ist staubtrocken und ich versuche zu schlucken. Ich habe eigentlich nicht vorgehabt, in dieser Wohnung irgendein Lebensmittel zu konsumieren, wegen des Jungfrauen-feindlichen Besitzers, konnte in diesem Moment aber nicht anders. Ich trinke einen Schluck Cola und schaue ihn an. Nathan und er haben mich gerettet.

"Ihr wart vollkommen neben der Spur, als ihr mich angerufen habt. Als würde einer von euch  ein Kind zur Welt bringen.", kichert Lucy und kassiert einen wütenden Blick von Tyson. Keine Ahnung warum, aber ich muss grinsen. Doch dann bemerke ich Tysons stechenden Blick und mein Grinsen erstirb. Ups.

"Was meintest du vorhin, als du gesagt hast, du würdest Lucy und deine Assistentin abholen?", frage ich und schaue ihm diesmal direkt in die Augen. Er hebt eine Augenbraue.

"Was genau hast du denn daran nicht verstanden?", fragt er und grinst süffisant. Ich verdrehe die Augen und antworte:

"Wer ist deine Assistentin, verdammt!", schreie ich und erinnere mich, dass er, als ihn Michael das gefragt hat, in meine Richtung genickt hat. Vielleicht war es ja nur jemand hinter mir.

"Du.", sagt er und ich erstarre. Also war doch keiner hinter mir. Shit.

"Und warum sollte ich dem zustimmen?", frage ich herausfordernd. Das kann er doch nicht machen!

"Weil ich dir deinen hübschen Hintern gerettet habe.", antwortet er und genau da ertönt ein Kichern aus Lucys Richtung. Das ich ignoriere. Mein Hintern ist wirklich hübsch, schmolle ich in Gedanken.

"Und du mir somit was schuldest." Das weiß ich doch...aber warum ausgerechnet das?

"Und du für Typen wie ihn jetzt sowas wie Frischfleisch bist." Meine Augen weiten sich. Er lacht humorlos auf.

"Was? Dachtest du etwa, er wäre der einzige Idiot, der Mädchen und Frauen entführt und sie an andere verkauft? Es gibt noch viel schlimmere Schweine da draußen, die sie zuerst vergewaltigen, sie verletzen und weiß Gott, was noch machen, bevor sie sie gegen Geld eintauschen. Und wer weiß was mit den Opfern danach  passiert." erzählt er und ich kann meinen Ohren nicht trauen. Wer macht sowas und warum? Nur des Geldes wegen? Sollen sie doch arbeiten gehen, verdammt!

"Außerdem wird sich keiner trauen, dir auch nur ein Haar zu krümmen, solange du in meiner Nähe bist." sagt er und lächelt zufrieden. Haben so viele Angst vor ihm? Aufgeblasener Kerl!

"Das stimmt wirklich.", stimmt Lucy ihm zu und sieht mich von der Seite aus an.

"Und was ist dein Job?", frage ich sie. Inzwischen bin ich mir schon bewusst, dass Lucy ein Mitglied in seiner Gang ist. Sie ist viel zu oft in seiner Nähe, um es nicht zu sein. Sie grinst und antwortet:

"Spionin." flüstert sie und ihr Grinsen wird noch größer. In meinem Kopf taucht ein Bild von Lucy in einem langen schwarzen Mantel und hohen Stiefeln und mit einer schwarzen Brille auf. Doch ich bezweifle, dass sie sich jemals so anziehen würde.

"Lucy schmuggelt sich in jedes Privatleben unserer Feinde ein und spioniert sie aus. Ihr Aussehen spielt dabei eine große Rolle. Und natürlich ihre Schauspielkünste.", erklärt Tyson und ein gewisser Stolz schwingt in seiner Stimme mit. So, als würde er von seiner Tochter erzählen, über die er sehr stolz ist. Oder seiner Freundin.

"Besteht denn nicht die Gefahr, dass sie irgendwann entdeckt wird?", frage ich die beiden. Beide schütteln den Kopf.

"Mit Make-up ist alles möglich.", kommentiert Lucy. Aha... Make-up also... 

"Könnte ich das denn nicht auch machen? Ist viel besser als Assistentin...", beschwere ich mich. Tyson bricht in schallendes Gelächter aus. Warum denn jetzt?

"Nein.", Plötzlich ist er stockernst geworden. "Nimm's mir nicht persönlich, aber du hast den Sex-Appeal einer toten Katze. Und davon brauchst du nun mal ne' Menge in diesem Geschäft.", erklärt er und bleibt noch immer ernst. Autsch. Das tut weh. Natürlich kann man sowas gar nicht persönlich nehmen...Arschloch.

 

Ich meine ich weiß, ich bin nicht gerade eine Schönheit oder extrem anziehend, aber das sind doch alles Dinge, die man verändern kann. Make-up und Nachhilfeunterricht in Sachen Geilheit würden sicher ein Wunder bei mir bewirken. Aber okay...Tyson wird es wohl besser wissen. Ich sehe kurz zu Lucy rüber. Sie ist eine wirkliche Schönheit mit ihren blonden Locken und ihren karamellbraunen Augen. Wie ein Engel sieht sie aus. Sie hat einen schönen Körper, ihr würde sogar ein Kartoffelsack stehen. Ich seufze. Tyson hat recht. Und wie er das hat. Plötzlich bemerke ich den wütenden Blick von Lucy, aber sie starrt nicht mich so an, sondern Tyson. Was hat sie denn? Schließlich hat er nicht sie mit einer toten Katze verglichen. Tyson starrt sie genauso wütend an und ich verstehe die Welt nicht mehr. Doch dann zucke ich nur mit den Schultern. Ich bin viel zu faul, um über die nach zu denken.

 

Stattdessen denke ich nochmal über sein Angebot nach. Ich bin ihm wirklich etwas schuldig. Aber ich verstehe nicht, warum er mich als Assistentin will...Wenn ich zustimme, dann bedeutet das, dass er mich sehr oft um sich haben wird. Wer würde das schon freiwillig wollen? Ich bin eine Gute-Laune-Killermaschine auf zwei Beinen. Mich wundert es schon, warum Lucy nicht bereits das Weite gesucht hat. Ich seufze und kneife meine Augen zusammen.

"Also?", fragt Tyson und hebt eine Augenbraue.

"Was werde ich als Assistentin machen müssen?", frage ich ihn und trinke noch einen Schluck. Er macht einen grübelnden Gesichtsausdruck und starrt Löcher in die Luft.

"Alles was ich sage. Und das meine ich ernst. Wenn ich dir sage, du sollst mitkommen, dann kommst du mit. Wenn ich dir sage, du sollst hier bleiben, verschwinden oder Erledigungen machen, dann tust du das auch. Wenn ich dir sage, du sollst dir was notieren, dann machst du das auch. Und vor allem, wenn ich dich zu mir rufe, dann. Kommst. Du. Verstanden?", fragt er. Das klingt doch nicht so schlimm...nur gibt es da leider ein klitzekleines Problem...

Ich lasse mir von niemandem was sagen.

 

Aber ich bin es ihm schuldig...Ich bin mir sicher, dass Tyson und ich in Zukunft noch sehr viel miteinander streiten werden...

"Okay." murmle ich. "Ich stimme zu." sage ich nun etwas fester und schaue ihm in die Augen. So ist's brav, Maya...verkauf deine Seele einfach an den Teufel...was kann schon schlimmes passieren?, denke ich. Ah...mein Sarkasmus ist herrlich...

 

Erst auf dem Nachhauseweg wird mir langsam bewusst, was ich da gerade gemacht habe. Ich hab mein Leben beendet! Aus dieser Scheiße werde ich nie mehr wieder rauskommen, verflucht! Wie oft habe ich Michaels Angebot abgelehnt, mich da einzumischen. Und jetzt? Jetzt bin ich drinnen! Voll dabei! Das kann doch wohl nicht wahr sein...Ich werde mit verantwortlich sein, bei allem was sie machen werden...Ich werde helfen, Menschen zu ruinieren, ihre Leben zu zerstören. Ich bin ein Monster! Du bist dumm, Maya!, schreie ich mich selbst in Gedanken an. Ich schulde ihm was, und? Ich schulde ihm nicht mein Leben! Doch, genau das tust du..., schleicht sich wieder eine Stimme in meinen Kopf. Ich seufze. Ich bin auf dieselbe Art und Weise mit Tyson verbunden, wie Michael. Wie lange habe ich versucht, dieser Gangster-Welt fern zu bleiben...Und alles wurde von einem Arschloch, der in einer Kartoffel gesprochen hat, ruiniert! Ich hoffe, die Kartoffel steckt ihm in diesem Moment in seinem Arsch! Genaugenommen war es ja ein Handy, aber das ist mir egal. Man kann überall eine Kartoffel auftreiben. Ist ja nicht illegal. Verwirrt schüttel ich meinen Kopf. Was zur Hölle stimmt mit mir nur nicht?!

 

"Gut.", hat Tyson vorhin noch gesagt und schelmisch gegrinst. Dabei hat er sich die Hände gerieben und mich irgendwie an eine Fliege erinnert. Lucy hat einen Freudentanz aufgeführt und irgendwas von:

"Ich bin nicht mehr alleine!", geschrien. Ich frage mich wirklich, ob mich dieses Mädchen nicht vielleicht doch hasst. Ich ruiniere mir mein Leben und sie freut sich. Dann haben Tyson und ich uns ausgemacht, uns heute Abend noch im Cafe zu treffen, um dort mit jemandem zu reden. Wer es sein wird, wollte er mir nicht sagen, aber bitte. Ich werde es frühestens heute Abend erfahren.

 

Seufzend erinnere ich mich an all die Geschehnisse der letzten zwei Tagen...Mein Herz wurde gebrochen, ich wurde entführt, dann befreit, dumm dargestellt, weil ich noch Jungfrau bin und anschließend zur Sklaverei verdonnert. Ahja, ich wurde noch fast von Leonie vermöbelt.

 

Ich balle meine Hände zu Fäusten. Die "Mein Herz wurde gebrochen"-Sache, sollte ich gleich von meiner Liste streichen. Ich habe schon immer gewusst, dass das nichts mit ihm werden würde. Natürlich habe ich da niemals gedacht, dass er jemals mit Alina zusammenkommen würde, aber okay. Auch habe ich nicht damit gerechnet, dass er sich so leicht einer ihrer Gehirnwäschen unterziehen würde. Trotzdem gehört es zum Leben dazu, mal ab und zu verletzt zu werden. Das Leben geht weiter. Auch ohne Michael. Er ist nur ein Kerl und die gibt es wie Sand am Meer. Ich habe keine Lust mehr, wegen ihm zu weinen und ständig in tiefe Depression oder große Wut zu verfallen, sobald ich ihn sehe oder auch nur seinen Namen höre, bin viel zu faul, um noch länger um ihn zu trauern. Ich bin einfach nur müde. Nie hätte ich gedacht, dass das Faul sein auch positive Seiten mit sich bringt. Plötzlich keimt in mir sowas wie Hoffnung auf. Ich werde darüber hinwegkommen und schon bald wird es nicht mehr weh tun!

Kapitel 6

Gib' mir dein Handy", verlangt die Person vor mir, doch ich schüttle nur den Kopf. Warum braucht er es? Er knurrt ein "Gib' schon her, verdammt." und sieht mich wütend an. Nichts da. Er wird mein Jungfrauen-Handy nicht anfassen. Er kriegt höchstens einen Tritt in seinen knackigen Hintern. Ja, ich habe die Jungfrauen-Sache noch nicht vergessen. Und sein Hintern ist tatsächlich knackig. Verdammt, was soll die Scheiße? Ist mir doch egal, wie sein Hintern ist! Genervt über mich selbst, schüttle ich den Kopf und umfasse das Handy, welches sich in meiner rechten Hand befindet, fester.

"Michael!", schreit Tyson plötzlich und mein Kopf schnellt zur Richtung der Eingangstür. Angst packt mich und ich spüre, wie mein Herz sich zusammenzieht. Ich will ihn nicht sehen. Wer weiß, wie ich auf ihn reagieren würde, wenn ich ihn sehen würde. Hektisch sehe ich mich um. Da ist kein Michael. Erleichterung überkommt mich und ich atme erleichtert aus. Gott sei Dank ist er nicht hier. Der kann mir gerne gestohlen bleiben. In Gedanken versunken, schaue ich auf meine Hände. Ich habe schlanke und lange Finger. Ich bewege die Finger der sowohl linken als auch rechten Hand. Sie sehen eigentlich ganz schön hübsch aus. Plötzlich fühle ich mich, als wäre ich von einem Bus überfahren worden. Gott, ich bin so dumm! Der Arsch hat tatsächlich mein Handy bekommen! Es ist nicht mehr in meiner Hand. Scheiße! Das hätte ich wissen müssen, denke ich. Das mit Michael ist nur ein Trick gewesen.

"Arschloch", sage ich trocken und schaue ihn emotionslos an. Der will doch nur, dass ich mich aufrege. Aber das kann er vergessen.

"Kommst ja früh drauf.", sagt er grinsend und tippt irgendwas in mein Handy ein.

"Was machst du?", frage ich nun doch und beuge mich über den Tisch.

"Ich tippe meine Nummer ein. Ich muss dich immer und überall erreichen können. Und du mich auch. Ich hab heute nicht damit gerechnet, dass du wirklich aufkreuzen wirst, wollte sehen, ob du es auch wirklich ernst meinst. Deshalb hab ich dir die Nummer nicht gleich gegeben.", erklärt er und holt nun sein Handy raus. Bitte was? Er hat mich getestet? Ich habe ihm doch gesagt, ich würde kommen. Ich bin doch kein Weichei, verdammt. Vollidiot. Tyson ist so ein großer Vollidiot.

Er drückt noch ein letztes Mal eine Taste auf meinem Handy und schon nach fünf Sekunden, leuchtet der Bildschirm von Tysons Handy auf. Jetzt hat er auch meine Nummer. Ist ja super. Sollte ich irgendwann einmal Anrufe von fremden, verheulten oder schwangeren Frauen annehmen, die nach dem Daddy ihres Kindes fragen und dabei den Namen "Tyson" nennen, dann reiß ich ihm den Kopf ab.

Ich strecke meine Hand nach meinem Handy aus und warte darauf, dass er es mir endlich in die Hand drückt. Doch nichts passiert. Er hebt einen Zeigefinger und sagt: "Warte noch kurz." Was denn noch? Da sind Sachen drauf, die niemand zu Gesicht bekommen sollte... Versteht mich nicht falsch, es sind ganz harmlose Dinge, aber trotzdem irgendwie peinlich...

"Ah du Scheiße...", murmelt Tyson und mein Herz setzt kurz aus. "Was ist denn das?", fragt er und sieht geschockt auf mein Handy. Scheiße. Was hat er entdeckt?

"Gib her!", keife ich ihn an und versuche nach meinem Handy zu greifen, doch er hebt seine Hand, sodass ich nicht rankomme, da ich noch immer über dem Tisch gebeugt bin. Wütend stehe ich auf und gehe um den Tisch herum.

"Bist das du?", flüstert er und zeigt mir endlich, was er da entdeckt hat. Scheiße. Verdammte Scheiße! Alles hätte passieren können! Ein Blitz hätte auf mich einschlagen können.  Ein Bus hätte mich überfahren können. Von mir aus hätte mich auch ein Hund auffressen können! Aber das hätte nicht passieren dürfen! Genau das, wovor ich Angst gehabt habe. Er hat das Foto gefunden, shit.

"Bist das wirklich du? In einem Panda-Kostüm?", fragt er erschrocken und sieht sich das Bild nochmal an. Plötzlich bricht er in schallendes Gelächter aus und alle Anwesenden, die sich im Raum befinden, starren uns an.

"Da war ich erst fünf verdammt, gib schon her!", schreie ich und bekomme endlich mein Handy zu fassen. Leider freue ich mich gerade viel zu früh, denn bevor ich mich überhaupt umdrehen kann, um zurück auf meinen Platz zu gehen, zieht er mich schon an sich und ich lande irgendwie auf seinen Schoß. Was soll das werden?

"Was soll das werden, Arschloch? Lass mich los.", zische ich und versuche ihn von mir zu schubsen, doch er ergreift meine Hände und lässt mich einfach nicht los.

"Das Foto ist süß.", sagt er nun ernst und sieht mich an. Ich muss schlucken. Seine grünen Augen schauen mich einfach an und ich fühle, wie mir die Luft ausgeht. Was ist nur mit mir los? So ein Mist.

"Schick mir das Bild.", sagt er und nickt in die Richtung meines Handys. Ich schaue ihn verwirrt an.

"Warum?", frage ich und versuche mich wieder loszureißen. Jedoch vergebens.

"Ich will es haben.", antwortet er und verstärkt den Druck seiner Hände, die meine noch immer halten. Ich muss erneut schlucken und ich spüre wie mein Herz immer schneller schlägt. Ich habe keine Angst vor ihm und er tut mir auch nicht weh. Es ist was ganz anderes...ich bin es nicht gewohnt, dass mich jemand so anfasst und das ist das erste Mal, dass ich in der Öffentlichkeit mal nicht auf einem Stuhl, Sitzplatz oder Boden sitze. Sondern auf einem Schoß. Noch dazu ist es Tysons Schoß.

"Warum?", flüstere ich, weil ich nicht mehr normal reden kann. Der Kerl hat es echt geschafft, mich einzuschüchtern. Der ist doch nicht menschlich!

"Ich will es einfach haben. Schick es mir.", wiederholt er und ich bringe noch ein flüsterndes "Nein" zu Stande.

"Ich will aber!", sagt er nun gespielt traurig und schiebt seine Unterlippe tatsächlich nach vor. Schmollt er gerade? Das gibt's doch nicht. Ich breche in schallendes Gelächter aus und achte schon seit langem nicht mehr auf das Publikum, das uns immer wieder fragende und verwunderte Blicke zuwirft. Ist ja auch kein Wunder. Wir hocken hier in einem Cafe mit über zehn freien Stühlen und ich sitze hier auf einem Kerl. Ich komme mit Sicherheit notgeil rüber.

Noch immer lachend schüttle ich meinen Kopf und versuche von ihm runterzukommen, was mir auf beinahe gelingt, doch dann zieht er mich nochmal kurz zu sich.

"Ich werde es schon bekommen, das verspreche ich dir.", zischt er und ich traue meinen Ohren nicht. Was will er bitte mit meinem Panda-Bild? Damals waren meine Eltern und ich auf einer Halloween-Party bei Freunden eingeladen worden und ich wollte unbedingt als Panda gehen, da ich sie damals so putzig fand. Und zugegeben, ich liebe sie heute immer noch. Sie sind einfach süß!

Wahrscheinlich will er mein Bild nur, um etwas gegen mich in der Hand zu haben, für den Fall, dass ich ihm jemals auf die Nerven gehen sollte. Aber das kann er vergessen.

"Hey Tyson. Bin da. Sorry für die Verspätung, da war so ein Kerl, der hat-", plötzlich bricht die Person ab. Erschrocken drehe ich meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen ist. Es ist Michael. Er steht mit offenem Mund da und starrt uns schockiert an, was mich gar nicht wundert, denn mir ist sehr wohl bewusst, was für eine Show wir ihm gerade bieten. Tyson räuspert sich und lässt dann endlich meine Hände los. Ich klettere von ihm runter und will mich wieder auf meinen Sessel setzen, als Tyson ihn plötzlich näher zu sich zieht. Fragend schaue ich ihn an. Was soll der Blödsinn? Er zuckt nur mit den Schultern und nickt in Richtung Sessel. Bitte. Soll mir recht sein. Endlich setze ich mich hin und bin nun zwischen Tyson und Michael eingequetscht. Juhu. Meine Begeisterung hält sich in Grenzen.

 

Das ist also die Person, mit der wir uns treffen mussten.  Das ist ja wundervoll.

"Also. Was gibt's?", fragt Tyson und lehnt sich in seinem Stuhl zurück.

"Grey scheint einen anderen Verkäufer gefunden zu haben. Brian Roberts heißt der Kerl und ist nicht gerade unbekannt.", plappert Michael drauf los und wirft mir immer wieder wütende Blicke zu. Kann ich ihm irgendwie helfen...? Tyson scheint zu überlegen.

"Brian Roberts?", murmelt er. "Ich kenne ihn nicht, also muss er wohl doch ziemlich unbekannt sein.", stellt er fest. Worum geht's hier überhaupt? Und was verkauft dieser Brian?

"Naja, das wird Theo auf jeden Fall nicht gefallen. Grey war einer seiner besten Kunden.", sagt Tyson und starrt wie verloren auf den Tisch. "Warum schaust du denn so, Bienchen? Sag bloß, du weißt nicht, worum es hier geht...",murmelt er und schaut mich an. Ich starre zurück, denn er hat genau ins Schwarze getroffen. Ich habe wirklich keine Ahnung, worum es hier gerade geht.

"Ich nehme mal an, es geht nicht um Schokoladenmuffins...", murmle ich und höre Michael schnauben. Was ist denn? Man darf ja wohl noch an Schokomuffins denken. Sie sind lecker. Wütend schaue ich ihn an. Was ist sein Problem, verdammt? Ich kann Michael nicht lange anstarren. Diese Augen...sie erinnern mich immer wieder an die Enttäuschung, die ich zu vergessen versuche. Also richte ich meinen Blick auf Tyson und ich stelle überrascht fest, dass er mich anlächelt. Und zwar wirklich. Er lächelt mich ehrlich an und ich muss zugeben, dass er ganz schön süß aussieht. Lächeln steht ihm. Er sollte es viel öfter machen...

"Nein.", antwortet Tyson und lächelt weiter.

"Selbstgemachter Honig?", frage ich und lächle automatisch zurück. Es ist ansteckend.

"Nein.". Ich höre ihn schmunzeln. Das ist ja abgefahren!

"Drogen, verdammt!", knurrt Michael und ich zucke zusammen. Tyson hingegen zieht nur eine Augenbraue hoch und schaut Michael abwartend an.

"Ist was, Michael?", fragt er und sieht ihn an. Er schüttelt nur den Kopf. Vollidiot. Ab jetzt werde ich ihn nur noch ignorieren.

"Ihr verkauft Drogen?", frage ich Tyson unnötigerweise. Natürlich tun sie das. Was hab ich denn erwartet? Sie würden sich nur harmlos prügeln? So ein Blödsinn. Sie sind in einer Gang, Maya... Tyson schüttelt den Kopf und meint:

"Indirekt. Wir finden Kunden für Theo und kassieren dafür Geld. Klingt ziemlich gut, nicht? Wenn man bedenkt, dass wir nur Interessenten finden müssen.", erklärt Tyson und sieht mich weiterhin an. Ich brauch eine Weile, um das gehörte zu verarbeiten.

"Ihr seid also sowas wie eine Drogenvermittlung?", frage ich und hebe dabei zwei Augenbrauen. Er nickt. "So zu sagen, ja.". Er schenkt mir noch ein letztes Lächeln und dreht sich dann wieder zu Michael um.

"Gibt's noch was interessantes?", fragt er und sein Lächeln verschwindet. Michael scheint zu überlegen.

"Noah ist wieder da.", sagt Michael und dieser eine Satz schafft es, Tysons Gesichtsausdruck ausdruckslos zu machen. Anscheinend ist dieser Noah ein ganz schlimmer Junge. Vor allem für Tyson. Wer ist der Kerl?

"Weißt du wo er ist?" fragt Tyson mit einer monotonen Stimme. Junge, was ist denn in ihn gefahren? Ein Kopfschütteln von Michael lässt ihn leise fluchen.

"Ich bin ihm gefolgt, aber er hat es wie immer geschafft, zu entwischen. Keine Ahnung, wie er das hinbekommt. Wirklich jedes Mal.", beklagt sich Michael.

"Wenn du ihn das nächste Mal siehst, ruf mich an. Sofort.", befiehlt Tyson und Michael nickt. Ich wage einen Blick in Tysons Richtung, denn seine offensichtlich miese Laune lässt mich irgendwie nicht wirklich kalt. Er erwidert meinen Blick zwar, aber das war's auch. Anscheinend will er mir nicht sagen, wer dieser Noah ist. Okay. Auch gut. Hab im Moment sowieso viel zu viel Information auf einmal in mein Hirn reingestopft.

Plötzlich höre ich Tyson seufzen und sehe, wie er sich erhebt. Wo will er denn hin?

"Okay, ich geh dann mal. Anscheinend müsst ihr beide noch was bereden.", sagt er und ich bekomme Panik. Was? Er kann nicht gehen! Er kann mich nicht mit ihm alleine lassen, verdammt! Das geht doch nicht. Ich starre ihn an und weiß gar nicht, ob der Blick wütend, traurig, erschrocken oder bittend ist. Wahrscheinlich eine Mischung aus allem.

"Ich warte draußen auf dich, Bienchen.", verabschiedet sich Tyson und geht tatsächlich raus. Arschloch. Das hat er doch mit Absicht gemacht. Er hat gesehen, wie ich geheult habe, als mich Michael heute umarmt hat und will mich anscheinend wieder heulen sehen. Aber das kann er vergessen. Ich werde nämlich nicht heulen. Auf gar keinen Fall.

 

Minuten vergehen und keiner von uns sagt auch nur ein Wort. Ich sehe durch die durchsichtige Wand nach draußen und sehe Tysons Auto, mit dem wir hergefahren sind. Er hat es leicht. Jetzt hockt er im Wagen und kann machen, was immer er will und muss nicht stumm vor seinem früheren besten Freund sitzen und darauf warten, dass er endlich etwas sagt.

"Warum machst du das? Warum hast du zugestimmt?", fragt Michael nach einer gefühlten Ewigkeit. Was soll ich darauf antworten? Keine Ahnung, am besten, ich bleibe still.

"Ich dachte, du willst nichts damit zu tun haben...", murmelt er und sieht den Boden an.

"Will ich auch nicht.", gebe ich zu. Ich will wirklich nichts damit zu tun haben...aber ich muss. Es geht nun mal nicht anders.

"Warum machst du das dann? Ist es wegen mir? Willst du mir alles heimzahlen, indem du dich vor meinen Augen in größte Gefahren bringst? Oder willst du einfach nur in meiner Nähe sein und weißt nicht wie? Falls es das zweite ist, dann sag es mir doch einfach, Maya. Oder ist es doch nicht das? Ich weiß einfach nicht, was ich noch denken soll.", gibt er seufzend zu. Für wen hält der sich? Warum sollte ich das alles machen? Wie kann ich ihm alles heimzahlen, indem ich mich verletze? Es wäre ihm doch sowieso egal...oder? Ja, sicher. Und warum sollte ich bitte so einen Blödsinn durchziehen, nur um in seiner Nähe zu sein? Wenn ich jemandes Nähe will, kauf ich mir 'nen Pandabären. Also ein Kuscheltier...ein echter würde da schon ein bisschen schwer aufzutreiben sein...

"Dann denk am besten gar nicht mehr, denn was du da von dir gibst ist nicht nur falsch sondern auch noch bescheuert. Ich bin nicht so dumm, wie du vielleicht glaubst. Ich würde sowas nie und nimmer abziehen, nur um in der Nähe vom ah so coolen Michael zu sein. Du bist nicht der Mittelpunkt der Welt. Und was würde es bringen, wenn ich mich in Gefahr bringe? Dir bin ich doch sowieso egal.", sage ich, ohne auch nur ein Mal nach Luft zu schnappen. Michael starrt mich nur an.

"Wir sind beste Freunde, Maya. Natürlich-", fängt er an.

"Waren.", korrigiere ich ihn. Er bricht abrupt ab.

"Was?", fragt er verwirrt nach. Spreche ich etwas Spanisch? Oder irgendeine andere Sprache?

"Wir waren beste Freunde, Michael. Du hast alles versaut. Gratuliere. Viel Spaß mit Alina. Man sieht sich.", verabschiede ich mich und stehe auf. Er schaut wie erstarrt auf den gelben Tisch vor ihm, doch ich drehe mich lächelnd um und gehe raus. Ich bin ein wenig stolz auf mich. Ich habe mich weder aufgeregt, noch habe ich angefangen zu heulen. Ganz im Gegenteil, ich bin ganz ruhig geblieben und habe ihm meine Meinung gesagt. Ich habe einen Schlussstrich gezogen. Endgültig.

 

"Du siehst zufrieden aus. Ist wohl gut gegangen.", mein Tyson, während er die Straße mit seinem Blick fixiert hat und fährt. Sobald ich eingestiegen bin, ist er losgefahren. Ich weiß sofort, was er meint und zucke mit den Schultern.

"Es geht. Mach das nie mehr wieder, Arschloch.", sage ich und werfe ihm einen bösen Blick zu. Was er getan hat, war unterste Schublade. Mich einfach so mit Michael allein zu lassen...keine Ahnung warum, aber ich fühle mich irgendwie verraten.

"Mal sehen...", murmelt er und schaut weiter geradeaus auf die Straße. Plötzlich klingelt sein Handy und er geht ran.

"Ja? Ja. Sie ist bei mir. Ja. Ja, verdammt! Was? Fick dich! Tschüss." beendet Tyson sein Telefonat und ich schaue überrascht zu ihm hoch. Was war das denn bitte? Und wer?

"Nathan.", antwortet er, ohne meine Frage auch nur gehört zu haben. Unfassbar. Bin ich so leicht zu durschauen?

"Er hat gefragt, ob ich weiß wo du bist, weil du bei dir zuhause nicht auf machst. Dann hat er mich das noch zwei weitere Male gefragt. Dann meinte er, ich solle die Finger von dir lassen.", erklärt er und gibt mir einen kurzen Seitenblick.

"Und wofür war das "Fick dich"?", frage ich und richte meinen Blick nun auf die Straße. Ich sollte ihn nicht so oft anschauen. Er könnte das missverstehen. Er zuckt mit den Schultern.

"Das ist nicht wichtig. Er macht sich sorgen um dich. Jetzt sei mal ehrlich: Was bist du? Eine Hexe? Auch Lucy ist ganz angetan von dir. Mit dir stimmt doch was nicht.", stellt er fest und grinst wie ein Pferd. Er hat recht. Was stimmt nicht mit mir? In den letzten fünf Jahren hab ich mit fast keinem geredet, geschweige denn irgendetwas unternommen, außer mit Michael. Und in den letzten drei Tagen bin ich gleich zwei Menschen auf einmal näher gekommen. Naja. Sie sind mir näher gekommen. Und anscheinend bereuen sie es noch nicht. Plötzlich fühle ich eine wohlige Wärme in mir aufkommen. Die beiden scheinen gute Menschen zu sein. Und vielleicht sollte ich nicht so abweisend zu ihnen sein...Vielleicht sollte ich wenigstens probieren, sie zu verstehen und ihnen eine Chance geben. Ich werde es versuchen, denke ich.

 

"Wir sind da.", holt mich seine Stimme aus den Gedanken. Wirklich? Wow...das ging ja schnell.

"Geh rein. Deine Eltern machen sich bestimmt schon Sorgen um dich." sagt er und nickt Richtung meines Wohnhauses. Mich wundert es nicht, dass er weiß, wo ich wohne, schließlich wohnt  Nathan im selben Gebäude.

"Meine Eltern sind gar nicht da.", gebe ich zu und könnte mich im nächsten Moment gleich selber schlagen. Warum sag ich ihm das? Was geht ihn das an? Richtig, gar nichts. Über mich selbst den Kopf schüttelnd, öffne ich den Sicherheitsgurt und mache die Beifahrertür auf.

"Was? Wirklich?", fragt er und ich nicke. Ich hab es ihm ja schon erzählt, da macht es wenig Sinn, wenn ich jetzt einfach die Klappe halte...

"Gute Nacht.", wünsche ich ihm und steige aus. Bevor ich die Autotür endgültig schließe, höre ich noch ein "Gute Nacht, Bienchen." Wird er jemals aufhören, mich so zu nennen?

Kapitel 7

Der darauffolgende Schultag verläuft recht ruhig. Ich wechsle ein paar Wörter mit Leonie, die überraschenderweise sogar antwortet, ohne Beleidigungen dranzuhängen. Lucy zerrt mich in den Pausen fast jedes Mal auf den Gang, um mit mir über ihren gestrigen Auftrag zu reden.

"Dieses Mal musste ich mich als eine Kellnerin ausgeben, um Thomas auszuspionieren.", erzählt sie begeistert und ich starre sie nur doof an. Wer ist jetzt Thomas? Erwarten die wirklich von mir, dass ich mir so viele Namen merke? Das kann doch wohl nicht ihr ernst sein, verdammt.

"Über ihn wird erzählt, dass er plant, Tyson zu hintergehen.", erklärt sie und mir klappt die Kinnlade runter.

"Hat Tyson etwa einen Freund?", frage ich geschockt. Lucy bricht in schallendes Gelächter aus. Nach ungefähr fünf Minuten antwortet sie:

"Nein. Das meinte ich so auch gar nicht, Maya.", kichert sie. "Er will die Gang verlassen und seine eigene gründen. Außerdem will er seine Männer, die eigentlich Tysons Männer sind, auch mitnehmen. Angeblich plant er noch einen Angriff auf Tyson, was ja auch der Grund ist, weshalb ich ihn spionieren muss. Er will ihn stürzen. ", fährt sie fort. Das ist ja schrecklich. Wenn man noch nicht einmal seinen eigenen Männern trauen kann... das ist doch schlimm.

"Hat er dich denn nicht erkannt? Du bist doch in der gleichen Gang.", frage ich und beobachte das Flackernde Lämpchen über mir. Der Hausmeister sollte sie unbedingt mal wechseln, die macht einen ja ganz wirre im Kopf.

"Nein. Tyson steht nicht drauf, wenn sich die Mitglieder gut kennen. Wir drei sind da die einzige Ausnahme. Also Nathan, du und ich. Außerdem habe ich diesmal eine braune Perücke getragen und braune Kontaktlinsen, du hättest mich sehen sollen!", schwärmt sie und springt auf und ab. Das ergibt Sinn. Ich hab mich schon die ganze Zeit gewundert, warum Lucy, Michael nicht kennt. Sie hat ihn das letzte Mal schließlich als "blonder Typ" bezeichnet und wusste seinen Namen nicht.

"Er hat mich sogar nach meiner Handynummer gefragt. Notgeiler Sack.", kichert sie.

"Du hast sie ihm doch nicht etwa gegeben, oder?", frage ich. Sie sieht mich verständnislos an.

"Doch natürlich, was denkst du denn?", fragt sie und bleibt neben der Klotüre der Mädchen stehen. Ich starre sie geschockt an. Spinnt die?

"Du gibst einem fremden Idioten einfach so deine Handynummer? Willst du mich verarschen?!", schreie ich sie an. Sie kichert.

"Jetzt komm doch mal runter, ist doch nur eine Wertkarte. So dumm bin ich doch nicht, und gebe ihm wirklich meine echte Handynummer. Da wir gerade dabei sind. Gib mir dein Handy. Du hast meine Nummer noch gar nicht." Sie streckt ihre Hand aus und ich greife instinktiv an meine Hosentasche. Seit dem Vorfall mit dem Panda-Bild, habe ich es kein einziges Mal aus den Augen gelassen. So etwas darf nicht noch einmal passieren. Auf gar keinen Fall. Natürlich könnte ich das Foto einfach löschen. Aber das will ich nicht. Ich schüttle stumm den Kopf.

"Gib du mir deins.", fordere ich sie auf. Sie zuckt mit den Schultern und überreicht es mir. Schnell tippe ich meine Nummer ein und drücke dann auf "Anrufen". Es dauert nicht lange, schon spüre ich mein Handy in meiner Hosentasche vibrieren. Jetzt hab ich auch ihre Nummer, muss sie später nur noch einspeichern.

"Super. Danke.", kichert Lucy und legt ihren Arm um meine Schultern. Somit zieht sie mich mit sich ins Mädchenklo.

 

Nach der Schule entscheide ich mich für ein kurzes Schläfchen. Ich bin saumüde und kann nicht mal mehr die Augen offen halten. Es dauert nicht lange, schon tauche ich in das Land der Träume ein.

 

"Bienchen. Bienchen? MAYA!" Keuchend schrecke ich hoch. Was zur Hölle...? Hektisch schaue ich mich in meinem Zimmer um. Da steht ein grinsendes Arschloch vor meinem Bett und sieht auf mich herab. Ich bin sauer und bereit, Amok zu laufen. Wie kann er es überhaupt wagen, mich zu wecken?! Und habe ich wirklich wieder vergessen, abzuschließen? Nicht schon wieder! Langsam kommt es mir so vor, als würde ich in einer öffentlichen Toilette schlafen. Jeder Penner kommt rein oder raus, wann es ihm nur passt.

"Verpiss dich!", zische ich Tyson an und der schüttelt nur den Kopf. Seufzend lege ich mich wieder hin und kuschle mich in meine Decke. Der kann mich mal. Ich werde mit Sicherheit nicht aufstehen!

"Komm schon, die andern warten auf dich. Lucy zappelt schon wie ein Kleinkind.", murmelt er und beginnt mich zu schütteln. Ich trete ihm mit dem Fuß gegen sein Bein und höre ihn daraufhin überrascht nach Luft schnappen.

"Du willst mich wohl verarschen.", murmelt er eher zu sich selbst, ehe er mich einfach hochhebt, als sei ich eine Feder und mich wieder nach vorne rollend, fallen lässt, sodass ich auf den Bauch aufkomme. Arschloch!

"Beweg dich endlich, oder ich stelle dich unter die Dusche und gieße arschkaltes Wasser über dich.", droht er mir und ich stehe laut fluchend auf. Er würde mir das wirklich antun, da bin ich mir sicher.

"Verpiss dich!", schreie ich und stoße ihn aus meinem Zimmer. Er muss mir nicht beim umziehen zusehen.

Zehn Minuten später stehe ich frisch angezogen und mit einem Gesichtsausdruck, der der Hölle gleicht, vor Tysons schwarzem Auto.

"Steig ein.", fordert er mich auf und ich gehorche. Junge, der ist bescheuert. Ich fühl mich wie ein Hund. Während der Fahrt wirft er mir immer wieder Blicke über seine Schulter zu, bis es mir irgendwann reicht und ich ihm mit dem Stinkefinger antworte. Zugegeben, es gehört sich nicht. Scheiß drauf. Er nervt tierisch. Laut Lachend dreht er sich wieder nach vorne und konzentriert sich wieder auf die Straße. Nathan, der neben ihm sitz kann sich auch nicht ein Lachen verkneifen und Lucy, die hinten neben mir sitzt, fällt schon fast vom Sitz, wäre da nicht der Sicherheitsgurt, der sie davor bewahrt.

 

Nach einer halbstündigen Fahrt sind wir endlich angekommen. Tyson hat seinen Wagen auf dem verlassenen Parkplatz geparkt. Überrascht beobachte ich den riesigen Wald, der sich ein paar Meter vor mir, nachdem der Parkplatz aufhört, erstreckt.

"Gehen wir campen?", frage ich in die Runde und höre Lucy kichern. Fragend schaue ich sie an und mir wird schon im nächsten Moment klar, dass da irgendetwas nicht stimmt. Sie hat ein verräterisches Glitzern in ihren Augen.

"Nein", sagt Nathan und kommt näher. "Da du ja jetzt dazu gehörst" Hinter mir ertönt Lucys Gekicher. "solltest du vielleicht wissen, wie man sich im Notfall verteidigen sollte." Aus dem Augenwinkel erkenne ich Tyson, der einen großen schwarzen Koffer aus seinem Kofferraum holt und auf den Boden abstellt. Scheiße, was haben dir nur mit mir vor...?

 

"Du musst sie fester halten, Maya.", erklärt Nathan ruhig und drückt meine Hand fester um die schwarze Waffe. Der schwarze Koffer hat sich als ein Koffer voller Waffen entpuppt. Also ein..öh..Waffenkoffer? Keine Ahnung. Jedenfalls bin ich stinksauer und nervös zugleich. Wie können sie von mir erwarten, dass ich mich in einem Notfall ernsthaft trauen würde, eine Waffe auf jemanden zu richten?

"Versuch es nochmal.", sagt er ruhig und hebt meine Hände, mit der ich die Waffe halte und umfasst sie mit seinen eigenen. Ich zähle bis drei und drücke ab. Wie bei den letzten dreißig Malen hat auch dieses Mal die Kugel den Baum, der mein Ziel darstellen soll, nur gesteift und ist daneben irgendwo in einem anderen Baum stecken geblieben. Ich hoffe, dass es in diesem Wald keine Eichhörnchen gibt. Ich will ungern eines erwischen. Tyson, der die ganze Zeit nur zugeschaut und ab und zu auch Flüche ausgestoßen hat, kommt jetzt auf uns zu und reißt Nathan von mir weg. Der Kerl ist brutal bis zum geht nicht mehr. Wie kann Nathan ihn nur so lange aushalten?

"Lass mich das machen, so wird das nie was. Geh zu Lucy und hilf ihr. Stellt die Zielscheiben auf.", sagt Tyson und nickt zu Lucy rüber. Nathan verschwindet und ich vermisse ihn jetzt schon. Er soll mich weiter unterrichten und nicht Tyson. Der wird mich nur fertig machen.

 

Ich hab's gewusst. Ich habe es gewusst! Der macht mich nicht nur fertig...er zerstört mich.

"Jetzt sei nicht so zimperlich, verdammte Scheiße! Das ist 'ne Knarre, nicht mein bestes Stück!", schreit er und ich lasse kreischend die Waffe fallen. Igitt! Das ist ja abartig! Hastig hebe ich sie wieder auf. Schnell versuche ich an was anderes zu denken, denn ich spüre schon, wie ich langsam rot werde. "Gib das her!", knurrt er und entreißt mir die Waffe. Dann stampft er wütend zu dem Baum, der mein Ziel darstellt und schnappt sich irgendwas aus seiner Hosentasche. Als er beginnt, mit dem kleinen weißen Stück auf dem Baum zu zeichnen, wird mir klar, dass es sich um Kreide handelt. Er zeichnet einen menschlichen Körper, also einen Kopf, zwei arme und zwei Beine.

"Das ist das Herz.", gibt Tyson mit zusammengebissenen Zähnen von sich und malt ein Kreuz an der Stelle, an der wohl das Herz sein soll. Er hätte ruhig eine Herzchen-Form zeichnen können... Ich seufze. Ich bin für solche Sachen nun mal nicht geschaffen...ich kann keinem  das Hirn wegpusten. Das geht einfach nicht. Egal in welcher Situation ich je sein werde, ich kann mir einfach nicht vorstellen, auf jemanden zu schießen.

 

Bis Tyson sich hinter dem Baum versteckt und sich beruhigt (Ist nicht das erste Mal, dass er das wegen mir macht), halte ich nach Lucy und Nathan Ausschau. Sie sind nur ein paar Meter von uns entfernt und schießen schwarze Scheiben, die sie überall um sich aufgestellt haben, ab. Ich hebe meinen Kopf und erblicke noch weitere, die oben an den Bäumen befestigt sind. Jetzt habe ich wirklich Angst um die Eichhörnchen... Aber die beiden sind echt gut. Sie springen, machen Saltos, lassen sich auf dem Boden fallen, schießen während all diesen Bewegungen und treffen ihr Ziel fast jedes Mal. Und ich lasse mich von einem still stehenden, sogar in dem Boden verwurzelten Baum fertig machen. Welch ein Vergnügen.

 

"Okay...versuch jetzt einmal, das Herz zu treffen.", befiehlt er mir und ich schnaube.

"Ich werde dem Baum nicht ins Herz schießen. Überhaupt werde ich niemandem ins Herz schießen!", kreische ich und schiebe seine Hand, in die er die Waffe hält, von mir weg. Er ist immer näher und näher mit ihr zu mir gekommen. Er seufzt.

"Stimmt...das kannst du ja gar nicht. Du bist eine mickrige kleine Tussi, die rein gar nichts auf dem Kasten hat und wahrscheinlich nur Interesse für Jungs und Pferde hat.. Ich hab's Nathan ja gleich gesagt... Ist nur heiße Luft da oben...", sagt er und zeigt auf meinen Kopf. Wie bitte? Will der mich verarschen? Was heißt hier Tussi? Ich bin doch keine Tussi!

"Fick dich, Tyson.", knurre ich und sehe ihn wütend an. Was soll die Scheiße? Er muss mich ja nicht gleich beleidigen...

"Stimmt doch.", antwortet er und hebt eine Augenbraue. "Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffen wirst, das Herz zu treffen." Will er mich herausfordern?

"Okay. Um was wetten wir?", frage ich und spüre, wie ich langsam anfange zu zittern. Der Typ kann alles verlangen...Mein Leben, meine Freizeit und das wahrscheinlich schlimmste: meine Jungfräulichkeit. Ich muss schlucken und sehe ihm in die Augen. Nein, ich werde keine Angst zeigen.

"Um das Bild.", sagt er monoton und ich erstarre. "Welches Bild?", frage ich und sehe ihn gespielt verständnislos an.

"Das Panda-Bild.", erklärt er unnötigerweise. Scheiße...

"Okay.", sage ich und hasse mich im nächsten Moment gleich selber dafür. Er hat mich verarscht. Und ich Idiot bin darauf noch reingefallen...Idiot!

Er grinst. "Los!", ruft er und drückt mir die Waffe in die Hand. Langsam atme ich tief ein und aus. Ich kann das. Ich kann das! Mit beiden Händen halte ich die Waffe und richte sie auf das weiße Kreuz, das Tyson als "Herz" bezeichnet. Dann schließe ich die Augen und atme nochmal ein und aus. Ob ich wohl mit geschlossenen Augen treffen werde? In den meisten Filmen geht das doch auch, oder? Ja...es muss gehen.

Drei

Zwei

Eins... Und ich drücke ab.

 

Nach dem lauten Knall herrscht Stille. Plötzlich höre ich jemanden neben mir erschrocken nach Luft schnappen. Verwirrt drehe ich meinen Kopf und blicke in geschockt geweitete Augen. Lucy. Sie legt mir eine Hand auf die Schulter.

"Hab ich's geschafft?", frage ich hoffnungsvoll und traue mich nicht, selber zu schauen. Sie zieht einen mitleidiges Gesicht. "Naja...also wenn es ein Mann wäre, hättest du ihn auf jeden Fall umgebracht. Zwar hast du nicht das Herz getroffen, aber dennoch eine sehr empfindliche Stelle...", erklärt sie. Wenn es ein Mann wäre? Empfindliche Stelle? Ah du heilige Scheiße! Ein kichernder Nathan kommt zu mir.

"Erinnere mich bitte daran, dich niemals wütend zu machen...Bitte.", lacht er jetzt und wischt sich schon die Lachtränen aus dem Gesicht. Auch Lucy stimmt mit ein...Nur ich sehe aus, als hätte ich wirklich jemanden erschossen..und das noch an dieser Stelle. Zögernd drehe ich meinen Kopf wieder zurück und betrachte mein Werk. Oh mein Gott! Ich bin ein Monster. Wie konnte das nur passieren? Ich hab doch richtig gezielt...Ist meine Hand vielleicht abgerutscht? Scheiß Hollywood! Ein lautes Lachen reißt mich wieder aus meinen Gedanken. Es ist Tyson. Tyson lacht. Der Weltuntergang ist näher als gedacht.

 

Nach fünf Minuten beruhigt er sich langsam und kommt zu uns. Er schwankt leicht, entweder vor Lachen oder er ist einfach nur besoffen. Ist mir sowieso egal.

"Das", würgt er lachend heraus.

"Bild", kichert er weiter und hält mir sein Handy hin. Ich will ihm das Bild nicht geben. Das ist das einzige, dass ich noch wirklich für mich habe. Das ist die einzige Sache, von dem niemand was weiß, mal abgesehen von meinen Eltern und Tyson jetzt. Noch nicht einmal Michael weiß von dem Bild Bescheid. Daran hättest du denken sollen, bevor du zugestimmt hast, Maya, denke ich. Selber schuld. Seufzend nehme ich mein Handy aus der Hosentasche und schalte mein Bluetooth ein. Ich schicke ihm das Bild und ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Verdammt, ich werde nie mehr wieder wetten.

"Vielen Dank. Pandabienchen.", sagt er lachend und zerzaust mir die Haare. Mistkerl.

"Gehen wir. Ich glaube, das reicht für heute.", sagt Tyson in die Runde und Nathan und Lucy nicken stumm. Ich halte die Klappe. Reden will ich nicht. Bin viel zu faul dafür...

 

Zuhause angekommen, setze ich mir zuerst Wasser für den Tee auf und gehe dann duschen. Seufzend genieße ich das warme Wasser, welches meine ganze Frustration und Wut wegspült. Ich lasse noch einmal alle heutigen Geschehnisse Revue passieren. Ich habe mich mit Tyson im Cafe getroffen, hab mich mit Michael unterhalten und ihm klargemacht, dass unsere Freundschaft wegen ihm im Eimer ist. Ich habe das erste Mal in meinem Leben eine Waffe halten und sogar schießen müssen. Ich habe mir Tysons Beleidigungen anhören müssen und wäre der Baum ein Mann gewesen, könnte er jetzt wahrscheinlich keine Kinder mehr zeugen. Noch dazu, hat Tyson jetzt mein Bild und ich will mir noch nicht einmal vorstellen, was er alles damit anstellen könnte.

 

Frisch geduscht betrete ich die Küche und öffne den Kühlschrank. Ich habe keine Lust mehr, Tee zu trinken. Ich habe Hunger. Großen Hunger. Als ich in den Kühlschrank schaue, stutze ich. Er ist leer. Ich muss einkaufen gehen. Mist. Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass ich noch fünfzehn Minuten habe, bis der Supermarkt in der Nähe schließt. Schnell schlüpfe ich in meine Schuhe und in meine Jacke, schnappe mir mein Geld und die Hausschlüssel und gehe raus. Während ich die Tür zusperre, versuche ich zwischendurch, mir die Haare zu binden und stecke sie dann in die Jacke, bevor ich die Kapuze aufsetze. Meine Haare sind noch nass und ich habe keinen Bock darauf, krank zu werden.

 

Als ich das Gebäude verlasse, schlägt mir eisige Kälte entgegen. Ich fange an zu zittern und gehe fluchend weiter. Es wird bald dunkel sein und ich weiß, dass ich mich beeilen muss. Plötzlich nehme ich in meinem Augenwinkel einen dunklen Schatten wahr.

"Bist du Maya?", fragt mich eine weiche Stimme und ich zucke zusammen. Wer ist das und woher kennt die Person meinen Namen? Ich drehe mich um und sehen einen Mann. Er hat schwarzes Haar und braune Augen. Sein Blick wirkt belustigt und ein Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus. Bevor ich überhaupt bemerke, was da vor sich geht, spüre ich schon einen weichen Stoff auf meinem Gesicht und der bekannte Geruch steigt mir wieder in die Nase. Das ist das selbe Zeug, dass auch der Typ vom letzten Mal benutzt hat, denke ich, während ich versuche, seine Hand von meinem Gesicht zu entfernen. Seine Hand ist so groß wie ein Baseballhandschuh und ich habe keine Chance. Ich spüre wie mir immer mehr die Augen zufallen.

Nicht schon wieder, denke ich.

"Ich bin Noah.", höre ich ihn noch flüstern, bevor meine Augen endgültig zufallen.

Kapitel 8

Ich werde von lautem Geschrei wach.

"Du hast was?!", schreit jemand und ich reiße erschrocken die Augen auf. Sofort blendet mich helles Licht und ich verfluche dieses Arschloch, das noch nicht einmal eine scheiß Lampe ausschalten kann. Mistkerl! Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht und ich erkenne, wo ich bin. Es ist ein Schlafzimmer, das ich nicht kenne. Warum wache ich eigentlich jedes Mal in einem anderen Bett auf? Ich komme mir benutzt vor. Ich wandere von Bett zu Bett und das gehört sich nicht für eine Jungfrau wie mich. Es würde eher etwas für Tyson sein. Tyson! Scheiße, der wird  in die Luft gehen, wenn er merkt, dass ich nicht zuhause bin. Aber woher sollte er das wissen? Er wohnt wo anders und Nathan weiß gar nicht, dass ich nicht zuhause bin. Oder doch? Und was ist, wenn er bei mir läutet und keiner auf macht? Würde er wieder Tyson anrufen, um zu fragen, wo ich bin? Erst langsam wird mir bewusst, was ich gerade mache. Ich bin gerade in einem fremden Bett aufgewacht, wurde höchstwahrscheinlich wieder entführt und mache mir um Tyson Sorgen? Ja bin ich denn noch zu retten? Der Kerl ist mir scheißegal!

 

Ich lasse meinen Blick durch das Zimmer wandern. Links neben mir ist eine kleine Nachttischlampe. Wahrscheinlich die, die mich vorher geblendet hat. Aus Rache schalte ich sie aus. Ha! Das hast du es. Scheiß Ding. Gleich darauf stelle ich fest, dass ich nun im Dunkeln sitze und rein gar nichts sehe. Mist. Wütend darüber, auf die Lampe angewiesen zu sein, schalte ich sie wieder ein, sehe sie jedoch mit zusammengekniffenen Augen an.

Wir sind noch nicht fertig..., denke ich und mir wird schon im nächsten Augenblick bewusst, dass ich gerade einer Lampe gedroht habe. Einer Lampe. Nicht meinem Entführer, sondern seiner kleinen schwarzen Nachttischlampe. Seufzend reibe ich mir über die Stirn. Ich bin komplett übergeschnappt, jetzt ist es offiziell. Wer Lichtquellen droht, kann nicht normal sein.

 

Das Zimmer hat nicht besonders viele Möbel. Mal abgesehen von dem Bett, auf dem ich gerade sitze, dem kleinen Nachttisch daneben, einem kleinen Schrank an der gegenüberliegenden Wand und dem Kleiderschrank rechts von mir, ist das Zimmer ganz schön leer. Fast so, als ob jemand erst seit kurzem hier eingezogen ist.

 

Ich höre Schritte und lasse mich aufs Bett fallen. Vielleicht funktioniert der Trick ja diesmal.

"Das kann ich nicht glauben! So habe ich dich nicht erzogen, mein Lieber!", kommt es gedämpft von der anderen Seite der Tür. Es ist eine Frau, die im nächsten Augenblick schon die Tür aufreißt und ins Zimmer einmarschiert. Ich versuche ruhig zu atmen, was mir komischerweise auch gut gelingt. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Stirn und drücke instinktiv die Augen zusammen. Ich höre die Frau stutzen. Scheiße.

Widerwillig öffne ich die Augen. Sie hat mich schon gesehen, da würden mir auch die besten Schauspielkünste nicht helfen. Ich setze mich auf und schaue sie an. Ihre grünen Augen sehen mich freundlich an und langsam breitet sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht auf. Was hat 'n die für 'n Problem?

"Was?", frage ich schroff und schaue sie herausfordernd an. Ihr Mund öffnet sich und sie will wahrscheinlich irgendwas sagen, überlegt es sich in der letzten Sekunde jedoch anders. Fein. Ist auch gut. Ich sehe sie mir etwas genauer an. Sie hat lange, gelockte, schwarze Haare und grüne Augen. Diese Augen erinnern mich an jemanden, kann mich aber nicht erinnern an wen. Ist es vielleicht der Straßenpenner neben der Schule? Hab ich ihm überhaupt jemals in die Augen gesehen? Normalerweise versuche ich immer so schnell wie möglich an ihm vorbeizugehen, da er manchmal echt gruselig ist. Keine Ahnung warum, er sieht einfach so aus. Vielleicht sollte ich ihm mal in die Augen sehen...

 

Die Frau vor mir hat ein rotes T-Shirt und blaue Jeans an. Ihre Füße stecken in schwarze hochhackige Schuhe. Ihre Hand hat sie inzwischen schon von meiner Stirn genommen und spielt nun nervös mit ihren Haaren. Sie ist echt hübsch, muss ich zugeben.

"Geh nicht rein, sie darf dich nicht sehen!", flüstert jemand hektisch und schon im nächsten Moment taucht ein schwarzhaariger Kerl in der Tür auf. Seine grünen Augen, die nur ein bisschen heller sind, als die der Frau, sehen mich und er bleibt wie erstarrt stehen.

"Scheiße", murmelt er und kommt dann doch näher. Könnte es sein, dass die Augen der Frau, mich vielleicht an ihn erinnert haben? Nein...Sicher, sie haben die gleiche Augenfarbe, aber er ist es nicht. War es vielleicht doch der Straßenpenner? Ah, keine Ahnung.

"Du bist wohl wach...", stellt der Typ vor mir fest. Ich verdrehe die Augen.

"Nein, ich schlafwandle gerade. Idiot.", antworte ich genervt. Mir ist vollkommen bewusst, dass ich mich gerade sehr weit aus dem Fenster lehne, aber ich habe keine Angst. Irgendwie glaube ich, dass der Kerl mir nichts schlimmes antun wird. Er sieht nicht so aus, wie der Typ, wie hieß er noch gleich? Der, der mit der Kartoffel gesprochen hat? Magnus? Markus? Irgend sowas, keine Ahnung. Namen merken war noch nie meine Stärke. Der Kerl da vor mir hat einen neugierigen Blick drauf und mustert mich von oben bis unten. Es ist kein dreckiger Blick oder so, eher...naja...wie schon gesagt, neugierig.

 

"Was willst du von mir?", frage ich kühl und schaue ihn herausfordernd an. Es muss doch einen Grund haben, weshalb ich hierhin verschleppt worden bin. Plötzlich spüre ich etwas in meiner Hosentasche vibrieren und mir wird schlagartig bewusst, dass ich ein Handy bei mir habe. Gratulation, Maya! Anstatt Tyson anzurufen, als du vorhin aufgewacht bist, hast du dich mit einen verblödeten Lampe gestritten und jetzt sitzt du vor deinem Entführer und spürst plötzlich dein Handy?! Du bist dumm wie Stroh! Während ich den Kerl vor mir noch immer anschaue, ziehe ich mein Handy vorsichtig raus und schiele dann kurz auf das Display.

"Jungfrauenfeindlicher Arsch", steht auf dem Bildschirm und ich gebe ein leises Fluchen von mir. Scheiße. Was soll ich jetzt machen? Warum ruft er mich überhaupt um diese Uhrzeit an? Ein Blick auf die Uhr, rechts auf meinem Handy-Bildschirm verrät mir, dass es schon elf Uhr ist. Was will er um dieses Uhrzeit von mir?

"Tyson", flüstere ich leise und verstärke den Griff um mein Handy. Was soll ich jetzt tun, verdammt?

"Darf ich mal?", fragt der Kerl neben mir und wartet noch nicht einmal auf meine Antwort, sondern reißt mir einfach das kleine Gerät aus der Hand. Mit einem Grinsen nimmt er ab und hält sich das Telefon ans Ohr.

"Maya! Wo zur Hölle bist du? Wir suchen schon die ganze Zeit wie verrückt nach dir! Warum bist du um diese Uhrzeit nicht zuhause?!", schreit er und hört erst auf, als jemand:

"Tyson, jetzt beruhige dich doch mal." sagt. "Schrei sie nicht so an..." Ich erkenne Lucys Stimme und höre Tyson auf der anderen Seite laut ein und ausatmen.

"Bienchen...", murmelt er und ich muss lächeln. Er wird wohl nie aufhören, mich so zu nennen...Aber das ist okay. Irgendwie. Immerhin hab ich von ihm meinen ersten, lang ersehnten Spitznamen bekommen. Auch wenn er noch so kindisch ist und an Biene Maya erinnert, ist es trotzdem ein Spitzname. Mein Spitzname.

"Tyson." sage ich und versuche so ernst wie möglich zu klingen, was mir wegen dem ganzen Lächeln nur schwer gelingt.

"Noah.", mischt sich der Kerl vor mir grinsend ein und sieht mich an. Hat ihn jemand nach seinem Namen gefragt? Kann mich nicht daran erinnern. Aufgeblasener Arsch.

"Was?", fragt Tyson von der anderen Leitung und ich merke, wie sein Ton ernst geworden ist.

"Hallo Brüderchen", grinst Noah schelmisch und lacht daraufhin los. Die Frau, die bis jetzt nur lächelnd zwischen mir und Noah hin und hergesehen hat, erstarrt nun und blickt gedankenverloren aus dem Fenster hinter mir. Plötzlich wird mir schlagartig klar, was der Kerl gerade gesagt hat. Brüderchen. Er ist Tysons Bruder? Aber laut Lucy hat Tyson nur eine Schwester. Ob sie wohl eine Geschlechtsumwandlung hinter sich gebracht hat? Oder ist hier vielleicht von mehreren Geschwistern die Rede? Erst jetzt merke ich, wie wenig ich eigentlich von Tyson weiß. Außer, dass er ein Arschloch ist und etwas gegen Jungfrauen hat, weiß ich sonst nicht wirklich was über ihn. Wie lautet sein Familienname? Wie sieht seine Familie aus? Was sind seine Hobbys und was macht er Privat, wenn er mal nicht dabei ist, sich in Schwierigkeiten zu bringen oder mir den Arsch zu retten? All das sind Fragen, auf die ich keine Antworten habe. Und komischerweise stört mich das sehr. Ich sollte über den Kerl, dem ich mein Leben verschrieben habe, wenigstens das wissen. Oder nicht?

"Maya, was macht dieser Wichser bei dir?!", brüllt Tyson und ich zucke zusammen. Was er bei mir macht? Was mache ich bei ihm, sollte er eher fragen! Noah bricht in schallendes Gelächter aus und hält sich mit der freien Hand den Bauch. Sekunden vergehen, ehe er sich beruhigt und los redetet, während ich nur belämmert das Handy in Noahs Hand anstarre.

"Jetzt bleib ma' locker, Bruderherz. Die Kleine kann nichts dafür, hab sie ganz mies überfallen und hierher verschleppt. Aber sie hat Mumm, das muss man ihr lassen. Hat noch nicht mal vor Schreck geschrien, sondern mich gleich beleidigt, als sie wieder zu sich gekommen ist. Sie ist ganz schön süß." Ich sehe Noah mit zusammengekniffenen Augen an. Was zur Hölle ist mit der Menschheit passiert? Ist sie wirklich total verblödet? Ich. Bin. Nicht. Süß. Was gibt es daran nicht zu verstehen? Ich beleidige alles was atmet und werde dafür als "süß" bezeichnet. Das kann doch wohl nicht wahr sein, verdammt!

"Wo bist du, Arschloch?", knurrt Tyson und ich glaube sowas wie Knochen knacken zu hören. Alter, ist der wütend. Dem würde ich so ungern begegnen.  Noah sagt ihm freiwillig die Adresse auf und grinst schelmisch. Der Kerl ist wirklich lebensmüde.

 

Nachdem er aufgelegt hat, reicht er mir mein Handy lächelnd wieder zurück.

"Netter Name, dem du ihm da gegeben hast.", kichert er und zeigt auf mein Handy.  Nicht wahr? Sehr kreativ.

"Und jetzt?", frage ich und schaue mich im Raum um. "Hey, ist alles in Ordnung mit Ihnen?", frage ich die Frau, die verdächtig hin und her schwankt. Sie hat ihre Arme um sich geschlungen und fällt auf die Knie. Instinktiv renne ich zu ihr und stütze sie von hinten, dass sie nicht auf den Boden fällt. Ich höre sie schluchzen und schon im nächsten Moment setzt sich Noah zu uns und nimmt die Hand der Frau.

"Nicht schon wieder.", seufzt er und streichelt der Frau die Hand.

"Tyson...", bringt sie zwischen zwei Schluchzern hervor und beginnt zu zittern. Was ist nur mit ihr? Wortlos hebt Noah die Frau auf die Arme und legt sie in das Bett, in welchem ich vor kurzem noch gelegen bin. Er deckt sie zu und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Ist das vielleicht seine Mutter? Und somit auch Tysons Mutter? Wer ist diese bildhübsche Frau nur und warum hat sie plötzlich so reagiert?

Seufzend dreht Noah sich um und sieht mich an.

"Komm, wir müssen los. Wenn er vor uns da ist und uns nicht sieht, wird er die halbe Stadt auseinandernehmen.", sagt er und zieht mich wieder rauf. Soll ich ihn fragen, was gerade passiert ist? Ist es überhaupt in Ordnung, mit dem Kerl zu reden? Er hat mich entführt!

Aber er schein nett zu sein...immerhin hätte er dich auch fesseln können und dir nicht erlauben müssen, alleine zu gehen, sagt mir eine Stimme in meinem Kopf und irgendwie muss ich ihr Recht geben. Trotzdem geht mich das nichts an. Ich sollte meine Nase nicht in fremde Angelegenheiten stecken. Noch mehr Stress und Probleme brauche ich nicht.

"Wenn du Tyson siehst...erzähl ihm nichts von der Frau von eben.", sagt er und sieht mir in die Augen.

"Bitte.", fügt er noch hinzu und ich merke, wie viel Kraft es ihn gekostet hat, das zu machen. Er meint es ernst. Tyson soll von ihr nichts erfahren, wieso auch immer. Ich zucke mit den Schultern.

"Ich werde nichts sagen, sollte er mich aber danach fragen, dann werde ich ihn nicht anlügen." Die Chance, dass Tyson mich nach dieser Frau fragt, ist minimal und das wissen wir beide. Deswegen nickt Noah nur und flüstert ein "Danke", was ich ignoriere. Er muss sich nicht bedanken, schließlich hab ich ihm keinen Gefallen getan. Jedenfalls nicht direkt.

 

Nach ungefähr zehn Minuten Gehen, bleiben wir stehen. Vor mir sind zwei Holzbänke zu sehen. Ohne auf Noah zu achten, steuere ich auf eine zu und setze mich hin. Seufzend hebe ich meinen Kopf und sehe in den Himmel. Der helle Mond erhellt ein wenig meine Umgebung. Man kann trotz nicht vorhandener Straßenbeleuchtung noch einiges erkennen.

 

Die Bäume um mich herum rascheln im starken Wind und ich spüre, wie ich langsam eine Gänsehaut bekomme. Ich beginne zu zittern und schlinge meine Arme um mich. Scheiße, warum ist es plötzlich so kalt geworden? Plötzlich fällt mir was ein.

"Sag mal, kann's sein, dass ihr mir meine Jacke ausgezogen habt? Soviel ich weiß, hab ich nämlich eine angehabt, bevor du mich...zu dir eingeladen hast." Er grinst entschuldigend und sagt:

"Könnte stimmen. Ich wollte nicht, dass du in der Jacke aufwachst. Die hätte ja voll gestört, oder?" Wieder erhellt ein Grinsen sein Gesicht und ich frage mich, was mit ihm nicht stimmt.

"Bist du immer so nett zu deinen Opfern? Das ist nicht gerade normal, wie du mit mir umgehst. Du bist freundlich. Da stimmt doch was nicht." Er setzt sich neben mir auf die Bank und sieht gedankenverloren in den Himmel. Der Vollmond ist wirklich wunderschön. Wie es wohl wäre, einmal zum Mond zu fliegen? Sicher komplett abgefahren.

"Bin ich nicht. Eigentlich wollte ich dich in Ruhe lassen. Aber dann kam diese Idee und sie wollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.", sagt er und sieht mich an. "Welche Idee?" Er reibt sich die Stirn und fährt fort.

"Tyson dazu zu bringen, mir endlich zu zuhören. " gibt er zu. "Und da ich euch letztens im Cafe gemeinsam gesehen habe, dachte ich, ich könnte ihn vielleicht mit deiner Hilfe hier her locken. Wie lange habe ich schon nach einem Weg gesucht, mit ihm zu reden."

 "Und?" Er schnaubt.

"Du kannst dir ja vorstellen wie er reagiert hat. Ist auf mich losgegangen. Der Kerl hasst mich. Aus tiefster Seele. Und unser beschissener Vater ist schuld daran." Aber warum hat Tyson dann nach ihm gesucht? Er hat doch zu Michael gesagt, er solle ihn anrufen, wenn er ihn das nächste Mal sieht. Er hat nichts von umlegen gesagt. Beweist das nicht, dass er vielleicht doch dazu bereit ist, ihm zu zuhören?

Ich seufze. Diese Kerle sind viel zu kompliziert für mein faules Gehirn. Ich will nicht über sie nachdenken, schließlich ist das wirklich nicht mein Problem. Ich will damit nichts zu tun haben. Punkt.

"Bist du dir da sicher?", frage ich schon im nächsten Moment und ich verdrehe innerlich die Augen. Fick dich, Gehirn! Was unter "Es geht mich nichts an" verstehst du nicht?! Hör auf, darüber nachzudenken!

"Ja.", murmelt er und lässt den Kopf sinken. Er sieht in diesem Moment so verletzlich aus. So sehr, dass er mir leid tut. Ich streichle ihm über den Rücken und sehe über die Tatsache hinweg, dass ich eigentlich von ihm entführt wurde. Er ist Tysons Bruder und anscheinend sehr verletzt.

 

"Maya!", ruft jemand und ich schrecke hoch. Es ist Tysons Stimme. Unsicher stehe ich auf. Wie ist er wohl drauf? Ist er sauer auf mich? Oder enttäuscht von mir? Vielleicht sogar besorgt? Ich schüttle den Kopf. Seit wann interessiert mich das? Seine Launen gehen mir doch sowieso am Arsch vorbei. Er reißt mich am Arm von Noah weg und schiebt mich hinter sich.

"Alles okay?", fragt er und sieht ein wenig - aber nur ein wenig! - besorgt aus. Ein schlechtes Gewissen beschleicht mich. Ich habe mich hier mit Noah unterhalten, während er und die anderen wahrscheinlich Himmel und Hölle abgesucht haben, nur um mich zu finden. Ich bin ein Arschloch. Und zwar ein richtig großes.

Betreten nicke ich und spüre, wie sein Griff um meinen Arm leichter wird. Und dann, bevor ich überhaupt merke, was gerade passiert, höre ich einen überraschten Schrei. Mein Kopf schnellt in die Richtung, aus der der Schrei gekommen ist und sehe Tyson, wie er auf Noah einschlägt. Ein Schrei entweicht auch mir und ich renne zu ihnen.

"Tyson! Lass ihn, verdammt!", schreie ich und versuche ihn von Noah zu entfernen. Er hält mitten in der Bewegung inne und sieht mich wütend an.

"Warum?!", brüllt er und ich zucke zusammen.

"Er hat mir nichts getan.", sage ich ruhig. Wenn ich jetzt zurückbrüllen würde, würde es nur noch schlimmer werden.

"Er hat dich entführt, verdammt! Dir ist es vielleicht egal, weil er dir nichts schlimmes angetan hat, aber mir nicht. Ich trage die Verantwortung für dich Maya! Und keiner darf dich auch nur anfassen, ohne meine Erlaubnis. Hast du das verstanden!?", brüllt er mich jetzt an und seine Blicke könnten töten. Stumm nicke ich nur, als er schon wieder auf ihn einschlägt und diesmal sein Gesicht bearbeitet. Plötzlich packt mich eine ungeheure Wut. Er hat mich angeschrien! Wie kann er es wagen, mich anzuschreien?! Und meine Einwände zu ignorieren? Ich höre Nathan unter ihm stöhnen und das gibt mir den Rest. Keine Ahnung, woher ich die Kraft herbekommen habe, aber irgendwie schaffe ich es, ihn von Noah runter zuschieben. Er versucht sich zu wehren, doch ich setze mich einfach auf ihn drauf. Er könnte mich wieder runter schubsen, das weiß ich. Aber er tut es nicht. Er sieht mich nur an und ich muss schlucken. Sein Blick ist so...leer. Als hätte er all seine Gefühle ausgeschaltet und eine Mauer um sie errichtet. Irgendwie gefällt mir das nicht. So will ich ihn nicht sehen. Niemals.

 

"Hörst du mir jetzt endlich zu?", fragt Noah und denkt anscheinend noch nicht einmal im Traum daran, vom Boden aufzustehen. Er denkt wohl, ich bin so schwer wie ein Walross und Tyson könnte mich nicht einfach so wegpusten wie eine Pusteblume. Arschloch. Man muss sich Tyson nur ansehen, um zu merken, dass er sogar ein Walross bewegen könnte. Allein seine muskulösen Arme, die er gerade um meine Hüften legt, sprechen für sich. Die Berührung seiner Hände erzeugt eine Gänsehaut auf meiner Haut und ich muss schlucken.

Noah wartet noch nicht einmal auf seine Antwort, sondern plappert einfach darauf los.

"Traver hat dich verarscht, Tyson. All die Jahre hat er dich verarscht. Und du bist drauf reingefallen.", sagt er und sieht in unsere Richtung.

"Rede nicht so über meinen Vater! Er ist tot!", brüllt Tyson und verstärkt den Druck seiner Hände, die nach wie vor auf meinen Hüften liegen.

"Er ist auch mein Vater, verdammt! Und glaube mir, ich würde alles tun, um das zu ändern." Er lacht verächtlich auf. "Und tot ist dieses Arschloch erst recht nicht." Das hat das Fass zum überlaufen gebracht. Tyson schiebt mich von sich und mein Arsch schließt Freundschaft mit dem Boden. So ein Idiot!

Er stürzt sich wieder auf Noah und drückt seine Hände links und rechts neben seinem Kopf, sodass er sich nicht wehren kann.

"Wage es nicht, so über meinen Vater zu sprechen. Er ist mein Vater. Nicht deiner. Deiner schwängert gerade wahrscheinlich wieder eine verheiratete Frau, wie er es bei der Frau meines Vaters getan hat.", zischt er ihm ins Ohr. Bitte was? Noah ist sichtlich verletzt.

"Er ist auch mein Vater, Tyson. Ich bin dein Bruder."

Tyson lacht humorlos auf. "Du bist nicht mein Bruder." , stößt er aus und sieht ihn an, als sei er eine Kakerlake. Oder eine Jungfrau. Ich weiß noch nicht einmal, ob es bei Tyson da einen großen Unterscheid gibt.

"Du kennst nicht die ganze Geschichte. Traver hat dich verarscht." sagt er und atmet zischend die Luft wieder ein. Tyson hält seine beiden Hände nun mit nur einer Hand und holt mit der anderen etwas unter seinem T-Shirt raus. Es glitzert kurz im Mondlicht und als er es ihm an die Wange hält, wird mir sofort bewusst, was das ist. Es ist ein Messer. Scheiße. Er würde ihn doch nicht...?

"Du solltest über tote Menschen nicht schlecht reden. Du weißt nie, wann sie kommen werden, um dich zu holen.", sagt er in gespielt besorgtem Ton. Damit drückt er ihm das Messer fester an seine Wange. Dann bohrt er die Spitze ins Fleisch und bewegt es weiter runter. Als er das Messer wieder entfernt, kommt ein tiefer Kratzer zum Vorschein. Langsam rinnt Blut heraus und ich muss schlucken. Scheiße, Tyson ist wütend. Und zwar so richtig! So hab ich ihn noch nie gesehen!

 

"Er ist nicht tot, verdammt! Er lebt! Hat er schon die ganze Zeit über getan. Er will Rache! Rache an Mum!", schreit Noah jetzt und schlägt Tyson das Messer aus der Hand.

"Wie zu Hölle soll ein toter Mann an einer ebenso toten Frau Rache nehmen? Du bist krank!", brüllt Tyson und steht auf. Er entfernt sich ein paar Schritte, holt wieder etwas unter seinem T-Shirt heraus und zielt auf Noah. Ah du heilige Scheiße! Er will ihn doch nicht erschießen, oder? Oder?!

"Ich kann dich nicht leiden, Kleiner. Konnte ich noch nie. Falls du denkst, mich verarschen zu können, dann irrst du dich. Beide sind tot und um die Schlampe trauere ich kein Bisschen. Sie hat es nicht anders verdient. Von mir aus kann sie ruhig in der Hölle schmoren." Mit diesen Worten entlädt er die Knarre und genau in diesem Moment erwache ich aus meiner Schockstarre. Ich hab noch nicht einmal bemerkt, dass ich in einer verfallen bin.

 

"Tyson! Verflucht, kontrolliere dich!", schreie ich und renne auf ihn zu. Ich sehe ihn schlucken. Unsicherheit spiegelt sich in seinem Blick wieder und mir wird bewusst, dass er aus reiner Wut handelt. Er will Noah nicht umbringen nur weiß er eben nicht, was er mit dieser ganzen Wut und Verwirrtheit, an die Noah schuld ist, machen soll. Da erscheint ihm das Töten als die beste Lösung, was mich nicht wundert. Noah ist sicher nicht der Einzige, bei dem er das jemals gedacht hat. Da bin ich mir sicher.

 

"Tyson!" schreie ich und hebe seinen Arm in die Höhe. Er zuckt zusammen und schon im nächsten Moment ertönt ein Schuss. Seine Augen weiten sich und sein Kopf schnellt zu Noah rüber. Dieser sieht ihn ebenfalls erschrocken an und seine Augen schließen sich für einen Moment. Dann verändert sich sein Gesichtsausdruck. Er ist sichtlich erleichtert darüber, dass Tyson ihn verfehlt hat. Dabei hat er nur geschossen, weil ich ihn erschreckt habe. Ich hoffe, dass das Noah bewusst ist.

 Ich sehe, wie die Lichter in den Verschiedenen Gebäuden drum herum eingeschaltet werden und sehe Tyson abwartend an. Worauf wartet er denn noch, verdammt? Darauf, dass sie uns kriegen?

"Hey", flüstere ich und nehme sein Gesicht in meine Hände. Er zittert am ganzen Körper und lässt die Waffe fallen.

"Alles Gut...", flüstere ich ihm zu und hebe die Waffe auf, wobei eine Hand auf seiner Wange bleibt.

"Tyson!", brüllt jemand und rennt auf uns zu. Dahinter erscheint noch eine Person. Als sie vor uns stehen bleiben, erkenne ich Nathan und Lucy. Als Nathan Noah bemerkt, verfinstert sich sein Gesichtsausdruck schlagartig. Ich habe keine Zeit, um darauf zu achten, die anderen Menschen könnten jeden Augenblick bemerken, was hier los ist und die Polizei rufen. Schnell drücke ich Lucy die Waffe in die Hand, gehe zu Nathan rüber und hebe auch das Messer auf, mit dem Tyson ihm zuerst gedroht hat.

"Kannst du aufstehen?", frage ich ihn und beuge mich zu ihm runter. Er nickt. "Dann geh Nachhause. Schnell.", flüstere ich und richte mich wieder auf. Dann gehe ich zu Lucy und gebe ihr auch das Messer. Einen letzten Blick auf Noah werfend, drehe ich mich schon um und lege Tyson einen Arm um ihn. Sanft ziehe ich ihn mit mir mit und wir folgen Nathan und Lucy, die glücklicherweise vor uns gehen und uns zu Tysons Auto führen. Nathan übernimmt das Fahren und Lucy leistet ihm auf dem Beifahrersitz Gesellschaft. Den ganzen Weg über sitzt Tyson neben mir auf dem Rücksitz und starrt wie verloren aus dem Fenster.

 

Bei Tyson zuhause angekommen, stürmt er in sein Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Lucy, Nathan und ich sehen ihm überrascht hinterher.

"Ich mach was zu essen.", sagt Lucy nach einer Weile seufzend, überreicht Nathan die Waffen und geht in die Küche. Es ist inzwischen schon nach Mitternacht, was will sie denn jetzt kochen?

"Ich sehe nach Tyson.", sage ich und werde plötzlich von Nathan aufgehalten. Er hebt die Hand und sagt mir somit, zu warten. Ich schaue ihn fragend an, als ich plötzlich ein lautes Krachen aus dem Gang höre. Und noch einmal.

"Ist das Tyson?", frage ich flüsternd. Warum flüstere ich? Bei dem Lärm würde er noch nicht einmal eine Helikopter hören. Ein Nicken von Nathan bestätigt meine Annahme und ich drehe mich um. Nathan öffnet im Vorzimmer die erste Tür rechts und verschwindet darin. Was da wohl drinnen ist? Schulterzuckend gehe ich den weißen Gang entlang und bleibe bei der zweiten Türe auf der linken Seite stehen. Das Geräusch von kaputtem Glas ertönt und ich reiße sofort die Zimmertüre auf.

 

Das sitzt Tyson. Wie ein kleines Kind sitzt er da auf seinem Bett und ist über irgendetwas gebeugt. Ich nähere mich ihm langsam und schaue ihm über die Schulter.

"Wer sind die?", frage ich und zeige von hinten auf ein Foto. Er sagt nichts und ich gehe um das Bett und bleibe vor ihm stehen. Auch ich beuge mich über das Foto und schaue mir die Gesichter interessiert an. Da steht ein Mann mit braunen Haaren und dunklen Augen in einem Anzug vor einem riesigen Glasgebäude und lächelt stolz, in den Armen eine Frau haltend. Sie hat blonde, schulterlange Haare und lächelt liebevoll in die Kamera. Vor ihnen sind zwei Kinder. Ein kleines braunhaariges Mädchen mit braunen Haaren, die zu zwei Zöpfen gebunden sind und ebenfalls dunklen Augen. Sie lächelt süß und hält mit dem kleinen Jungen neben ihr Händchen. Der Junge hat schwarze Haare und seine Augen strahlen leuchtend Grün. Sein Gesicht wirkt glücklich und auch er grinst zuckersüß in die Kamera. Das ist Tyson, ohne Zweifel.

 

"Meine Familie.", murmelt er und will das Bild weglegen, doch ich halte ihn am Arm fest.

"Kann ich mal?", frage ich und greife schon nach dem Bild. Nach langem Überlegen, reicht er es mir endlich und ich schaue es mir genauer an. Das Gebäude im Hintergrund kenne ich, bin schon oft genug daran vorbei gegangen. Es ist ein sehr berühmtes Spielentwicklungsunternehmen. Michael hat oft genug davon geschwärmt, wie cool es doch wäre, dort arbeiten zu können und wie gut es die Angestellten es dort doch haben.

Gedankenverloren streiche ich über das hübsche Gesicht des Mini-Tysons und stutze. Hinter dem Foto ertaste ich etwas. Verwirrt drehe ich es um und sehe, dass jemand etwas darauf geklebt hat. Das kleine Stück Papier wurde mit einem Klebeband befestigt und langsam beginne ich, das Klebeband zu lösen. Tyson beobachtet jede meiner Bewegungen und anscheinend stört es ihn nicht, denn er sagt nichts.

 

Ich löse das Klebeband nicht komplett, sondern nur so viel, bis ich das Papier umdrehen kann und die Vorderseite zu sehen bekomme. Es ist ein weiteres Foto, diesmal mit einem Mann, einer Frau und dem Mini-Tyson darauf. Mal abgesehen von dem Mini-Tyson, ist die Frau das erste, was meine Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Die langen, gelockten schwarzen Haare, die grünen Augen, die mich an jemanden erinnert haben und ich nicht wusste an wen, all das habe ich heute schon gesehen. Auf dem Foto hat sie ein hellblaues, luftiges Kleidchen an und hält den Mini-Tyson eng umschlungen in dem Arm. Dieser grinst wie ein Honigkuchenpferd in die Kamera und lächelt mit der Frau um die Wette. Tyson wirkt  auf diesem Foto ein bisschen jünger als auf dem vorigen.

 

Der Mann hingegen hat braunes Haar und dunkle, fast schwarze Augen und starrt gefühlskalt in die Kamera. Er ist das komplette Gegenteil von Tyson und der Frau, die zuckersüß lächeln.

"Ist das deine Mutter?", frage ich und versuche so ruhig wie möglich zu klingen. Das ist die Frau von heute. Die, die zusammengebrochen ist!

"Nein. Sie ist die Frau, die meinen Vater  betrogen hat, uns verlassen und dann diesen Bastard auf die Welt gebracht hat.", sagt er kalt und mir ist durchaus bewusst, wen er mit "Bastard" meint. Noah.

"Wo ist sie?" Er zuckt mit den Schultern.

"Tot. Was anderes hat sie auch nicht verdient.", murmelt er und sieht das Foto hasserfüllt an.

"Und der Mann?", frage ich noch und zeige auf den braunhaarigen Mann.

"Mein Vater. Auch tot." Er lässt den Kopf sinken, was für mich ein Zeichen ist, mit der Fragerei aufzuhören. Für Heute reicht es.

 

Irgendetwas stimm da nicht. Tyson denkt, dass beide tot sind. Noah behauptet, beide würden leben und einen von ihnen habe ich sogar persönlich gesehen. Ich weiß jetzt, an wen mich die Frau mit ihren Augen erinnert hat. An Tyson. Sie hat mich definitiv an Tyson erinnert. Und wessen Vater ist jetzt der Kerl auf dem Foto? Nur Tysons oder doch Tysons und Noahs? Falls er der Vater von beiden ist, dann verstehe ich nicht, warum Tyson glaubt, seine Mutter habe seinen Vater betrogen. Verwirrt schüttle ich den Kopf. Das ist viel zu viel für mich. Ich habe eigentlich vor gehabt, mich da raus zu halten. Genervt bemerke ich, dass es schon viel zu spät ist. Ich bin mitten drinnen und werde da wahrscheinlich auch nie mehr wieder rauskommen.

 

"Ich habe ihn fast umgebracht", flüstert er und verdeckt sein Gesicht in seine Hände. Oh nein, hoffentlich weint er nicht. Bitte nicht.

"Hast du nicht", flüstere ich und versuche ihn zu beruhigen. Er meint Noah.

 

Ich klebe das kleine Bild wieder fest und lege dann das große Bild neben ihm auf den Nachttisch. Dann knie ich mich vor ihm hin und nehme sein Gesicht in beide Hände.

"Ich habe abgedrückt.", bringt er heiser heraus. Ich schüttle den Kopf.

"Nur weil ich dich erschreckt habe. Du hast gezögert, Tyson. Hättest du ihn wirklich tot sehen wollen, hättest du sofort abgedrückt." Damit ziehe ich ihn an mich und er vergräbt sein Gesicht in meiner Halsbeuge, so, als wäre es das normalste auf der Welt. Und ich lasse es zu. Er braucht Trost und ich bin bereit, es ihm zu geben. Er hat es nicht leicht.

Da wo Hass ist, ist auch automatisch Liebe. Er hasst Noah, weil seine Mutter seinen Vater und ihn wegen ihm verlassen hat. Und er hasst seine Mutter dafür. Trotzdem liebt er seine Mutter irgendwie noch, sonst würde er ja wohl kaum ein Bild von ihr besitzen. Und Noah...ich kann jetzt nicht sagen, dass er ihn liebt. Aber ich kann sagen, dass er ihn nicht so sehr hasst, wie er es vorgibt zu tun. Er ist sein Bruder, wenn auch nur halb. Und wenn er ihn wirklich hassen würde, hätte er dann diese Schuldgefühle? Nein.

 

Wir bleiben so eine Weile und ich fahre ihm beruhigend durchs Haar. Er drückt sich noch näher an mich und lässt sich dann nach hinten auf das Bett fallen und zieht mich dabei mit sich. Ich liege jetzt auf ihm, doch ich traue mich nicht, mich zu bewegen, denn er ist kurz davor einzuschlafen. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst bin: Ich will gar nicht weg. Es fühlt sich irgendwie gut an, bei ihm zu sein. Ich kann es nicht besser erklären, ich weiß nur, dass es sich klasse anfühlt und ich so lange wie möglich so neben oder besser gesagt auf ihm liegen bleiben möchte.

"Bienchen...", murmelt er, während ich ihm immer wieder durch sein schwarzes Haar fahre und ein leichtes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Er sieht mich an und ich kann ihn sowas wie zurücklächeln sehen.

"Ich bin hier", antworte ich und sehe ihm dabei zu, wie er die Augen schließt. Er sieht so süß aus, wenn er schläft. So unschuldig und wunderschön. Wie ein Engel.

 

Irgendwann lasse ich meinen Kopf auf seine Brust sinken und lausche seinem Herzschlag. Ich merke wie ich immer müder werde und mir die Augen irgendwann automatisch zufallen. Mit meiner Hand in seinem Haar und einem leichten Lächeln im Gesicht, schlafe ich ein.

Kapitel 9

Leute. Leute? Oh mein Gott! Nathan! Hol die Kamera her, schnell!", kreischt jemand in gefährlich hohem Ton und ich verfluche jeden einzelnen Opernsänger auf dieser Welt. Das wievielte Mal ist das jetzt, dass ich so unsanft aus dem Schlaf gerissen werde? Wann werde ich endlich mal gemütlich aufwachen? Wann?

"Halt's Maul, Lucy...", murmelt Tyson neben mir und ich füge ein "Sofort oder ich leg dich um", murmelnd hinzu.

"Was ist denn?", fragt jetzt Nathan, der gerade ins Zimmer kommt. Seufzend richte ich mich auf. Ich werde sowieso nicht mehr schlafen können. Da kann ich ihnen auch gleich den restlichen Tag zur Hölle machen, als Rache dafür, mich aufgeweckt zu haben. Obwohl...eigentlich ist nur Lucy daran schuld. Ich werde sie heute an Leonie verfüttern, das ist schon mal klar.

Kurz dreht sich der ganze Raum und ich spüre etwas warmes an meiner Wange. Tyson hat mich wieder zu sich gezogen und meinen Kopf auf seinen Arm platziert. Und ich Kartoffel habe mal wieder nichts davon bemerkt. Ist ja ganz toll. Er könnte mich genauso gut steinigen, ich würde vor Müdigkeit wahrscheinlich eh nichts mitbekommen.

Plötzlich holt mich ein grelles Licht aus den Gedanken. Lucys Gekicher und das "Zeig mal her", das sie Nathan zuflüstert, lässt mich ahnen, dass sie ihr heiß geliebtes Foto bekommen haben. Wenn ich das Foto jemals im Internet finde, können die sich auf was gefasst machen.

Ich drohe wieder, einzuschlafen, als mir Tyson plötzlich zuflüstert:

 

"Wenn wir jetzt nicht aufstehen, bleiben wir wahrscheinlich den ganzen Tag hier liegen. Und du musst in die Schule, ich will kein dummes Mädchen als Assistentin haben." Mich überkommt eine Gänsehaut und ich stehe ruckartig auf. Er darf nicht merken, wie ich auf ihn reagiere. Das würde sein Ego nur noch mehr aufplustern, was ich liebend gern verhindern würde.

 

"Ich habe Pfannkuchen gemacht", flüstert Lucy mir zu und ich folge ihr in die Küche. Auf dem Weg höre ich Nathan und Tyson noch reden, aber ich achte nicht wirklich darauf, denn seitdem Lucy das Wort "Pfannkuchen" erwähnt hat, denke ich an nichts anderes mehr.

Nach dem Frühstück hat Nathan uns angeboten, uns zur Schule zu fahren, da Tyson noch etwas zu erledigen hat. Ich als seine Assistentin sollte natürlich wissen, was, aber leider wollte er es mir nicht sagen.

 

"Musst du nicht wissen. Und jetzt los, ihr kommst noch zu spät", hat er gesagt und Lucy und mich aus der Wohnung geschoben.

 

Er benimmt sich komisch, denke ich. Den ganzen Morgen über hat er nur still vor sich hin gegrübelt und sich an keiner unserer Unterhaltungen beteiligt. Irgendwie passt das gar nicht zu ihm. Er hätte mir normalerweise mindestens fünf Beleidigungen oder bescheuerte Sprüche an den Kopf geworfen. Immerhin hat eine Jungfrau seine Küche betreten, das hätte er doch ausnützen und mich fertigmachen können! Ob es wohl an den Geschehnissen von Gestern liegt? Wahrscheinlich.

 

"Wir sind da.", holt mich Nathans Stimme aus den Gedanken. Verdutzt starre ich das Gebäude in dem Nathan und ich wohnen, an. Seit wann gehe ich denn bitte hier zur Schule?

 

"Was heißt hier, wir sind da? Das ist nicht unsere Schule.", frage ich. Er hebt eine Augenbraue und fragt in amüsiertem Tonfall:

 

"Du willst doch nicht in den selben Klamotten zur Schule gehen, die du gestern schon angehabt hast, oder? Tausche wenigstens das T-Shirt. Das kommt doch komisch rüber, oder? Wer weiß, was die denken werden...". Den letzten Satz murmelt er eher, was man nur schwer verstehen kann. Schulterzuckend steige ich aus.

 

"Kommt ihr mit?", frage ich in die Runde. Sie sehen sich einen Moment ratlos an.

 

"Meinst du das ernst?", fragt Nathan und ich schnaube.

 

"Nein du Idiot, ich nehm dich auf 'm Arm.", meine ich sarkastisch und Lucy springt förmlich aus dem Auto.

 

"Du musst ihr Zimmer sehen! Das ist so riesig!", schwärmt sie hinter mir. Fragend hebe ich eine Augenbraue.

 

"Ahja? Woher weißt denn du das? Soviel ich weiß, warst du das letzte Mal nur in der Küche." Sie wirkt ertappt. Aha. Erwischt. Sollte ich sauer sein? Wahrscheinlich. Bin ich es? Eher nicht. Ist ja nicht so, dass ich irgendwas zu verstecken habe. Besonders viel gibt es in meinem Zimmer sowieso nicht zu sehen, es ist ja immer noch sehr leer... Zum Dekorieren bin ich ja nicht gekommen.

 

"Vielleicht...habe ich mich ein wenig umgesehen, als du duschen warst...", gibt sie peinlich berührt zu. Ich sehe sie einen Moment nur stumm an und versuche einen tötenden Blick hin zu bekommen. Sie schluckt und murmelt dann ein:

 

"Tut mir leid..", während sie den Boden anschaut. Was gibt es denn da unten so schönes zu sehen? Ich verändere meinen Blick nicht, noch nicht einmal, als sie mir in die Augen sieht.

 

"Jetzt sag doch mal was..", bittet sie und sieht mich sichtlich nervös an. Ich kann nicht mehr. Ein Grinsen schleicht sich auf mein Gesicht und ich versuche noch nicht einmal, es zu verstecken.

 

"Kommt schon.", sage ich lächelnd und schubse Lucy ins Gebäude. Nathan schüttelt hinter uns ungläubig den Kopf, murmelt ein "Frauen...echt..." und folgt uns dann.

In meiner Wohnung angekommen, zeige ich ihnen zuerst mein Zimmer, bevor ich sie wieder hinaus scheuche, um mich umzuziehen. An Duschen kann ich jetzt nicht denken, wir sind schon viel zu Spät dran. Hastig suche ich mir irgendwelche Sachen zusammen und ziehe mich an. Ich bürste noch schnell meine Haare und werfe noch einen letzten Blick in den Spiegel. Ist sehe zwar nicht umwerfend aus, aber...akzeptabel. Wem es nicht passt, der muss nicht hinsehen. Fall gelöst.

"Bist du fertig?", fragt Lucy und kommt rein. Anklopfen sagt ihr wohl nichts... Ich seufze.

"Ja...wir können gehen." Sie folgt mir nach draußen und wir sammeln Nathan ein, der allein im Wohnzimmer sitzt. Als alle vor mir die Wohnung verlassen haben, schließe ich ab.

 

"Ich komm gleich. Muss nur schnell was erledigen.", sagt Nathan und verschwindet durch die linke Tür im Gang. Was braucht er denn jetzt aus seiner Wohnung?

 

"Oh Mann, wir sollten uns echt beeilen...", murmelt Lucy und zappelt nervös rum. Sie erinnert mich an einen Fisch im Trockenen und ich muss grinsen. Verdammt, mir geht das Bild einfach nicht mehr aus dem Kopf.

 

"Was ist los?", fragt Lucy und sieht mich fragend an. Ich zucken mit den Schultern.

 

"Du zappelt lustig, wenn du nervös bist.", antworte ich wahrheitsgemäß. Sie kichert kurz und antwortet dann:

 

"Ich weiß... das hat mir Tyson schon öfters gesagt." Tyson. Was der jetzt wohl macht? Wie geht es ihm? Ist er noch immer so drauf wegen gestern? Verwirrt schüttle ich den Kopf. Stop, Maya. Lass es einfach. Du kannst ihm nicht helfen. Mehr als ihn zu trösten, kann du nicht machen, sagt mir eine Stimme im Kopf.

Noch nicht mal das konnte ich richtig machen...Er ist noch immer deprimiert, denke ich.

 

"Lucy...weißt du vielleicht etwas über Tysons Familie?", frage ich und kann nicht glauben, wie dämlich ich eigentlich bin! Was unter "Stop, Maya", verstehst du eigentlich nicht, Gehirn?! Wozu hab ich dich überhaupt, wenn du noch nicht einmal das kapierst? Ich versuche die Situation irgendwie zu retten. Es ist mir irgendwie peinlich, Lucy über Tyson auszufragen aber was soll ich sonst machen? Mein Gehirn ist schuld daran.

 

"Ich dachte, da ihr euch ja so nahe seid...", murmle ich und sehe sie eine Augenbraue heben. Warum sieht das bei ihr so komisch aus?

 

"Was tust du da?", frage ich sie verständnislos und sie zuckt mit den Schultern. "Ich hebe eine Augenbraue. Hab das bei Tyson und dir oft gesehen, dachte es sieht cool aus.", erklärt sie und startet noch einen Versuch.

 

"Lass das. Bitte. Du siehst aus wie ein krepierendes Frettchen.", erkläre ich und sie schnappt empört nach Luft. Was denn? Ist es nicht besser, dass ich es ihr sage, bevor es irgendwer anderer tut? Sie schüttelt den Kopf und setzt einen ernsten Gesichtsausdruck auf.

 

"Da fragst du die Falsche. Das einzige was ich weiß, ist, dass er als kleiner Junge adoptiert wurde, warum auch immer. Den genauen Grund kenne ich nicht. Er hat jahrelang bei seiner Adoptivfamilie gelebt, bis er sich irgendwann dazu entschieden hat, alleine zu wohnen. Mehr weiß ich auch nicht. Er spricht nicht gerne darüber. Der einzige, der dir was über seine Familie, also seine echte erzählen könnte, ist Nathan. Aber so wie ich ihn kenne, wird er dir nicht viel sagen. "

 

"Oh...", sage ich enttäuscht. Sie vertrauen mir wohl noch nicht ganz. Wen wundert's auch, du bist vollkommen unzuverlässig, meldet sich mal wieder mein wunderbares Gehirn. Dankeschön. Tysons Geheimnis scheint viel größer zu sein, als ich erwartet habe.

 

"Nimm das nicht persönlich. Wie du gemerkt hast, weiß auch ich nicht besonders viel darüber Bescheid. Die beiden sind beste Freunde. Nein, noch mehr als das. Sie sind Brüder. Die haben so viel zusammen erlebt...Viel mehr, als wir es uns überhaupt vorstellen können. Sie sind schon seit Kindertagen miteinander befreundet. Vielleicht verstehst du jetzt, warum Nathan dir nicht viel sagen wird. Er will Tysons Vertrauen nicht missbrauchen.", erklärt sie schnell, ohne auch nur einmal nach Luft zu schnappen. Wow, hat die gute Lungen.

Ich verstehe es...irgendwie. Ich würde auch nicht wollen, wenn Mich- ups. Ich vergaß, ich hab ja gar keinen besten Freund mehr. Okay, dann nehmen wir einfach Lucy. Nicht, weil ich sie nach so kurzer Zeit als beste Freundin sehe, sondern weil sie einfach gerade da ist. Ich würde nicht wollen, dass sie irgendeiner daher gelaufenen Jungfrau einfach so meine Lebensgeschichte erzählt. Ich würde ihr nie mehr wieder vertrauen, das steht fest.

 

"Bin wieder da", ertönt plötzlich eine Stimme hinter uns und wir zucken zusammen. Da steht Nathan mit einem schiefen Grinsen im Gesicht und einem hellgrünen Zettel in der Hand. Lucy und ich tauschen einen Blick miteinander und richten ihn dann wieder auf Nathan.

 

"Was denn? Ist 'n Einkaufszettel. Gott, ihr tut ja so, als wäre ich ein Alien.", beklagt er sich und geht vor uns die Betontreppen runter. Lachend folgen wir ihm. Wir werden wahrscheinlich zu spät kommen, aber das ist mir gerade ziemlich egal.

 

 

In der Schule angekommen, fällt mir ein, dass ich meine Schulsachen gar nicht mithabe. In Gedanken schlage ich meinen Kopf gerade gegen die Wand. Fünf Mal hintereinander. Tja, das passiert, wenn man sich beeilt um rechtzeitig in die Schule zu kommen. Was mache ich jetzt? Ich hätte genauso gut zuhause bleiben können.

 

"Hast du deine Sachen auch nicht mit?", fragt Lucy, die sich unbemerkt meinem Tisch genähert hat. Ich nicke nur und lasse meinen Kopf wieder gegen die Tischplatte knallen. Jetzt noch nachhause zu gehen, um die Sachen zu holen, würde sich nie und nimmer ausgehen.

 

"Mist. Ich hab Gwendolyn, die wird mich sicher mit schauen lassen. Aber was wirst du machen?", fragt sie und sieht mich besorgt an. Warum macht sie sich um mich Gedanken? Das ist schließlich nicht ihr Problem. Das ist jetzt nicht böse gemeint, es ist wirklich nicht ihr Problem... Ich zucke mit den Schultern. Sollte ich vielleicht Leonie fragen? Wer weiß, vielleicht wird sie mich ja mit schauen lassen...Ha! Wer's glaubt...Ich schiele langsam in ihre Richtung. Da sitzt sie und hört Musik, während sie ihre Augen geschlossen hat. Sie hat es leicht. Sie wacht nicht jeden Tag in einem anderen Bett auf und geht ohne Schulsachen in die Schule. Ihre Eltern würden sie umbringen.

 

Ihre Eltern...Wo Mum und Dad jetzt wohl sind? Sie fehlen mit wirklich sehr. Warum haben sie sich noch nicht bei mir gemeldet? Sollte ich ihnen die Sache mit Tyson erzählen? Hey Mum, Dad...eure Tochter hat einen neuen Job...sie ist die Assistentin eines jungfrauenfeindlichen Gangsters. Oh, und das Beste: Sie darf mehr Matratzen ausprobieren, als eine nächtliche Dame, denke ich voller Sarkasmus. Ich glaube, so sollte ich es ihnen nicht beibringen. Sollte ich ihnen überhaupt irgendetwas sagen? Sie würden sich doch nur Sorgen machen...Keine Eltern hören sowas gerne. Nein, ich sollte die Klappe halten.

 

"Maya?", fragt Lucy verwundert und tippt mich auf dem Hinterkopf an.

 

"Mh?", frage ich und hebe den Kopf nach einer Weile des Schweigens. "Ich komm' schon klar, keine Sorge." Sie sieht mich eine Weile lang zweifelnd an und will dann was sagen, wird aber von der Schulglocke unterbrochen. Kurz darauf betritt schon unser Musiklehrer den Raum und Lucy sieht sich gezwungen, auf ihren Platz zurück zu kehren.

 

"Guten Morgen, meine Lieben. Bitte setzt euch.", sagt er lächelnd und wartet, bis sich jeder hingesetzt hat.

 

"Ich habe eure Tests korrigiert...", sagt er laut murmelnd und kramt in seiner Tasche rum. "Sie sind recht positiv ausgefallen.", fährt er fort. Na also! Vielleicht hab ich doch noch eine positive Note geschafft! Ich fühle so etwas wie Hoffnung in mir aufkeimen. Er beginnt die Tests zu verteilen.

 

"Ms. Parker, wie immer eine exzellente Leistung. Ich freue mich sehr darüber!" Er strahlt Leonie wie die Sonne höchst persönlich an, bis er sich zu mir umdreht. Mr. Hudson sieht mich mitleidig an.

 

"Ms. Morgan..." seufzt er. "Welcher berühmte Geiger war auch als "der Teufelsgeiger" bekannt? " Ich sehe ihn fragend an. Was zu Hölle will der von mir? Reichen ihm die Antworten auf dem Zettel nicht? Will er noch ein ganz persönliches Interview vor der ganzen Klasse mit mir führen? Er fährt fort. "Ich gebe Ihnen einen Tipp. Es war nicht David Garret." In der Klasse ertönt Gekicher. Auch Leonie grinst ein wenig. Sehr lustig. Haha. Mr. Hudson lässt sich davon jedoch nicht stören und fährt erneut fort.

 

"Dieses Mal haben Sie sich sogar an die Bonusfrage gewagt. Das freut mich zwar sehr, aber, Ms. Morgan, wenn Sie auf die Frage 'Wer war Beethoven' mit 'Der Familienhund der Newtons' antworten, weiß ich nicht ob ich lachen, weinen oder mich gleich erschießen sollte." gibt er zu. Die gesamte Klasse bricht nun in schallendes Gelächter aus und ich bin auch dabei. Noch nicht einmal Leonie kann sich mehr beherrschen.

 

Er lächelt mir aufmunternd zu. "Ich weiß Ihre Kreativität zu schätzen. Kann es vielleicht sein, dass sie nicht gelernt haben?", fragt er und reicht mir meinen Test.

 

"Hab's vergessen...", murmle ich und lass den Kopf hängen. Scheiße, ist das peinlich.

 

"Nun...das kann ja mal passieren. Sie haben es noch geschafft. Zwar mit Bauchschmerzen, aber immerhin." Verwirrt schaue ich das Blatt in meiner Hand an und meine Augen weiten sich. Ich hab eine vier! Ja! Verdammt, dieser Lehrer ist einfach der Beste! Ich lächle ihn dankbar an, das er erwidert und dann wieder zu seinem Lehrertisch geht

 

"Öffnet nun bitte eure Bücher. Seite 45. Ms. Connor, würden sie bitte vorlesen?", fragt er Gwendolyn, die ohne Wiederworte anfängt zu lesen. Verdammt. Ich hab ja kein Buch mit, was soll ich jetzt machen? Sollte ich aufs Klo verschwinden, mit der Ausrede, ich müsste Kotzen? Dann schließ ich mich dort bis zur nächsten Stunde ein. Der Plan ist doch perfekt!

 

Plötzlich spüre ich, wie sich etwas Spitzes in meinen Ellbogen bohrt. Verwirrt lasse ich meine Arme auf meine Beine sinken und sehe überrascht zu, wie Leonie ihr Buch immer weiter in die Mitte schiebt.

 

"Was machst du da? Hast du zu wenig Platz? Dann sag es doch einfach.", sage ich ihr und sehe sie fragend an. Sie schnaubt.

 

"Du hast doch kein Buch mit. Willst du jetzt mit schauen oder nicht?", fragt sie schroff. Ich sehe sie überrascht an. Sie hat mich gehört?

"Ja, hat sie.", antwortet Leonie. Scheiße, hab ich das jetzt laut gefragt? Ne, oder? Shit, anscheinend schon. Vollkommen überrumpelt nicke ich und beuge mich über das Buch.

 

"Danke", sage ich leise und zucke zusammen, als ich ein:

 

"Ms. Morgan! Bitte fahren sie fort.", von Mr. Hudson höre. Mist. Hektisch versuche ich mich an das zuletzt gehörte zu erinnern. Welches Wort hat Gwendolyn zuletzt vorgelesen? Irgendwo im Hirn weiß ich es doch, verdammt! Ganz sicher! Plötzlich sehe ich Leonies Zeigefinger auf die Buchseite tippen. Ist da vielleicht ein Fussel oder so? Was hat sie? Oh..vielleicht...? Ohne weiter darüber nachzudenken, beginne ich ab dieser Stelle zu lesen und mache nach dem ersten Satz eine kurze Pause. Er beklagt sich nicht, also muss ich wohl das richtige lesen. Erleichtert stoße ich die Luft aus und lese unbekümmert weiter. Kaum zu glauben, was Leonie heute für mich getan hat. Einfach unglaublich.

 

Nach der Schule sehen wir Nathan vor dem Schultor stehen. Ich werde doch nicht wieder abgeholt, oder?

 

"Steigt ein.", sagt Nathan grinsend und ich seufze. Natürlich werde ich das. Und ich bin mir absolut sicher, dass er mich nicht nachhause fahren wird. Jedenfalls nicht gleich.

 

"Wo...ist eigentlich Tyson?", frage ich beiläufig und bekomme ein Grinsen von Lucy zu sehen. Was denn? Ist es so ungewöhnlich nach seinem Arbeitgeber zu fragen? Die sollen sich bloß nichts einbilden, verdammt!

 

"Zuhause. Der hat noch was zu erledigen.", antwortet Nathan grinsend. Was für einen Sinn hat es eigentlich, Tysons  Assistentin zu sein, wenn ich keine Ahnung habe, wo er wann ist und was er macht? Kann es vielleicht sein, dass er gar nicht eine Assistentin braucht? Hat er mich nur verarscht? Natürlich. Wahrscheinlich will er mich nur wegen Nathan bei sich haben. Er soll sich keine Sorgen um mich machen. Und was sollte ich sonst machen, wenn nicht seine angebliche Assistentin sein? Für Lucys Arbeit bin ich viel zu hässlich. Und für Michaels viel zu faul. Was macht er schon? Steht den ganzen Tag in irgendeiner Ecke und beobachtet Menschen. Wie ein Affe im Zoo. Nur mit dem Unterschied, dass Affen ein Herz besitzen und Michael nicht.

 

Dieser Gedanke stimmt mich traurig. In Wahrheit bin ich noch nicht mal als seine Assistentin gut. Ich bin total unbrauchbar und inkompetent. Unfähig. Hässlich. Und immer noch Jungfrau.

 

"Wir sind da.", sagt Nathan und schaltet den Motor aus. Verwirrt blinzle ich und kann nicht glauben, was ich da gerade gedacht habe. Seit wann habe ich denn so wenig Selbstvertrauen? Ist mir doch scheiß egal, wie mich andere finden. Ich bin wie ich bin. Wem's nicht passt, der kann gehen. Oder in diesem Fall muss er es nur sagen und ich werde gehen.

 

"Na los! Oder willst du hier schlafen?", kichert Lucy und zieht mich aus dem Wagen bis zu Tysons Wohnung. Ich bin noch viel zu verwirrt und damit beschäftigt, mir Beleidigungen aller Art, meiner vorigen Gedanken wegen,  an den Kopf zu werfen, dass ich gar nicht mitbekomme, wie sie mich durch die Wohnungstür schiebt und ich direkt in Tysons Arme lande.

 

"So eine nette Begrüßung hab ich aber nicht erwartet. Sieht so aus, als ob ich dir gefehlt habe.", flüstert er und ich stoße ihn von mir. Da ist wieder diese verräterische Gänsehaut. Mist. Lachend hält er sich den Bauch. Urplötzlich hört er auf zu lachen. Ist er etwa drauf gekommen, dass es doch nicht lustig ist? Idiot. Für einen Moment macht er seine Augen zu. Er betet doch nicht, oder?

 

"Wie war's eigentlich in der Schule?", fragt Nathan nach einer Weile. Erst jetzt bemerke ich, wie still es bis jetzt gewesen ist.

 

"Super! Hab 'ne eins auf Musik!", schreit Lucy und hält Nathan ihre Hand hin. Er gibt ihr ein High-Five und grinst.

 

"Und du Bienchen?", fragt jetzt Tyson.

 

"Ich hasse dich, Lucy", knurre ich und durchbohre sie mit meinen tödlichen Blicken. Sie sieht mich entschuldigend an. Das kann sie sich sonst wohin schieben.

 

"Ganz okay...", murmle ich.

 

"Zeig doch mal her.", verlangt er und ich verneine schnell. Zu schnell. Er hebt eine Augenbraue und streckt seine Hand aus. Nix da.

 

"Bienchen!", knurrt er und zieht mich zu sich, als ich vor ihm zurückweichen will. Ich versuche mich zu wehren und strecke deshalb meine Hände aus. Als ich meine Hände auf seinen muskulösen Bauch lege und mich von ihm abdrücke, zieht er plötzlich die Luft zischend ein und lässt mich augenblicklich los. Was hat er denn schonwieder? Nathans und Lucys Unterhaltung ignorierend, beobachte ich den Kerl, der vor mir steht, stumm. Er hat sich nach vorne gebeugt und versteckt somit sein Gesicht. Wortlos hält er mir seine Hand hin und ich gebe nach. Eigentlich könnte ich den ganzen Tag so weiter machen, er würde mich nicht klein kriegen. Aber jetzt bin ich viel zu faul dafür und hab keine Lust mehr darauf. Während ich in meine Jeanstasche greife und das kleine zusammengefaltete Blatt herausfische, lasse ich ihn nicht aus den Augen. Er richtet sich langsam auf und nimmt das Blatt, das ich ihm jetzt in die Hand drücke, an sich.

 

Während er sich die ganzen Fragen und Antworten durchliest, wird sein Gesichtsausdruck immer unglaubwürdiger. Nach der letzten Frage bricht er in schallendes Gelächter aus und hält sich wieder den Bauch. Da stimmt was nicht, das fällt mittlerweile sogar mir auf. Was stimmt nicht mit ihm? Muss er vielleicht kotzen? Also so schlecht ist mein Test nun auch wieder nicht...,schmolle ich in Gedanken.

Als Tyson nach einer Weile immer noch lacht, tretet Nathan zu ihm und nimmt ihm das Blatt aus der Hand. Vollkommen gelangweilt lasse ich es geschehen. Soll er es auch sehen, ist mir doch egal. Mehr als mich auslachen könne sie eh nicht tun.

 

"Alter Schwede...", flüstert Nathan und hält sich geschockt eine Hand vor den Mund. "Wen habt ihr in Musik?", fragt er Lucy und mich.

 

"Hudson." Lucy ist jetzt auch noch zu ihnen getreten und sieht sich meinen Test an.

"Macht doch ein Foto, verdammt!", schreie ich. Das geht mir so langsam aber sicher auf die Nerven. Die starren den Test an, wie ein Satanist eine Nonne. Keine Ahnung, woher der Vergleich jetzt kommt, aber er passt ganz gut.

 

"Der ist doch voll okay.", stellt Tyson klar. Dann schaut er zu mir. "Warum hasst du diesen Mann, Bienchen?" fragt er verständnislos und mir platzt der Kragen. Angefressen stampfe ich zu ihnen und reiße Nathan das Blatt aus den Händen.

 

"Halt's Maul! Als ob du ihn kennen würdest...", murmle ich und sehe Tyson schmollend an. Dieser grinst nur bescheuert und antwortet:

 

"Und ob ich ihn kenne. Schließlich war ich mal sein Schüler!", lacht er und klopft Nathan brüderlich auf die Schulter.

 

"Du warst sein Lieblingsschüler.", grinst Nathan. Unfassbar. Die haben echt Mr. Hudson als Lehrer gehabt. Das hätte ich echt nicht gedacht.

Plötzlich ertönt ein lautes Klingeln und Tyson geht fluchend ins Wohnzimmer und schnappt sich das kleine klingelnde Gerät.

 

"Ja?!", schnauzt er rein. Sein genervter Gesichtsausdruck wird plötzlich ernst und seine Lippen werden zu einer schmalen Linie.

 

"Bin gleich da.", sagt er monoton und legt auf. Nathan wirft ihm einen fragenden Blick zu, worauf Nathan " Drake." antwortet. Wer ist denn der Kerl jetzt? "Er ist wieder zu sich gekommen. Wir müssen los." Wer ist zu sich gekommen? Und wohin müssen wir los? Bevor ich überhaupt dazu komme zu fragen, werde ich schon aus der Wohnung gezogen und in Tysons legendäres Auto gestopft.

 

Nach einer halbstündigen Fahrt, stehen wir in einer großen Lagerhalle. Sie kommt mir bekannt vor und als ich die gestapelten Kisten sehe, wird mich auch schlagartig bewusst, wieso. Der Tisch da vor mir! Das ist der, auf den dieser Kerl...Magnus, Mario, irgend sowas, die schwarze Kartoffel, die sich am Ende als Handy entpuppt hat, geworfen hat. Was zur Hölle sollen wir hier?

 

"Tyson!", ruft ein Kerl und rennt zu uns. "Er ist wach." Tyson nickt stumm und geht weiter in den Raum hinein, bis er hinter den Kisten verschwindet. Lucy, Nathan und ich folgen ihm langsam. Als ich es schaffe, einen Blick hinter den Kisten zu werfen, schnappe ich überrascht nach Luft.

 

"Markus.", säuselt Tyson gespielt freundlich. Dann beugt er sich zu dem Kerl, der mit einem Seil gefesselt, auf dem Boden hockt und den Kopf hängen lässt, runter und zieht ihn an den dunklen Haaren. Das ist der Kerl! Der Kerl, der mich entführt hat und mich verkaufen wollte! Was sucht er denn hier? Und hat er sich endlich einen Termin beim Zahnarzt verschafft? Verwirrt schüttle ich den Kopf. Halt deine Fresse, verdammt!, ermahne ich mich selbst in Gedanken.

 

"Ty-son", keucht der Kerl und sieht ihn mit halb geöffneten Augen an. Ihm rinnt Blut von der Stirn und sein ganzes Gesicht entlang.

 

"Was willst du von mir?", flüstert er dann. Tyson schenkt ihm ein Lächeln. Ein Lächeln, das so kühl und gefühllos wie nur möglich ist.

 

"Lass uns ein kleines Spiel spielen", sagt er grinsend und ich sehe kurz etwas in seinen Augen glitzern. Es verschwindet jedoch gleich wieder und ich frage mich, ob ich mir das nicht vielleicht doch nur vorgestellt habe. Was hat Tyson mit dem Kerl vor? Sein Blick gefällt mir nicht.

 

"Bienchen, komm her.", ruft er mich und ich sehe ihn verwirrt an. Er winkt mich zu sich und ich folge ahnungslos seiner Aufforderung. Als ich vor ihm stehen bleibe, reicht er mir ein kurzes Messer.

 

"Du darfst anfangen.", lächelt er mich amüsiert an und reicht mir das Messer. Verdutzt nehme ich es an mich und sehe ihn vollkommen sprachlos an. Anfangen, womit?

 

"Du bist-", fängt der Typ-War es Markus?-an, bricht jedoch gleich wieder ab. Seine Augen sehen mich überrascht und verängstigt zugleich an. Was hab ich denn gemacht? Was ist hier nur los, verdammt?

Kapitel 10

Es gibt zwei Möglichkeiten, mich dazu zu bringen, dumm drein zu schauen. Die erste ist, wenn mich ein Lehrer im Unterricht aufruft und ich weiß, dass ich nicht aufgepasst habe. Die zweite ist, wenn mir jemand einfach so einen scharfen Gegenstand - nehmen wir ein Messer - in die Hand drückt und mich auffordert, mit einem Spiel, dessen Name ich noch nicht einmal kenne, anzufangen.

 

Markus' Augen sind halb geschlossen. Meint Tyson vielleicht "Blinde Kuh"? Aber wozu ist dann das Messer gut? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass das in den Spielregeln vorkommt. Ich muss wohl echt hilflos aussehen, denn Tyson kommt seufzend zu mir und nimmt mir das Messer aus der Hand.

"Lass mich anfangen." Damit nähert er sich der gefesselten Person auf dem Boden und hockt sich anschließend vor ihr hin. Wie schon zuvor, zieht Tyson ihn an den Haaren nach hinten und zwingt ihn so, ihn anzuschauen.

"Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen und du wirst mir antworten. Wenn ich mit dir fertig bin, bekommt sie dich, okay?", fragt er den Typen, der nur schwer schluckt. Dann dreht er den Kopf zu mir und sieht mich abwartend an. Soll ich ihm zustimmen oder was? Langsam nicke ich. Ich habe keine Ahnung, was ich mit diesem Markus anstellen soll, aber bitte. Wenn Tyson meint, ich soll mit ihm spielen, dann muss ich das auch tun. Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen Assistentin und Sklavin? Bei Tyson wahrscheinlich nicht.

 

"Also...wo ist Traver?", fragt Tyson den Kerl und hält ihm das Messer an den Hals. Die Augen des Typen weiten sich und er schluckt schwer. Habe ich den Namen nicht schon mal irgendwo gehört? Ich glaube schon.

 

"I-Ich weiß es nicht!", keucht Markus schnell. Tyson gibt ein Knurren von sich und drückt ihm das Messer noch fester ins Fleisch. Er will ihm doch nicht die Kehle durchschneiden, oder?

 

"Wo ist er? Er lebt, nicht wahr?", fragt er ihn jetzt und zieht zischend die Luft ein, als Markus ihm belustigt:

 

"Solltest du nicht wissen, ob dein Vater lebt oder nicht? Wie kannst du es wagen, dich als seinen Sohn zu bezeichnen.", antwortet. Sein Vater? Ist der nicht tot? Hat Noah etwa doch recht gehabt? Aber warum glaubt Tyson ihm gleich? Irgendetwas ist in der Zeit, als Lucy und ich in der Schule waren, passiert, da bin ich mir sicher.

 

"Wo. Ist. Er?", fragt Tyson erneut und diesmal klingt er warnend.

 

"Tot.", antwortet Markus kurz. Tyson lächelt kühl und hebt sein Messer. Bevor ich überhaupt bemerke, was er vorhat, hebt er schon das Messer, entfernt es von seinem Hals und sticht fest zu. Im nächsten Moment ertönt ein Schrei, den ich niemals vergessen werde. Stöhnend windet er sich mit gefesselten Händen und Füßen hin und her und versucht, das Messer, welches in diesem Moment in seinem rechten Bein steckt, raus zu ziehen. Oh mein Gott. Was hat Tyson da gemacht? Ist er vollkommen übergeschnappt?!

 

"Du lügst, sowas mag ich nicht.", sagt Tyson erschreckend ruhig und lässt das Messer nicht los. Erst als Nathan ihn an den Schultern nach hinten zieht und er somit auf dem Boden zum Liegen kommt, lässt er es los. Er unterdrückt ein schmerzhaftes Stöhnen und drückt erneut die Augen fest zusammen. Vollkommen perplex starre ich zuerst Markus und sein verletztes Bein an, doch als ich das unterdrückte Geräusch von Tyson höre, schnellt mein Blick in seine Richtung. Wie schon zuvor, hält er sich den Bauch und versucht aufzustehen.

 

"Was ist los mit dir?", frage ich, während ich ihm hoch helfe. Mich ignorierend, reißt er sich von mir los und will sich abwenden, als ich ihm an die Schulter greife.

 

"Sag schon.", dränge ich. Das ist eigentlich sowas von nicht meine Art. Wieso zur Hölle dränge ich mich ihm so auf?

 

"Nichts", grummelt er und ich werde stinksauer. Er lügt mich an. Mitten ins Gesicht! So ein aufgeblasener Arsch. Ohne noch länger darüber nachzudenken, hole ich mit meiner Faust aus und schlage ihm auf den Bauch. Wer nicht hören will, muss fühlen. Fluchend fällt er auf die Knie. Was zur Hölle soll das denn? Ich hab ihn doch gar nicht mal so fest geschlagen. Ich bin noch nicht einmal stark genug, ein Gurkenglas zu öffnen, will der mich verarschen?

 

"Rauf mit dem T-Shirt.", befehle ich und knie mich vor ihm. Unter anderen Umständen würde ich jetzt höchstwahrscheinlich rot werden. Jemandem zu befehlen, sich auszuziehen, macht man nun wirklich nicht jeden Tag.

 

"Wenn du mich oben ohne sehen willst, muss du es doch nur sagen. Musst nicht gleich gewalttätig werden, Bienchen.", murmelt er und versucht sich die Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Ich ziehe eine Augenbraue hoch und kommentiere Tysons Aussage mit einem "Fick dich, Tyson". Der Arsch ist verletzt und reißt auch noch Witze! Will der mich verarschen?! Was ist, wenn ihm irgendwas schlimmes passiert ist? Was ist, wenn er wirklich schlimm verletzt ist? Verdammt, warum kümmert mich das überhaupt? Er ist alt genug um für sich selbst zu sorgen, oder etwa nicht? Ohne auf seine Antwort, die wahrscheinlich ebenfalls eine Beleidigung sein würde, zu warten, ziehe ich sein T-Shirt hoch und weiche schon im nächsten Moment erschrocken zurück. Verfluchte Scheiße! Da ist ein tiefer Stich auf seinem durchtrainierten Bauch zu sehen, der noch frisch aussieht. Warum hat er ihn nicht verarzten lassen, dieser Vollkoffer?

 

"Was ist passiert?",flüstere ich und versuche diesen großen Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, runter zu schlucken. Er zuckt die Schultern und antwortet.

"Ist nicht so schlimm."

 

"Nicht schlimm?", frage ich monoton. "NICHT SCHLIMM?", brülle ich jetzt und sehe ihn zusammenzucken. Na warte Arschloch, ich mach dich jetzt fertig, denke ich grimmig.

 

"Du bescheuertes, asoziales, verblödetes, unterbelichtetes, dummes Arschloch! Was ist, wenn sich das infiziert oder wenn wichtige Organe beschädigt sind? Du könntest erbärmlich verrecken, du Hund! ", schreie ich ihn an und vergesse auf die weiteren anwesenden Personen im Raum. Tyson sieht mich entgeistert an.

 

"Ich bin doch nicht asozial", antwortet er bestürzt und ich muss mich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle los zu lachen. Ich bin wütend und besorgt, er darf mich jetzt nicht einfach so zum Lachen bringen! Das geht doch nicht! Wütend auf ihn und mich, schlage ich fest auf seine Brust ein, um ihm zu zeigen, wie sauer ich auf ihn bin, als Nathan mich an den Händen von ihm wegzieht.

 

"Lucy, bring ihn nachhause.", sagt Nathan.

 

"Aber...", beginnt sie, wird von Nathan jedoch unterbrochen.

 

"Wir kommen schon klar. Ruf Dr. Mason an." Wer ist'n der Kerl? Seufzend und ein "Spaßverderber", in Nathans Richtung murmelnd, steht Tyson auf und kommt auf mich zu.

 

"Komm Bienchen.", sagt er.

 

"Maya bleibt hier.", sagt Nathan bestimmt und sieht Tyson an. Warum das denn? Fragend sieht Tyson seinen besten Freund an. In diesem Moment scheinen die beiden eine Unterhaltung zu führen, die keiner außer den beiden mitbekommt. Ob die wohl in Gedanken miteinander kommunizieren können?

 

Mit einem fast gequälten Gesichtsausdruck wirft mir Tyson jetzt einen Blick zu und nickt langsam.

 

"Aber pass auf sie auf!", sagt Tyson in scharfem Ton zu Nathan und wuschelt mir durch die Haare.

 

"Bleib brav.", lächelt er und ich schiebe seine Hand wütend von mir. Zuerst lügt er mich an und jetzt das? Außerdem bin ich kein Hund, er ist hier der Köter.

Nathan nickt und wartet, bis Tyson und Lucy aus der großen Halle gegangen sind, ehe er sich wieder zu Markus umdreht, der, wie schon gedacht, die ganze Vorstellung mit angesehen hat. Er wirkt leicht gelangweilt, hat wohl gedacht, dass wir ihn vergessen haben. Ich höre wie Nathan neben mir die Finger knacken lässt und verzichte darauf, ihn zu fragen, was ich hier noch zu suchen habe. Ich werde es früher oder später sowieso erfahren.

 

Es vergehen Stunden, in denen Nathan Markus ausfragt, doch der hält immer noch die Klappe und will nichts verraten. Warum glaubt Nathan, dass der Kerl was von Traver, Tysons Vater weiß?

 

"Wo ist Traver?", fragt Nathan zum 50-ten Mal und verpasst Markus erneut eine, als er mit "Tot.", antwortet. Wie lange soll das denn noch so gehen? Markus wird noch in Ohnmacht fallen, wenn das so weiter geht. Es ist überhaupt ein Wunder, dass er noch bei Bewusstsein ist. Warum glaubt Nathan überhaupt, dass Markus weiß, wo Tysons Vater steckt? Oder, dass er überhaupt lebt.

 

Ich fasse Nathan am Ärmel seines T-Shirts und ziehe ihn etwas weiter von Markus weg.

 

"Ist Tysons Vater nicht tot?", flüstere ich ihm zu und werfe einen Blick auf Markus, der die Augen inzwischen geschlossen hat und stumm die Lippen bewegt. Er betet doch nicht etwa, oder? Ich habe nicht gewusst, dass solche Menschen religiös sind. Das ist doch krank. Der Kerl betreibt Menschenhandel, wie kann er überhaupt eine Kirche auch nur betreten? Nathans Kopfschütteln holt mich wieder aus den Gedanken und ich richte meine volle Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Nervös sieht er hin und her. Wahrscheinlich weiß er nicht, wie viel er mir verraten darf. Ich blitze ihn wütend an.

 

"Du wirst mir jetzt alles verraten, hast du mich verstanden?", frage ich kühl und sein Blick huscht wieder zu mir. Bleib ruhig Maya...zeige ihm, dass er dir vertrauen kann. Du darfst jetzt nicht agressiv werden, aber du darfst auch keine Angst bekommen, egal, was er dir erzählen wird. Ich sehe ihn schlucken und kurz die Augen schließen. Und dann sprudeln ihm die Worte nur so aus seinem Mund. Er erzählt mir, dass Tyson gestern Nacht einen Anruf von Theo (Der Name kommt mir sowas von bekannt vor, weiß Gott, woher...) bekommen hat. Dann erzählt er mir, was mit Theo passiert ist. Nämlich, dass Theo während eines Treffens mit seinem Kunden von irgendjemanden überfallen und fast zu Tode verprügelt wurde, und erst dann wird mir bewusst wer der Kerl überhaupt ist. Theo ist der Drogendealer, für den sie - okay, für den wir - die Drogenvermittlung spielen.

 

"Wer hat ihn überfallen?", frage ich und versuche das alles langsam aber sicher zu verarbeiten. Noch nicht einmal in der Schule muss mein Hirn so oft arbeiten. In diesem Moment kann ich den morgigen Tag kaum noch abwarten. Ich will wieder in die Schule und meinem angestrengten Köpfchen eine Pause gönnen. Nur mathematische Formeln, englische Grammatik und Mozarts stinklangweilige musikalische Klänge...klingt doch nach einem Traum, oder? Nathan tippt mir auf die Stirn und holt mich so wieder aus meinen Gedanken. Ich kann jetzt nicht über Schule nachdenken, ich muss mich konzentrieren, verdammt!

 

"Das weiß keiner, aber jemand hat ihm noch was zugeflüstert, bevor sie abgehauen sind.", murmelt Nathan und blickt sich nochmal langsam um. Der Kerl ist paranoid, keine Frage. Fragend hebe ich eine Augenbraue und haue ihm nach langem Schweigen auf den Arm.

 

"Du enttäuschst mich, Teddy.", sagt Nathan und ich sehe ihn im nächsten Moment fragend an. Was?

 

"Das ist Theos Spitzname.", erklärt Nathan und ich sehe ihn verwirrt an. Sein Spitzname? Schön für ihn, und weiter?

 

"Traver war der einzige, der ihn so genannt hat.", fügt Nathan hinzu und sieht mich an. Ich habe das Gefühl, dass er auf irgendetwas wartet. Auf eine Reaktion oder so. Wie soll ich denn reagieren? Wie würdet ihr reagieren, wenn ihr erfahren würdet, dass jemand an den Tod einer Person nur wegen eines  genannten Spitznamens, zweifelt?  Allerdings hat auch Noah irgendwas in der Richtung erzählt. Traver habe Tyson die ganze Zeit nur verarscht oder so. Was, wenn das alles stimmt und Tysons Vater lebt doch noch? Ein plötzlicher Schrei ertönt und ich zucke erschrocken zusammen.

 

"Lass mich frei, verdammt! Traver ist tot, das weiß doch jeder!", brüllt Markus und versucht das Seil irgendwie aufzumachen. Glaubt er wirklich, er kann sich mit gebundenen Händen losbinden? Idiot.

 

"Und was wollt ihr mit diesem Clown?", frage ich Nathan und nicke in Markus Richtung. Nathan zuckt mit den Schultern.

 

"Tyson hat ihn in der Nähe seines alten Elternhauses gesehen. Das kam ihm verdächtig vor und hat ihn schließlich hier her gebracht. Er hat es lustig gefunden, ihn so zu binden, wie Markus es bei dir gemacht hat. Wollte, dass er merkt, wie du dich gefühlt hast." Mich überrascht es, das Tyson in so einer Situation auch an mich gedacht hat. Irgendwie fühle ich mich...geschmeichelt.

 

" Dann wurde er auf dem Nachhauseweg von Steven und Julian, die ihrem Anführer wahrscheinlich gefolgt sind, überrascht und hat sie anschließend erledigt, bevor er wieder nachhause gefahren ist. Dann hab ich euch von der Schule abgeholt und den Rest kennst du ja.", beendet er seine Erzählung. Verfluchte Scheiße! Hört auf, andauern irgendwelche mir unbekannte Namen umher zuschleudern, glaub ihr ernsthaft, ich merke mir jeden gottverdammten Namen?!, rege ich mich in Gedanken über die Menschen, die vor ein paar Tagen in mein Leben getreten sind, auf. Jeden Tag erweitert sich mein Namen-Lexikon, das kann ja wohl nicht wahr sein.

 

"Er hat was?", meldet sich Markus geschockt zu Wort. Ich sehe mir sein Gesicht an und versuche mich an den Tag, an dem all das angefangen hat, zu erinnern. Plötzlich tauchen zwei blonde Kerle in meine Gedanken auf und ich erinnere mich an die beiden. Steven und Julian, die Zwillinge. Sie sind tot.

 

Nathan zuckt nur desinteressiert mit den Schultern und ich kann es einfach nicht glauben. Das ist Nathan! Der Nathan, der immer nett zu mir gewesen ist. Oder der es noch immer ist. Wie kann ihn ein Mord nur so kalt lassen? Wie kann Tyson überhaupt sowas tun?

 

Dann wurde er auf dem Nachhauseweg von Steven und Julian, die ihrem Anführer wahrscheinlich gefolgt sind, überrascht, erinnere ich mich an Nathans Worte. Sie haben ihn angegriffen? Das würde den Stich in seinem Bauch erklären. Dann hat Tyson ja rein theoretisch nur aus Notwehr gehandelt... Überrascht über mich selbst, schüttle ich den Kopf. Wie ich versuche, Tyson in Schutz zu nehmen... das ist ja beängstigend!

 

"Sie sind tot...", flüstert Markus und ich habe irgendwie Mitleid mit ihm. Er sieht so verletzt aus, dass ich vergesse, was er mir damals angetan hat. So wie er im Moment aussieht, haben ihm die beiden sehr viel bedeutet. Plötzlich verspüre ich das dringende Bedürfnis, ihn loszubinden. Schnell verwerfe ich den Gedanken aber wieder. Einen Teufel werde ich tun. Das würde mich nur schwach aussehen lassen. Ich glaube, dass Nathan ihn frei lassen wird, wenn er uns etwas über Traver erzählt..., denke ich und nähere mich Markus langsam, Nathans Einwände ignorierend.

 

"Wo ist Traver?", frage ich ihn monoton und knie mich vor ihm hin. Ich versuche ihn gefühllos und kalt anzustarren, was mir erst gelingt, als ich mir wieder in Erinnerungen rufe, wie er mich vor ein paar Tagen geschlagen hat. Wegen ihm bin ich in diese Scheiße gelandet, er hat mir mein ganzes Leben ruiniert. Ich hasse diesen Kerl. Aber trotzdem ist da was in seinen Augen...etwas, das mich berührt. Ist es die Sorge um die beiden toten Zwillinge? Ich weiß es nicht.

 

"Er ist tot.", wiederholt Markus und sieht mir nun direkt in die Augen. Er will also nicht reden? Fein, versuchen wir es nochmal.

 

"Wo ist Traver?", frage ich diesmal knurrend und sehe ihn jetzt wütend an. Ich sehe ihn tief nach Luft schnappen.

 

"Er ist tot.", wiederholt er und betont dabei das "tot" irgendwie. Was war das jetzt? Wozu diese Betonung?

 

"Traver ist tot?", frage ich ihn noch einmal und ernte nur ein Nicken von ihm. Vielleicht sagt er ja die Wahrheit.

 

"Wer hat Theo dann überfallen?" Er sieht mich einen Moment nur stumm an. Dieses Mal ist da kein schmutziger Blick und auch kein Hass in seinen Augen. Ich erkenne viel mehr...Unsicherheit. Wahrscheinlich denkt er gerade darüber nach, ob er es mir sagen soll oder nicht. Der Kerl weiß wer es war, da bin ich mir zu 100 Prozent sicher. Nach einer Weile antwortet er endlich.

 

"Tyler." flüstert er und sieht mich weiterhin an. Er blickt mir direkt in die Augen und ich glaube ihm. Irgendwie. Da ist kein verräterisches Zucken mit den Augen, kein komisches Grimassenschneidern, nichts. Rein Garnichts, das mich auf die Idee bringen würde, er könnte mich anlügen. Entweder er sagt tatsächlich die Wahrheit oder er ist einfach nur ein wunderbarer Lügner.

 

"Tyler?", wiederhole ich. "Wer ist das?" Ich sehe ihn zusammenzucken. Der Kerl hat Angst. "Okay.", seufze ich und erhebe mich wieder.

 

"Nathan, können wir ihn gehen lassen?", frage ich Nathan und bleibe direkt vor ihm stehen. Dieser sieht mich entrüstet an.

 

"Du glaubst ihm doch wohl nicht, oder?!" Ich zucke mit den Schultern und nicke wieder in Markus Richtung.

 

"Irgendwie schon. Er lügt nicht.", antworte ich und versuche Nathans Blick einzufangen. Er soll mich endlich anschauen, verdammt! Endlich! Er schaut mich an. Unsicher nickt er langsam.

 

"Also gut...", murmelt er und ich ziehe ihn in eine feste Umarmung. Überrumpelt lässt er es geschehen und ich stelle mich auf Zehenspitzen, um ungefähr so groß wie er zu sein.

 

"Jemand soll ihn verfolgen. Er wird uns zu diesem Tyler führen, ganz sicher.", flüstere ich ihm ins Ohr. Ich höre ihn förmlich lächeln und er drückt mich noch einmal kurz, bevor ich ihn wieder los lasse. Dann bindet er Markus kommentarlos los und wirft das Seil achtlos irgendwo hin, das hinter ein paar Kisten verschwindet.

 

"Hau ab.", knurrt er Markus zu, der daraufhin Leine zieht.  Als wir die große Türe, die zum Ausgang führt, zuknallen hören, holt Nathan sein Smartphone aus seiner Hosentasche raus und tippt etwas ein.

 

"Michael wird sich darum kümmern. Drake, ich glaube es wäre besser, wenn du ihm helfen würdest. Nur für alle Fälle.", wendet er sich an eine Kiste. Warum spricht er jetzt mit Kisten, ist er völlig übergeschnappt? Plötzlich bemerke ich den Jungen, der  sich  jetzt zu Nathan gesellt. Den hab ich ja total vergessen. Das ist der Kerl, der schon hier war, als Tyson, Nathan, Lucy und ich hier her gekommen sind. Was hat er die ganze Zeit lang gemacht?

 

Er nickt uns zu und verschwindet dann auch wortlos aus der Lagerhalle. Hoffentlich passt Michael auf sich auf, denke ich. Doch dann schüttle ich hastig den Kopf. Er hat mit Sicherheit schon schlimmeres gemacht, das wird ihn schon nicht umbringen, beruhige ich mich selbst.

 

Als wir hinaus in die frische und kühle Luft treten, steuern wir direkt auf das schwarze Auto zu. Ich frage mich, wie Tyson und Lucy wohl zu diesem Dr. Mason gegangen sind. Tyson darf nicht fahren und ich weiß noch nicht einmal, ob Lucy einen Führerschein hat. Falls Tyson doch gefahren ist, mach ich ihn um einen Kopf kürzer. Er hätte sich auch vorhin nicht ins Auto setzen dürfen. Vielleicht haben sie sich ja ein Taxi gerufen, denke ich.

 

Als wir im Auto sitzen, lasse ich die vorigen Stunden Revue passieren. Warum war ich überhaupt die Einzige, die vorhin so ausgerastet ist? Machen sich Lucy und Nathan denn überhaupt keine Sorgen um ihn? Oder dieser Dylen, Dirk, Derek, ah keine Ahnung! Vielleicht ist er ja schon so oft verletzt gewesen, dass es die anderen inzwischen schon vollkommen kalt lässt. Tyson...dieser Idiot.

 

"Dem geht's gut. Keine Sorge.", sagt Nathan grinsend und ich erstarre.

"Ha-Hab ich das gerade laut gesagt?", frage ich unnötigerweise. Nathan nickt kichernd. Scheiße.

"Sorgen? Pah! Ich mache mir doch keine Sorgen um den! Der ist immerhin schon...Hey, wie alt ist Tyson eigentlich?" Ohne Vorwarnung drückt Nathan auf die Bremse und wäre mein ab jetzt bester Freund, der Sicherheitsgurt, nicht da, würde ich in diesem Moment wahrscheinlich in einer wilde Knutscherei mit der Frontscheibe eingewickelt sein.

 

"Du hast keine Ahnung wie alt er ist? Ist das dein Ernst?", fragt er bestürzt. Peinlich berührt lasse ich meinen Kopf sinken. Moment einmal! Warum ist mir das peinlich?

 

"Tut mir leid. Zwischen all den Entführungen, Drohungen, Verletzungen und Schießunterricht habe ich vollkommen vergessen, Tyson nach seinem Alter zu fragen. Ich hoffe, du vergibst mir.", meine ich sarkastisch und hebe eine Augenbraue. Er kichert und  dreht das Lenkrad nach rechts.

 

"Ist schon verziehen. Er ist 20.", sagt er lächelnd und sieht mich an. Kumpel, die Straße ist da vorne, nur so zu Information.

 

"Und du?", frage ich und zeige mit dem Finger auf die rote Ampel, die er fast übersieht. Und der hat den Führerschein bekommen? Im Ernst?

 

"Auch 20. Wir sind gleich alt. Naja okay, er ist zwei Monate älter als ich.", gibt er zu. "Der Kerl hat im Oktober Geburtstag und ich im August. "

"Und..äh..wann... genau?", frage ich ganz beiläufig und hoffe darauf, dass ich nicht bekloppt klinge. Ich will unbedingt wissen, wann die beiden Geburtstag haben, das ist schließlich was besonderes. Das sind Geburtstage immer! Wenn man sich dann an das Jahr zurückerinnert, wird man sich dann meistens bewusst, wie sehr man sich im letzen Jahr verändert hat, wie viel Erfahrung man gesammelt hat und wie reif man geworden ist. Das fällt einem davor gar nicht auf.

 

"Bei Tyson ist es der 10. Oktober und bei mir der 9. August." Der 10.Oktober? Das war doch der Tag, an dem sie mir geholfen haben. Ich wurde am 10 Oktober von Markus entführt.

"Ich war echt froh, als ich ihn dazu überreden konnte, mir mit Markus zu helfen. Er hat sich in seiner Wohnung verbarrikadiert und hat mit keinem Reden wollen. So wie jedes Jahr auch." erzählt er und ich spitze die Ohren. Los, erzähl mit mehr über Tyson, verdammt! Aber er sagt nichts.

 

"Warum?", frage ich ihn, obwohl ich seine Antwort schon kenne. "Frag ich das lieber selbst", wird er sicher sagen. Er wirft mir einen prüfenden Blick zu und starrt dann wieder geradeaus auf die Straße. Es vergehen Minuten, ehe er wieder anfängt zu reden. Endlich. Ich will mehr über Tyson wissen. Keine Ahnung, warum, es ist einfach so.

 

"Er hat einfach schlechte Erinnerungen, die er andauernd versucht, zu verdrängen, die ihn aber an seinen Geburtstagen jedes Mal wieder einholen.", sagt er seufzend und ich erkenne Sorge in seinen Augen. Nathan macht sich Sorgen um seinen besten Freund, das sieht doch jeder Panda. Warum Panda? Weil Pandas süß sind. Wird Nathan weiter erzählen? Das hoffe ich wirklich.

 

"An seinem dritten Geburtstag hat seine Mutter ihn verlassen. Zwei Jahre später, also an seinem fünften Geburtstag  hat er von seinem Vater erfahren, dass sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Seit dem hat er sich verändert. Ich kenne ihn seit meiner Geburt, Maya. Ich musste ihn oft trösten, denn obwohl er älter ist als ich, musste ich mich jedes Mal um ihn kümmern, als er wegen jeder Kleinigkeit geheult hat. Der Kerl ist mal 'ne richtige Heulsuse gewesen." Tyson und Heulsuse? Kann ich mir schwer vorstellen...

"Aber seit diesem Tag, hat er nie mehr wieder geweint. Und damit meine ich auch nie mehr wieder. Als er ein paar Jahre später erfahren hat, dass er einen Halbbruder hat, war er stinksauer. Ich glaub, da war er dreizehn oder so. Er hat geschrien, ihr damaliges Familienhaus fast auseinandergenommen, aber er hat nicht einmal geweint, weil seine Mutter sie damals wegen Noah verlassen hat. Auch als mein Dad vor ein paar Jahren gestorben ist, hat er nicht ein einziges Mal geweint. Und das obwohl sie ein supergutes Verhältnis hatten. Er war jede verdammte Stunde bei mir und war einfach für mich da, als ich mir die Seele aus dem Leib geheult habe. Damals haben wir sozusagen die Rollen gewechselt.", erzählt er und lächelt gequält.

 

"Das tut mir leid." Ich bin ein Arschloch. Jetzt hab ich seine Wunden wieder geöffnet, ich Arsch. Ramm ihm ruhig noch ein Messer ins Herz, Maya! So dumm wie du bist, würde es eh niemanden wundern!, denke ich.

 

"Das muss es nicht. Es ist schon lange her und ich hab ja noch meine Mum. Ich weiß noch immer nicht, wie sie es aus diesem tiefen schwarzen Loch geschafft hat. Damals ist sie vollkommen neben der Spur gewesen. Sie hat Medikamente zu sich genommen, die sie gar nicht hätte nehmen dürfen. Sie hat sich tagelang in ihr Schlafzimmer gesperrt und hat sich alte Familienfotos angesehen. Sie hat Nächtelang durch geheult und hat irgendwann sogar aufgehört zu reden. Sie war wie tot. Das ging jahrelang so. Ich weiß nicht was sie gemacht hat, aber irgendwann ist sie weinend nachhause gekommen und hat mich eine halbe Stunde lang umarmt. Sie hat sich bei mir entschuldigt und mich um Verzeihung gebeten, weil sie all die Jahre nach Dad's Tod nicht für mich da gewesen ist. Seit diesem Tag hat sie wieder begonnen, normal zu reden, sie hat weniger geweint und manchmal sogar gelacht. Nach einer Weile hat sie die Medikamente noch nicht einmal mehr angesehen. Keine Ahnung wer oder was dafür verantwortlich ist aber ich bin der Person oder dieser Sache noch immer unendlich dankbar dafür, dass sie meiner Mutter geholfen hat. Hey, Maya, warum weinst du?", beendet er die Geschichte und ich stutze. Wer weint hier? Warum sollte ich wei- Scheiße.

 

"Hey...", flüstert Nathan sanft und schaltet das Auto aus. Erst jetzt bemerke ich, dass wir vor unserem Wohnhaus stehen geblieben sind. Nathan zieht mich in eine Umarmung und ich höre mich selbst schluchzen. Das ist ja beängstigend!

 

"Scheiße, Tyson wird mich umbringen", scherzt er murmelnd und wischt mir die Tränen weg. Ich heul' wie ein kleines Kind, was soll diese Scheiße?

"Komm." Nathan steigt aus, öffnet die Beifahrertür und zieht mich raus. Er schiebt mich Richtung Eingangstor und direkt die Treppen rauf.

 

"Na endlich, Nathan! Wo warst du bloß so lange? Du musst morgen früh aufstehen, diese Vorlesung wirst du mit Sicherheit nicht sausen lassen! Da will der Herr Psychologie studieren und kriegt es noch nicht einmal auf die Reihe, in den Unterricht aufzukreuzen...", beklagt sich Mrs. Mayer und ich spüre, wie die Tränen wieder einen Weg ins Freie suchen. Scheiße.

 

"Ah, Maya! Wie siehst du denn aus? Nathan Adam Mayer, was hast du dem süßen Mädchen angetan?", fragt sie Nathan in gespielt ernstem Tonfall. Dieser sieht mich ratlos an und ich muss leicht grinsen. Wie konnte nur so ein Sonnenschein, jemals so viele Qualen erleiden? Wenn mir irgendjemand anderer das erzählt hätte, was Nathan mir erzählt hat, hätte ich demjenigen den Vogel gezeigt. Sie hat so eine Vergangenheit nicht verdient. Niemand hat so etwas verdient. Natürlich auch nicht Nathan.

 

"Er hat nichts getan.", lächle ich und versuche die Tränen unbemerkt wegzuwischen.

 

"Das hoffe ich doch.", grummelt sie und scheibt ihre Brille, die ihr wieder von der Nase gerutscht ist, rauf.

 

"Da fällt mir ein...ich habe Tyson und Lucy schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht es den beiden?", fragt sie dann und lächelt freundlich. In diesem Moment frage ich mich, wie viel Mrs. Mayer eigentlich von der ganzen Sache Bescheid weiß. Weiß sie, was wir machen? Und falls ja, was denkt sie darüber?

 

"Denen geht es gut. Wir treffen uns später, werd ihnen schöne Grüße ausrichten.", plappert Nathan schon drauf los."Wann, später?", fragt sie streng und kneift die Augen zusammen. "Nathan, ich schwöre dir, wenn ich dich morgen in der Früh nicht wach kriege, werde ich-".

 

"Es wird nicht lange dauern. Versprochen." Sie seufzt.

 

"Fein. Und nun los, bring den Müll raus.", sagt Mrs. Mayer und Nathan sieht sie geschockt an.

 

"Was? Das hab ich doch schon gestern gemacht. Und vor gestern. Und den Tag davor auch. Wie viel Müll können bitte nur zwei Personen produzieren? Und warum bin bitte ich jedes Mal der einzige, der sich darum kümmern muss?", fragt er entrüstet und fuchtelt wild mit seinen Händen rum. Sie zuckt nur mit den Schultern und verabschiedet sich von mir. Dann geht sie wieder in die Wohnung, lässt die Türe aber offen. Ich höre Nathan seufzen.

 

"Dann bis später, Maya", verabschiedet er sich und ich lächle ihn an.

 

"Bis später."

 

Nachdem ich mich ausgezogen habe, springe ich unter die Dusche und denke wie so oft, über den vergangenen Tag nach. Ich habe nie gedacht, dass Tyson, Nathan und Mrs. Mayer sowas schlimmes erlebt haben. Das hab ich mir noch nicht einmal vorstellen können.

 

Wie es Tyson wohl geht? Ist er schlimm verletzt? Sollte ich ihm vielleicht eine SMS schicken? Nein, wir treffen uns ja später sowieso wieder. Es ist viel besser, sich persönlich zu vergewissern, wie es ihm geht. Er kann mich sonst anlügen und das will ich nicht.

 

Wie kann er nur so leichtfertig mit seinem Leben spielen? Ich erwarte jetzt nicht, dass er weint, aber er hätte sich ruhig etwas besser um sich kümmern können. Er hat zwar keine Eltern, aber das heißt nicht, dass er jedem egal ist. Mir ist er nicht egal. Und Lucy und Nathan auch nicht! Ich bin mir sicher, da gibt es noch viel mehr Menschen, denen er was bedeutet, wie zum Beispiel seiner Familie. Er kann ihnen nicht egal sein.

 

Ich rufe mir wieder Tysons Bild in Erinnerung. Er hat damals so süß mit seiner Mutter ausgesehen. Sie sind so glücklich gewesen. Das muss wohl vor dem großen Drama gewesen sein. Und das Foto mit seiner Adoptivfamilie? Das muss nach Travers Tod gewesen sein. Diese Menschen, die Tyson aufgenommen haben, haben ihm wenigstens ein wenig Freude zurück gegeben. Ich mag sie jetzt schon. Irgendwann, denke ich, will ich diese Menschen kennen lernen.

 

Ich schrecke auf. Plötzlich höre ich die Wohnungstür laut zu krachen. Diesmal hab ich zugesperrt, ganz sicher! Wer kann das sein? Es ist doch keiner eingebrochen, oder? Mist! Schnell steige ich aus der Dusche und lasse das Wasser dabei absichtlich laufen. Wer auch immer da draußen ist, soll schließlich denken, dass er "ungehört" geblieben ist. Hektisch schaue ich mich im Badezimmer um. Was kann ich machen? Das einzige, was mir sofort in die Augen sticht, ist die dunkelblaue Klobürste und die rosa Raumspraydose, die neben der Dusche in der Ecke liegt. Also das sind meine Optionen: Die Person mit der Klobürste zur Strecke bringen oder sie tot-sprayen. Wenigstens würde sie bei Option Nummer 2 am Ende noch gut nach Frühlingbriese duften, also entscheide ich mich für Variante zwei. Ich ziehe mir schnell was über und mache mich bereit. Langsam ein und ausatmend greife ich nach der rosa Spraydose und schließe die Badezimmertür langsam auf. Wer auch immer da draußen ist, der kann sich auf was gefasst machen.

 

"Maya!", höre ich jemanden brüllen und ich zucke zusammen. Scheiße, die Person kennt sogar meinen Namen.

 

"Schatz! Wir sind zuhause!", ruft eine Frauenstimme und ich lasse die Spraydose kreischend runter fallen.

 

"Mum?! Dad?!", rufe ich und sprinte aus dem Badezimmer. In Sekundenschnelle komme ich vor sie zum Stehen und grinse sie breit an.

 

"Hallo, Schatz", lacht meine Mutter und ich werfe mich in ihre Arme. Endlich. Endlich sind sie wieder da. Gott, mir wird erst jetzt klar, wie sehr ich sie vermisst habe.

 

"Schatz, wein' doch nicht...", sagt mein Vater lächelnd und ich lache. Warum bin ich heute so gefühlvoll? Zuerst heul ich wegen Tyson, Nathan und Mrs. Mayer und jetzt deshalb?

 

"Ich glaub ich krieg meine Tage...", flüstere ich zu mir selbst und höre meine Mutter in lautes Gelächter ausbrechen. Das ist der einzige Grund, der mir meine Gefühlausbrüche erklären kann. Meine Tage.

 

"Gut zu wissen, Maus.", grinst sie und umarmt mich noch einmal fest. Ich liebe sie. Ich will keinen von den beiden jemals verlieren. Das könnte ich nicht ertragen, das weiß ich. Also hat ihre Arbeit noch eine gute Seite: Sie bleiben von der ganzen Scheiße, die sich hier abspielt oder noch abspielen wird, fern und in Sicherheit.

Kapitel 11

"Abendessen ist fertig!", schreie ich durch die ganze Küche. Ich werfe den Kochlöffel in die Spüle und wische mir meine Hände an dem blau-weiß kariertem Tuch ab. Ob Mom und Dad das Essen wohl schmecken wird? Es gibt Schnitzel und Reis dazu. Die Schnitzeln sind schon auf dem Esstisch, fehlt nur noch der Reis, der soeben fertig geworden ist.  Ihr fragt euch jetzt sicher, warum ich koche. Ich will es so, immerhin sind Mom und Dad wieder da!

 

"Wir kommen!", ruft Dad und kommt mit meiner Mutter in die Küche geschlendert. Da der Tisch bereits gedeckt ist, setzen wir uns gleich hin und beginnen mit dem Essen:

 

"Ist was aufregendes passiert, als wir weg waren?", fragt Mom und ich verschlucke mich im gleichen Moment. Ob was aufregendes passiert ist? Nö...nicht, dass ich wüsste. Kauend schüttle ich den Kopf. Ich werde ihnen auf keinen Fall erzählen, was alles passiert ist. Sie würden sich nur sorgen.

 

"Ahso...und hast du schon ein paar Freunde kennen gelernt?", fragt jetzt Dad und ich bin kurz davor "Ja!", zu schreien, doch ich kann es mir gerade noch so verkneifen. Sind wir denn Freunde? Also Lucy, Nathan, Tyson und ich? Ich glaube schon, aber keine Ahnung wie sie das sehen. Ich sollte sie das fragen. Aber wie?

 

"Hey, Leute. Sind wir eigentlich Freunde?" Das kommt doch komplett scheiße rüber. Am besten, ich warte, bis ich sie sehe und würge diese Frage irgendwie raus. Womöglich werde ich mich dann nur halb so bescheuert fühlen. Irgendwie kann ich es kaum erwarten, sie alle wieder zu sehen.

 

"Warum grinst du denn so?", fragt Mom und lächelt mit mir um die Wette. Ich schüttle den Kopf und lächle zurück.

 

"Ist nicht wichtig." Ich hoffe, sie haben die vorige Frage vergessen, denn ich habe keine Antwort darauf. Plötzlich höre ich aus meinem Zimmer meinen SMS-Klingelton und ich stehe stürmisch auf. Die Blicke meiner Eltern wohlwissend ignorierend, renne ich in Rekordzeit ins Zimmer und schnappe mir mein Handy vom Bett. Ein breites Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus, als ich die Buchstaben auf dem Display lese. Jungfrauenfeindlicher Arsch. Ich öffne die Nachricht und runzle verwirrt die Stirn. Ich muss sie mir ein paar Mal durchlesen, da ich sie nicht verstehe.

 

Komm heute nicht. Und auch die nächsten paar Tage nicht. Schaffen es auch ohne dich.

T.

 

Ich soll nicht kommen? Warum denn nicht? Ist er sauer auf mich? Je öfter ich mir die Nachricht durchlese, umso mehr verstärkt sich das Gefühl. Was habe ich denn getan? Ist es, weil ich ihn heute beleidigt habe? Aber das ist ja nicht das erste Mal gewesen und außerdem war das ja gar nicht böse gemeint. Ich war einfach nur...besorgt. Aber das kann nicht der Grund sein, denn er ist ja gar nicht sauer gewesen, als Lucy und er sich verabschiedet haben. Oder ist Tyson vielleicht einer dieser Menschen, die erst nach Stunden darauf kommen, dass sie auf jemanden sauer sind? Kann mir doch egal sein, denke ich. Er ist sauer auf mich? Fein! Warum mache ich mir überhaupt darüber Sorgen?

 

Ich spüre eine ungeheure Wut in mir aufkeimen. Ich habe mir die ganze Zeit Sorgen um diesen Vollidioten gemacht und dann sagt er mir allen Ernstes, ich soll nicht mehr kommen? Arschloch. Wie kann man so bescheuert sein? Mit diesem Gedanken schlafe ich nach einer langen Weile ein.

 

Ich bin dämlich. Wirklich. Mir fällt kein besseres Wort ein, um mich zu beschreiben. Einfach nur strohdumm. Hirnlos. Und naiv. Ihr wollt wissen warum? Kennt ihr einen Menschen, der wegen eines Alptraums um halb elf Nachts in einen Bus steigt und zu einer Person fährt, die einem Stunden davor gesagt hat, sie solle nicht mehr aufkreuzen und wegen der man das erste Abendessen mit den Eltern verschlafen hat? Nein? Tja, jetzt kennt ihr eine. Warum musste ich ausgerechnet von Tyson träumen? Tyson, wie er sich schreiend am Boden herumwälzt und sich gleichzeitig Blut spuckend den Bauch hält. Keine besonders hübsche Szene. Naja, ich bin jedenfalls schreiend aufgewacht und meine Eltern sind besorgt in mein Zimmer hereingestürmt. Nachdem mir meine Mutter eine Tasse Tee gemacht hat und ich sie nach langem Bitten wieder in ihr Bett schicken konnte, habe ich wieder versucht einzuschlafen. Natürlich ist es mir nicht gelungen, was ja der Grund ist, weshalb ich jetzt von einem komischen alten Herren im Bus angestarrt werde. Es kann natürlich daran liegen, dass ein Mädchen um diese Uhrzeit hier nichts verloren hat. Oder er denkt, ich bin eine Stricherin. Egal was es ist, er soll seine Gedanken gefälligst für sich behalten! Sollte er mich dumm ansprechen, werde ich kein Erbarmen zeigen. Scheiß drauf, wie alt der Knacker ist. Es ist mitten in der Nacht, ich bin müde und total mies gelaunt.

 

Nach einigen Minuten hält der Bus endlich an und ich steige aus. Ich überquere die Straße und steuere direkt auf Tysons Wohnhaus zu. Wie soll ich als nächstes vorgehen? Soll ich einbrechen? Ich weiß gar nicht wie das geht. Ob es mit einer Haarnadel gehen würde? In Filmen geht es doch auch. Hektisch schüttle ich den Kopf. Seitdem ich Tysons aufgemaltem Männchen ins Zentrum geschossen habe, traue ich keinem Film mehr. Auf gar keinen Fall. Seufzend steige ich in den Aufzug und warte, bis sich die Türen schließen. Als ich mich umdrehe, um mich im Spiegel anzusehen, muss ich mich sehr zusammenreißen, um nicht zu schreien. Ich sehe katastrophal aus! Meine Haare sind zerzaust und ich blicke wie ein angefressenes Kleinkind drein. Kein Wunder, dass ich vorhin von dem Opa so angestarrt worden bin, man könnte mich glatt als Frankensteins Frau abstempeln.

 

Als sich die Türen endlich öffnen und ich mich von meinem Spiegelbild losreißen kann, klingle ich an Tysons Tür. Ich habe mir auf dem Weg nach oben sehr viele Gedanken gemacht, wie ich in die Wohnung kommen könnte.  Also zuerst war da die Idee mit der Haarnadel. Dann hatte ich die Idee, durch eines seiner Fenster zu klettern, habe mich aber dann erinnert, dass  er nicht im Erdgeschoss oder im erst Stock wohnt, also musste ich mich auch von dieser Idee verabschieden. Dann war noch die Idee, eine Pizza zu bestellen und sie an Tysons Adresse liefern zu lassen. Und wenn dann der Lieferant angeklingelt hätte, hätte ich mich hinter Tyson quetschen können und wäre somit in seine Wohnung gekommen. Aber am Ende klang die Idee mit dem selber Klingeln doch am besten. Für die andere bin ich viel zu Faul. Es dauert eine Weile, ehe Tyson aufmacht.

 

"Alter, ich hab dir gesagt, dass du nachhause - was machst du hier?", fragt Tyson alarmiert und sieht sich im Gang nach allen Seiten um.

 

"Ist was passiert?", fragt er und zieht mich schnell in die Wohnung. Ich schüttle energisch den Kopf und höre ihn daraufhin erleichtert ausatmen.

 

"Mann, Bienchen, was willst du dann hier? Weiß du nicht wie spät es ist?", fragt er und fährt sich mit der Hand durchs Haar. Ich zucke mit den Schultern und sehe ihn ein wenig eingeschüchtert an. Was tu ich da, verdammt! Ich sollte angefressen auf ihn sein und nichts anderes!

 

"Wegen dir Arschloch kann ich nicht schlafen!", beschwere ich mich und gehe ein paar Schritte in seine Richtung. Er steht da lässig an den Türrahmen gelehnt, in weißem T-Shirt und hellblau karierten Boxershorts. Ich muss schlucken und merke, wie ich ihn anstarre. Wie ein ausgehungerter Bär, der sabbernd seine lang ersehnte Mahlzeit auf sich zukommen sieht. Er hebt seine wunderschönen Augenbrauen und sieht mich leicht lächelnd an. Er ist so sü -verdammt, kontrolliere dich, Maya!

 

"Und warum, wenn ich fragen darf?", fragt er und kommt mir immer näher. Nein, darfst du nicht. Penner. Ich gehe, oder besser gesagt, stolpere ein paar Schritte zurück und versuche so mehr Abstand zwischen uns zu bringen. Mein Herz hat auf unerklärte Art und Weise begonnen, wild zu schlagen, so als ob es jeden Moment aus meiner Brust hüpfen möchte. Irgendwas stimmt da nicht mit mir. Es liegt am Schlafmangel, ganz bestimmt, beruhige ich mich. Als sich mein Herz endlich beruhigt, erzähle ich ihm von meinem beschissenen Traum und als ich seine Reaktion sehe, muss ich mich ziemlich zusammenreißen, um ihn nicht wie eine Furie, die gerade ihre Tage hat, anzuspringen. Er lacht sich die Seele aus dem Leib. Ganze zehn Minuten!

 

"Also wegen dem hättest du dir nun wirklich keine Sorgen machen müssen. Du sagst, ich habe geschrien? Allein da hättest du merken sollen, dass das nur ein blöder Traum war. Ich würde in so einer Situation doch nicht schreien. Und mich auf dem Boden rollen, erst recht nicht. So ein Weichei bin ich nicht, das solltest du doch inzwischen schon mitbekommen haben." Das stimmt. Er wollte sich noch nicht einmal verarzten lassen und wollte seine Verletzung vor uns versteckt halten. Ein wirklicher Ehrenmann. Idiot.

 

"Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht. Eigentlich wollte ich das schon vorher machen, aber dann hab ich deine SMS gelesen und ihr wollt mich ja die nächsten Tage nicht mehr um euch haben, also wollte ich es schnell hinter mir bringen." Ich habe das alles in nur zwei Sekunden gesagt, ohne auch nur einmal Luft zu holen. Anscheinend ist es mir doch nicht so egal, dass sie jetzt schon die Nase voll von mir haben. Ich hab angefangen sie zu mögen und jetzt wollen sie Ruhe von mir haben. Irgendwie ist das ja auch verständlich. Sie glauben wahrscheinlich, dass ich sie nicht leiden kann, aber das stimmt nicht. Ich kann nur meine Gefühle nicht so gut zeigen.

 

Tyson starrt mich gefühlte Minuten nur stumm an und blinzelt ein paar Mal, so, als könne er nicht glauben, was er da gerade hört.

 

"Wie kommst du darauf?" fragt er und nähert sich mir erneut. Meint er das ernst?

 

"Weil du es geschrieben hast?", frage ich und hebe meine Augenbrauen. Der ist echt dämlich. Er schüttelt den Kopf und kommt noch einen Schritt näher. Angefressen kramte ich mein Handy aus meiner Jackentasche und lese ihm seine Nachricht vor.

 

"Bienchen, ich werde das nur einmal sagen, also hör genau zu." Er bleibt nun direkt vor mir stehen und legt seine Hände auf meine Schultern. Ich spüre ein leichtes Kribbeln an den Stellen, wo seine Hände sind.

 

"Ich hätte mir lieber in den Arsch gebissen, als dir diese Nachricht zu schicken." beichtet er und ich sehe ihn verständnislos an. Er seufzt und fährt fort:

 

"Ich hab von Nathan gehört, dass deine Eltern endlich wieder da sind und ich wollte dir ein bisschen Zeit mit ihnen lassen. Sie müssen schließlich sicher bald wieder gehen, oder?", fragt er und ich nicke. Das müssen sie wirklich, nur weiß ich nicht wann. Wahrscheinlich in einer Woche, so ist es bis jetzt jedes Mal gewesen. Beschämt und gleichzeitig erleichtert, lasse ich meinen Kopf hängen. Irgendwie ist mir das ganze jetzt ein wenig peinlich.

 

"Oh...", sage ich. Darauf bin ich nicht gekommen. Woher hätte ich das denn auch wissen sollen?!

 

"Ach Bienchen...", seufzt er und zieht mich in eine Umarmung. Was soll das? Ich bin viel zu geschockt, um irgendetwas zu machen. Tyson umarmt mich! Mein bescheuertes und zurzeit total verwirrtes Herz fängt wieder vollkommen verstört schnell zu schlagen an und ich kneife meine Augen fest zusammen. Augen zu und durch, sage ich mal. Ich höre Tyson kichern.

 

"Jetzt entspann dich mal..." Der kann leicht Reden. Trotzdem versuche ich, mich ein wenig zu beruhigen. Langsam aber sicher gelingt es mir und ich beginne die Umarmung zu genießen. Er riecht gut, das ist schon mal ein Bonus. Sein T-Shirt riecht frisch und nach Weichspüler. Ich wollte gerade seine Umarmung erwidern, als er mich schon loslässt und seine Hände wieder auf meine Schultern platziert. Tja, Pech gehabt Maya, du schaltest einfach zu langsam, meldet sich diese reizende Stimme in meinem Kopf mal wieder zu Wort. Danke. Wär mir jetzt nicht aufgefallen.

 

"Was machen wir jetzt mit dir? Jetzt, wo das geklärt ist, willst du sicher nachhause gehen, oder?", fragt er mit einem komischen Grinsen im Gesicht. Ich nicke verwirrt und mache mich von ihm los. Als ich einen Schritt nach rechts mache, um ihm auszuweichen, da sich der Herr keinen Zentimeter von der Stelle bewegt hat, werde ich plötzlich von hinten gepackt.

 

"Es gibt da nur ein kleines Problem. Ich lasse dich so spät nicht alleine gehen und fahren will ich dich grad auch nicht. Hast du vielleicht eine Idee?", fragt er und da ist wieder dieses Grinsen in seinem Gesicht zu sehen. Mir entgeht auch das komische Glitzern in seinen Augen nicht. Und ob ich eine Idee habe.

 

"Taxi.", sage ich und hebe mein Handy hoch.

 

"Ich traue den Taxifahrern nicht. Heute, als Lucy und ich zu Dr.Mason gefahren sind, hat sich der Fahrer an Lucy rangemacht, und das obwohl ich im Auto war. Ich will nicht wissen, zu was die fähig sind, wenn ein Mädchen allein in ein Taxi steigt. Also nein. Ich hab stattdessen einen viel besseren Vorschlag.", sagt er und mir bleibt der Mund offen stehen. Macht er sich wirklich so große Sorgen um mich? Das kann ich nicht glauben.

 

"Schlaf bei mir!", schreit er, als hätte er ein Heilmittel für alle Krankheiten erfunden. Bitte was? In diesem Moment bin ich von meiner eigenen Reaktion überrascht. Zuerst breche ich in schallendes Gelächter aus, das dann in ein nervöses Kichern übergeht und am Ende sehe ich ihn mit großen Augen an. Der Kerl meint das wirklich ernst. Ehe mir bewusst wird, was passiert, werde ich schon von Tyson in sein Zimmer gezogen und mir wird eine grau-blau-karierte Boxershorts , sowie ein großes graues T-Shirt in die Hand gedrückt. Es dauert eine Weile, bis ich merke, dass das dieselben Sachen sind, die ich angehabt habe, als ich zum ersten Mal in Tysons Bett aufgewacht bin. Damals wollte der Arsch allen Ernstes meine Körbchengröße wissen. Vollidiot. Aus irgendeinem Grund muss ich lächeln. Wer hätte gedacht, dass ich diese Sachen jemals wieder anziehen würde. Ich ganz bestimmt nicht.

 

Als ich aus dem Bad zurückkomme, sehe ich Tyson schon auf seinem Bett liegen und seufze. Wie auf Kommando hebt er den Kopf und fragt:

 

"Stimmt was nicht?" Ich schüttle nur den Kopf. Ich werde jetzt wirklich mit ihm in einem Bett schlafen. Aus irgendeinem mir unbekanntem Grund bin ich schrecklich nervös. Komm schon Maya, es ist doch nur Tyson. Tyson, der jungfrauenfeindliche Arsch.

 

Ich lege mich schließlich neben ihm und schnappe mir mein Handy, welches ich aus der Jackentasche herausgenommen habe, und stelle meinen Wecker auf sechs Uhr. Als ich Tysons verwunderten Blick sehe, erkläre ich ihm, dass ich mich aus dem Haus geschlichen habe und meine Eltern von meinem  kleinen Ausflug eigentlich gar nichts wissen. Daraufhin hat er mir ganze fünf Minuten (Ich habe auf die Uhr geschaut!) nur in die Augen geschaut und ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen.

 

"Was?", habe ich gefragt und mein Kinn herausfordernd gehoben, doch er hat nur den Kopf geschüttelt und uns zugedeckt. Wie kann ich diese Reaktion jetzt verstehen?

 

"Gute Nacht, Bienchen.", wünscht er mir.

"Gute Nacht, Tyson.", antworte ich und merke, wie sich meine Augen immer schwerer anfühlen und irgendwann automatisch zufallen.

 

Ich werde von dem Nerv tötenden Geräusch meines Weckers geweckt. Es dauert eine Weile, bis ich jegliche Wecker der Welt verfluche und ihnen alles Schlechte wünsche, und dann anschließend aufstehe. Zuerst weiß ich noch nicht einmal, wo ich bin. Als ich aber den schlafenden Tyson entdecke, kommen alle Erinnerungen von Gestern wieder zurück. Scheiße, ich muss nachhause! Hastig schlage ich die Decke zurück und erinnere mich erst dann, dass da jemand neben mir schläft. Tyson sieht im Schlaf wesentlich entspannter aus, als am Tag. Seine Haare sehen katastrophal aus, er muss sich wohl öfters hin und her gewälzt haben. Ich merke, wie sich meine Hand langsam in seine Richtung bewegt. Was zur Hölle tu ich da? Ich muss ihn berühren...nur ein Mal! Sofort schlage ich meine Hand mit der anderen weg. Auf gar keinen Fall werde ich ihn anfassen. Am Ende wacht er noch auf und was dann? Plötzlich greift etwas nach meiner Hand und zieht mich wieder ins Bett. Erschrocken hebe ich meinen Kopf und sehe einen grinsenden Tyson.

 

"Du darfst mal anfassen.", grinst er und ich werde rot wie eine Tomate.

"Also die Haare!", schreit er, als er bemerkt, wie zweideutig das geklungen hat. "Gott, Bienchen, denkst du etwa nur an das eine, oder was?", regt er sich auf. Ich sollte das zu ihm sagen! Jetzt lässt er mich völlig notgeil da stehen. Arschloch. Ich reiße mich von ihm los und gehe schnurstracks ins Bad. Als ich meine Jeans, T-Shirt und Jacke finde, schlüpfe ich schnell in sie und gehe wieder schnellen Schrittes ins Vorzimmer. Als ich gerade dabei bin, in meine Schuhe zu schlüpfen, kommt ein verschlafener Tyson aus dem Schlafzimmer und gähnt.

 

"Warte.", sagt er immer noch gähnend. "Ich fahr dich nachhause. Geh mich nur schnell umziehen." Ich schüttle energisch den Kopf.

 

"Nicht nötig. Geh weiter schlafen, ich schaff das schon allein." Als ich endlich in meine Schuhe geschlüpft bin, fragt er mich noch, ob ich nicht schnell etwas frühstücken möchte. Ich lehne dankend ab und renne auf ihn zu. Ohne über meine Aktion nachzudenken, stelle ich mich auf meine Zehenspitzen und ziehe mit meiner rechten Hand seinen Kopf zu mir runter. Dann passiert das unfassbare. Ich küsse ihn. Direkt auf den Mund! Oh. Mein. Gott. Erschrocken reiße ich meine Augen auf und kann nicht glauben, was ich da gerade mache. Warum tu ich das? Ein einfaches Danke hätte völlig gereicht...Ich habe noch nicht einmal gemerkt, dass ich das vorgehabt habe. Mein Körper hat das irgendwie ganz von alleine gemacht. Mein Hirn hat da gar kein Mitspracherecht gehabt, verdammt!

 

Ich will mich gerade losreißen, als Tyson einen Arm um meine Taille legt und mich noch näher zu sich heran zieht. Wooooow, das wird mir langsam zu viel. Da läuft irgendwas schief. Ich sehe meine Hand immer höher wandern und spüre etwas weiches. Es sind Tysons Haare, in die ich meine Hand vergrabe. Letztendlich bekomme ich sie doch zu spüren und ich muss sagen, sie fühlen sich toll an. Welches Shampoo er wohl benutzt? Scheiß auf das Shampoo, hol deine Hand da raus, bringt mich meine innere Stimme wieder zur Besinnung. Und sie hat verdammt nochmal recht! Ich werde diesen Blödsinn jetzt beenden. Doch ich werfe all meine Pläne über Bord, als Tyson beginnt, den Kuss zu erwidern. Als er dann auch noch seine Hand in meine Haare vergräbt, verabschiede ich mich gedanklich von der inneren Stimme, die noch immer versucht, mich wieder zurück in die Gegenwart zu holen. Nach einer Weile blende ich sie vollkommen aus und gebe mich nur dem Kuss hin. Scheiß drauf, das wird wahrscheinlich sowieso nie mehr wieder passieren. Ich sollte es genießen, solange ich kann. Wie oft bekommt man schon die Chance, von so einem Kerl wie ihm geküsst zu werden? Viel zu selten.

 

Der Kuss wird immer stürmischer, irgendwann nehme ich nur am Rande wahr, wie Tyson mich gegen die Wand drängt und mich weiter um den Verstand küsst. Küssen kann er, das muss man ihm lassen.

 

"Verflucht, Bienchen...", murmelt er und schiebt meine Haarsträhnen, die mir ins Gesicht gefallen sind, weg, ehe er mit seiner Arbeit fortfährt. Langsam nehme ich ein komisches Kribbeln in meinem Bauch wahr. Das bekannte Kribbeln, das ich damals hatte, als ich früher in Michaels Nähe gewesen bin. Was hat das zu bedeuten? Mein Herz schlägt schon wieder wie verrückt und ich merke, wie ich mich immer näher an Tyson presse. Ein plötzliches Klingeln bringt mich wieder in die Realität zurück und ich reiße erschrocken meine Augen auf. Langsam aber sicher entfernt sich Tyson von mir und gibt einen lauten Fluch von sich. Stinksauer geht er zur Tür und reißt diese fast gewalttätig auf.

 

Ich versuche mich zu beruhigen und meinen Atem unter Kontrolle zu bringen, was mir nur sehr langsam gelingt. Meine Füße fühlen sich wie Wackelpudding, ich hab Angst, umzufallen. Mich an der Wand stützend drehe ich mich zur Tür um. Ich muss hier raus.

 

"Was ist?", fragt Tyson wütend und verschränkt seine Arme vor die Brust. Die Brust, an die ich mich vorhin gepresst habe. Dieses komische Kribbeln droht wieder zu beginnen, also quetsche ich mich an Tyson vorbei, direkt in die Freiheit. Naja fast. Da versperrt mir ein blonder Kerl den Weg. Er hat einen schwarzen Mantel an und dunkle Jeans. Außerdem trägt er einen schwarzen Koffer mit sich.

 

"Wollte sehen, wie es dir geht. Hast du Schmerzen? Soll ich dir noch welche Medikamente verschreiben?". fragt der Kerl Tyson und erntet dafür einen tödlichen Blick von ihm.

 

"Oh, wer bist du denn?", fragt er dann, als er mich endlich entdeckt hat.

 

"Deshalb störst du mich? Ist das dein Ernst?", fragt Tyson jetzt den Typen und lässt ein gefährliches Knurren von sich. Ich hingegen bin dem Kerl mehr als nur dankbar. Dieses komische Gefühlschaos bringt mich um den Verstand, ich muss so schnell wie möglich nachhause. Dort werde ich dann in Ruhe darüber nachdenken können.

 

"Ich geh dann mal..."murmle ich und verkrieche mich aus der Tür. Ich höre Tyson seufzen und bleibe nochmal kurz stehen.

 

"Danke, Tyson.", bedanke ich mich und steuere schnellen Schrittes den Aufzug an. Ich hoffe, dass ihm klar ist, dass ich mich nicht für den Kuss bedankt habe. Sondern dafür, dass ich bei ihm schlafen durfte.

 

"Komm rein, Mason.", sagt er fast bedrohlich und das ist auch das letzte, das ich höre, ehe ich in den Aufzug steige.

 

Das war die schlimmste Busfahrt aller Zeiten. Den ganzen Weg über habe ich über Tyson nachgedacht. Und meinem Körper. Was war vorhin nur los, warum hat er vorhin so komisch reagiert? Ich habe öfters versucht, mir all diese Mysterien mit der Begründung ich hätte Schlafmangel, zu erklären, aber irgendwie glaube ich mir selber nicht. Wenn ich wirklich so müde gewesen wäre, wäre ich ihm nicht so um den Hals gefallen. Mir dringt sich ein Gedanke immer mehr in den Vordergrund. Ich habe sogar Angst, ihn auszusprechen. Besteht vielleicht die Möglichkeit, dass ich mich in Tyson verliebt habe? Mir rutscht ein lauter Lacher aus und ich merke, wie ich von den Passanten komisch angestarrt werde. Ups. Das kann unmöglich sein. Ich bin in Michael verliebt, und das schon ganze fünf Jahre. Das kann nicht innerhalb von ein paar Tagen so zunichte gemacht werden. Das ist unmöglich. Oder?

 

Gerade, als ich den Park ansteuere, bemerke ich eine Person, die mir entgegen kommt. Ich brauche nicht lange, um sie zu erkennen, diese Augenfarbe würde ich immer erkennen. Genauso wie sein Bruder, hat auch er leuchten grüne Augen.

 

"Können wir kurz reden? Diesmal hab ich keine illegalen Substanzen bei mir, versprochen.", sagt er leicht grinsend. "Aber dafür deine Jacke." Noah reicht mir meine schwarze Jacke, die ich letztens bei ihnen vergessen habe.

 

"Worüber?", frage ich und nehme die Jacke langsam entgegen. Das ist mein absolutes Lieblingskleidungsstück und ich verzeihe niemandem, der ihr Schaden zufügt. Er zuckt mit den Schultern.

 

"Über vieles. Ich nehme an, du hast auch ein paar Fragen an mich?", fragt er und wirkt plötzlich total überfordert. Armes Kerlchen. Vielleicht sollte ich ihm wirklich zuhören? Aber ich muss nachhause, wenn Mom und Dad mitkriegen, dass ich fehle, wird die Hölle los sein. Das letzte Mal, als ich aus ihnen unbekannten Gründen, nicht zuhause war, haben sie die Polizei verständigt. Dabei bin ich nur Joggen gewesen.

 

Ich hole mein Handy aus der Jackentasche und schaue auf die Uhr. Es ist 06:45. Mom und Dad stehen für gewöhnlich immer um Neun auf, aber das war früher immer so. Durch das ganzen Reisen und den Überstunden muss sich ihr Schlafrhythmus total verändert haben. Wer weiß, ob sie nicht schon um diese Uhrzeit wie die Irren durchs Haus rennen und schreiend nach mir suchen? Aber ich muss hören, was Noah zu sagen hat. Ich muss einfach. Ich seufze.

 

"Wir haben fünfzehn Minuten", sage ich und nicke Noah zu.

Kapitel 12

 

Fünfzehn Minuten später bin ich genauso dumm wie zuvor auch, wenn nicht sogar noch dümmer. Ich verstehe das alles nicht. Wie bin ich hier nur hineingeraten? Wem soll ich jetzt glauben und wem nicht? Wurde Tyson von seinem Vater wirklich nur getäuscht? Hat Noah recht? Aber warum sollte das sein Vater Tyson antun? Das wäre unmenschlich. Ihn all die Jahre anzulügen und einen auf tot zu machen... Aber was versichert mir, dass mich nicht Noah an der Nase herumführt? Rein gar nichts.

"Warum bist du so plötzlich aufgetaucht? Soviel ich mitbekommen habe, hast du dich immer versteckt, als Tyson dich gesucht hat. ", habe ich ihn gefragt. Das ist eine von vielen Fragen Meinerseits gewesen.

"Er hat nach mir gesucht?", hat er überrascht gefragt und die Augen aufgerissen. Das hat er nicht gewusst? Ups. Kurz darauf habe ich nur mit den Schultern gezuckt.

"Naja egal. Ich wäre nie aufgetaucht, wenn es nicht wirklich wichtig wäre. Mom und ich haben bis jetzt immer alles alleine durchstehen können...außer das. Das hier können wir einfach nicht alleine schaffen." Auf die Frage was "Das" sei, meinte er:

 

"Unser Vater. Ich habe es schon Tyson gesagt. Er will Mom umbringen. Ein paar Mal hat er es schon versucht und wäre auch fast damit durchgekommen. Er hat sich jedes Mal selbst einen Strich durch die Rechnung gemacht. Was hat er auch erwartet, von einer Frau, die einmal mit einem Kriminellen verheiratet war? So ein Mistkerl..."

 

"Traver war ein Krimineller?", frage ich quickend.

 

"Traver ist ein Krimineller, ja. Warum so überrascht? Als was bezeichnest du denn Menschen wie ihn? Oder Tyson? Oder mich?" Heilige Scheiße, er hat Recht...Er hat sowas von Recht! Ich komme in die Hölle, jetzt ist es sogar offizieller als offiziell!

 

"Traver will jedenfalls Mom um die Ecke bringen und Tyson soll das verhindern. Es ist mir egal was er mit ihm macht. Obwohl ich bezweifle, dass es etwas harmloses sein wird, wenn er erst mal erfährt, dass dieser Arsch noch lebt und ihm bewusst wird, dass ich die ganze Zeit recht gehabt habe. Naja...vielleicht würde er ihn totprügeln, oder sowas. Keine Ahnung " Noah konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Der hat einen komischen Humor...

 

"Hey, jetzt pass doch mal auf! Dir gehört nicht die ganze Straße!" Überrumpelt stolpere ich zurück. Vollkommen in Gedanken versunken, habe ich die Person vor mir gar nicht bemerkt. Ich muss sie wohl angerempelt haben.

 

"'Tschuldige...", murmle ich und versuche an der Person vorbei zu kommen, vergeblich, denn sie hält mich plötzlich am Arm fest. Sie dreht mich zu sich um, sodass ich ihr ins Gesicht sehe. Braune Augen, umrandet von dichten Wimpern, mustern mich interessiert. Was? Hab ich was im Gesicht? Der Wind weht ihre langen braunen Haare in mein Gesicht und ich reiße mich reflexartig von ihr los.

 

"Sorry...", murmle ich noch einmal und drehe mich von ihr weg. Ich hab keinen Bock darauf, noch weiter angestarrt zu werden und ich sollte so schnell wie möglich nachhause.

 

"Jetzt warte doch mal! Du kannst nicht einfach so jemanden anrempeln, dich entschuldigen und danach einfach abhauen! Geht es dir gut? Bist du verletzt?", fragt das Mädchen und winkt wie verrückt mit den Händen. Ob es mir gut geht? Ich hab sie angerempelt. Vollkommen verdutzt nicke ich, als ich ein Lächeln von ihr zu sehen bekomme.

"Pass das nächste Mal besser auf", sagt sie lächelnd und dreht sich wieder um. Nach diesen Worten verschwindet sie und ich frage mich, wer diese verwirrte Person gerade gewesen ist. Nach ein paar Minuten wird mir bewusst, dass es gar keinen Sinn hat, jetzt darüber nachzudenken, da ich sie sowieso nie mehr wieder sehen werde. Schulterzuckend setze ich meinen Weg nachhause fort.

 

Als ich die Haustür langsam hinter mir schließe und ich in Gedanken um die fünfzig Beleidigungen gefunden habe, die mich am besten beschreiben, da ich vorhin, als ich draußen gewesen bin, fast an meiner eigenen Haustür geklingelt hätte, bin ich total erleichtert, als ich feststelle, dass Mum und Dad noch immer tief und fest und mit einem friedlichen Gesichtsausdruck schlafen. Sie haben also nicht bemerkt, dass ich die ganze Nacht bei Tyson verbracht hab. Wie das klingt...Ich bin sicher rot geworden. Ein Blick im Spiegel, der im Flur Hängt, bestätigt mir das auch. Ich hab Tyson geküsst. Ich hab wirklich Tyson geküsst! Grinsend wie ein Vollidiot, finde ich meinen Weg in mein Zimmer und lege mich in mein gemütliches Bett. Vielleicht kann ich ja noch schlafen, wer weiß. Nach ein paar Kicheranfällen, die eher an ein hysterisches Husten erinnern und die jedes Mal auftreten, wenn ich an den Kuss denke, schlafe ich endlich ein.

 

"...son..Tyson...Lass das, verdammt!", kichere ich und schlage wild um mich. Da versucht dieser Idiot mich wieder zu küssen, aber das kann er knicken. Nochmal werde ich das nicht zulassen. Auch wenn...ich gebe zu, ich hab ihn vorhin wie eine notgeile Jungfrau angefallen. Notgeile Jungfrau? Mann, das klingt schon richtig nach Tyson.

"Hör auf, verflucht", kichere ich und höre abrupt auf damit, als ich ein Glucksen, eine Art unterdrücktes Lachen höre. Sofort werde ich hellwach und fühle mich plötzlich so, als wäre ich die ganze Zeit geflogen und würde jetzt runterfallen. Und am Ende in der Hölle enden. Bitte nicht. Bitte, bitte nicht. Lass das jetzt bitte niemanden gehört haben. Bitte. Lass jetzt niemanden in meinem Zimmer stehen und das gehört haben, was ich gerade im Schlaf von mir gegeben habe. Bitte. Langsam öffne ich die Augen und erstarre. Ein lauter Schrei meinerseits lässt die über mich gebeugte Person erschrocken hochfahren und ein paar Schritte zurücktaumeln. Nein...nein. Es ist meine Mum! Meine Mum! Meine Mum, die mit einem verschmitztem Lächeln die ganze Szene beobachtet hat. Ich will mir gar nicht einmal vorstellen, was ich noch alles gesagt haben könnte. Den Teil, den ich kenn, hab ich nur im Halbschlaf von mir gegeben.

 Noch immer kreischend, ziehe ich mir meine Decke über den Kopf, wickle mich wie eine Schnecke ein und rolle mich vom Bett runter. Ich verdiene dieses Bett nicht. Ich verdiene das ganze Zimmer nicht. Gott, das ist so peinlich! Und das auch noch vor meiner Mutter! Wenn es mein Vater gewesen wäre, hätte ich ihm wenigstens sagen können, dass ich von einem riesigen kuscheligen Hamster verfolgt wurde, der gerne Umarmungen verteilt. Ich bin mir sicher, dass er mir das geglaubt hätte. Aber wie soll ich es meiner Mutter sagen? Die würde mich an Ort und Stelle auslachen.

 

"Ach, Maya...komm runter, das Frühstück ist fertig.", sagt sie lächelnd und verlässt den Raum. Verfluchte Scheiße. Sie hat es ignoriert...Es ist schlimmer, als ich zuerst gedacht habe! Sie glaubt, ich sei verliebt! Ich kenne diese Frau und ich weiß genau, wann sie was denkt! Verfluchte Scheiße...Seufzend ziehe ich mich um und gehe nach einem Badbesuch in die Küche, um zu frühstücken.

 

Es ist ungewöhnlich, mit den beiden zu frühstücken. Ansonsten bin ich immer alleine...Ich koche alleine und esse auch alleine. Immer. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnt habe, aber ich habe es hinbekommen. Das Gefühl, zu wissen, dass man nun doch nicht mehr alleine frühstücken muss, ist wunderbar. Sowas lernt man erst zu schätzen, wenn man merkt, wie einsam man sich eigentlich fühlt. Auch wenn es hier gerade nur ums Frühstücken geht...ich freu mich total, dass sie wieder hier sind. Auch wenn sie bald wieder gehen müssen. Ich sollte es genießen, solange sie noch hier sind!

 

Den restlichen Sonntag verbringe ich damit, mich in Grund und Boden zu schämen, zu beten, dass Mom die Situation von heute Morgen einfach so vergisst und mich nie wieder darauf anspricht. Und natürlich auch damit, mich mental auf die Schule vorzubereiten.

Kapitel 13

 

Heute Morgen wurde ich von Mom geweckt, habe von ihr Frühstück bekommen und wurde rechtzeitig aus dem Haus verscheucht. Heute ist Montag und somit beginnt auch eine neue Schulwoche, auf die ich mich riesig freue! Sarkasmus, meine Freunde...Sarkasmus...ist die beste Medizin für Montagmorgendepressionen.

"Maya!", ertönt hinter mir eine Stimme und als mich jemand von hinten anspringt, weiß ich sofort wer dieser Jemand ist. Es ist Lucy, die, die höchst wahrscheinlich aus einem Affenzirkus geflüchtet ist und sich jetzt als Mensch ausgibt. Anders kann ich mir diese Hyperaktivität nicht erklären.

"Guten Morgen Sonnenschein!", kichert sie und strahlt mich mit strahlend weißen Zähnen an.

"Ich hasse dich.", stelle ich klar und deutlich fest. Das stimmt natürlich nicht, ich weiß nur nicht wie ich mit meiner Laune darauf antworten sollte.

"Hab dich doch auch lieb, Maymay.", seufzt sie. Irgendwas vor mich hin murmelnd (was  noch nicht einmal ich selber verstehe), beschleunige ich meinen Gang und schaffe es somit, mich aus Lucys Klammergriff zu befreien.

"Hey, gefällt dir der Spitzname nicht? Soll ich dich wie Tyson nennen? Bienchen?", fragt sie erstaunt und ich bleibe abrupt stehen.

"Was für ein Spitzname?", frage ich verdutzt.

"Na Maymay." Oh...den hab ich überhört. Klingt doch putzig.

"Er gefällt mir.", gebe ich lächelnd zu und stecke meine Hände in meine Jackentaschen. Es ist ungeheuer kalt und wenn wir nicht bald das warme Schulgebäude erreichen, werde ich zu Halk.

"Okay...Lass uns weiter gehen, ja?", sagt sie lächelnd und hackt sich bei mir ein und lässt mich erst wieder los, als wir an unsere Spinde gelangen.

 

Ich nehme meine Bücher für die nächsten drei Stunden raus, da ich keine Lust habe, jede Pause dafür zu opfern, zu den Spinden zu laufen und wieder hinauf in unsere Klasse. Als ich sie alle in meinem Rucksack verstaut habe, gehe ich zu Lucy und lehne mich an dem Schließfach neben ihrem an und warte, bis sie endlich fertig ist. Das habe ich in der Zeit, in der ich sie kenne, schon oft gemacht und irgendwie ist das zur Gewohnheit geworden.

 

"Hast du den Musiktest unterschreiben lassen?", fragt mich Lucy und ich merke, wie sich meine Augen immer mehr weiten. Scheiße. Ich weiß noch nicht einmal, wo ich ihn hingetan hab. Hoffentlich hab ich ihn irgendwo in meinen Rucksack reingeworfen. So wie ich das auch mit allen anderen schriftlichen Arbeiten mache.

"Nein...Du?"

"Auch nicht...was machen wir jetzt?", seufzt sie und knallt die Schließfachtüre zu. Ich zucke mit den Schultern.

"Ich muss meinen zuerst einmal finden...", murmle ich.

"Das wäre mal ein guter Anfang!", kichert sie und legt ihrem Arm um meine Schultern. Wie zwei besoffene versuchen wir schwankend die Treppen zu erklimmen und stoßen ab und zu mal ein paar Leute.

"Hey.", beklagt sich einer.

"Sorry!", entschuldigt sich Lucy, als ich plötzlich am Arm gezogen werde. Instinktiv drehe ich mich um und trete diese Person, was -zugegeben- keine so gute Idee gewesen ist, da wir uns auf den Treppen befinden und Michael gerade Freundschaft mit dem harten Boden schließt. Selber schuld, warum hält er mich auch fest? Seit der Sache mit Markus bin ich irgendwie paranoid geworden.

"Man, Maya!", brüllt er und fuchtelt wild mit seinen Händen rum. Früher hab ich das mal süß gefunden und musste jedes Mal lachen, als er das gemacht hat.

 

"Sorry", entschuldige ich mich monoton und drehe mich, ohne mich nach seiner Gesundheit zu erkunden, wieder um. Dem geht's gut. Wenn es nicht so wäre, hätte er keine Chance gehabt, mich anzuschnauzen.

 

"Warte!", ruft er und ich bleibe seufzend stehen. Der Kerl soll mich endlich mal in Ruhe lassen, verdammt.

 

"Ich hab gehört, dass deine Eltern zurück sind.", sagt er, springt auf und schüttelt sich den imaginären Staub von den Hosen.

 

"Und?", frage ich mit hochgehobenen Augenbrauen.

 

"Grüß sie von mir, ja?", fragt er lächelnd.

 

"Nein.", antworte ich und drehe mich wieder um. Der hat vielleicht Nerven.

 

"Sonst noch was?", frage ich vorsichtshalber. Nicht, dass er mich wieder ruft. Ich höre ihn seufzen.

 

"Nein...nein, das war's."

 

Mit einem "Gut.", schubse ich Lucy vorwärts und bringe somit so viel Abstand wie nur möglich, zwischen Michael und uns.

 

"Was war denn das jetzt?", fragt Lucy. "Willst du mir nicht mal erzählen, was da zwischen euch passiert ist? Soviel ich weiß, seid ihr zwei einmal unzertrennlich gewesen. Was ist jetzt los mit euch?" Ich schüttle den Kopf. "Ist nicht der Rede wert." Und das stimmt auch.

 

Wie ich es mir erhofft habe, ist mein Test irgendwo zwischen Kalender und Aufgabenheft, zusammengefaltet und leicht zerknittert eingequetscht gewesen. Und natürlich nicht unterschrieben. Ich muss es wohl wieder tun..., denke ich und schnappe mir den ersten Kugelschreiber, den ich zu fassen bekomme.

 

"Was tust du denn da?", flüstert Lucy und kommt näher.

 

"Wonach sieht's denn aus?", frage ich und versuche mich zu konzentrieren.

"Du fälschst Unterschriften?!", flüstert sie hektisch und beugt sie noch weiter vor.

 

"Bin nicht stolz drauf.", erwidere ich darauf und versuche den Familiennamen auf die gleiche Weise wie meine Mutter, zu schreiben. Da ich das nicht zum ersten Mal mache, gelingt mir das ganz gut. Haltet mich nicht für bescheuert, ich mach das nur in Notfallsituationen. Außerdem werde ich meinen Eltern sowieso von der Note erzählen. Ich bin ein alleinlebender Teenager, also lasst mich verdammt!

 

"Kannst du das auch bei mir machen?", fragt sie hoffnungsvoll und hält mir ihren Test vor die Nase.

 

"Ne."

 

"Warum denn nicht?", quengelt sie.

 

"Meinen eigenen Test zu unterschreiben ist eine Sache, aber einen fremden zu unterschreiben ist eine andere."

 

"Ach komm schon...bitte! Bitte, bitte, bitte, bitte!", bettelt sie und jeder Anwesende in unserer Klasse dreht sich zu uns um.

 

"Halt die Klappe!", zische ich ihr zu und schlage ihr auf die Hand, mit der sie mir noch immer ihren Test vor die Nase hält. Nach einer kurzen Zeit der Überlegung (und weil ich möchte, dass die Leute da vor uns, uns endlich nicht mehr so anstarren, als wären wir einer Irrenanstalt entflohen), seufze ich.

 

"Welche Note hast du?", frage ich.

 

"Eine eins, wieso?", fragt sie.

 

"Wenn's 'n Fleck wär, würd ich's nicht tun", antworte ich.

 

"Heißt das du..?", fragt sie ganz glücklich. Als Antwort strecke ich ihr meine Hand hin und sie drückt mir ihren Test in die Hand.

 

"Hast du was unterschriebenes bei dir?"

 

"Äh..warte mal..."Während sie in ihrer Tasche herumkramt, schaue ich mir nochmal ihren Test an. Sie hat alle Punkte. Jede einzelne Frage ist richtig beantwortet. Sie muss die Schule wohl wirklich lieben, wenn sie sogar für Musik so viel lernt.

"Ah, da! Der Französischtest von letzter Woche. Hier, Bitte." Französischtest? Welcher Französischtest? Sie reicht mir das Blatt und ich werfe einen kurzen Blick darauf. Es ist das erste Mal, dass ich versuche eine andere Unterschrift nachzumachen.

 

Zuerst probiere ich es auf einem Schmierzettel, ich will ihr immerhin nicht den ganzen Test versauen. Nach ungefähr Fünfzehn Versuchen, schaffe ich es endlich die Unterschrift ihrer Mutter zu kopieren. Zwar sieht es nicht perfekt aus, aber sicher gut genug, um damit durchzukommen.

 

"Danke, danke!", sagt sie lächelnd und springt auf und ab. Genau in diesem Moment klingelt die Schulglocke, die uns freundlicherweise (Sarkasmus) mitteilt, dass unser Unterricht nun beginnt. Rein zufällig drehe ich meinen Kopf nach rechts und bemerke erst jetzt, dass Leonie noch gar nicht da ist. Und auch als der Lehrer rein kommt, die Türe schließt und mit dem Unterrich beginnt, bleibt Leonie noch immer verschwunden.

 

In der Mittagspause hocken Lucy und ich wie immer in unserer Klasse. Ich hab es irgendwie geschafft, diese vier Stunden zu überleben. In Musik sind Lucy und ich mit der gefälschten Unterschrift durchgekommen und in Französisch wurde ich von der Lehrerin angeschrien, weil ich den Test nicht unterschreiben lassen hab. Gut, dass sie nicht weiß, dass ich eigentlich noch nicht einmal die leiseste Ahnung habe, wo er sich befindet. Seufzend packe ich mein Mittagessen aus und sehe mich in der Klasse um. So wie immer, ist keine andere Menschenseele drinnen. Von Leonie gibt es noch immer keine Spur.

 

"Wo ist eigentlich der Psycho?", fragt Lucy und packt ihr Mittagessen aus. Während ich von meinem Sandwich abbeiße, schaue ich sie fragend an. Was für'n Psycho?

"Na Leonie.", sagt sie kauend. Wie aufs Stichwort, kommt besagter Psycho genau in dem Moment in die Klasse gerannt. Sie ist total außer Atem und schweißgebadet.

"Was ist denn mit dir passiert?", frage ich überrascht und ernte dafür einen wütenden Blick von ihr.

"Geht dich gar nichts an!", keift sie mich an. Abwehrend hebe ich meine Hände hoch und widme mich wieder meinem Sandwich zu.

"Was ist dein Prob-au!", kreischt Lucy, als ich ihr gegens Schienbein trete.

"Lass gut sein.", murmle ich und beiße herzhaft zu.

"Aber sie-". Weiter kommt sie nicht, denn ich reiße ein Stück von meine Sandwich ab und stopfe es ihr in den Mund. Sie muss sich nicht für mich einsetzen. Wenn mich Leonies Antwort verletzt hätte, hätte ich nicht die Klappe gehalten. Zwar würde ich am nächsten Tag wahrscheinlich humpelnd und blau gepunktet in der Schule auftauchen, aber ich würde ihr trotzdem meine Meinung sagen und sie mit irgendwas bewerfen. Meinem Wörterbuch vielleicht.

Außerdem würde Leonie, sollte Lucy mich beschützen, dann höchst wahrscheinlich auf Lucy losgehen und ich bezweifle, dass wir wieder so viel Glück haben würden wie das letzte Mal in der Mädchentoilette. Ich höre Lucy einen ergebenen Seufzer von sich geben. Sie hat es verstanden, endlich.

"Wollte dir doch nur helfen...", murmelt sie eher zu sich selbst. Ich muss lächeln.

"Ich weiß. Danke."Sie scheint zufrieden mit meiner Antwort zu sein und lächelt zurück. Leonie bleibt für den Rest des Schultages still und ich merke, dass sie mit ihren Gedanken weiß Gott wo, ist. Jedes Mal, wenn sie ein Lehrer anspricht, reagiert sie erst beim dritten Mal. Zwei Mal musste sogar ich sie mit dem Ellbogen an stupsen. Das sieht ihr gar nicht ähnlich. Was auch immer mit ihr los ist, es muss etwas schreckliches sein.

 

Nach der Schule, sehe ich wie immer Tysons Auto vor der Schule parken. Und, so wie jedes Mal auch, steigt Nathan aus und begrüßt uns lächelnd.

"Hey, Mädels. Lucy, ein Haufen Arbeit wartet auf dich. Thomas hat sich gemeldet und ich musste mich als dein großer Bruder ausgeben. Wie oft hab ich dir gesagt, dass du das Telefon während deiner Schulzeit ausschalten sollst, wenn du es bei Tyson lässt?"

"Sorry...", entschuldigt sie sich schmollend. Nathan scheint kurz verwirrt zu sein, da er seinen Kopf kurz schüttelt.

"Äh...ist okay. Wir müssen uns auf jeden Fall beeilen. Maya, soll ich dich zuhause absetzen?" Ich schüttle lächelnd den Kopf.

"Nein, danke".

"Kein Problem, pass auf dich auf. Wenn was ist, du kannst uns immer anrufen. Lucy, jetzt mach schon. So lange wird Thomas auch nicht leben." Irgendetwas vor sich hinmurmelnd (Ich habe die Worte "Arsch" und "Ignorante Scheiße" heraushören können), umarmt sie mich, das ich verdutzt erwidere, und steigt dann in den Wagen. Nachdem der Wagen aus meiner Sicht verschwunden ist, mache ich mich auf den Weg nachhause.

 

In Gedanken versunken schlendere ich durch die Gegend, an den Straßenpenner vorbei (seine Augenfarbe ist Grün), als ich einen schrillen Schrei höre. Panisch drehe ich mich in jede Richtung.

Nicht panisch werden, hat Tyson mir mal gesagt. Genau, er hat recht. Wenn ich panisch bin, werde ich nichts erreichen. Und noch ein Schrei ertönt und jagt mir eine Gänsehaut ein. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen. Mein Hirn schreit "Hau ab von da!". Aber wann hab ich jemals auf die Warnungen gehört? Ich muss sehen, was da los ist.

 

Für den Anfang gehe ich gerade aus, in der Hoffnung, die schreiende Person zu finden.

 

Nimm deine Umgebung wahr. Erkenne, wo du dich befindest.

 

Hinter mir befindet sich das Schulgebäude, das ich bereits hinter mir gelassen habe. Links von mir ist ein hellgrün gestrichenes Wohngebäude. Daneben sind zwei Lebensmittelläden und ein Restaurant.

Rechts von mir ist die Bushaltestelle, dessen Bus die Leute weiß Gott wohin, hinbringt. Ich bin noch nie mit ihm gefahren.

Nach der Bushaltestelle sind noch weitere Wohngebäude aneinandergereiht, jedes ist in einer anderen Farbe gestrichen. Ein weiterer Schrei zeigt mir die richtige Richtung. Schwer atmend renne ich zum Restaurant hin und biege dann nach links ab. Ich bleibe vor einer dunklen Gasse stehen und betrachte die Rücken der Personen, welche sie mir zugedreht haben.

 

"Lasst mich los, verdammt! Au!", brüllt jemand und meine Augen weiten sich. Da schreit ein Mädchen!

"Halt's Maul!" Einer der Personen bückt sich nach vorne und zieht das Mädchen grob zu sich heran. Leise gehe ich ein paar Schritte nach links, um mir das Mädchen anzusehen.

"Wo ist er?", knurrt der Kerl, der das Mädchen festhält. Es trägt eine schwarze Jacke und neben ihr liegt ein ebenfalls schwarzer Rucksack mit roten Streifen. Der ist wunderschön, hab ihn schon einmal gesehen, weiß nur nicht mehr, wo genau. 

 

"Keine Ahnung.", knurrt das Mädchen zurück. Diese Stimme...dieses Knurren. Das habe ich schon mal irgendwo gehört, das weiß ich.

 

"Schätzchen, lüg mich nicht an.", sagt er dann und zieht sie noch näher an sich ran. Sie versucht sich mit aller Kraft gegen ihn zu wehren, schafft es aber nicht. Als sie zufällig in meine Richtung sieht, weiten sich ihre Augen. Und meine auch. Diese schwarzen Haare, die Stimme und der Rucksack...kein Wunder, dass mir das alles so bekannt vorgekommen ist! All das gehört Leonie! Der aggressiven Leonie, meiner Sitznachbarin! Was zur Hölle macht sie hier?

 

"Was zur Hölle...", murmelt sie und sieht noch immer geschockt in meine Richtung. Wie in einer Art Zeitlupe, bemerke ich, wie sich die drei Personen vor mir langsam zu mir umdrehen. Wie auf Kommando verstecke ich mich und bete zu Gott, dass ich unentdeckt bleibe.

"...wollt ihr Arschlöcher eigentlich genau von mir?!", beendet Leonie den Satz, wahrscheinlich an die drei Personen gerichtet. Ich höre keine Schritte, heißt das, dass sie mich nicht entdeckt haben? Sollte ich vielleicht nachschauen? Aber was ist, wenn sie doch da sind und nur darauf warten, dass ich mich zeige? Ob die Kerle wohl genügend Gehirnmasse besitzen, um darauf zu kommen?

 

"Das weißt du doch längst. Wo ist der Kleine?", fragt wieder der Kerl und ich atme in Gedanken erleichtert aus. Ich bin unentdeckt geblieben. Gott, ich danke dir. Aber ein Problem habe ich noch. Was mache ich jetzt mit Leonie? Soll ich sie alleine zurücklassen und wegrennen? Ganz sicher nicht. Vielleicht ist sie gemein, unhöflich und kann mich nicht leiden, aber trotzdem kann ich sie nicht einfach hier alleine lassen...

 

Auch wenn ich wüsste, welchen Kleinen ihr meint, ich würde es euch-". Moment! Sie wird lauter! Warum spricht sie immer lauter und lauter? Ein Geräusch lässt mich erschrocken hochfahren. Jemand hat eine leere Dose weggekickt! Jemand in meiner Nähe! Scheiße, warum nur?!

 

"-niemals sagen!", brüllt Leonie die letzten Wörter. Ich wurde entdeckt, danke, Message angekommen! Schrei nicht so rum, ich muss noch nachdenken!

Scheiße...was kann ich machen? Was nur? Wenn die mich erwischen, sind wir dran!

 

"Sehe dich immer wieder um. In Notsituationen könnte sogar eine Feder dein Leben retten. Kaum zu glauben, ich weiß, aber es stimmt."

 

Scheiße, Tyson! Wo krieg ich denn jetzt bitte eine Feder her? Sollte ich Tyson vielleicht um Hilfe bitten? Die Schritte kommen immer näher. Hastig fische ich mein Handy aus der Hosentasche und tippe mit zitternder Hand auf dem Display herum. Soll ich ihn vielleicht anrufen?

"Komm raus.", sagt wer ruhig und ich halte die Luft an. Schnell stecke ich mein Handy wieder ein und drücke mich mit dem Rücken stärker an die Wand. Mein Rucksack bohrt sich in meinen Rücken. Moment! Rucksack, Rücken? Rücken, Rucksack? Rucksack! Das ist es! In Blitzgeschwindigkeit nehme ich meinen Rucksack von der Schulter und umfasse die Gurte fest mit meiner linken Hand. Schwer atmend warte ich auf den richtigen Zeitpunkt. Die Schritte kommen immer Näher und als ich kurz um die Ecke schiele und etwas dunkles auf mich zukommen sehe, passiert es. Ich schleudere mit voller Wucht meinen Rucksack auf ihn und warte bis er sich vor Schmerzen krümmt. Wenn ich mich nicht geirrt habe, sollte er sich in kürze schwer atmend zusammen kauern. Mach schon. Los! Doch er bückt sich nur und fasst sich an den Bauch. Fall um, verdammt!

 

"Kleine Göre", zischt er und versucht sich wieder zu erheben, doch bevor er es schafft, trete ich ihn so stark, dass er wie eine Kugel nach hinten rollt. Wäre ich nicht in dieser schlimmen Situation, hätte ich mich wahrscheinlich tot gelacht.

 

"Ey, Alter, alles okay da hinten? Was machst du dort?", ruft einer der beiden Kerle hinter uns. Bevor der Typ, welcher vor mir auf dem Boden liegt, antworten kann, schlage ich auf ihn ein. Ich weiß, dass ich deshalb in die Hölle kommen werde, aber ich muss das machen. Die sind schließlich auch keine Unschuldslämmchen. Als der Mann vor uns keine Antwort erhält, kommt er näher und als er mich erkennt, weiten sich seine Augen.

 

"Wer bist du?", knurrt er mich an und ich weiche instinktiv zurück. Dieser Mann ist gefährlich.

 

"Lauf!", ruft Leonie, doch ich ignoriere sie. Angenommen, ich würde jetzt wirklich weglaufen, was würde dann mit ihr passieren? Kopfschüttelnd bleibe ich da stehen, wo ich gerade bin.

 

"Lass unseren Gast in Ruhe. Wo bleiben nur deine Manieren?", fragt der dritte Kerl, der noch immer Leonie festhält, den einen, der mir den Weg versperrt.

"Kümmere dich um James.", befiehlt er. Grummelnd folgt er dem Befehl und geht an mir vorbei, direkt zu seinem lieben Freund, dem ich vorhin eine verpasst habe. Seit dem liegt er bewusstlos am Boden.

 

"Zurück zu den wichtigen Dingen. Sag mir nun...wo versteckt sich der kleine Noah?", frag er noch einmal und wird immer aggressiver, bis er Leonie wie ein verrückter schüttelt. Der hat eine an der Klatsche, das ist schon mal sicher. Zuerst muss ich den zweiten Kerl loswerden...solange der noch da ist, wir der dritte Leonie nicht loslassen. Ich wünschte ich könnte ihn irgendwie über die Schultern werfen oder sonstige Wurftechniken an ihm ausprobieren, doch leider beherrsche ich keine einzige.

 

Während sich der Typ um James kümmert, schleiche ich mich vorbei, gehe direkt neben sie vorbei, bis ich mich wieder bei meinem Vorigen Versteck befinde, der Ecke. Vielleicht habe ich ja Glück und genau in dem Moment kommen ein paar Passanten vorbei. Fehlanzeige. Keine Menschenseele befindet sich in der Nähe. Das kann doch wohl nicht wahr sein.

 

"Hey, bleib hier!" Erschrocken drehe ich mich um und sehe, wie sicher der Kerl, der sich um James gekümmert hat, schnell erhebt und auf mich zu rennt. Automatisch greife ich mit der linken Hand nach irgendetwas. Als ich nichts zum Greifen bekomme, gehe ich ein paar Schritte nach rechts, ohne den Blick von dem bedrohlich wirkenden Mann zu lassen. Plötzlich stößt meine Hand an etwas hartes und ich greife schnell danach. Es ist eine kleine Tafel, worauf die Empfehlung für das Essen des Tages drauf gekritzelt wurde.

 

Ich warte, bis er bei mir angekommen ist und versucht, mich am Arm zu fassen. Doch bevor er das schafft, weiche ich einen Schritt nach rechts aus, warte, bis er an mir vorbei kommt, hole mit dem Schild sehr weit aus und brate ihm mit voller Kraft eines über. Er fällt wie ein Kartoffelsack auf den Boden.

 

"Vergewissere dich immer, dass dein Gegner wirklich unten liegt und dort auch bleibt.", hat Tyson gesagt. Ich berühre den Kerl vor mir auf dem Boden mit meinen Füßen, um sicher zu sein, dass der Idiot auch wirklich K.o. ist. Als er sich nicht mehr rührt, wende ich mich an der Dreckskerl, der nach wie vor Leonie festhält und ihr nun etwas ins Ohr flüstert, dass ihr anscheinend gar nicht gefällt, denn sie verzieht das Gesicht.

 

"Ähm...'tschuldigung?", sage ich und winke wie eine Verrückte in ihre Richtung. Als der Typ endlich hersieht, weiten sich seine Augen und er lässt Leonie endlich los. Sie weicht zurück und entfernt sich ein paar Meter von ihm, während sie sich ihren Arm reibt.

 

"Du kleine...",weiter kommt er nicht, denn er erhebt sich wie von einer Tarantel gestochen und stürmt auf mich zu. Ich brauche nicht lange, um zu merken, dass nun meine Zeit gekommen ist, in der ich vor ihm wegrennen muss.

 

Schon nach kurzer Zeit spüre ich meine Beine nicht mehr, hoffe nur, dass sie mich weiter tragen werden, bis ich ein Versteck gefunden habe. Als ich das hellblaue Gebäude erkenne, das auch als unsere Schule bekannt ist, renne ich einfach in ihre Richtung. Vielleicht ist da jemand, der mir helfen kann, dieses Monster, das mir noch immer hinterherrennt, loszuwerden. Vielleicht der Hausmeister? Schaufeln können Wunder bewirken. Und wenn ich einen Kerl schon mit meinem Rucksack k.o. schlagen kann, kann das eine Schaufel erst recht. Oder?

 

Als ich vor der Schule angekommen bin, renne ich schnurstracks hinein und verstecke mich keuchend hinter den Treppen. Ich kann nicht mehr, muss eine kleine Pause einlegen. In der Hoffnung, Tyson jetzt anrufen zu können, schnappe ich mir mein Handy und suche erneut seine Nummer. Nach einer kurzen Zeit nimmt er ab.

 

"Bienchen, es ist wie immer eine Ehre, wenn du mich anrufst. Was gibt's?", fragt er schmunzelnd und hört leise zu, während ich ihm mein Problem schildere.

 

"Wo bist du jetzt?", fragt er ernst. Seine Stimme klingt alarmierend.

"Schule", keuche ich, noch immer außer Atem von dem ganzen Rennen.

"Such Michael. Er wird wissen was zu tun ist. Bin auch gleich da. Pass auf dich auf, hörst du?", fragt er streng.

"Michael? Der ist doch gar nicht mehr hier. Sein Unterricht ist zu ende.", sage ich und sehe mich um. Ich sollte vielleicht flüstern. Was, wenn der Kerl wirklich in die Schule reingekommen ist? Plötzlich ertönt ein "Tyson, er will nicht zahlen. Was jetzt?" aus meinem Handy. Ich runzle die Stirn.

"Dann bringt ihn dazu", sagt Tyson genervt.

"Was?", frage ich verwirrt.

"Nicht du, Bienchen. Michael ist noch immer in der Schule. Schau mal im Turnsaal nach. Er bleibt oft länger, wenn er Probleme hat."

"Was hat denn der bitte für Probleme?", fragte ich leicht gereizt. Ich kann förmlich hören, wie Tyson die Augenbrauen hebt.

"Tu nicht so, als wüsstest du's nicht." Darauf erwidere ich nichts. Ich weiß es nicht, hab keine Ahnung und will es auch nicht wissen. Seine Probleme mit Alina gehen mich nichts an.

 

"Geh' ihn jetzt suchen, ich bin gleich da." Ich höre eine Autotür zuknallen.

"Okay."

"Und Maya!", ruft er noch, bevor ich kurz davor bin, aufzulegen.

"Ja?"

"Pass auf dich auf.", sagt er, ehe er auflegt. Ich muss lächeln. Wäre ich jetzt gerade nicht in so einer Situation, würde ich wahrscheinlich kichernd Luftsprünge vollführen. Er macht sich Sorgen um mich...hach!

 

Dennoch, dass ich Michael aufsuche, das kann er vergessen. Vielleicht hat er ja vergessen, was ich zu Michael gesagt habe, aber ich nicht. Ich brauche seinen Schutz nicht. Ich werde es wohl alleine schaffen, mich lange genug zu verstecken, bis Tyson hier aufkreuzt. Dazu brauch ich Michael nicht. Tyson wird sich später höchstwahrscheinlich darüber aufregen, aber das ist mir egal. Ein leises Geräusch reißt mich aus den Gedanken. Was war das?! Scheiße, was, wenn es der Typ ist?! Ein leichter Druck auf meiner Schulter lässt mich erschrocken aufschreien.

 

"Halt die Klappe!", zischt Leonie und hält mir den Mund zu. Leonie? Leonie! Erleichtert seufze ich und nehme ihre Hand von meinem Mund.

 

"Wie bist du hier reingekommen?", flüstere ich. Sie sieht mich verständnislos an.

"Durch den Hintereingang natürlich. Wie...bist du den reingekommen? Doch nicht etwa durch den Haupteingang?", fragt sie leicht geschockt. Beschämt lasse ich meinen Kopf hängen. Was ist denn so schlimm daran?

"Das kann doch wohl nicht wahr sein...noch offensichtlicher ging's nicht. Typisch Anfänger..", seufzt sie. Was für ein Anfänger?

"Hey! Du hast vorhin nicht zwei Typen außer Gefecht gesetzt, ich war das, also halt's Maul!", sage ich wütend. Egal ob Anfänger oder nicht, sie hat kein Recht, mich niederzumachen. Immerhin hab ich ihren Arsch gerettet. Sie seufzt.

"Ja..sorry...hast Recht." Wie jetzt? Das war alles? Blöde Kuh.

"Blöde Kuh.", sage ich kühl.

"Was? Warum?", fragt sie, woraufhin ich ihr mit einem Schulterzucken antworte. Sie seufzt.

"Oh Mann...Hast wahrscheinlich Recht...ich nehm's dir nicht einmal übel.", sagt sie schief grinsend. Oha.

"Also...was...machen wir jetzt?", fragt sie.

"Tyson hat gesagt, ich soll Michael suchen." Darauf nickt sie nur. Warum fragt sie nicht wer Tyson und Michael sind? Hätte das denn nicht jeder normale Mensch gefragt? Oder ist es ihr einfach egal, wer diese Kerle sind, solange sie hier rauskommt?

"Warte hier, ich schau nach, ob die Luft rein ist.", sagt sie, bevor sie unser Versteck verlässt. Nach einer Weile winkt sie mich zu sich und ich führe uns in den Keller, da, wo sich Michael angeblich befindet.

 

" Was wollen die Kerle eigentlich von dir?", frage ich, während wir uns dem Turnsaal immer mehr nähern.

 

"Noah.", antwortet sie.

"Welchen Noah?"

"Du kennst Noah nicht?", fragt sie mit gehobenen Augenbrauen.

"Ich kenne nur einen Noah, aber ich weiß nicht, ob-"

"Ja genau den meine ich. Tysons Bruder." Wie versteinert bleibe ich stehen und sehe sie geschockt an. Sie kennt Tyson? Und Noah? Will die mich verarschen? Kein Wunder, dass sie nicht gefragt hat, wer Tyson und Michael sind. Den einen kennt sie ja und Michael kennt sie sicher auch. Ich weiß nicht wieso, aber ich komm mir irgendwie verarscht vor. Anscheinend kennt hier jeder jeden. Nur ich kenne niemanden. Wer ist mein Freund und wer mein Feind? Kann ich Leonie vertrauen? Sie gehört zu Noah und der will mir nichts Böses, das denke ich jedenfalls. Aber nur weil das möglicherweise stimmen könnte, heißt das nicht, das Leonie auch so denkt.

 

"Bleib locker, was hast du denn plötzlich?", fragt sie verständnislos. Was soll ich ihr darauf bitte antworten? Ich trau dir nicht? Ich weiß nicht, ob du mir helfen oder mich hintergehen willst? Das würde mich nur schwach wirken lassen. Plötzlich meldet sich meine innere Stimme wieder. Und diesmal ist sie sogar nützlich.

 

Hätte sie dich umlegen wollen, hätte sie das schon früher gemacht. Du bist keine Gefahr für sie. Außerdem weißt du gar nicht, wie ihre Beziehung zu Tyson und Noah ist.

 

"Nichts.", antworte ich und setze den Weg fort. Wie bleiben bald vor der großen Saaltür stehen und schweigen eine kurze Zeit.

 

"Du machst auf. Los.", sage ich und sehe zu, wie sie seufzend nach der Türklinke greift und die Tür aufmacht.

Kapitel 14

Als Leonie die Tür aufmacht und eintritt, schlägt mir der Geruch von alten Medizin- und Basketbällen entgegen. Sie sollten mal lüften, keine Frage. Als ich meinen Blick durch den Saal gleiten lasse, bemerke ich, dass -mal abgesehen von Leonie und mir- keine Menschenseele drinnen ist. Auch kein Michael. Hat Tyson nicht gesagt, er wäre hier?

"Ruf ihn!", flüstert Leonie mir hektisch zu.

"Ruf du ihn doch!", flüstere ich zurück und verschränke stur meine Arme vor der Brust.

"Wie heißt er nochmal?", will sie wissen.

"Michael" Augenverdrehend schnappt sie nach Luft.

"Michael!", brüllt sie und ich halte mir die Ohren zu. Scheiße, kann die laut schreien. Wir warten, doch es kommt keine Antwort. Auch nach einer Minute kommt nichts.

"Michael!", brüllt sie jetzt. Nichts.

"Was jetzt?", frage ich und hüpfe nervös von einem Fuß auf den anderen. Wer weiß wo der Kerl von vorhin jetzt ist und Michael ist nicht da. Was sollen wir jetzt machen? Wie lange braucht Tyson denn noch, verdammt? Was ist, wenn er Michael entdeckt hat? Vielleicht hat Michael ihn gesehen und der Kerl hat ihn einfach mitgenommen? Was werden sie mit ihm machen? Was ist, wenn sie ihn brutal umbringen und ihm die Organe entfernen, um sie dann auf einem Schwarzmarkt zu verkaufen? Stopp! Nicht durchdrehen, Maya! Michael wäre sicher nicht so dumm, um sich von so einem Idioten verschleppen zu lassen. Oder? Ganz sicher nicht.

 

"Was hast du? Warum so geschockt?", ertönt Leonies Stimme neben mir und ich erinnere mich, dass ich ja nicht alleine bin.

 

"Nichts."

"Okay...ich schlage vor, nach draußen zu gehen, sich zu verstecken und auf Tyson zu warten. Irgendwelche Einwände?", fragt sie und dreht sich schon um, bereit, loszugehen.

Kopfschüttelnd  folge ich ihr.

 

Als wir die ersten Treppen hinter uns lassen, hören wir plötzlich Schritte. Schnelle, feste Schritte, die sich uns immer mehr und mehr nähern. Von der Panik gepackt, übersehe ich einen grünen Stöpsel einer Plastikflasche, der sich direkt vor meinen Füßen befindet und rutsche wenig elegant aus. Ich schlittere ein paar Meter nach vor, mit dem rechten Fuß voraus. Mir entkommt ein schrilles Kreischen und in der nächsten Sekunde verfluche ich mich selbst. Zuerst rutsche ich auf so einem blöden Plastikteil aus, fühle mich wie im falschen Film, schlittere durch die Gänge und teile noch dazu dem Kerl, der uns schon die ganze Zeit verfolgt, freundlicherweise unseren Standort mit. Ich dämliche Pute.

Leonie kommt mit leisen Schritten zu mir her gerannt.

 

"Alles okay?", flüstert sie hektisch und versucht mir hoch zu helfen.

"Alles bestens." , grummel ich und beende den Kontakt zwischen meinem Hintern und dem Boden. Sollte ich das hier überleben, werde ich mit dem verblödeten Putzpersonal mal ein Hühnchen rupfen. Die Sauberkeit dieses Gebäudes ist ja unter jeder Sau.

"Komm.", flüstert sie und zieht mich, in der Angst wieder umzufallen, aus dem Gebäude.

 

Gerade machen wir die Eingangstür des Schulgebäudes auf, als ich aus dem Augenwinkel eine schwarze Gestalt um die Ecke umbiegen sehe. Sie nähert sich uns immer mehr. Als wir hinaustreten, schlägt uns eine leicht kühle Luft entgegen. Hektisch links und rechts sehend, suchen wir nach dem besten Fluchtweg und entscheiden uns letzen Endes dafür, einfach gerade aus zu rennen. Wir lassen die Schule schnell hinter uns und rennen erneut um unser Leben, doch leider zu langsam, denn der Kerl erwischt mich an der Schulter und dreht mich heftig um. Er zerrt mich an meinen Haare näher zu sich. Doch bevor er irgendwas sagen kann, entweicht ihm ein schmerzerfülltes Zischen. Ein Blick nach hinten verrät mir, dass Leonie hinter ihm steht. Mit einem Messer in der Hand und die Klinge steckt in seiner linken Schulter. Rückwerts taumelnd lässt er meine Haare los und fasst das Messer, welche noch immer aus seiner linken Schulter herausragt. Und genau in diesem Moment höre ich quietschende Reifen und ein Auto bleibt direkt neben mir auf der Straße stehen. Es ist Tysons Auto. Endlich.

 

Mit wütendem Gesichtsausdruck steigt er aus, knallt die Tür zu und kommt zielstrebig zu uns. Plötzlich weiten sich die Augen des Kerls und er reißt erschrocken den Mund auf. Verwirrt taumelt er zurück. Seine Augen sehen nun hektisch hin und her, als würde jetzt er nach dem besten Fluchtweg suchen.

 

"Alles okay bei euch?", fragt Tyson laut und deutlich und baut sich schützend vor mir auf. Nein, bist du blind? Ich sehe ihn abwartend an. Der muss doch wohl merken, dass nichts okay ist.

 

"Hast du sie angefasst?", fragt Tyson den Kerl knurrend, der daraufhin schnell den Kopf schüttelt. Er verneint. Scheiß Lügner.

 

Genau in diesem Moment wirft sich Tyson auf ihn und prügelt auf ihn ein. Als sich dieser Kerl nicht mehr wehrt, steht er auf und tretet weiter auf ihn ein. Das alles passiert viel zu schnell, ich komme gar nicht mal dazu, irgendetwas zu tun. Plötzlich spüre ich etwas an meiner Hand. Als ich nach rechts blicke, bemerke ich, dass es Leonies Hand war, die aus Versehen an meiner angekommen ist. Ihre Augen sind geweitet und sie starrt wie hypnotisiert auf das  Geschehen, welches sich vor uns abspielt.

 

"Lüg nicht, Arschloch. Schau sie dir nochmal an.", knurrt Tyson ihm zu. Er hockt sich neben ihm hin und zieht ihn an seinem T-Shirt, sodass er mich anschauen muss. Was wird das, bitte? Bin ich echt so hässlich?

 

"Warum hält sie ihren Kopf und beißt die Zähne zusammen? Wenn du sie doch nicht angefasst hast?", gibt er zwischen zusammen gebissenen Zähnen von sich und knallt den Schädel des Typen gegen den Boden. Seine Augen beginnen zu flattern, er ist kurz davor, in Ohnmacht zu fallen, doch Tyson lässt ihn nicht. Noch ein weiteres Mal zieht er ihn am T-Shirt zu sich.

 

"Du weißt doch wie ich reagiere, wenn jemand jemanden auch nur berührt, der zu mir gehört, nicht wahr? Warum tust du das dann?", fragt er ihn gespielt enttäuscht.

 

"I-Ich wusste nicht, dass sie-", er wird durch einen weiteren  Knall gegen den Betonboden unterbrochen.

 

"Das ist mir egal. Jetzt weißt du es. Tu mir einen Gefallen. Wenn du aufwachst, sag all deinen erbärmlichen Freunden, dass dieses Mädchen-", er zeigt auf mich " für Kerle wie euch tabu ist. Wer sie auch nur ansieht, den komm ich besuchen. Und das wollt ihr doch nicht, oder? Du erinnerst dich doch sicherlich noch, was beim letzten Mal passiert ist.", knurrt er, ehe er ihm noch ein letztes Mal den Kopf auf den kalten und festen Betonboden knallt. Dem Typen fallen die Augen zu und sein Kopf fällt nach links auf die Seite. Eine stille Minute vergeht, ehe jemand beginnt, sich zu rühren. Es ist Tyson.

"Steigt ins Auto. Los."

 

Die Autofahrt verläuft still, keiner traut sich auch nur ein Wort zu sagen. Nach einer Weile bleiben wir stehen. Ein Blick aus dem Fenster verrät mir, dass wir bei Tyson stehen geblieben sind. Nach dem Parken führt er uns in seine Wohnung und geht wortlos in die Küche.

 

Völlig planlos stehen Leonie und ich jetzt wie bestellt und nicht abgeholt im Vorzimmer rum und sehen uns an. Was jetzt?

 

"Setzen wir uns erst mal hin.", schlage ich vor und gehe ins Wohnzimmer. Total fertig lasse ich mich auf die unzähligen Kissen in der von mir getauften "Sitzecke" fallen und schließe meine Augen. Endlich wieder Sicherheit. Endlich keine Gefahren mehr. Ich hebe meinen Kopf, um kurz nach Leonie zu schauen und sehe, dass sie noch immer mitten im Zimmer steht. Was hat sie?

 

"Warum setzt du dich nicht? Magst du vielleicht hierhin?", frage ich und nicke auf die Kissen vor mir. Sie schüttelt den Kopf und lächelt leicht. Dann steuert sie genau auf die Couch zu. Schulterzuckend lasse ich mich wieder zurückfallen und genieße diese Ruhe, bis Tyson wieder ins Zimmer kommt und Leonie sich bedankt. Wofür bedankt sie sich?

 

"Maya. Du auch.", sagt Tyson streng.

"Was ich a-au!" Panisch öffne ich meine Augen wieder und erhebe mich. Da befindet sich ein Tuch auf meinem Bein. Irgendwas kaltes ist darin eingewickelt. Als ich es genauer untersuche, bemerke ich, dass es Eis ist. Wozu brauch ich das denn, so sehr verletzt bin jetzt auch nicht. Eigentlich fast gar nicht. Das meiste hat sowieso Leonie abbekommen, ich bin immerhin erst später dazugekommen. Schulterzuckend nehme ich das eingewickelte Eis, lehne mich wieder zurück, schließe die Augen und lege das Eis auf meine Stirn. Es ist schön kühl und es fühlt sich einfach wundervoll an.

 

"Also.", höre ich Tyson seufzen. "Was ist passiert? Was wollte der von euch?". Und so beginnt Leonie alles zu erzählen.

 

"Heute Morgen bin ich auf Weg zur Schule von drei Typen überfallen worden. Sie haben begonnen mich über Noah auszufragen. Sie wollten wissen wo er ist und so weiter. Ich wollte nichts sagen und wollte auch keinen Stress mit ihnen, also hab ich einem von ihnen auf die Schnauze geschlagen und bin weggerannt."

Das ist natürlich genau das richtige, um zu signalisieren, dass man keinen Ärger möchte.

"Ich hab ein paar Umwege gemacht, um sicher zu gehen, dass sie mir nicht folgen. Dann bin ich in die Schule rein gerannt."

Deshalb ist sie also heute Morgen zu spät gekommen.

 

"Dann, nach der Schule, wollte ich schnell nachhause, aber die Kerle haben vor der Schule auf mich gewartet. Sie haben mich ein paar Straßen weiter in eine Sackgasse gedrängt und haben mich weiter ausgefragt. Sie wurden wütend, gewalttätig und aggressiv. Dann ist Maya dazu gekommen. Ich denk mal, den Rest weißt du selber.", beendet sie ihre Geschichte. Es vergehen ein paar Minuten, ehe Tyson antwortet.

 

"Ich hab keine Ahnung, was ihr mit diesen Kerlen zu tun habt. Und wenn ich ehrlich sein soll, ist es mir auch egal. Aber zieht nicht andere da mit rein. Zieh Maya da nicht rein, sie hat nichts damit zu tun.", sagt er streng. Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als ich ein: "Du hast hier nichts zu melden, also halt die Klappe!" von Tyson höre. Bitte was?! Wütend springe ich auf.

 

"Was zur Hölle ist dein Problem?!", frage ich ihn und gehe auf ihn zu.

 

"Mein Problem?! Du bist mein Problem! Mein Problem ist, dass du dich jedes Mal in Gefahr bringst. Du ziehst sie förmlich an! Das ist doch nicht normal. Und du kannst dich noch nicht mal wehren. Machst du das mit Absicht? Willst du dafür schuld sein, dass ich vorhin fast drei Passanten überfahren hätte, nur um zu dir zu kommen?", brüllt er jetzt.

 

"Du hast gesagt, ich soll anrufen, wenn was ist! Und heute war nun mal was! Ich kann doch nichts dafür!", brülle ich zurück.

 

"Doch! Du hättest einfach weiter gehen können. Sie wäre schon irgendwie klar gekommen, ist sicher nicht das erste Mal, dass sie in sowas hineingerät. Aber du? Du hast keine Erfahrung, du hast gar nichts!" Er kommt mir immer näher.

 

"Ich konnte sie doch nicht alleine lassen. Man muss sich nicht immer prügeln können, um zu helfen. Auch wenn ich mich nicht wehren kann, kann ich immer noch meinen Kopf verwenden, um aus solchen Situationen rauszukommen."

 

"Um deinen Kopf benutzen zu können, muss da erst einmal was drinnen sein.", sagt er und sieht mich wütend an. Halt.

 

"Sagst du mir gerade, ich hätte kein Hirn? Ich wäre dumm?"

 

"Nein, ich tu nur so."

 

"Okay, ich frage jetzt nochmal. Was genau ist jetzt eigentlich dein Problem?", frage ich ganz ruhig, weil ich merke, dass wir so nicht weiter kommen werden. Er sagt nichts, versucht aber immerhin die richtigen Worte zu finden.

 

" Stört es dich, dass ich dich angerufen habe und um Hilfe gebeten habe? Kein Problem. Ich habe dich heute zum letzten Mal angerufen. Auch wenn ich kurz vor dem Verrecken sein sollte, werde ich dich nicht mehr anrufen."

 

"Was-", beginnt er, doch ich unterbreche ihn. Jetzt muss er mal die Fresse halten. Ich bin mit Reden dran.

 

"Anscheinend störe ich dich überhaupt, aber ich verstehe nicht, wieso du mich dann zu dir geholt hast. War es wegen Nathan? Oder aus Mitleid? Das hättest du nicht tun müssen. Ich wette, du bereust es bereits. Aber hey, keine Sorge. Man kann für gewöhnlich fast alle Fehler rückgängig machen. Tut mir leid, dass du mich so lange ertragen musstest.", sage ich kalt und drehe mich zum Gehen um.

 

"Maya! Bleib hier.", sagt er warnend.

 

"Vergiss es, ich hab kein Bock mehr auf das Ganze.", mit diesen Worten knalle ich seine Haustür zu und renne bis zur Busstation. Wie auf Kommando kommt der Bus her gerollt und innerhalb einer Minute hab ich schon meinen Platz gefunden und der Bus beginnt los zu fahren. Ich drücke mein Gesicht auf die kühle Fensterscheibe und schließe die Augen. Wer hätte geglaubt, dass das alles so schnell enden würde?

 

Zuhause angekommen, werde ich freundlich von meinen Eltern empfangen.

"Willkommen Zuhause, Maus. Oh. Alles in Ordnung?", fragt meine Mutter besorgt. Wortlos nicke ich. Den ganzen Weg über habe ich versucht, nicht an das Geschehene und an das Gesagte zu denken, aber es ging nicht. Ich muss jetzt noch immer daran denken, obwohl ich nicht will. Ich bin sein Problem, hat er gesagt. Ich ziehe Probleme an. Ist ja nicht so, als hätte ich darum gebeten, so oft entführt und angegriffen zu werden. Auch ich würde liebend gern ein sicheres Leben leben. Ich hatte so ein Leben ja auch, bevor all das passiert ist.

Erst jetzt bemerke ich, dass mich meine Mutter komisch anschaut. Schnell schüttel ich meinen Kopf, um ihn frei zu bekommen. Naja...laut Tyson ist er nicht nur frei, nein, er ist sogar leer.

 

"Okay...Das Essen ist fertig. Komm, geh dich schnell umziehen, wasche dir die Hände und komm dann zum Essen. Okay?", fragt sie lächelnd. Ich nicke und gehe in mein Zimmer. In das Zimmer, das noch immer so leer wie eine Gefängniszelle ist. Seufzend gehe ich zu meinem Schrank und suche mir was zum Umziehen raus. Ich schnappe mir eine schwarze Jogginghose und ein schwarzes T-Shirt raus und ziehe mich um. Dann gehe ich ins Bad und wasche mir die Hände, ehe ich wieder in die Küche gehe, wo das versprochene Essen schon auf mich wartet.

 

Nach dem Essen melde ich mich freiwillig für den Abwasch, was meine Eltern mehr als nur staunen lässt, was mich nicht sonderlich wundert. Wenn's ums Abwaschen geht, bin ich immer die erste, die einen Abflug macht. Aber heute nicht. Es gibt Sachen, über die ich nicht nachdenken möchte. Und dagegen hilft nun mal Abwaschen.

Während ich Waschmittel auf den Schwamm verteile, gehen mir tausend Szenen durch den Kopf. Der Tag, an dem ich Tyson zum ersten Mal gesehen habe. Oder, an dem ich nicht ihn gesehen habe. Genaugenommen habe ich ja zuerst mit seinem Hintern kommuniziert, als er mich wie einen Kartoffelsack auf seiner Schulter aus der Halle getragen hat, in der mich Markus gefesselt und fast verkauft hätte. Oder, als ich zum ersten Mal in Tysons Bett aufgewacht bin und er allen Ernstes meine Körbchengröße wissen wollte. Dann taucht die Szene auf, in der Tyson mein Panda-Bild entdeckt hat. Er wollte sogar darum wetten. Und am Ende hat er es bekommen. Er wird doch nicht irgendwas peinliches damit anstellen, oder? Ich denke nicht... Jetzt kommt die Szene, in der ich Tysons Zimmer betrete und ihn traurig auf seinem Bett hocken sehe. Das war das erste Mal, dass ich ihn so erlebt habe. Er hat so verletzlich ausgesehen... Auch ich habe mich damals so deprimiert gefühlt. Es hat mich ungemein gestört, dass ihn jemand so traurig gemacht hat. Ich hasse es, dass er solche Schicksalsschläge erleiden musste...

 Plötzlich taucht ohne jegliche Vorwarnung die Szene mit dem gestrigen Kuss auf. Dieser Kuss...der hat sich so gut angefühlt. Aber er hat mich auch total verwirrt. Mein Körper und meine Gefühle haben damals wie verrückt gespielt. Ich bin mir heute noch immer nicht sicher, woran das gelegen ist. Beginne ich wirklich, mich in Tyson zu verknallen? Das kann doch nicht sein...ich kenne ihn noch nicht mal so lange. Nein, das gestern ist nur ein Versehen gewesen.Ich seufze. Wie zur Hölle kann man jemanden aus Versehen wie ein wildes Tier anspringen und  küssen?!

 

Das ist jetzt sowieso egal. Es ist vorbei. Es war nur ein Kuss. Das hat rein gar nichts zu bedeuten. Mehr ist da nicht.

 

"Maya Maus, was ist los mit dir?", fragt mich Mom und holt mich so aus meinen Gedanken. Ich zwinge mich zu lächeln.

"Nichts, keine Sorge, Mom." Ein kurzer Moment vergeht, in dem sie mich nur wortlos anstarrt. Sie weiß, dass ich lüge. Aber ich kann es ihr nicht sagen. Ich kann ihr nichts sagen. Nichts von all dem was in den letzten Tagen passiert ist.

"Ich helfe dir mal lieber.", sagt sie und schnappt sich den anderen Schwamm. Stumm lasse ich es geschehen.

"Sag mal... bist du verliebt?", fragt mich meine Mutter plötzlich.

Bitte was?

Mir rutscht der Teller aus der Hand, fällt aber glücklicherweise wieder zurück in die Spüle. Erleichtert stelle ich fest, dass er noch ganz geblieben ist.

"Nein...eigentlich nicht. Warum?", frage ich. Sie zuckt mit den Schultern.

"War nur eine Frage. Darf dich deine Mutter  sowas nicht fragen?", fragt sie gespielt geschockt.

"Doch, natürlich.", antworte ich verdutzt. Sie seufzt.

"Ah...wenn ich mich nur zurückerinnere...Also ich war damals verliebt, als ich in deinem Alter war.", beginnt sie zu erzählen.

 

"Ich weiß noch, wie ich mich bei meinem ersten Kuss gefühlt habe. Ich hatte so ein total starkes Kribbeln im Bauch. Und mein Herz sollte ich lieber nicht erwähnen. Es hat wie verrückt geschlagen. Ich dachte, ich würde an Herzversagen sterben." Die Erinnerung bringt sie zum kichern.

 

Herzrasen? Ein Kribbeln im Bauch? Scheiße.

 

"Solltest du das jemals fühlen, dann weißt du, dass du diese Person magst. Sogar sehr magst. Dein Körper merkt es oft schneller als du selbst."

 

Es war nicht nur ein Kuss...

 

"Warum so geschockt?", reißt mich meine Mom aus meinen Gedanken. Ich schüttle meinen Kopf, um diesen Gedanken zu verscheuchen.

 

"Es ist nichts.", murmle ich.

Noch ein Seufzen ertönt von meiner Mutter. Ich greife wieder nach dem Teller und fahre mit dem Schrubben fort, doch nach ein paar Minuten halte ich es nicht mehr aus. Diese Stille erdrückt mich irgendwie. Ich will nicht im selben Raum mit meiner Mutter sein und sie nur anschweigen. Dafür sehe ich sie viel zu selten. Wo ich grad dabei bin...

 

"Wann müssen du und Dad eigentlich wieder gehen?", frage ich und meine Mutter lächelt leicht.

"Du kannst es wohl kaum erwarten, uns los zu werden, was?" fragt sie und lächelt mich an. Das stimmt nicht. Ganz und gar nicht.

"Ich will mich nur...vorbereiten.", murmle ich. Meine Mutter starrt mich überrascht an.

"Nächsten Montag... Aber du weißt, wir müssen auch nicht, einer von uns kann ja hier bleiben, wenn-"

"Nichts da, ihr werdet gehen.", unterbreche ich sie. Wow...schon nächsten Montag...

"Ich weiß doch, wie viel euch das bedeutet.", füge ich etwas sanfter hinzu.

"Egal wie sehr uns das auch bedeuten mag, du bedeutest uns viel mehr, Maya. Das wirst du immer, immerhin bist du unsere Tochter. Wir lieben dich und wir werden dich auch immer lieben.", sagt meine Mutter ernst. Wow...das habe ich schon lange nicht mehr von ihr gehört. Ich lege den Teller, den ich gerade geschrubbt habe, zurück in die Spüle und umarme meine Mutter fest. Ein plötzliches Schniefen lässt mich inne halten.

 

"Mom, alles okay?", frage ich erschrocken. Ich sehe, wie ihr Tränen über ihr Gesicht laufen, meine Frage ist also komplett überflüssig. Ich bin so ein Idiot. Meine Mutter nickt nur und drückt mich fester an sich.

 

"Mum, ich hab dich lieb." Das muss einfach gesagt werden.

 

"Ich dich auch mein Schatz. Deshalb musst du auch wissen, dass du uns alles erzählen kannst." Sie versucht Augenkontakt mit mir herzustellen.

 

"Wirklich alles.", versichert sie. Ich nicke lächelnd.

 

"Danke."

 

Kapitel 15

 

Nach dem emotionalen Abwasch begebe ich mich in mein eigenes Zimmer, das nach wie vor an eine Gefängniszelle erinnert. Lange werde ich das nicht mehr aushalten können, ich muss was dagegen tun. Jetzt. Sofort. Mit diesem Gedanken setze ich mich an meinen Schreibtisch und starte meinen Computer. Im Internet werden sicher ein paar Ideen zu finden sein. Noch während er hochfährt, höre ich plötzlich meine Mutter nach mir rufen.

 

"Ja?", rufe ich.

"Besuch!", antwortet sie und ich stehe seufzend auf. Wer auch immer das ist, ich mag ihn nicht. Wegen ihm muss ich aufstehen. Als ob ich nichts besseres zu tun haben würde. Echt jetzt.

Als ich das Wohnzimmer betrete, starre ich verdutzt die Person , welche sich lächelnd mit meinen Eltern unterhält, an. Was macht Nathan hier?

 

"Hey Maya!", sagt er lächelnd.

"Hey, was machst du denn hier?", frage ich und bemerke den strafenden Blick, den meine Mutter mir von der Seite zuwirft. Ja, was denn? Ist doch 'ne berechtigte Frage, oder? Hab ich vielleicht etwas falsch gemacht?

 

"Was möchtest du trinken, Nathan?", fragt Mom lächelnd. Ahja Manieren. Ich wusste, da war was.

"Nichts, danke, wollte nur kurz nach Maya sehen. Wenn ich darf.", hängt er noch leicht schüchtern an. Nathan und schüchtern? Ha! Sowas bekomme ich selten zu Gesicht. Ich versuche, mir das Lächeln zu verkneifen und tu so, als würde ich unseren Kronleuchter bewundern. Puh, der sollte mal abgestaubt werden. Als ich wieder nach unten sehe, bemerke ich Nathans grimmigen Blick. Entschuldigend lächle ich ihn an und nicke in die Richtung meines  Zimmers.

 

"Ist das okay?", frage ich meine Eltern. Meine Mom nickt grinsend und mein Vater schaut vollkommen ausdruckslos her. Kein Wunder, seine Tochter schleppt gerade einen ihm fast fremden Jungen in ihr Zimmer. Wenige Väter würden da lachend Luftsprünge machen. Meiner gehört jedenfalls nicht dazu.

In meinem Zimmer angekommen, setzte ich mich auf mein Bett und klopfe neben mir aufs Bett. Nach kurzem Überlegen, setzt er sich schließlich neben mir.

 

"Also, was gibt's?"

"Es... geht um Tyson." Ich seufze. War ja klar, worum sonst.

"Was war da eigentlich los? Als ich zu ihm gegangen bin, war er total gereizt und aggressiv. Sogar noch mehr als sonst." Ich zucke mit den Schultern. Was weiß ich, was Tysons Problem ist.

"Sagst du's mir? Bitte?", bittet er und versucht mit mir Blickkontakt aufzunehmen, was ihm total schwer fällt, da ich die ganze Zeit auf meine himmelblauen Kuschelsocken starre, die ich gerade an habe.

Gott, wie ich Kuschelsocken liebe. Sie sind so flauschig und super kuschelig. Ich weiß gar nicht, was ich ohne sie-

"Maya? Ach komm schon!", beklagt sich Nathan. Ich werfe ihm einen wütenden Blick zu. Fein! Nach einem tiefen Seufzer lege ich los.

 

"Ich hab nach der Schule Leonie in einer Gasse gesehen. Sie war von irgendwelchen Kerlen umzingelt, die von ihr wissen wollten, wo Noah ist. Sie wollte es ihnen nicht sagen, also wurden sie wütend und handgreiflich. Wo ich jetzt so darüber nachdenke, tut es mir leid, dass ich keinem von denen in die Weichteile getreten hab. Jedenfalls hab ich ihr helfen wollen und hab die ganze Zeit Tysons Stimme in meinem Kopf gehört. Schon klar, das klingt jetzt verrückt, aber so war es wirklich."

"Und dann?", fragt Nathan und hört gespannt zu.

"Irgendwie habe ich es geschafft - eben mit Tysons Stimme im Kopf- zwei von den drei Kerlen K.o. zu schlagen. Dann haben wir es irgendwie geschafft, in die Schule zu flüchten. Ich hab Tyson angerufen und der meinte, dass ich Michael suchen soll, der natürlich mal wieder nicht da war, als ich ihn gebraucht habe. Irgendwann ist dann Tyson aufgekreuzt und hat den Kerl fertig gemacht." Den Teil mit dem Stöpsel habe ich sicherheitshalber ausgelassen, das war etwas peinlich.

"Dann, als wir zuhause angekommen sind, ist Tyson komplett ausgerastet. Hat mich angeschrien, meinte ich wäre dumm und keine Ahnung was er noch gesagt hat. Er mag mich nicht Nathan, ich störe und nerve ihn die ganze Zeit. Wieso hat er mich bitte so lange ausgehalten? Du hättest ihn damals nicht überreden sollen, mich zu retten. Ernsthaft, du hättest einfach nichts tun sollen."

Er seufzt.

"Ah Maya...halt doch einfach die Klappe. So dramatisch kenn ich dich gar nicht.", sagt er belustigt. Stimmt. Das hat gerade wirklich dramatisch geklungen.

 

 Scheiße man, wegen Tyson werd ich noch zur Dramaqueen!

 

"Wenn ich ehrlich sein soll...", beginnt er. "Weiß ich selbst nicht so genau, was mit ihm zur Zeit los ist.  Ich kann dir aber auf jeden Fall sagen, dass du dir das, was er von sich gibt, nicht zu Herzen nehmen sollst. Ich glaub gerade ist er einfach nur verwirrt und lässt das an andere aus. Das verstehst du, oder?", fragt er und ich fühle mich wie ein kleines Kind.

"Jetzt rede nicht so bescheuert mit mir. Ich bin kein Kind!"  Nathan lächelt.

"Manchmal versteht ihr mich nur, wenn ich so rede."  Ich seufze. Ich glaube, Nathan ist wirklich der reifere von uns allen.  Wie hält er es nur mit uns aus?

"Und jetzt? Was will klein Maya jetzt machen? ", fragt er mit schmollend. Ich hebe eine Augenbraue.

"Hau ab. Los." Er kichert.

"Nein, echt jetzt. Willst du irgendwas unternehmen? Um auf andere Gedanken zu kommen? Wir haben noch ein paar Stunden, bis du ins Bett musst.", sagt er grinsend. Ich schnappe mir ein Kissen und verprügel ihn damit. Anstatt mir das Kissen aus der Hand zu reißen, lässt er es zu und lacht wie ein betrunkener. Nach einer Weile versucht er irgendwas zu sagen.

"Ma- Hey, echt- ya", versucht er zu sagen.

"Bitte was?", frage ich und höre auf, mit dem Kissen auf ihn einzuschlagen.

"Puh, das hat Spaß gemacht. Weiß nicht, wann ich das letzte Mal so sehr gelacht habe." Er fährt sich durch sein Haar und richtet sich auf.

"Also, was sagst du? Bock, was zu machen?", fragt er erneut und schiebt diesmal seine Hände in die hinteren Hosentaschen seiner Jeans. Wie jetzt, das war sein Ernst?

"Ähm... okay. Klar, wieso nicht.", stimme ich zu und  deute ihm, zuerst aus dem Zimmer zu treten.

"Schon 'ne Idee, was du machen willst?", fragt er mich und ich schüttle den Kopf. Er hat mich gefragt, was mit ihm zu unternehmen.

 

 In unserem Wohnzimmer angekommen, sehe ich wie meine Eltern auf unserem Sofa sitzen und sich über irgendetwas beugen. Wir stehen ungefähr fünf Minuten lang stumm da und keiner von den beiden scheint es auch nur zu merken.

"Ah, Maya! Oh...wo willst du denn hin?", fragt mich Mom, die uns endlich bemerkt hat.

"Äh...wir wollten raus. Was macht ihr denn da?"

"Wir schauen uns alte Fotos an. Es ist wirklich erstaunlich, wie schnell die Zeit vergeht. Schau mal, was wir gefunden haben."

Sie hält ein Foto hoch, auf dem zwei Mädchen lächelnd in einem Park schaukeln.

"Das ist Alina, nicht wahr?", fragt Mom lächelnd und fügt hinzu: "Die hab ich ja schon lange nicht mehr gesehen, was wohl aus ihr geworden ist...."

"Eine erbärmliche Schlampe...", knurre ich, ehe mir bewusst wird, was ich da überhaupt von mir gebe. Ich bereue es, diese Fotos nicht verbrannt zu haben.

"Was hast du gesagt?", fragt Mom, die so aussieht, als hätte ich sie aus den Gedanken gerissen.

"Äh..ich...ich brauche eine neue Lampe...im Zimmer. Es ist so dunkel drinnen.", sage ich und trete Nathan, als er sich den Mund hält, um nicht auf der Stelle los zu lachen. Vollidiot. Mein Vater starrt ihn an, als hätte Nathan um meine Hand angehalten. Er bemerkt den bösen Blick meines Vaters und stellt sich plötzlich wie ein Soldat gerade hin und starrt ins Nirgendwo. Ich muss grinsen und schüttle ungläubig den Kopf. Immer wieder überraschend zu sehen, wozu Väter alles fähig sind. Oder besser gesagt ihre Blicke.

"Das mit deiner Lampe klären wie später. Und wo soll's denn hingehen?", fragt uns Mom, als gerade die Türklingel ertönt. Ich seufze.

"Zur Tür...", murmle ich und setzte mich in Bewegung, um die Tür zu öffnen. Und sie gleich darauf hin wieder zu zuknallen. Super! Der hat mir gerade noch gefehlt.

"Wer ist es?", fragt Mom, ehe sie die Tür selbst aufmacht. Davor wartet ein lächelnder Michael. Das Gesicht meiner Mutter erhellt sich, sobald sie ihn erkennt.

"Michael! Endlich bekommen wir dich mal zu Gesicht, dich haben wir ja schon lange nicht mehr gesehen. Wie geht es dir und deinen Eltern?", fragt sie ihn, bevor sie ihn stürmisch umarmt. Sie kennen sich schon seit Jahren, da ist es kein Wunder, dass sie sich so sehr freut, ihn zu sehen. Michael gehört praktisch zur Familie.

"Uns geht's allen gut, danke. Und ihnen?", fragt er, während meine Mom ihn vorbei an Nathan und mir und direkt ins Wohnzimmer schiebt und auf die Couch drückt.

"Uns geht's auch ganz gut. Wir haben gerade die alten Fotoalben heraus gekramt. Was sagst du, möchtest du vielleicht mit schauen? Zu dieser Zeit kannten wir uns noch gar nicht."

"Nein, das will er nicht!", sage ich etwas lauter als geplant und ziehe somit die ganze Aufmerksamkeit auf mich.

"Doch, ich will!", antwortet Michael und zieht das Fotoalbum, welches aufgeschlagen auf dem Tisch steht, näher zu sich heran. Nachdem er ein paar Sekunden auf die aufgeschlagene Seite starrt, sieht er plötzlich fragend in die Runde.

"Wer ist denn das da?", fragt er verdutzt und tippt auf das Foto mit den zwei Händchenhaltenden Mädchen.

"Na Maya.", sagt mein Vater schmunzelnd.

"Oh...ich wusste nicht, dass sie so süß war.", sagt er lächelnd. Mistkerl. Versucht hier, einen auf Charmeur zu machen.

 

Er hat dir doch nur ein Kompliment gemacht, werde jetzt bloß nicht rot! Es war noch nicht einmal echt, bloß Show!

 

"Und das andere Mädchen?"

"Das ist Alina. Mayas frühere beste Freundin. Die beiden waren unzertrennlich. Schade, dass sie sich auseinander gelebt haben.", sagt Mom seufzend. Also meiner Meinung nach übertreibt sie maßlos. Freundschaften zerbrechen nun mal, so ist das Leben. Menschen streiten, leben sich auseinander oder finden bessere Freunde, blöde beschissene Tussen, die den ganzen Tag nichts besseres zu tun haben, als anderen das Leben zur Hölle zu machen, sie zu Mobben und einem das Gefühl geben, wertlos und auf der ganzen Welt unerwünscht zu sein!

"Äh...M-Maya?", höre ich eine leise Stimme sagen. Überrascht sehe ich nach links und bemerke Nathan. Er sieht leicht beängstigt aus.

"Hm?", frage ich.

"Alles okay? "

"Klar, wieso?"

"Naja....deine Hände...", sagt er, während er drauf zeigt.  Überrascht blicke ich hinunter. Meine Hände sind verkrampft. Langsam lockere ich sie wieder und versuche mich zu beruhigen. Meine Eltern dürfen nicht bemerken, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie würden Fragen stellen. Fragen, zu denen ich keine Antworten weiß. Um mich vollkommen zu beruhigen, atme ich noch einmal tief ein und aus. Die Freundschaft mit Alina liegt in der Vergangenheit. Sie ist schon lange vorbei und das ist auch gut so. Jetzt noch darüber nachzudenken, was sie gemacht und gesagt hat, wird mich nur runter ziehen. Und darauf hab ich alles andere als Lust.

"Oh...Das ist Alina?", fragt Michael verwundert.

"Ja, ein ganz reizendes Mädchen. Ich nehme mal an, du kennst sie.", sagt meine Mutter leicht lächelnd. Michael nickt wie in Trance.

"Ja, das ist meine-"

"Warum bist du hier, Michael?", frage ich so ruhig wie nur möglich. Er soll gehen. Ich will ihn hier nicht haben. Nicht, wenn er vor meinen Eltern mit seiner Freundin angibt. Wen interessiert es, dass sie seine Freundin ist? Niemanden! Er soll also gefälligst die Schnauze halten und abzischen.

"K-Können wir vielleicht reden?", fragt er leicht nervös. Vollidiot. Ich bin kurz davor, ihm ein "Nein" entgegen zu spucken, als ich mich daran erinnere, dass ja meine Eltern dabei sind.

 

"Okay", meine ich und drehe mich zu Nathan um.

"Willst du warten?" Doch er schüttelt den Kopf.

"Wir können ja auch wann anders was unternehmen. Ich geh lieber, hab noch 'ne Menge zu erledigen.", sagt er lächelnd und wuschelt mir durch die Haare. Ich lasse es über mich ergehen und bemerke den Blick, den Michael Nathan zuwirft. Es ist so ein "Was-zur-Hölle-tust-du-da-Blick" und ich kann dem ein wenig zustimmen. Wann um Himmels Willen hat Nathan begonnen, das zu machen? Hätte es ein anderer gemacht, dem hätte ich den Arm gebrochen.

"Auf Wiedersehen", verabschiedet er sich von meinen Eltern.

"Tschüss Nathan, komm uns doch bald mal wieder besuchen.", sagt Mom lächelnd. Sie hat wohl vergessen, dass sie bald wieder abreisen werden.

"Ja Nathan...komm bald mal wieder vorbei...", sagt Dad und man kann den restlichen Satz  "Und ich bring dich um", von seinem Blick ablesen. Fast breche ich in schallendes Gelächter aus.

"Mal schauen...", sagt Nathan und klingt dabei etwas unsicher. Während ich ihn hinaus begleite, verabschiede ich mich von ihm und schließe dann die Tür hinter ihm.

Während ich zurück ins Wohnzimmer gehe, ermahne ich mich selbst zur Ruhe. Ab jetzt ist kein Schreien mehr erlaubt, keine Beleidigungen und trauriger weise auch kein eleganter Rauswurf wie beim letzten Mal, als Michael und ich geredet haben. Jetzt werden wir wirklich reden müssen.

 

Gut. Es wird sowieso mal Zeit, das Ding aus der Welt zu schaffen. Ich werde ihm jetzt klar machen, dass er mich gefälligst alleine lassen soll. Ein für alle Mal.

 

 

Ich zeige ihm mit einer Handbewegung, dass er mir folgen soll und gehe in mein Zimmer. Im selben Moment, in dem ich die Tür hinter uns schließe, bekämpfe ich den Wunsch, Nathan sofort zu folgen und, so weit es nur geht, von Michael abzuhauen. Ich steuere auf direktem Weg mein Bett an und setzte mich drauf.

Ich würde jetzt alles andere lieber machen. Wirklich alles wäre besser, als mit diesem Kerl da vor mir zu reden. Ich würde sogar mit dem Arschloch Tyson reden.

 

Plötzlich wird mir bewusst, wie dumm ich eigentlich bin. Michael sollte mir vollkommen egal sein. Mir sollte alles, was mit ihm zu tun hat, egal sein. Ich brauch nicht lange, um einen Menschen wie Luft zu behandeln, sowas kriege ich immer schnell hin. Aber bei ihm geht das nicht. Immer wenn ich ihn sehe, werde ich wütend. Richtig wütend. Und das schlimmste ist, ich weiß nicht wieso.

 

"Maya...endlich können wir mal miteinander reden. Sorry, dass ich so unfair spiele, aber anders ging es nun mal nicht. Wenn deine Eltern nicht da wären, würdest du mich nie rein lassen. ", sagt er und bleibt wie bestellt und nicht abgeholt mitten im Raum stehen. Er hat recht, wenn ich alleine gewesen wäre, wäre alles anders verlaufen. Es vergehen Minuten und keiner von uns sagt auch nur ein Wort. Langsam wird mir das alles zu dumm. Ich bin kurz davor, die ganze Sache abzubrechen, als er endlich loslegt.

"Es tut mir leid, Maya."

 

Ahja?

 

"Was tut dir leid, Michael?", frage ich genervt. So leicht werde ich es ihm bestimmt nicht machen. Er kann nicht einfach so hereinspazieren, sich entschuldigen und denken, alles sei wieder normal.  Das hätte er wohl so gerne. Aber das kann er sich abschminken.

"Alles. Dass ich so gemein zu dir war, dass ich so viel Scheiße von mir gegeben habe...dass ich nie für dich da war, als du mich gebraucht hast und...dass ich dich praktisch dazu gezwungen habe, dich mit Alina zu treffen. Obwohl ich von eurem Streit gewusst habe, habe ich dich darum gebeten, dich mit ihr zu treffen. Mir ist bewusst geworden, dass es einen Grund gibt, warum du nichts mehr mit ihr zu tun haben willst. Und das akzeptiere ich. Jetzt"

 

Wow...das war-

 

"Aber trotzdem muss ich dir sagen, dass ich glaube, dass sie sich geändert hat. Ich habe absolut keine Ahnung  wie sie früher war, aber die Alina, die ich kenne, ist kein schlechter Mensch."

 

einfach nur Scheiße! Um ein Haar hätte ich mich darüber gefreut, dass er mich versteht. Arschloch.

 

"Wenn du meinst.", sage ich und schaue aus dem Fenster. Ich kann ihn nicht mehr anschauen, er kotzt mich einfach nur an. Da sehe ich mir lieber die dunklen Wolken an. Es sieht so aus, als würde es bald zu Regnen beginnen. Super, ich kann's kaum erwarten. Es gibt nichts schöneres als Regen.

"Sag das nicht. Das klingt so, als wäre dir total egal, wie das hier endet.", beklagt er sich.

"Wer sagt denn, dass es nicht so ist?", frage ich.

"Ich. Und ich kenne dich. Wir sind schon seit fünf Jahren befreundet und du hast mir in den letzten Tagen total gefehlt. Wir haben schon so viel Scheiße zusammen erlebt, ich kann nicht glauben, dass unsere Freundschaft jetzt ruiniert ist. Einfach so. Und du kannst mir auch nicht einfach so sagen, dass dir das alles am Arsch vorbei geht. Ich weiß, ich war ein ziemliches Arschloch, weil ich mich so benommen habe, als ich erfahren habe, dass du mich magst. Naja, auf diese Weise magst. Aber du musst zugeben, dass das nicht gerade leicht zu verarbeiten ist. Wie hättest du denn an meiner Stelle reagiert? " beendet er seine faszinierende Rede mit einer Frage. Er lässt mir noch nicht einmal Zeit, zu antworten.

"Naja, das ist jetzt auch egal. Worauf ich hinaus will, ist, dass du mir sehr wichtig bist. Wirklich total. Ich möchte meine beste Freundin nicht verlieren, Maya. Und deshalb kannst du auch nicht behaupten, dass dir das Ganze egal ist. Dass ich dir egal bin." Den letzten Satz hängt er traurig an. Wow. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn jemals so gesehen zu haben. Mit langsamen Schritten kommt er auf mich zu und kniet sich vor mich hin. Er gibt mir das Gefühl, ein wildes Tier zu sein, das er nicht verschrecken möchte. Zum ersten Mal sehe ich ihm richtig in die Augen. Es dauert eine Weile, bis ich bemerke, dass da was nicht stimmt. Seine Augen glitzern. Weint er etwa?

 

Heilige Scheiße, er weint wirklich ! Kacke, was mach ich jetzt?

 

"Verzeihst du mir?", fragt er mit einem traurigen Blick.

Okay Maya...Knicke jetzt nicht einfach so nur wegen seinen Tränen ein...Was soll ich jetzt tun?

"Gott, was du nur für ein scheiß Schnulzen-Zeug von dir gibst, das ist ja gruselig.", sage ich traurig lächelnd. Warum lächle ich? Ich sollte das nicht tun! Plötzlich springt er mich von unten an und umarmt mich stürmisch.

"Ich weiß...bin selber überrascht.", sagt er und ich kann ein Grinsen heraushören. Warum grinst er?

"Du hast mir sehr weh getan.", rutscht es mir murmelnd raus. Er drückt mich noch fester an sich.

"Ich weiß. Es tut mir leid." Ich nicke nur, völlig unfähig noch irgendetwas zu sagen. Was soll ich dazu auch sagen? Mein Kopf fühlt sich so an, als wäre er mit Watte vollgestopft. Warum haben wir uns überhaupt gestritten? Ahja...ich weiß es wieder. Wegen Alina. Wenn sie die Klappe gehalten hätte, wäre nie ein Streit ausgebrochen und Michael hätte nie erfahren, was ich für ihn empfunden habe.

 

Warte, was? Empfunden habe?

 

 

Ich seufze. Im Moment weiß ich selbst nicht, was ich für wen empfinde und will jetzt auch nicht darüber nachdenken. Bin viel zu faul dafür. Ich bin einfach nur froh, diesen Sturm überstanden zu haben. Endlich traue ich mich, meine Arme auch um ihn zu legen. Ich habe meinen besten Freund wieder.

 

Endlich.

Kapitel 16

Nachdem Michael nach ein paar Stunden wieder gegangen ist, hocke ich wieder alleine in meinem Zimmer und denke mal wieder über alles nach. Wir haben es zwar geschafft, uns wieder zu versöhnen aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir uns wieder streiten werden. Alina wird da sogar nachhelfen, da bin ich mir sicher. Aber ich sollte es wohl genießen, solange es noch nicht der Fall ist, oder? Doch das kann ich leider nicht.

Wie kann ich irgendwas genießen, wenn ich weiß, dass es bald sowieso wieder -

Mein Handy reißt mich aus den Gedanken. Ich gehe zu meinem Schreibtisch, nehme es in die Hand, schaue kurz auf den Bildschirm und werfe es dann auf mein Bett. Den Anruf werde ich sicher nicht annehmen. Darauf kann er lange warten. Ehrlich. Wenn Tyson glaubt, dass ich abheben würde, dann ist er echt dümmer als ich gedacht habe. Völlig genervt werfe auch ich mich aufs Bett und vergrabe mein Gesicht in mein Kissen. Nachdem die Vibration meines Handys nachgelassen hat, folgt nach ein paar Minuten ein weiterer kurzer Vibrationston. Eine SMS.

Maya...?

Plötzlich taucht in meinem Kopf ein Bild von einem schmollenden Tyson auf. Das ist doch kompletter Blödsinn. Tyson schmollt nicht. Okay, ein Mal hat er es gemacht, aber nur, weil er das Foto von mir haben wollte.

Ich ignoriere auch die SMS und setze mich wieder an meinen Schreibtisch. Ich muss irgendetwas tun. Irgendetwas. Genau! Wollte ich nicht vorhin ein paar Ideen für mein Zimmer suchen? Na bitte!

Nach ein paar Stunden fahre ich meinen Computer total enttäuscht wieder runter. Inzwischen ist es schon Abend und ich hab noch immer wirklich rein gar nichts gefunden. Jedenfalls nichts brauchbares.

Da war ein Bild von einem Zimmer, auf dessen Wand das Wort "Dream" in Großbuchstaben geschrieben wurde. Das sah zwar sehr schön aus, aber irgendwie ist es trotzdem nicht wirklich das, wonach ich gesucht habe. Mal angenommen, ich würde sowas auch machen. Was will ich damit ausdrücken? Dass ich gerne träume? Ich glaube das interessiert so richtig niemanden. Wenn ich sowas schon machen sollte, dann mit einem passenderen Wort. Wie wäre es mit dem Wort "Love"?  Nein, definitiv nicht. Falls ich mal wieder an Liebeskummer leiden sollte, würde ich die arme Wand verunstalten und die kann nun wirklich nichts für meine Probleme im Leben. Außerdem klingt es kitschig.

Leben...

Life! Das klingt nicht schlecht. Ich glaube wirklich, ich könnte damit was anfangen. Aber nur das zu machen wäre zu wenig, ich muss mir noch irgendwas ausdenken. Ist vielleicht noch etwas brauchbares auf dem Bild zu sehen gewesen?

Hm...wie wäre es mit Fotos? Genau! Fotos!

Ich könnte doch einfach Fotos schießen. Immer, wenn ich was lustiges und cooles erlebe, könnte ich ein Foto davon machen.  Und dann könnte ich es an die Wand kleben und mich immer daran erinnern. Es sollten natürlich nur gute Erinnerungen sein, das Leben ist auch so schon traurig genug. Na endlich mal eine brauchbare Idee. Sie gefällt mir wirklich total. Stolz darüber, endlich eine Lösung gefunden zu haben, lächle ich, als sich plötzlich wieder mein Handy meldet. Schonwieder eine SMS. Und-Oha, Überraschung- sie ist von Tyson.

Hey baby

Total perplex starre ich auf mein Handy. Bitte was? Baby?  Ein paar Sekunden später folgt die nächste SMS.

Ah kom shonn schatzzzzz

Was, um Himmels Willen, ist das? Das ist ja grauenhaft. Von seiner schrecklichen Rechtschreibung mal abgesehen. Er schreibt doch sonst nicht so einen Schwachsinn. Ich muss darauf einfach antworten.

Bist du besoffen?

Ich frage das nur im Scherz und bin schockiert, als ich seine Antwort darauf lese.

Nichtr doch susse

Okay...ich hab Angst. Der Junge ist hacke dicht. Was soll ich jetzt machen, verdammt?

Wo bist du, Vollidiot?

Natürlich hätte ich ihn auch einfach anrufen können. Aber wenn er wirklich so betrunken ist, dann will ich ihn nicht hören. Ich würde ihn wahrscheinlich eh nicht verstehen. Nach ein paar Minuten hat er noch immer nicht geantwortet, also warte ich länger. Nach einer halben Stunde ist noch immer keine Antwort da und ich bekommen langsam immer mehr Panik. Als ich ihn anrufe und er nicht abhebt, wird die Panik immer größer. Was, wenn ihm etwas passiert ist? Scheiße, warum muss er immer Mist bauen? Es ist nicht genug, dass er sich eine Stichwunde holt und es geheim hält, nein, der Vollkoffer hält es auch noch für nötig sich zu besaufen, einen Haufen Blödsinn zu schreiben und dann nicht mehr zu antworten. Mistkerl. Wenn ich ihn in die Finger kriege, dann kann er was erleben.

 

In nur zehn Minuten schaffe ich es, mich umzuziehen, meinen Eltern zu sagen, dass ich spazieren gehe (das stimmt wirklich) und aus der Wohnung zu flüchten. Vor Nathans Tür bleibe ich stehen und überlege kurz. Soll  ich ihn rufen? Was wenn er nicht da ist, er hat vorhin immerhin gesagt, dass er was zu erledigen hat.  Nein, ich werde das alleine klären. Ich kann mich nicht jedes Mal auf andere verlassen. Ich schaff das schon.

Als ich aus dem Wohnhaus raus stürme, kommt mir die Idee, zuerst zu Tyson zu fahren. Vielleicht ist er ja zuhause und betrunken. Vielleicht ist er ja gar nicht draußen. Ich hab zwar keine Ahnung was ich tun werde, falls er nicht dort sein sollte, aber darüber möchte ich jetzt nicht nachdenken. Der Weg bis zur Busstation kommt mir diesmal so weit entfernt vor, ich kann mich nicht erinnern, jemals so lange bis dahin gebraucht zu haben. Als ich die Busstation erreiche, warte ich zehn Minuten, ehe der Bus kommt und ich endlich einsteigen kann. Während der ganzen Fahrt rutsche ich wie eine Verrückte in meinem Sitz rum und zähle die Stationen hektisch mit, was mir ein paar verdutzte Blicke von anderen einbringt. Ja, die haben es leicht...sie müssen keinen besoffenen Vollidioten suchen und hoffen, dass er noch lebt. Verfluchter Mistkerl. Ich hoffe wirklich, dass er sich noch unter den Lebenden befindet, damit ich ihn kalt machen kann.

 

Als ich aussteige, renne ich über die Straße und danke Gott, dass es gerade jetzt kein einziges Auto zu sehen gibt und auch keine Menschen, mit denen ich vielleicht zusammenstoßen könnte.

 

Als ich auch den Weg bis zu seinem Wohnhaus überquert habe, gehe ich rein, vergesse auf den Aufzug und sprinte die Treppen bis zu seinem Stockwerk rauf. An seiner Tür angekommen, klopfe ich wie eine bekloppte, aber niemand macht auf. Ich warte ein paar Sekunden und klopfe nochmal. Nichts. Anscheinend ist er nicht zuhause. Es gibt nur noch eins, dass ich machen könnte. Ich fische mein Handy aus der Hosentasche und suche ihn in den Kontakten. Als ich ihn gefunden habe, tippe ich auf den grünen Hörer auf dem Bildschirm und warte, bis er abhebt. Aber auch da passiert nichts. Er hebt nicht ab, dieser Arsch. So ein Penner! In meinem Kopf taucht eine kranke Szene nach der anderen auf, in der Tyson was passiert und dieser Vollidiot nimmt ernsthaft nicht ab? Mistkerl. Rasend vor Wut und etwas unsicher darüber, was ich jetzt machen soll, gehe ich raus aus dem Gebäude.

 

Sollte ich vielleicht jetzt Nathan anrufen? Er kennt ihn immerhin besser als ich und weiß vielleicht, wo Tyson in so einem Zustand sein könnte. Er ist meine letzte Hoffnung. Gerade bin ich dabei, in meinem Handy nach Nathan zu suchen, als plötzlich ein Wassertropfen auf den Bildschirm tropft. Verwirrt sehe ich nach oben und bin überrascht, als mir weitere Tropfen auf mein Gesicht fallen. Regen? Seit wann regnet es denn? Noch immer verwirrt sehe ich mich um und bemerke Menschen mit Regenschirmen rumlaufen. Woher kommen denn jetzt plötzlich die Menschen her, sind die Straßen nicht vorhin noch verlassen gewesen? Auch der Boden ist nass, es kann unmöglich erst seit kurzem begonnen haben zu regnen. Bin ich verrückt geworden? Bin ich vielleicht in einer anderen Welt gelandet? Nein, halt! Ich weiß was hier los ist. Ich bin wirklich verrückt. Wie kommt es, dass ich all das nicht bemerkt habe? Den Regen, die Menschen, überhaupt mein ganzes Umfeld. Wie kann das sein? Eine andere Erklärung fällt mir nicht ein. Ich. Bin. Bescheuert. Ich bin so bescheuert vor Sorge um diesen....! Ach, egal. Alle Beleidigungen sind schon langweilig geworden, ich muss mir unbedingt andere einfallen lassen.

 

Ich sehe mich noch einmal um, in der Hoffnung, ihn vielleicht irgendwo zu entdecken. Nur vielleicht. Und da sehe ich es. Sein Auto. Woher ich weiß, dass es seines ist? Ich sehe auch Tyson, wie er auf der hinteren Rückbank sitz. Er sitz einfach nur da und lässt ein Bein aus dem Auto baumeln, den Kopf auf seine Hände gestützt. Er sieht deprimiert aus, was meine Wut komischerweise ein wenig lindert.

"Tyson!", rufe ich streng und erschrecke ihn somit.

"Maya...", murmelt er und lässt den Kopf hängen. Was zur Hölle ist los mit ihm? Ist er krank? Ich will mich ihm gerade nähern, als ich eine Glasflasche mit honigfarbener Flüssigkeit auf dem Beifahrersitz entdecke.

"Was zur Hölle ist das? Jetzt sag mir nicht, dass du-".

"Nein, ich bin nicht betrunken Auto gefahren. Hab die Flasche nachher aufgemacht.", murmelt er. Klasse...das zeigt immerhin, dass er wenigstens mehr Verstand besitzt als ich gedacht habe.

"Was sollten die Nachrichten?", frage ich und nähere mich ihm. Er zuckt nur mit den Schultern.

"Okaaaay... Dann... Warum hast du mir nicht auf die letzte geantwortet? Und warum hast du noch nicht mal abgehoben?", frage ich und versuche so geduldig wie möglich zu klingen. Auch da sagt er eine Weile lang nichts. Wenn er mir jetzt nicht sofort antwortet, dann schwöre ich, werde ich die Glasflasche nehmen und sie ihm in den -

"Ich hätte dir nicht schreiben sollen, bin aber zu spät draufgekommen. Und dann war es mir peinlich.", sagt er nach einer gefühlten Ewigkeit. Verdutzt schaue ich diesen Affen vor mir an. Ungläubig blinzle ich und versuche das zuletzt von ihm gesagte in Gedanken zu wiederholen.

E-Es....war ihm p-peinlich?

Scheiße, ihm muss es wirklich schlecht gehen. Ich hocke mich vor ihm hin und versuche Augenkontakt herzustellen, aber er weicht mir jedes Mal aus.

"Was ist los?" Er weicht mir wieder aus. Ich lege meine Hand auf seine linke Wange und drehe seinen Kopf so, dass er mich anschauen muss.

"Tyson.", sage ich und starre ihn an.

"Nichts", sagt er und dreht den Kopf wieder weg. Erneut seufze ich. Was soll ich jetzt machen? Wahrscheinlich wäre es das Beste, ihn jetzt einfach nach Hause zu bringen. Soll er sich ausschlafen, vielleicht wird er ja dann reden.

Ich versuche ihn aus dem Wagen zu ziehen, was mir erst mit seiner Hilfe gelingt.

Mann, ist der schwer.

Ich schiebe meinen linken Arm unter seine und halte ihn so an der linken Seite. Nachdem er das Auto abgeschlossen hat, gehen wir langsam über die Straße, direkt zu ihm nachhause.

 

In seiner Wohnung angekommen, ist das erste was ich tue, ihn in sein Zimmer zu schicken. Ich fühle mich wie eine Mutter, die gerade ihr Kind bestraft. Aber Tyson hat auch richtig Mist gebaut. Mich so zu erschrecken, das war nicht in Ordnung. Ohne Widerrede folgt er meinem Befehl und geht mit hängendem Kopf in sein Zimmer. Ein komisches Gefühl, wenn man merkt, dass ein angeblich gefährlicher Gangster auf einen hört...

 

Seufzend gehe ich in die Küche. Ich weiß nicht was vorgefallen ist, aber es muss irgendetwas schlimmes gewesen sein. So habe ich ihn noch nie erlebt. Okay...zugegeben, ich kenne ihn nicht gerade lange, obwohl ich das Gefühle habe, als täte ich es, aber in dieser Zeit, die ich mit ihm verbracht habe, habe ich ihn noch nie so gesehen. Vor allem betrunken hab ich ihn noch nie erlebt. Mir gefällt das alles nicht. Ich will ihn nicht so sehen. Ich fühle mich so bescheuert, ihm geht es mies und ich kann nichts dagegen tun! Was tu ich denn immer, wenn ich mich schlecht fühle? Ich esse sehr viel Süßkram. Ob Tyson wohl Süßigkeiten mag? Nein, das ist mir eigentlich egal. Wenn er es nicht mögen sollte, werde ich mich einfach selbst trösten und alles aufessen. Genau.

Mit diesem Gedanken, schnappe ich mir Tysons Wohnungsschlüssel, verlasse die Wohnung und sperre sie zu, ehe ich mich auf den Weg zum Supermarkt mache. Die paar Minuten wird er auch alleine aushalten. Und wenn irgendwas in der Wohnung passieren sollte, ist es ja nicht so, als könne er nicht einfach so seine eigene Eingangstür eintreten. Es besteht also kein Grund zur Sorge.

 

Da ich mich hier nicht wirklich auskenne, nehme ich einfach den Bus und fahre wie immer die Stationen, die ich bis zu meinem Zuhause brauche. Als ich aussteige, mache ich mich sofort auf den Weg zum Supermarkt. Diesen kenne ich wenigstens, immerhin bin ich da schon mal einkaufen gegangen. Vor diesem Gebäude wurde ich auch entführt, nur so mal nebenbei erwähnt. Das ist so unfassbar traurig. Ich klinge schon so, als würde ich über die normalste Sache der Welt reden, obwohl eine Entführung nicht gerade eine Selbstverständlichkeit ist.  Seufzend schiebe ich den Gedanken zur Seite und widme mich meiner Aufgabe. Ich könnte mich noch stundenlang über mein komisches Leben wundern, es würde mir rein gar nichts bringen.

 

Ich verlassen den Supermarkt eine viertel Stunde später, vollbepackt mit verschiedenen Arten von Schokolade und, nicht zu vergessen, meinem Favoriten, den Lachgummis, und gehe wieder den Weg bis zur Busstation zurück. Der Regen hat noch immer nicht aufgehört und alle Leute laufen inzwischen schon mit Regenschirmen herum. Ich liebe Regen wirklich sehr und ich hoffe wirklich, dass es den ganzen Tag so bleiben wird. Während der Bus die erste Station hinter sich lässt, starre ich total gelangweilt aus dem Fenster, als ich plötzlich ein Chinesisches Restaurant bemerke, aus dem Menschenmassen rein und raus gehen. Anscheinend scheint es sehr beliebt zu sein. Ob das Essen dort wohl gut ist? Nichts macht mich wütender als schlecht schmeckendes Essen. Ich meine es ernst. Wenn mir irgendetwas nicht schmeckt, dann werde ich zum Hulk und für die nächsten drei Stunden nicht ansprechbar.

 

Ich beschließe, dem Restaurant eine Chance zu geben und dort einmal etwas zu kaufen. Als ich mich dem Gebäude nähere, bemerke ich, dass auch einige Menschen um die Ecke kommen, mit Boxen aus Karton in ihren Einkaufstüten. Als ich der kleineren Menschenmasse folge, sehe ich, dass eine Arbeiterin aus dem Laden Leuten Kartonboxen durch ein offenes Fenster reicht, Geld von ihnen annimmt und das Wechselgeld wieder rüber reicht. Unter dem Fenster hängt ein großes Schild mit den beliebtesten Speisen und eines davon sticht mir sofort ins Auge. Nudeln mit gebratenem Hühnerfleisch. Lecker! Ob Tyson das auch mag? Ganz sicher, das muss er! Vielleicht wird ihn das etwas aufmuntern. Und wenn nicht, dann gibt's für mich halt mehr. Ich kann also nur gewinnen. Mit diesem Gedanken stelle ich mich also an.

 

Nach  fünf Leuten bin endlich ich an der Reihe. Ich sage der Dame an der Kassa durchs Fenster meine Bestellung auf und gebe ihr das Geld. Dann bittet sie mich, für fünf Minuten zur Seite zu gehen, um die anderen Bestellungen auf zu nehmen. Nach fünf Minuten winkt sie mich zu sich und überreicht mir schließlich meine Bestellung. Sie wirft mir noch ein "Auf Widersehen" nach, ehe ich mich umdrehe und meinen Nachhauseweg antrete.

 

Ich lege die restliche Strecke bis zu Tysons Wohnung mit dem Bus zurück und stehe schon nach zehn Minuten vor seiner Haustür. Ich wollte gerade klingeln, als ich mich plötzlich daran erinnere, dass ja ich den Schlüssel für die Wohnung habe.  Mit zitternden Händen (die Sachen sind ganz schön schwer), fische ich den Wohnungsschlüssel aus meiner Hosentasche, schiebe ihn ins Schloss und schließe die Tür auf. Als ich in die Wohnung trete, tue ich es langsam und leise, ich will schließlich nicht, dass Tyson aufwacht. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen ist, trage ich die Einkäufe in die Küche. Ich bin gerade dabei die erste Einkaufstasche auszupacken, als ich plötzlich eine Zimmertür aufgehen höre. Es dauert nicht lange, schon kommt ein verschlafener Tyson in die Küche gekrochen.

"Wo warst du?", fragt er gähnend.

"Einkaufen.", antworte ich. "Wie geht es dir?" Er sieht mich einen Augenblick lang einfach nur an. Ich kann fast schon sehen, wie er versucht meine Wörter in seinem Kopf zu ordnen und in die richtige Reihenfolge zu bringen. Es dauert auch eine Weile bis er antwortet.

"Es geht. Was hast du gekauft?" Er setzt sich auf einen der Hocker vor dem Tresen und lehnt sich zu mir rüber. Ohne meine Antwort abzuwarten, schnappt er sich die Einkaufstüte mit dem chinesischen Essen. Er starrt gefühlte zehn Minuten die zwei Boxen an.

"Sollte ich mich jemals dazu entscheiden zu heiraten...wirst du mit Sicherheit nicht meine Braut sein.", sagt er nach einer Weile. Ungläubig schnappe ich nach Luft. Wow. Wie kommt er jetzt aufs Heiraten? Toll...echt. Arschloch.

"Was hat das mit einer Heirat zu tun? Und nur so nebenbei...du bist ein Arsch. Und ich habe nicht vor, einen Arsch zu heiraten. ", antworte ich schnippisch und packe die Tüten weiter aus.

"Eine Menge. Eine gute Frau hätte mir etwas gekocht....", sagt er, während er sich eine Box rausholt. Ungläubig starre ich ihn an. Will der mich verarschen?

"Eine gute Frau würde sich noch nicht einmal mit so jemandem wie dir abgeben." Mir ist bewusst, dass ich mich gerade selbst beleidigt habe und das macht mich noch wütender. Bevor er die Box aufmacht, schnappe ich sie ihm vor der Nase weg.

"Du will was selbst gekochtes? Es heißt ja nicht umsonst selbst gekocht! Undankbarer Vollidiot.", sage ich wütend und packe das Essen wieder ein.

"Was? Du schmollst? Jetzt schon?", sagt er kichernd und ich schaue ihn noch wütender an. Was will der Kerl eigentlich von mir?

Jetzt reicht's! Ich sorge mich um diesen Schwachkopf, weil der Idiot sich ja unbedingt betrinken musste und was macht der? Er verarscht mich! Ich hab keine Lust mehr! Der kann mich mal. Kreuzweise! Ich hau ab.

Gerade will ich mich umdrehen, als er "Warte...", sagt und mich damit aufhält. Urplötzlich klingt er ernst. Er benimmt sich wie eine Frau mit Menstruationsbeschwerden, so komisch verhalte ja noch nicht mal ich mich während meinen Tagen.

"Es tut mir leid.", sagt er, während er den Tresen vor ihm anstarrt. Einen Moment lang bin ich verwirrt.

"Was meinst du?", frage ich, während ich sein Essen wieder vor ihm abstelle. Ehrlich gesagt habe ich nie wirklich vor gehabt, ihm sein Essen wegzunehmen. Schließlich habe ich es für ihn besorgt, in der Hoffnung, es würde seine Laune etwas verbessern.

"Alles." Es schaut auf und sucht meinen Blick. Ich hebe eine Augenbraue hoch.

"Definiere alles."

"Einfach alles. Diese ganzen Aktionen von heute. Ich will, dass du mich anrufst, wenn du in Schwierigkeiten steckst, und zwar völlig egal welcher Art. Ich weiß, dass du dich nicht absichtlich in Gefahr bringst, aber hör bitte auf, dich wegen anderen in Gefahr zu bringen.", beendet er seine Erklärung. Ahja, genau, da war ja noch was. Er hat mich vorhin dumm genannt. Wie konnte ich das vergessen? Ich habe tatsächlich vergessen, dass er mich beleidigt hat! Unfassbar! Der Weltuntergang ist nahe...

" Du hast dich aber sicher nicht deshalb betrunken, oder?", frage ich und schiebe meine innere Aufregung zur Seite. Ich habe es wirklich vergessen! Das ist nicht möglich! Zur Antwort schüttelt er den Kopf.

"Warum denn dann?"

 

Er gibt ein Seufzen von sich und bricht die Holzstäbchen, die ich vorhin im Restaurant dazu bekommen habe, auseinander. Ich sollte dort unbedingt nochmal hin, die sind unheimlich freundlich zu mir gewesen.

Ich beobachte ihn dabei, wie er sich die erste Ladung Nudeln in den Mund schiebt und gedankenverloren rum kaut. Irgendetwas stimmt mit ihm doch nicht. Warum will er es mir nicht sagen? Ich will ihm helfen, er muss sich nur das Herz ausschütten. Aber wahrscheinlich liegt auch genau da das Problem. Ich bezweifle, dass Kerle wie Tyson zu so etwas überhaupt fähig sind. Kann ich irgendwie auch verstehen, ich bin auch nicht so gut darin, wenn es darum geht, fremden  Menschen von meinen Problemen zu erzählen. Das geht sie schließlich nichts an. Jedoch bin ich keine Fremde für Tyson. Das sollte ich jedenfalls nicht mehr sein. Immerhin hatten wir doch diesen...diesen einen Moment in seiner Wohnung, als er verletzt gewesen ist und ich bei ihm übernachtet habe. Dieser eine kurze Moment am nächsten Morgen, als uns sein Arzt (war es Mason?) unterbrochen hat. Und sowas hat man mit keiner Fremden. Oder doch? Ist er vielleicht so jemand? Was ist, wenn er das wirklich mit jeder macht?

Dann wäre ich nur eine von vielen!, denke ich. Dieser Gedanke tut mir weh. Ich will nicht nur irgendeine sein, nicht für-Halt! Stopp! Eine Sekunde bitte.

 Was um Himmels Willen denke ich da eigentlich? Bin ich total bescheuert? Das alles ist mir doch total egal! Es war nur eine kurze Knutscherei. Okay...zwar meine erste, aber das ist doch egal. Ich tu ja so, als wäre ich auf seine letzen Freundinnen eifersüchtig! Oder seiner aktuellen. Ich tu so, als...als wäre ich in ihn verknallt! Jedoch hoffe ich wirklich sehr für ihn, dass er im Moment keine Freundin hat, sonst mache ich ihn kalt! Verwirrt schüttle ich den Kopf. Langsam aber sicher verstehe ich mich selbst nicht mehr.

Ich werde jetzt aufhören darüber nachzudenken. Genau jetzt. Jetzt!

 

Seufzend schnappe ich mir meine Nudelbox und trenne auch meine Stäbchen. Das Essen hilft für gewöhnlich beim Vergessen. Hoffentlich wird es auch mir helfen.

Es vergehen viele Minuten, in denen keiner von uns beiden was sagt. Ich erwarte noch nicht mal mehr eine Antwort von Tyson. Er wird nicht reden. Fein. Schön für ihn. Ich werde ihn nicht zwingen, das würde ihn nur noch mehr von mir abschrecken. Vielleicht sollte ich mit etwas anderem beginnen...

"Wie geht es deiner Verletzung?"

"Besser. Danke.", sagt er und lächelt kurz. Nur leider ist das Lächeln nicht echt. Seufzend nicke ich. "Das ist gut..." Würde ich für jedes Seufzen, das bis jetzt aus mir gekommen ist, einen Cent bekommen, wäre ich jetzt schon Millionärin.

Es vergehen erneut Minuten, ohne, dass einer auch nur ein Wort von sich gibt. Dann, endlich, sagt er etwas. Endlich!

"Maya?", fragt er und sieht von seiner Box auf.

"Hm?", frage ich und höre augenblicklich auf zu essen.

"Was... ist deine liebste Kindheitserinnerung?", fragt er und stochert jetzt in seiner Box rum. Meine was? Wie kommt er denn jetzt auf sowas?

"Äh...", beginne ich wortgewandt und versuche, mein Gehirn zum Arbeiten zu bringen. Meine schönste Kindheitserinnerung...Ah!

"Früher haben meine Eltern und ich immer wieder mal ein Picknick im Wald gemacht. Wir hatten immer eine Menge Spaß und wir sind auch immer bis in die Nacht geblieben. Dann haben wir in die Sterne geschaut und uns an alte Zeiten erinnert.", schwärme ich vor mich hin.

"Wirklich? Das war's?", fragt er überrascht. Ich nicke.

"Wenn man seine Eltern nicht so oft sieht, ist das schon eine Menge. Und außerdem liebe ich es, nachts in den Himmel zu schauen." Es vergehen wieder ein paar Minuten, ehe er weiter fragt.

"Bist du einsam?", fragt er jetzt und ich ziehe meine Augenbrauen hoch.

"Soll das 'ne Anmache werden?" Er grinst.

"Nein, keine Sorge, da kenn ich schon bessere."

"Hm..ja, man könnte sagen, dass ich mich manchmal einsam fühle. Aber ich bin es gewohnt, also ist das nicht wirklich ein Problem für mich." Er nickt und scheint jetzt in Gedanken wo anders zu sein.

"Und was ist deine liebste Kindheitserinnerung?", frage ich und hole ihn damit wieder in die Gegenwart.

"Als ich von den Coopers in die Familie aufgenommen wurde.", sagt er und lächelt fast so verträumt wie ich vorhin.

"Drei freundliche Menschen haben mich zu sich aufgenommen und mich wie einen echten Blutsverwandten behandelt. Ich war nicht mehr allein, dafür werde ich ihnen für immer dankbar sein." Wie kommt es, dass seine schönste Kindheitserinnerung mich so traurig macht? Der kleine Tyson, von seinen Eltern allein gelassen in dieser großen und komplizierten Welt...Diese Vorstellung bricht mir das Herz. Doch dann erinnere ich mich wieder an Tysons Foto, wo er mit den Coopers zu sehen ist. Meine Stimmung steigt langsam wieder an.

"Mit meinem echten Vater habe ich allerdings kaum eine gute Erinnerung..." Und meine Stimmung sinkt wieder.

"Aber ich dachte...", beginne ich, werde jedoch von ihm unterbrochen.

"Dass ich ihn geliebt habe? Natürlich habe ich das, er war schließlich mein Vater. Das heißt aber trotzdem nicht, dass ich eine schöne Kindheitserinnerung an ihn habe. Er ist streng gewesen. Sogar sehr streng. Er hat keine Widerrede geduldet und wenn ich nicht auf ihn gehört habe, hat er versucht es mir einzuprügeln. Und es hat ihn nicht interessiert, dass ich damals noch ein kleines Kind gewesen bin. Auch nicht, dass Spuren davon zurückbleiben würden. Aber trotz all dem:  Er ist da gewesen.", sagt er monoton und ich weiß sofort was er meint. Sein Vater ist da gewesen. Im Gegensatz zu seiner Mutter, die ihn einfach allein gelassen hat. Ich habe nicht gewusst, dass Tysons Vater so schrecklich gewesen ist. Jetzt fällt es mir sogar irgendwie leichter, Noah Glauben zu schenken. Wenn er schon so mit seinem eigenen Sohn umgegangen ist, dann denke ich, ist er auch dazu in der Lage, seine Frau auf so eine schreckliche Art und Weise zu hassen. Erst jetzt bemerke ich, dass diese Unterhaltung eine komplett falsche Richtung eingeschlagen hat. Kindheitserinnerungen sollten schön sein und nicht.... so.

Ich muss jetzt irgendwas finden, womit ich seine Laune aufbessern kann...

"Lust, schlafen zu gehen?", frage ich und mache meine Nudelbox jetzt zu. Er hebt eine Augenbraue und grinst schmutzig.

"Bienchen, so kenn' ich dich ja gar nicht." Ah, ja...da ist er ja wieder, der alte Tyson. Er hat mir gefehlt.

Aber ich muss zugeben, dass ich doch etwas müde bin. Ich zucke mit den Schultern und sehe ihn abwartend an. Dann beginnt auch er damit, sein Essen einzupacken und steht vom Stuhl auf. Ich lege die Boxen in den Kühlschrank und beende das Einräumen der restlichen Einkäufe. Die Süßigkeiten werden wohl bis zum nächsten Mal warten müssen.

"Kommst du?", fragt Tyson und bleibt mitten im Türrahmen stehen. Also eigentlich hatte ich nicht vor, wieder mit ihm zu schlafen (Leute, doch nicht so!), sondern habe ihn nur gefragt, ob er nicht vielleicht schlafen wollen würde. Alleine.

"Bin gleich da.", antworte ich und schließe die Kühlschranktür, dann folge ich ihm. Ich werde einfach bleiben, bis er eingeschlafen ist, denn wenn ich länger im selben Bett liegen bleiben würde wie er, könnte am Ende etwas schlimmes passieren. Etwas sehr schlimmes.

Ich folge ihm den Gang entlang, direkt in sein Zimmer. Dort angekommen, lege ich mich neben ihn auf sein Bett, sodass ich die Zimmerdecke anstarre.  Sein Zimmer sieht nicht so langweilig aus wie meines, auch wenn es nur  in Hellgrün gestrichen ist. Wann soll ich bloß mit meiner geplanten Kleinrenovierung beginnen? Woher soll ich die Fotos herkriegen? Welche sollte ich nehmen und vor allem wie viele werde ich brauchen? Welche Schrift wäre die schönste, um das Wort auf die Wand zu schreiben? So viele Fragen und ich hab noch auf keine einzige eine Antwort. Ich habe Mom und Dad ja noch nicht mal um Erlaubnis gefragt. Muss ich das überhaupt? Vielleicht sollte ich sie wenigstens darüber informieren.

 

Scheiße! Mom und Dad!

 

Wie von einer Tarantel gestochen springe ich aus dem Bett und sprinte durch den Raum.

"Was zur...Bienchen! Wo willst du hin?", ruft Tyson aus seinem Zimmer. Verfluchte Scheiße! Ein Spaziergang dauert sehr viel kürzer. Ich habe fast den halben Tag bei Tyson verbracht! Verfluchter Mist!

"Eltern...", keuche ich, während ich hastig in meine Schuhe schlüpfe.

"Sie wissen nicht, dass du hier bist?", fragt er überrascht, während er sich an den Türrahmen vor mir lehnt. Ähm...nein?

"Natürlich nicht!", zische ich und öffne die Tür.

"He, warte!", ruft er und schnappt sich seine Schlüssel. "Ich komme mit."

"Nicht nötig!", rufe ich und renne die Treppen runter. Und ich wiederhole: Scheiße, scheiße, scheiße! Mich wundert es, dass sie noch nicht einmal angerufen haben. Vielleicht haben sie ja nicht bemerkt, dass ich so lange fehle? Hoffentlich.

Draußen angekommen, werde ich plötzlich am Arm festgehalten und umgedreht.

"Ich fahre dich.", sagt er und ich starre ihn total gestört an.

"Nein! Was soll ich sagen, wenn sie dich sehen?", frage ich hysterisch und hüpfe auf und ab. Ich muss mich beeilen, verdammt!

"Wow...ich wusste nicht, dass ich ein Geheimnis bin.", murmelt er und ich würde ihm in dem Moment am liebsten eine klatschen. Nicht jetzt, Vollidiot, nicht jetzt! Ich verdrehe die Augen und reiße mich von ihm los. Ich schaffe es gerade mal zwei Schritte nach vorn zu gehen, als ich wieder nach hintern gerissen und gleich daraufhin mit zwei starken Armen umschlossen werde. Jemand umarmt mich. Tyson?

"Danke für heute...", flüstert er und küsst mich auf mein Haar. Wow. Das ist ja süß. Aber wofür bedankt er sich jetzt genau? Weil wir geredet haben? Hat er etwa nur jemanden zum Reden gebraucht? Ich weiß noch immer nicht, warum er diese ganze Scheiße abgezogen hat... Sollte ich mich auch bedanken? Er hat mir heute was von seiner Kindheit erzählt, auch wenn nicht nur positive Sachen dabei gewesen sind. Aber er hat es aus freien Stücken gemacht und ich habe es nicht von Lucy oder Nathan erfahren müssen. Anstatt mich zu bedanken, umarme ich ihn auch und drücke ihn ganz fest an mich. Es fühlt sich schön an, jemanden zu umarmen. Ihn zu umarmen. Plötzlich ertönt ein lautes Motorengeräusch und ich öffne meine Augen. Wann habe ich sie denn geschlossen? Das muss mir wohl irgendwie entgangen sein. Was mir aber nicht entgeht, ist dieser Motoradfahrer mit Helm auf der Straße vor uns, der im immer langsamer werdenden Tempo an uns vorbeifährt, während er, anstatt auf die Straße zu schauen, seinen Kopf in unsere Richtung dreht. Und mich anstarrt. Ich habe das Gefühl, als würden Minuten vergehen, ehe er uns endlich hinter sich lässt.  Wer zur Hölle war das? Das war ja gruselig. Ich spüre, wie ich mich ungewollt verkrampfe.

"Alles in Ordnung?", fragt mich Tyson, der anscheinend gemerkt hat, dass etwas mit mir nicht stimmt. Sollte ich es ihm sagen? Ich schüttle den Kopf. Vielleicht habe ich mir das alles ja nur eingebildet...

"Ich muss jetzt gehen, okay? Wir hören uns.", sage ich lächelnd und drücke ihn noch ein letztes Mal ganz fest, ehe ich ihn loslasse und über die Straße gehe, jedoch nicht, ohne drei Mal nach links und rechts zu schauen. Wer weiß, ob der komische Typ mit dem Motorrad nicht vielleicht wiederkommt und mich überfährt.

Nein, ich glaube nicht, dass ich mir was eingebildet habe. Ich verstehe ja, dass Menschen mal kurz ihre Umgebung bewundern oder sich neugierig nach einem umarmenden Paar umdrehen (habe ich gerade wirklich "Paar" gesagt?!), aber er hat richtig gestarrt. Die ganze Zeit über. Vielleicht reagiere ich ja nur etwas über, aber die ganze Sache gefällt mir nicht. Irgendetwas böses wird passieren. Ich rieche es...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 31.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /