Die Türklingel schrillte ein zweites Mal, diesmal eindringlicher, als Joanna gerade nach dem Schlüssel griff und ihn energisch im Schloss herumdrehte. Die Tür schwang auf und ein Paar tief blauer Augen über einem verschmitzten Grinsen strahlte ihr entgegen.
„Was an 'Heute nicht!' hast du nicht verstanden?“, schleuderte sie dem jungen, Solarium gebräunten Mann, der vor ihr stand, an Stelle einer Begrüßung entgegen.
„Ich wünsch' dir auch einen schönen Abend!“, erwiderte er in so charmantem Tonfall, dass ihre genervte Laune fast augenblicklich wieder von ihr abfiel.
„Komm rein!“ Es klang weniger wie eine Einladung denn wie eine Forderung und sie trat einen Schritt zur Seite, um ihm den Weg freizumachen, doch nicht ohne zuvor einen prüfenden Blick auf die Straße zu werfen. Nicolas war zwar einer ihrer engsten Mitarbeiter, mit dem sie öfters bis in die späten Abendstunden über Projekten brütete, doch sie mussten nicht herausfordern, dass neugierige Nachbarn falsche Schlüsse über seinen nächtlichen Besuch zogen. Wobei 'falsch' wohl definitiv das falsche Wort war.
„Du spielst heute die strenge Chefin? Das mag ich“, murmelte er neckisch in ihr Ohr, während er ihr einen unschuldigen Begrüßungskuss auf die Wange hauchte.
Ah, seine weichen Lippen auf ihrer Haut... Die letzten Reste von Widerstand schmolzen schon dahin.
„Tut mir Leid, dass ich dich so überfalle, aber die Vorstellung, dass dein Mann aus dem Haus ist und du ganz alleine herum sitzt...“ Der Rest des Satzes verlor sich, als er die Süße ihrer Haut schmeckte und seine Lippen sich weiter an ihrem Hals entlang tasteten und seine Gedanken in andere Bahnen lenkten.
Sie wollte etwas erwidern, doch stattdessen schloss sie nur die Augen, als sich ein Sturm aus Verlangen und schnell schwindendem Schuldgefühl in ihrem Inneren zusammenbraute. Hatte sie sich heute nicht einmal einen Abend für sich selbst gönnen wollen? Einmal einen Gang zurückschalten und einfach nur die Ruhe genießen? Fernab von ihrer einnehmenden Arbeit, von ihrem liebenden Ehemann und von dem Heißsporn, der, seit er über ihre Türschwelle getreten war, nicht mehr die Hände geschweige denn seine Lippen von ihr lassen konnte. Himmel, diese Lippen! Wie einfach sie diese doch jeden klaren Gedanken vergessen lassen konnten!
Halt suchend schlang sie ihre Arme um seinen stattlichen Körper und ein verzückter Laut entwich ihrer Kehle, als er sie fordernd an die Wand stieß. „Wusste ich doch, dass du es nicht so gemeint hast, ...dass du mich nicht sehen wolltest“, murmelte er triumphierend und sein heißer Atem prickelte auf ihren Lippen, bevor sie in einen leidenschaftlichen Kuss versanken. Eine sarkastische Antwort brannte ihr auf der Zunge, doch er ließ sie kaum zu Atem, geschweige denn zu Wort, kommen. Joanna war Wachs in seinen Händen, die ihren Körper erforschten, als wäre es das erste Mal. Sie protestierte nicht – hätte auch gar nicht protestieren wollen -, als er sie in ihr Schlafzimmer zog und sie sanft aufs Bett stieß. Sie konnte ihr Verlangen in seinen Augen leuchten sehen, als er sich über sie beugte, als seine Finger verspielt ihren Schenkel empor krochen und er ihr Nachthemd langsam über ihre Hüften hinauf schob...
Joanna fühlte sich angenehm erschöpft und ihre Haut kribbelte überall ganz wohlig vom heißen Wasser, als sie aus der Dusche stieg und sich in einen flauschigen Bademantel wickelte. Mitternacht war lange vorbei, doch Nicolas war erst vor einer halben Stunde gegangen und sie hatte noch rasch die Laken frisch bezogen und die heiße Dusche hatte ihr Übriges getan, jegliche Spuren seines Besuchs verschwinden zu lassen. Jetzt wollte sie nur noch schlafen. Ein paar ruhige Stunden, bevor die Realität sie wieder einholen würde.
Sie genoss die kühle Brise, die durch das Fenster herein drang und über ihre feuchte Haut strich, als sie den Bademantel achtlos auf Matthews Seite des Bettes warf und zurück in ihr Nachthemd schlüpfte. Rasch löschte sie das Licht und vergrub sich tief in ihr weiches Kissen, das wieder nach Tugend und Unschuld roch. Mit einem leisen Seufzen schloss sie die Augen, doch das verstärkte nur das Gefühl, noch immer Nicks Hände auf ihrem Körper, seine Lippen auf ihre Haut spüren zu können. Sie konnte ihn einfach nicht vergessen, aber sie konnte auch nicht...
Ein knackender Laut hallte durch das stille Haus und unterbrach sie mitten im Gedanken. Verdammtes Holz überall! Sie würde sich wohl nie an dieses Haus gewöhnen, das seinen Geräuschen nach zu urteilen ein Eigenleben zu haben schien. Entnervt schlug sie ihre Augen wieder auf und...
Ihr Herzschlag schien für einen erschreckend langen Moment auszusetzen, als sie im dunklen Spalt zwischen Tür und Rahmen ein Paar Augen zu erkennen glaubte. Joanna erstarrte. Sie wagte es nicht auch nur einen Finger zu rühren, während sie angestrengt in die Dunkelheit starrte und tat als wäre sie gar nicht da. Das konnte nicht sein, aber... Die Dunkelheit starrte zurück.
Ohne es zu merken hatte sie den Atem angehalten und je länger sie ihren Blick auf die Dunkelheit konzentrierte, desto stärker wurde ihre Angst, nicht allein zu sein. In den unzähligen Schattierungen von Schwarz konnte sie nichts erkennen außer Schatten, die zerflossen und neue Formen annahmen, wenn sie auch nur für den Bruchteil einer Sekunde blinzelte, doch etwas stach aus der gewöhnlichen Dunkelheit hervor. Etwas, das nicht hierher gehörte. Augen so schwarz wie die Nacht selbst und doch glühend wie zwei Tümpel aus glühendem Feuer.
Nein, nein, sie hatte die Türen doch abgeschlossen. Es konnte unmöglich jemand ohne ihr Bemerken hereingekommen sein! Die Dunkelheit weckte nur wieder einmal ihre viel zu blühende Fantasie, wie sie es früher oft getan hatte! Und bevor sie sich weiter selbst verrückt machen konnte, schlug sie hektisch auf den Schalter ihrer Nachttischlampe.
Licht durchflutete den Raum und ergoss sich auch in den Flur hinaus und der Atem, den sie so angespannt angehalten hatte, entwich ihren Lippen in einem entnervten Schnauben. Da war niemand. Keine Augen und schon gar keine Person, der sie gehörten und die weiß Gott was mit ihr vorgehabt hätte, während sie schlief. Sie lauschte angestrengt, nur um sicher zu gehen, doch es herrschte Totenstille – mal abgesehen von ihren eigenen aufgebrachten Atemzügen.
Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie merklich zitterte und mit ihrer Linken fest ihr Handy umklammert hielt. Wäre ihr der Schreck nicht noch in den Gliedern gesessen, hätte sie jetzt über sich selbst lachen müssen. Sie verhielt sich vollkommen hysterisch. Wie ein kleines Kind, das sich vor den Monstern fürchtete, die in seinem Schrank und unter seinem Bett lauerten.
Sie atmete einmal tief durch und legte das Handy zurück auf ihren Nachttisch. Sie hatte nicht vor sich komplett lächerlich zu machen. Stattdessen schwang sie ihre Beine aus dem Bett und beschloss einen Rundgang durch das Haus zu machen, nur um ihre abgehobenen Fantasie wieder zurück auf den Boden zu holen und davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.
Mit jedem Raum, den sie verlassen vorfand, gerieten ihr Verstand und ihr Empfinden weiter in Einklang und ihr Herzschlag kehrte zu einem ruhigen, regelmäßigen Rhythmus zurück. Die Türen waren nach wie vor verschlossen, die Fenster intakt. Sie war alleine. Und wahrscheinlich war genau das der Grund, warum sie jetzt schon anfing Gespenster zu sehen.
Sie schüttelte den Kopf über ihre eigene Naivität und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück. Doch obwohl der Schrecken sich so schnell wieder verzogen hatte wie er gekommen war, schloss sie diesmal die Schlafzimmertüre und das Fenster, bevor sie zurück ins Bett kroch. Nach kurzem Zögern, das sie sich selbst nicht eingestehen wollte, löschte sie das Licht und schloss die Augen.
Da hatte sich doch nur ein Strahl des Mondlichtes durch die Gardinen geschlichen und ihren Sinnen einen Streich gespielt. Schatten konnten sich schließlich in viele unheimliche Dinge verwandeln, die rein der eigenen Vorstellung entsprangen. Genauso wie Wolken. Sie versuchte an große, weiche Wolken zu denken, an einen strahlenden Sommertag, an...
Doch sie fand keinen ruhigen Schlaf mehr in dieser Nacht. Stattdessen wälzte sie sich rastlos hin und her und dennoch gelang es ihr nicht dem durchdringenden Blick zweier geheimnisvoller Augen, die sie in ihren Träumen beobachteten, zu entkommen. Augen, die sich ihr immer entzogen, bevor sie sie genauer studieren konnte. Augen, die hinter den Schatten brannten wie zwei schwarze Flammen...
Wow, da haben Sie ja wirklich ein wunderschönes Stückchen Erde erwischt“, schwärmte Joanna, kaum dass sie einen Fuß aus dem Wagen gesetzt hatte. Sie hatte das Grundstück schon von einer Handvoll Fotos gekannt, doch ein Bild konnte unmöglich einfangen, wie bezaubernd dieser Ort tatsächlich war. Nur bei den ersten paar Schritten knirschte Kies unter ihren Schuhen, dann versank sie knöcheltief in weichem Gras, das von unzähligen Margeriten durchsetzt war, die im Schein der untergehenden Sonne orange schimmerten. Zu ihrer Rechten, am Fuße der Anhöhe, auf der sie sich befanden, glitzerte ein großzügig angelegter Teich wie flüssiges Gold, während sich zu ihrer Linken und in einiger Entfernung vor ihr vereinzelte Sonnenstrahlen durch ein freundliches, kleines Birkenwäldchen schlängelten und in den lichten Baumkronen spielten. Natürlich taten der Sonnenuntergang, der den Himmel in die unglaublichsten Rot- und Orange-Töne tauchte, und die angenehm milde Sommerbrise ihr Übriges dazu, dass sie sich hier wie in eine dieser kitschigen Postkarten versetzt fühlte, und Joanna beneidete ihren Kunden fast um dieses idyllische Fleckchen Erde.
„Ja, nicht wahr? Fühlen Sie sich schon zu mir hingezogen?“, fragte er so ernst, dass sie ihn für einen langen Moment sprachlos und wahrscheinlich ziemlich verdutzt anstarrte, bis er in amüsiertes Gelächter ausbrach und gutmütig abwinkte. „Verzeihen Sie, aber bei ihrem Gesichtsausdruck eben musste ich daran denken, was mein Schwager über diesen Ort gesagt hat. Er ist nämlich der Ansicht, dies wäre das perfekte Ambiente, um eine Frau schwach zu machen“, erklärte er mit einem geradezu spitzbübischem Zwinkern und ohne ihre Reaktion abzuwarten, schlenderte er in Richtung Zentrum des Grundstücks, während er begann ihr voll Enthusiasmus seine Vision für diesen Ort zu beschreiben.
Jayden – 'Mister Rhys nennt man nur meinen Vater und der ist ein alter Griesgram' – war ihr neuester Kunde und sein Wunsch war es, dass sie hier seine Sommerresidenz planen würde. Ein nicht gerade bescheidenes Herrenhaus, das die idyllische Aussicht und die Lichtverhältnisse optimal ausnutzen sollte. Etwas im alten, prunkvollen Stil, das nicht wie ein moderner Schandfleck inmitten dieses privaten, kleinen Paradieses wirken würde. Ein elegantes, blasses Grau könnte er sich für den Außenverputz vorstellen. An der Ostseite sein Schlafzimmer und eine großzügige Glasfront, die ihm jeden Morgen den Sonnenaufgang in seine Träume holen würde. Ein Badezimmer, das eine Whirlpool fassen konnte, war auch unabdingbar...
Während er ihr all seine Wünsche – die, die für ihre Arbeit relevant waren, und auch sämtliche andere – aufzählte, hörte sie ihm nur halbherzig zu. Zu ihrem Glück würde er seine Forderungen ohnehin noch einmal in schriftlicher Form wiederholen müssen.
Stattdessen musterte sie ihn interessiert, wie er seine Vision vom neuen Wohnsitz mit ausladender Gestik unterstrich. Ganz abgesehen davon, dass er äußerst wohlhabend war und sich nicht scheute, diese Tatsache auch ganz offen zu präsentieren, war er tatsächlich ein sehr attraktiver Mann. Seine markanten Gesichtszüge hätten ihn streng wirken lassen können, hätte er nicht ständig ein Grinsen auf den Lippen oder ein Leuchten in den Augen gehabt. In seinem dunklen Haar blitzten die ersten grauen Strähnen auf, was ihn nur noch interessanter erscheinen ließ. Und von dem, was sich unter seinen eleganten, schwarzen Hosen und dem weinroten Hemd erahnen ließ, schloss sie, dass er gut durchtrainiert sein musste, als ihr prüfender Blick von seinen breiten Schultern zu seinem Hinterteil abstürzte.
Joanna schüttelte unmerklich den Kopf über ihre eigene mangelnde Professionalität und lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück zu seinen Worten. Sie war bei Gott keine Kostverächterin, doch dies war ein geschäftlicher Termin, der, wenn alles glatt lief, sehr rentabel für sie sein konnte. Dieses umwerfende Kleid von Versace oder den Urlaub an der Côte d'Azur oder doch – unspektakulär und klassisch - drei Paar neue Schuhe? Sie hatte genügend hübsche Investitionsmöglichkeiten im Kopf, mit denen sie sich für diesen Deal würde belohnen können.
Dass ihre Gedanken erneut abgeschweift waren, wurde ihr erst bewusst, als Jayden sie schmunzelnd und vor allem stumm ansah, da ihm selbst in seinem überschwänglichen Monolog nicht entgangen war, dass ihre Aufmerksamkeit zu wünschen über ließ.
„Langweile ich Sie?“, fragte er trocken, doch ein schelmisches Funkeln in seinen stahlgrauen Augen verriet, dass er nicht verärgert war. Dennoch stieg ihr die Hitze zu Kopf und sie konnte spüren, wie ihre Wangen sich rosa färbten. „Nein, nein, natürlich nicht!“, versicherte sie ihm verlegen. „Ich war nur … in Gedanken. Es tut mir Leid!“
„Mein Schwager hatte also Recht“, neckte er sie mit einem verschmitzten Grinsen. „Vielleicht sollten wir die Details irgendwo besprechen, wo ich mir Ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein kann. Vielleicht beim Dinner?“
„Sehr gern“, antwortete sie ohne Zögern und sofort verschwand ihre Verlegenheit wieder hinter einem erfreuten Lächeln. Er hatte sie zwar gefragt, doch sie konnte deutlich Überraschung in seiner Miene erkennen, als sie so ohne darüber nachdenken zu müssen zusagte.
„Ihr Mann hätte nichts dagegen?“, fragte er vorsichtshalber nach und warf einen neugierigen Blick auf ihren Ehering.
Ach deswegen... Jayden hätte erwartet, spätestens jetzt irgendwelche Anzeichen von Skrupel auf blitzen zu sehen, doch stattdessen zwinkerte sie ihm beinahe verschwörerisch zu. „Ist doch nur ein Geschäftsessen“, flötete sie zu unschuldig, um es ehrlich zu meinen.
„Gut, Mylady, wie klingt Indisch für Sie?“ Er klang zufrieden und sich seiner Sache sicher.
„Klingt … aufregend“, kicherte Joanna leise – weniger wegen seines exotischen Geschmacks als auf Grund seiner Hand, die er warm auf ihrem Rücken platziert hatte, um sie zum Wagen zurück zu führen. Ganz Gentleman hielt er ihr die Beifahrertüre auf und wartete geduldig, bis sie es sich wieder in seinem schwarzen Mercedes gemütlich gemacht hatte, bevor er dir Türe mit dem Gefühl eines Autoliebhabers zuwarf. Und während er damit beschäftigt war den Motor anzulassen und den Wagen zurück in die Stadt zu steuern, linste sie unauffällig in ihre Handtasche und tippte rasch eine Nachricht für Matthew: Wird später. Großes, neues Projekt. Warte nicht auf mich :-x
Es war schon ziemlich spät, als Joanna sich schließlich auf den Heimweg machte, und die Straßen lagen friedlich schlafend vor ihr, als sie den Wagen auf ihr Haus zusteuerte. Aus dem Fenster zum Wohnzimmer drang ein schwacher Lichtschein – kaum hell genug, um irgendwas hinter der Glasscheibe erkennen zu können. Wahrscheinlich hatte Matt mal wieder die kleine Leselampe angelassen. Sie konnte sich bildlich vorstellen, wie ihm wie üblich irgendwann das Buch aus der Hand gerutscht war und sich nun im sanften Rhythmus seiner Atemzüge hob und senkte. Bei diesem Gedanken legte sich ein liebevolles Schmunzeln um ihre Lippen und sie stellte den Motor ab, als sie das Ende der Einfahrt erreicht hatte. Die kühle Nachtluft umschmeichelte auf erfrischende Weise ihren erhitzten Körper und für einen Moment spielte sie mit dem Gedanken, sich noch für eine kurze Weile auf die Terrasse zu setzen, sich noch eine Zigarette zu gönnen und diese sternenklare Nacht zu genießen. Doch als sie die Wagentüre hinter sich zufallen ließ, erregte eine Bewegung hinter dem Vorhang am Wohnzimmerfenster ihre Aufmerksamkeit. Sie konnte zwar nur einen vagen Schatten ausmachen und keine Reaktion, aber sie lächelte ihm zu, bevor sie ihre Hausschlüssel aus der hoffnungslos überfüllten Handtasche kramte. Matt konnte doch noch nicht geschlafen haben, sonst hätte ihre Ankunft ihn wohl kaum wach bekommen. Nicht einmal ein mittelstarkes Erdbeben hätte das vermocht, dachte sie amüsiert und kicherte lautlos in sich hinein.
„Was tust du denn noch auf?“, rief sie mit einem Hauch von Überraschung in der Stimme in das Haus hinein, kaum dass sie die Türe aufgeschlossen hatte.
Keine Antwort. Der Flur lag in stummer Dunkelheit vor ihr, nur unter der Tür zum Wohnzimmer kroch ein wenig Licht hervor, kam aber nicht weit. Rasch schlüpfte sie aus den Schuhen und tapste zur Wohnzimmertür. Mattes Licht ergoss sich über sie, als sie die Türe öffnete, zusammen mit einer Woge der Ernüchterung – Matthew war nicht da.
Dafür sprang ihr eine Notiz ins Auge, die am Schirm der kleinen Leselampe klebte, und sie trat neugierig näher. Bin mit Kollegen was trinken, nachdem du schon wieder Überstunden machst. Wart nicht auf mich...
Der vorwurfsvolle Ton hinter seinen Worten war unmöglich zu ignorieren und sie seufzte leise, doch ihre aufwallenden Schuldgefühle verflogen noch im selben Moment wieder, als ihr Blick zum Fenster fiel. Hatte sie Matt nicht vorhin durchs Fenster spähen sehen? Die schweren, nachtblauen Seitenteile der Gardinen klafften in der Mitte gerade weit genug auseinander, um eine Handbreit der weißen Spitze darunter preis zugeben. War er von seinem Barbesuch bereits zurück und hatte sich schnell ins Bett verzogen, als er sie kommen gehört hatte, um heute nicht mehr mit ihr sprechen zu müssen? Sie konnte ihn doch nicht so grob verärgert haben, oder?
Auf Zehenspitzen schlich sie erneut durch den Flur und schob vorsichtig die Schlafzimmertüre einen Spalt breit auf. Hier waren die Vorhänge weit auseinander gezogen und Mond und Sterne spendeten genügend Licht, um zu sehen, dass auch das Bett leer war. Aber...
Mit einem Mal fühlte sie sich gar nicht mehr so wohl in ihrer Haut. Die Schatten, die sie umgaben, erschienen ihr plötzlich geradezu bedrohlich und die absolute Stille rauschte unangenehm in ihren Ohren. Joanna machte am Absatz kehrt, kümmerte sich nicht um die Lampe im Wohnzimmer, die noch immer nutzlos vor sich hin leuchtete, und war auch schon wieder zur Tür hinaus. Keine zehn Schritte weiter hatte sie sich hektisch eine Zigarette angezündet und sog gierig den bitteren Rauch in ihre Lungen, als würde sie nach Luft schnappen. Als sie ihren Wagen erreichte, zwang sie sich jedoch wieder zur Ruhe und Vernunft. Vielleicht sollte sie mal einen Besuch beim Psychologen in Erwägung ziehen...
Sie lehnte sich gegen die noch warme Motorhaube und versuchte sich ein wenig zu entspannen, während sie ihr Haus im Schein der Straßenlaternen betrachtete. Sie litt unter Paranoia. Das war die naheliegendste Erklärung. Und das war auch nicht weiter verwunderlich angesichts des Versteckspiels, in das sie ihr Leben verwandelt hatte. Sie sah noch einmal prüfend zum Wohnzimmerfenster hinüber.
Da war kein Schatten, keine Bewegung, die darauf schließen hätte lassen, dass der Raum dahinter nicht verlassen dalag. Warum sträubte sie sich dann dagegen, wieder dort hinein zurückzukehren, wo die Wände, wenn sie sich alleine wähnte, Augen und Ohren zu bekommen schienen?
Joanna sog nervös an einer Zigarette und das rhythmische Trommeln ihrer Fingernägel auf dem Lenkrad nährte ihre innere Unruhe nur noch anstatt ihr Luft zu machen. Sie parkte bereits seit einer geschlagenen halben Stunde hier, doch sie konnte sich einfach nicht dazu überwinden den Wagen zu verlassen und die Straße zu überqueren. An der Hauswand schräg vor ihr prangte ein Messingschild, das sie ebenso lang schon zu verhöhnen schien. Dr. Claudia Greenfield.
Nach langem hin und her Überlegen hatte sie sich tatsächlich einen Termin beim Psychiater reserviert, doch das ganze Kopfzerbrechen war umsonst gewesen, weil sie sich jetzt nicht dazu überwinden konnte, diesen Termin auch wahrzunehmen.
Sie war drauf und dran sich komplett lächerlich zu machen. Schließlich war sie eine erwachsene Frau – und sie wollte einer völlig Fremden erzählen, dass sie Gespenster sah? Wohl kaum! Die Frau mochte ein Diplom haben, das sie für die Analyse von anderer Leute Hirngespinste qualifizierte, doch was konnte sie ihr sagen, das Joanna nicht schon wusste? Sie war nicht dumm, sie konnte eins und eins selbst zusammenzählen.
Ihre Paranoia war eindeutig die Manifestation ihrer Schuldgefühle, weil sie ihren Mann betrog. Wem, der etwas so Existenzbedrohendes zu verbergen hatte, würde das nicht früher oder später zu schaffen machen? Offensichtlich war sie doch nicht so tough, wie sie selbst immer angenommen hatte.
Joanna warf einen Blick auf ihre unaufdringlich elegante Armbanduhr und stellte nüchtern fest, dass ihr Termin bereits vor 20 Minuten begonnen hatte – naja, beginnen hätte sollen. Jetzt brauchte sie sich dort auch nicht mehr blicken zu lassen.
Aber mit irgendjemandem musste sie sprechen – bald. Denn es war wieder passiert. Dieses beklemmende Gefühl nicht allein zu sein, beobachtet zu werden, hatte sie erneut überfallen. Dieses klaustrophobische Gefühl, das sie innerhalb ihrer eigenen vier Wände überkam, wenn sie es gar nicht gebrauchen konnte. Sie schüttelte widerwillig den Kopf, doch die Erinnerung daran blieb bedrückend. Vielleicht konnte sie auch nur einfach nicht alleine sein...
Mit einem letzten resignierenden Blick auf das Türschild ließ sie den Motor an und reihte sich wieder in den lebhaften Verkehr ein. Sie brauchte keinen Seelenklempner. Was sie brauchte, war vielleicht einfach nur eine grundlegende Veränderung.
Die Sonne war vor fast zwei Stunden untergegangen und etwa zur gleichen Zeit hatte sich friedliche Stille in dem weitläufigen Bürokomplex ausgebreitet. Das war mit Abstand die beste Zeit zum Arbeiten. Joanna konnte gar nicht mehr zählen, wie oft sie diese Firma als Letzte verlassen hatte, und gerade jetzt, wo sie von so verwirrenden Gedanken in Mitleidenschaft gezogen wurde, bot ihr ihre Arbeit eine willkommene Ablenkung.
Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete sie die Pläne, die ihren Schreibtisch vollkommen verdeckten. Der Entwurf für Jaydens Haus war so gut wie fertig und sie fand das Ergebnis so ansprechend, dass sie dort am liebsten selbst ihr Lager aufgeschlagen hätte, sobald es fertig war. Sie erschrak leicht, als ihr Handy plötzlich laut surrend über die Tischplatte ratterte – ein geradezu nervtötendes Geräusch gegen die angenehme Stille.
„Fast fertig, Schatz“, flötete sie entschuldigend, kaum dass sie Matts Anruf entgegengenommen hatte.
„Hast du das nicht vor einer Stunde auch schon gesagt?“, seufzte er und es gelang ihm nicht ganz zu verbergen, wie genervt er war.
„Ja, aber jetzt bin ich wirklich gleich soweit“, schmunzelte sie leise, denn es kam ihr tatsächlich so vor als wäre seit ihrem letzten Telefonat gerade erst mal maximal eine Viertelstunde vergangen.
„Wie du meinst.“ Er resignierte – wieder einmal – und sie wollte seine Geduld nicht schon wieder überstrapazieren.
„Ich muss nur noch den Vertrag für meinen Frühstückstermin morgen einpacken. Ich bin in 15 Minuten zuhause“, versicherte sie ihm in versöhnlichem Tonfall und hatte aufgelegt, bevor er neuerliche Skepsis äußern konnte. Sie steckte das Handy in ihre Handtasche und warf noch einen prüfenden Blick auf den Entwurf. Den letzten Schliff würde sie ihm auch morgen noch verleihen können. Wo war jetzt bloß der Vertrag, den sie zusammen mit Nicolas für ihr Treffen mit dem Kunden morgen früh aufgesetzt hatte?
Sie suchte unter den Teilen des Entwurfs und in den Schubladen, in denen sie für gewöhnlich mehr Ordnung pflegte als auf ihrem Schreibtisch, aber sie wurde nicht fündig. Wahrscheinlich lag er noch in Nicks Büro. Sie schnappte sich ihre Handtasche, löschte das Licht und schloss die Türe hinter sich ab. Zum Glück besaß sie einen Zweitschlüssel für Nicks Büro für genau solche Gelegenheiten, wo sie bis spät arbeitete und etwas Wichtiges vergessen hatte. Und es war ein noch größeres Glück, dass sie den Vertrag, den sie suchte, gleich obenauf in seiner Ablage erspähte. Sie griff ihn sich und mopste noch eine Schutzhülle dazu, damit das wichtige Papier auch unversehrt beim Kunden ankommen würde. Voll Elan schob sie die schwere Milchglastüre zum Flur auf, um sich endlich auf den Heimweg zu machen, doch sie erstarrte, noch bevor die Tür hinter ihr mit einem Klicken, das unnatürlich laut durch die Stille hallte, ins Schloss gefallen war. Etwas – sie gestattete sich bewusst nicht 'jemand' zu denken, denn da war niemand außer ihr im Büro gewesen – hatte sie an der Schulter berührt und von dieser Stelle aus überzog nun Gänsehaut ihren Körper mit einem eisigen Frösteln.
Sie begann zu zittern, erst leicht, dann immer heftiger, doch ihr Verstand arbeitete noch immer mit glasklarer Schärfe. Wie konnte etwas, das sie sich nur einbildete, sich so verdammt echt anfühlen? Denn sie war hundertprozentig davon überzeugt, dass sich sonst niemand im Büro aufgehalten hatte – es sei denn derjenige hätte die Begabung eines Schlangenmenschen und es sich in einem der Schränke zwischen den unzähligen Aktenordnern bequem gemacht.
Joanna wagte es kaum sich umzudrehen und nachzusehen, doch unter Aufbietung all ihrer Willenskraft zwang sie sich dazu, sich wieder der Türe zum Büro zuzuwenden. Für einen scheinbar ewig andauernden Moment konnte sie nichts, absolut nichts fühlen – keinen Schreck, keine Furcht, nur gähnende Leere. Sie konnte nur einfach ihren Blick nicht von dem verschwommenen Schemen hinter dem dicken Milchglas wenden. Ein trüber Schatten stand keinen Meter hinter der Tür, keine zwei von ihrer Position entfernt.
Er war nicht wirklich da. Sie wusste das genau und doch musste sie sich diese Tatsache selbst immer wieder von Neuem in Erinnerung rufen. Trotzdem streckte sie irgendwann zögernd die Hand nach der Türklinke aus und sie vermochte nicht zu sagen, was sie mehr fürchtete: dass da tatsächlich jemand sein könnte oder dass niemand da drin war und ihre Sinne ihr erneut einen bösen Streich spielten.
Das Metall fühlte sich kalt auf ihrer Haut an, seltsam wirklich. Sie versuchte noch einmal tief durchzuatmen, sich zu wappnen, dann riss sie die Türe schwungvoll auf … und starrte in einen verlassenen Raum.
Dort, wo sie eine Sekunde zuvor noch den Schatten durch das trübe Glas gesehen hatte, befand sich jetzt nichts als dünne Luft. Und niemand war so schnell.
Ohne jede Vorwarnung schien sich ein Ring aus Eisen eng um ihre Brust zu schnüren und ihr das Atmen schwer zu machen. Joanna schnappte verzweifelt nach Luft, als eine ausgewachsene Panikattacke über sie herfiel und das dumpfe Dröhnen ihres eigenen Herzschlags in ihren Ohren die Welt zu beherrschen schien. Beinahe hätten ihre Knie unter ihrem unkontrollierten Zittern nachgegeben, doch dann gelang es ihr irgendwie ihren Blick loszureißen, wo es doch nichts zu sehen gab, und sie rannte fort. Doch konnte sie vor sich selbst davonlaufen?
So weit war es also schon mit ihr gekommen.
Joanna wusste nicht genau, wie lange sie schon hier saß, aber sie wusste, dass sie noch nicht wieder nachhause gehen konnte. Sie hatte sich in die düsterste Ecke einer ohnehin recht zwielichtigen Kneipe verzogen, um sich vor der Welt zu verstecken und den Kopf klar zu kriegen, doch erst jetzt nach dem vierten oder fünften Whisky on the rocks begannen ihre wirren Gedanken allmählich in ruhigere Bahnen zu fließen. Zuhause hatte sie es nicht mehr ausgehalten. Die letzten paar Tage war sie nicht mehr sie selbst gewesen – abwesend, als würde sie in ihrer ganz eigenen Welt wandeln, gereizt, schreckhaft. Auf jeden Fall hatte sie sich seltsam genug benommen, um ihrem Ehemann Kopfzerbrechen zu machen. Sie hatte seine sorgenvollen Blicke und seine außergewöhnliche Fürsorge durchaus bemerkt. Doch sie konnte ihm nicht erzählen, was sie bedrückte – er würde sie für verrückt halten. Was ja auch der Wahrheit entsprach. Aber auch die unnatürliche Stille – schwer von all dem Unausgesprochenen – zwischen ihnen war kaum zu ertragen. Sie hatte gedroht sie zu erdrücken, also war sie hierher geflohen. Hierher, wo ihr niemand neugierige Fragen stellen würde, die zu beantworten sie noch nicht bereit war.
Allmählich machten sich dumpfe Kopfschmerzen hinter ihrer Stirn bemerkbar und sie wusste nicht recht, ob der Alkohol oder das Päckchen Zigaretten, das sie während der letzten paar Stunden geraucht hatte, daran Schuld trugen. Wahrscheinlich beides.
Seit dem Vorfall im Büro war ihr klar geworden, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie konnte nicht mehr viel länger leugnen, dass sie Hilfe benötigte. Doch das zuzugeben würde bedeuten zu akzeptieren, dass etwas mit ihr ganz und gar nicht stimmte.
Hatte nicht die Hälfte der Bevölkerung Angst allein im Dunklen? Das schien ihr doch ein Problem zu sein, das relativ häufig vor kam. Ob diese Furcht bei anderen auch in so drastischer Form zum Ausdruck kam?
Sie kam nicht dazu sich weiter darüber den Kopf zu zerbrechen, denn in diesem Moment betrat ein Mann die Bar, der es wert war ihm für eine Sekunde oder zwei ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Die Bar war heruntergekommen und sehr spärlich besucht, aber dennoch hatten ihr seit ihrer Ankunft hier eine Handvoll Männer ihre Gesellschaft angeboten – sie hatte noch jeden ziemlich barsch in die Wüste geschickt. Doch beim Anblick des Neuankömmlings hegte sie beinahe den Wunsch, er möge sie bemerken.
Schwarz mochte schlank machen, doch die gleichfarbige Lederjacke konnte nicht die beeindruckende Breite seiner Schultern mildern. Seine Züge waren nicht nur markant, man konnte sie getrost kantig nennen, sein Haar glich schwarzen Wogen, die der Sturm hin und her gepeitscht hatte, und seine Augen... Noch nie zuvor hatte sie Augen von solch einer Tiefe gesehen. Man glaubte, man könnte darin hoffnungslos ertrinken.
Dass sie den Fremden unverhohlen anstarrte, wurde ihr erst bewusst, als ihre Blicke sich plötzlich trafen. Allerdings gelang es ihr auch nicht den Blick abzuwenden, als er sogleich bestimmten Schrittes auf sie zukam und sich ihr gegenüber hinsetzte ohne sie zuvor um ihre Erlaubnis zu fragen. Als wusste er, dass sie seine Gesellschaft ohnehin nicht abgelehnt hätte.
„Du solltest hier nicht so alleine sitzen.“ Seine Stimme war wie Samt, der über polierten Marmor strich. „Keine gute Umgebung für eine Frau wie dich.“
Sie zuckte nur gleichgültig mit den Schultern – das war genau der Grund, aus dem sie sich für diesen Ort entschieden hatte.
„Nicht zum Reden aufgelegt, hm?“, stellte er nüchtern fest und die versteckte Anspielung eines Lächeln huschte über seine Lippen, doch vielleicht hatte sie es sich auch nur eingebildet. Dieses Gesicht sah eher aus als hätte es schon vor Langem vergessen, wie man lächelte.
An Stelle einer Antwort zog sie die letzte Zigarette aus dem Päckchen und steckte sie sich zwischen die ungeschminkten Lippen. Er gab ihr Feuer und und deutete ein verständnisvolles Nicken an. „Ist schon okay. Ist auch wirklich nicht der Ort, um Konversation zu machen.“
Sein Wort in Gottes Ohr! Sie zwinkerte ihm zustimmend zu und nippte an ihrem Drink, der langsam warm wurde, doch das kümmerte sie nicht sonderlich. Über den Rand ihres Glases hinweg wollte sie ihn ein wenig eingehender studieren, doch sein Blick, der sie so intensiv fixierte, machte das schier unmöglich. Er starrte sie so unverhohlen an, dass er sie zum Erröten brachte. Doch sie empfand seine Blicke nicht als unangenehm, im Gegenteil, eher als aufregend – etwas, das ihrem verwundeten Ego schmeichelte. Sie wollte nicht reden, hatte nichts zu sagen, doch gerade seine stillschweigende Gesellschaft tat ihr gut. Es war fast als würden sich ihre Augen in einer Sprache miteinander verständigen, die sie selbst nicht verstehen konnte. Er bedurfte keiner Worte, um sie für eine kurze Weile aus dem gierigen Strudel ihrer beängstigenden Gefühle herauszuziehen.
Als sie einen weiteren Schluck Whisky nahm, folgte sein Blick der sanften Rundung ihrer Lippen, dem leichten Zucken ihres Kinns, ihrem verlockenden Hals, bis die sachte Bewegung in der Kuhle oberhalb ihres Brustbeins leise verebbte und dem wohlig warmen Gefühl in ihrem Magen neue Nahrung lieferte. Sie fühlte, wie ihre Haut unter der Hitze seines Blickes zu prickeln begann und dieses Prickeln sich auch unter dem Stoff ihrer Bluse fortsetzte, wohin ihm sein Blick verwehrt war.
Verlegen räusperte sie sich und erhob sich mit einer unverständlich gemurmelten Entschuldigung auf den Lippen, dass sie mal eben kurz zur Toilette verschwinden würde. Doch als sie sich von ihrem Tisch entfernte, konnte sie seine Präsenz auch weiterhin in ihrem Rücken spüren wie etwas Lebendiges. Sie war sich nicht sicher, ob er ihr tatsächlich folgte oder ob sie sich das nur wünschte, doch dann brannte sich plötzlich die Hitze seiner Berührung durch den dünnen Stoff ihrer Bluse, als er sie sanft an der Taille zurückhielt.
Joanna hielt den Atem an und versuchte nicht allzu heftig unter seinen Händen zu erschaudern, doch als er sie zu sich herumdrehte, bebten sogar ihre Atemzüge hörbar und wenn sie doch auch kein Lächeln fand, so konnte sie doch so etwas wie Zufriedenheit, ja beinahe ein Schmunzeln in seiner Miene erkennen. In dem schummrigen Gang befand sich niemand außer ihnen beiden und selbst wenn, wäre es ihr herzlich egal gewesen. Der letzte klare Gedanke verließ ihren Kopf mit einem überraschten Keuchen, als er sie fordernd an die nächste Wand stieß. Alles, was sie noch sehen konnte, waren seine dunklen Augen, die im schlechten Licht beinahe schwarz anmuteten, und alles, was sie noch wahrnahm, waren seine Fingerkuppen, die von ihrer Taille aus ihre Seiten empor strichen und ein neuerliches Schaudern durch ihren Körper jagten. Seine kräftigen Hände legten sich um ihre Oberarme und führten diese sanft, aber bestimmt an der rauen Wand entlang nach oben über ihren Kopf. Sein Griff war unerbittlich und sie hätte sich ihm nicht entziehen können, selbst wenn sie es versucht hätte. Er verströmte einen Odem von Macht und Dominanz, der sie vollkommen in seinen Bann schlug, und als er seine Lippen fordernd auf die ihren presste, war sie fast froh, dass er sie so fest hielt. Er küsste sie hart, nahm sich von ihr, was er wollte, und doch blieb ein Funken Enttäuschung in ihr zurück, als der Kuss ein Ende fand. Doch seine Augen glühten befriedigt, als er mit seinem Daumen die sanfte Wölbung ihrer Wange nachzeichnete und dann ohne ein Wort zurück in den Hauptraum verschwand, um sie ihrem ursprünglichen Vorhaben zu überlassen.
Einige Sekunden lang war Joanna nicht einmal fähig sich zu rühren. Ihre Knie fühlten sich an wie Gummi und in ihrem Kopf schien sich alles zu drehen, woran der Alkohol sicher auch nicht ganz unschuldig war. Schließlich hatte sie sich aber wieder weit genug im Griff, um ihren Weg zur Toilette fortzusetzen. Sie ließ sich ein wenig Zeit, nutzte die Gelegenheit, um ihr vor Hitze gerötetes Gesicht mit ein paar Spritzern kaltem Wasser abzukühlen und ihre glänzenden, schokoladebraunen Locken wieder in Ordnung zu bringen. Als sie zurückkehrte, erwartete sie die nächste Überraschung: er war nicht mehr da.
Sie sah sich suchend in der überschaubaren Kneipe um, aber es waren nur unbekannte Gesichter, die zurück starrten. Das konnte doch nicht wahr sein. Er konnte sie doch nicht einfach küssen, ohne sich überhaupt erst mal bei ihr vorgestellt zu haben, und danach genauso sang- und klanglos, wie er aufgetaucht war, wieder verschwinden. Doch auch als sie fünf Minuten später ein weiteres Glas geleert hatte, blieb er verschwunden.
Ihre Schritte schwankten mittlerweile leicht, als sie auf die Bar zustolzierte und sich halb über die deutlich in Mitleidenschaft gezogene Theke lehnte, um die Aufmerksamkeit des Barkeepers für sich zu gewinnen.
„Noch einen, Ma'am?“, fragte er zuvorkommend und nickte in Richtung ihres leeren Glases, das sie am Tisch zurückgelassen hatte.“
„Danke, nein.“ Sie schüttelte bekräftigend den Kopf, bereute dies allerdings sofort wieder, als das Schwindelgefühl dadurch nur verstärkt wurde. „Nur eine Frage. Haben Sie gesehen, ob der Herr, der bei mir gesessen hat, gegangen ist?“
Ein fragender Ausdruck legte sich über das aufgedunsene Gesicht des Barkeepers. „Welcher Herr?“
„Groß, ganz in Schwarz. Die Art Mensch, die einem auffällt“, beschrieb sie ihm, wen sie meinte, und blickte ihn ziemlich irritiert an, als sich keine Spur von Erkennen in seinen Zügen zeigte. „Er ist eine Weile bei mir gesessen und dann zur Toilette verschwunden“, versuchte sie ihm weiter auf die Sprünge zu helfen, als er ihr keine befriedigende Antwort geben wollte, doch er schüttelte nur den Kopf. „Tut mir Leid, Ma'am, aber ich weiß nicht, wen sie meinen. So einer wäre mir doch aufgefallen. Ich hab ja immer ein wachsames Auge auf die einsamen Damen.“ Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu und es war offensichtlich, dass nicht unbedingt uneigennützige Fürsorge sein primäres Motiv dafür war. Doch sehr schnell wandelte sich sein Gesichtsausdruck zu ehrlicher Sorge, als er jegliche Farbe aus ihrem Gesicht weichen sah und die falschen Schlüsse zog. „Ist alles okay? Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“
„Sind sie sicher, dass sie den Mann nicht gesehen haben?“, fragte sie noch mal nach, um sich zu vergewissern, und diesmal zitterte ihre Stimme hörbar.
„Ja, Ma'am“, bestätigte er und es klang ehrlich. „Ich hab ein paar arme Teufel ihr Glück versuchen sehen, aber keinen, den sie erhört hätten“, fügte er mit einem leisen Schmunzeln hinzu.
Für einen langen Moment herrschte Schweigen, während ihre Gedanken sich überschlugen, doch die Panik, die sie erwartet hätte, blieb aus. Stattdessen spürte sie, wie ihre Lippen sich zu einem Grinsen verzogen und sie hysterisch zu lachen begann.
„Um 10 Uhr 30 wäre noch ein Termin frei“, schlug die freundliche Stimme am Telefon vor.
„Perfekt.“ Joanna musste nicht darüber nachdenken – sie wäre mit jedem Termin einverstanden gewesen, solange es nur bald war.
„Gut, dann also Mittwoch um 10 Uhr 30. Auf Wiedersehen!“, flötete die freundliche Stimme.
Joanna kam nicht dazu, den Gruß zu erwidern, denn in diesem Moment öffnete sich hinter ihr die Tür und sie unterbrach die Verbindung reflexartig. Sie versenkte das Handy rasch in der rechten Seitentasche ihrer Jeans und versuchte nicht allzu ertappt auszusehen, was ihr vermutlich gründlich misslang.
„Wer war das?“ Matt versuchte die Frage nebensächlich klingen zu lassen, während er damit beschäftigt schien, die Couch von ihren Unterlagen zu befreien, um Platz für sich selbst zu schaffen.
„Ach, nur meine Mutter. Sie wollte einen neuen Versuch starten, mich von dieser Familienversammlung zu überzeugen, aber das kann ich mir langsam wirklich nicht mehr anhören“, schnaubte Joanna entnervt, vermied es jedoch ihm in die Augen zu sehen und sammelte stattdessen die Unterlagen, die er eben beiseite geschoben hatte, zusammen um sich damit an den Schreibtisch zu verziehen. Wie selbstverständlich die Lügen ihr doch mittlerweile über die Lippen kamen! Sie seufzte lautlos in sich hinein und heftete ihren Blick dann auf das Blatt mit Notizen vor ihr, doch die Arbeit, die sie mit nachhause gebracht hatte, war viel mehr ein Vorwand, hinter dem sie sich verstecken konnte, als wirkliche Notwendigkeit. In Wahrheit drangen die Worte auf dem Papier, auf das sie hinunter starrte, ohnehin nicht zu ihr durch, denn ihre Gedanken waren mit ganz anderen Dingen beschäftigt. Im Hintergrund nahm sie gerade noch wahr, dass Matt mit ihr sprach, doch darauf, was er sagte, konnte sie sich beim besten Willen nicht konzentrieren.
Was würde das wohl für Auswirkungen auf ihr Leben haben, wenn jemand von ihrem Problem erfuhr? Würde sie dann aus der Schublade der Irren je wieder herauskriechen und zum Status 'normal' zurückkehren können? Ein erschreckender Gedanke schoss ihr durch den Kopf und ließ sie innerlich zusammenzucken. Die konnten sie doch nicht einweisen, solange sie keine Gefahr für sich oder andere darstellte, oder? ODER?
Oh Gott, sie würde sich noch verrückt machen. Wenn sie das nicht schon längst gewesen wäre, dachte sie sarkastisch.
„Findest du das lustig?“, durchbrach Matts vorwurfsvolle Stimme schließlich doch ihr Gedankenchaos. Sie hatte zwar keinen blassen Schimmer, was er davor gesagt haben könnte, aber scheinbar war ihr Sarkasmus bis an die Oberfläche durchgedrungen und musste sich durch einen Laut der Belustigung geäußert haben.
„Hm?“ Joanna wandte ihren Blick nicht von den Unterlagen ab, doch sie versuchte ihm zur Abwechslung ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken.
„Hast du überhaupt irgendwas gehört von dem, was ich gesagt habe?“, fragte er leicht verärgert, doch es war natürlich eine rein rhetorische Frage. „Was ist los mit dir?“
Sie zuckte nur ratlos mit den Schultern und vermied es weiterhin ihn anzusehen. Wenn er in diesem Moment in ihre Augen sehen hätte können, ihre Furcht darin lesen, dann wäre ihm sofort klar gewesen, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Und hätte er nachgebohrt, hätte sie nicht dafür garantieren können, dass nicht alles auf einmal aus ihr herausgebrochen wäre.
„Ich hab zur Zeit einfach zu viel um die Ohren“, seufzte sie stattdessen und ohne es zu wollen klang sie so erbärmlich, dass er sofort einen versöhnlicheren Ton anschlug. „Ach Liebes, du solltest dich dringend mal wieder richtig entspannen.“ Zur Bekräftigung seiner Worte trat er hinter sie und ließ die Wärme seiner Berührung beruhigend durch ihr T-Shirt sickern, bevor er sanft ihren Nacken zu massieren begann. Er war ganz sanft, als seine Finger einfühlsam ihre Verspannungen bearbeiteten, und sie konnte nicht leugnen, dass sich das gut anfühlte. Aber als seine Finger durch seine Lippen ersetzt wurden und er mit kleinen, zärtlichen Küssen einem unsichtbaren Pfad ihrem Hals entlang folgte, wurde ihr klar, was er unter Entspannung verstand. Seine Hand wanderte über ihre Schulter nach vorne, aber nicht weiter.
„Nicht jetzt, Matt!“ Sie versuchte nicht zu verletzend zu klingen, obwohl sie genau wusste, dass ihr Tonfall nichts mehr am Effekt ihrer Worte ändern würde. „Ich fühl' mich wirklich nicht gut.“
Obwohl er sie von einem Augenblick zum nächsten nicht mehr berührte, konnte sie deutlich fühlen, wie er innerlich erstarrte, bevor er sich ohne ein weiteres Wort von ihr abwandte. Sie hatte sein Ego verletzt, nicht weil sie ihn abgewiesen hatte, sondern weil sie das nicht zum ersten Mal getan hatte. Er ließ sich demonstrativ geräuschvoll zurück auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher an. Joanna starrte noch eine Weile vor sich hin, dann wurde die Stille, die trotz des plärrenden Fernsehgeräts wie etwas Greifbares zwischen ihnen hing, zu nervenaufreibend und sie verließ das Wohnzimmer. Sie goss sich ein Glas halb voll Weißwein, machte es sich in ihrem Lieblings-Rattan-Stuhl auf der Terrasse gemütlich und zündete sich eine Zigarette an. Wenn sie es selbst nicht schaffte sich in den Wahnsinn zu treiben, dann würde er den Job sicher liebend gern für sie übernehmen.
Joannas Kopf brummte und sie hatte zwischendurch Mühe sich auf die Straße zu konzentrieren. Seit ihrem Besuch beim Psychiater heute Morgen befand sie sich in einem Zustand geistiger Abwesenheit, in dem sie wirklich nicht nach Hause wollte. Dank ihrer weisen Voraussicht – oder wohl eher dank ihrer neu erworbenen Tendenz zum Schwarzsehen, denn sie war knapp davor gewesen, sich selbst in Zwangsjacke und Gummizelle zu sehen – musste sie das auch nicht. Sie hatte Matt erzählt, sie würde für ein paar Tage aufs Land fahren, ein wenig ausspannen, wie er ihr selbst geraten hatte, und einer alten Freundin einen Besuch abstatten. Das alles hatte sie zwar tatsächlich arrangiert, um ihr Gewissen zu beruhigen, doch seltsamerweise fühlte es sich dennoch wie eine Lüge an. Na ja, eine mehr würde ihre Seele nach allem auch noch verkraften können. Sie musste einfach mal raus, weg von all dem Mist und richtig abschalten. Keine leichte Aufgabe, wenn man gerade frisch vom Seelenklempner kam und fast noch mehr Fragen und Sorgen mit sich herum trug als zuvor.
Dr. Arroway – sie hatte es nicht gewagt Dr. Greenfield nach ihrem unentschuldigt versäumten Termin um einen zweiten zu bemühen – hatte ihr ein halbes Loch in den Bauch gefragt, nachdem sie damit herausgerückt war, dass sie Gespenster sah. Natürlich hatte er den bestehenden Stress und die Heimlichtuerei im Hinterkopf behalten, doch sie hatte sich noch für so viele andere Dinge interessiert. Ob sie irgendwann eine schwerwiegende Kopfverletzung erlitten hatte? Vielleicht sollte sie ihre Mutter beizeiten mal fragen, ob sie sie als Baby hatte fallen lassen. Ob sie Halluzinogene oder Beruhigungsmittel konsumierte? Nein, aber letzteres klang in ihrer Situation beinahe schon zu reizvoll. Ob in ihrer Familie psychische Erkrankungen je ein Thema gewesen waren oder ob sie selbst früher schon mal damit konfrontiert gewesen war? Wieder nein. Ihre Mutter war zwar ein hoffnungsloser Kontrollfreak und ihr Vater sprach zu Pflanzen, aber als geisteskrank konnte sie das noch nicht einstufen.
Ach ja, die pikanten Details über den Kuss mit diesem Fremden – ihrer Halluzination, korrigierte sie sich selbst in Gedanken – hatte sie vorsichtshalber für sich behalten. Wahrscheinlich hatte sie sich damit ein paar peinliche Fragen über geheime Sex-Wünsche erspart. Dieses 'Erlebnis' konnte sie gerade selbst auch noch interpretieren.
Alles in allem war das Gespräch eher eine Enttäuschung gewesen. So viele Fragen, aber keine Antworten, nicht mal vage Vermutungen zu diesem Zeitpunkt. 'Ohne genauere Untersuchung könnte er leider nichts über ihren Zustand sagen.' Von Halluzinationen und Verfolgungswahn und Angstzuständen war die Rede gewesen, aber das waren alles nur Fakten, keine Erklärung der Ursachen, keine Lösung. Was er getan hatte war sie an ein Zentrum zu überweisen, das sie einer neurologischen Untersuchung unterziehen würde. Ihr Gehirn auf Schäden untersuchen und so. Klang nicht besonders angenehm. Sie hatte auch behalten, dass Medikamente erst nach genauerer Untersuchung zur Debatte stünden. Also nichts mit Herz ausschütten und er wüsste sofort die Lösung für ihr Problem und ihr Leben wäre wieder genau wie früher. Pustekuchen. Gegen ihre gelegentlichen Angstzustände hatte er ihr vorerst auch nur pflanzliche, also harmlose Beruhigungsmittel empfehlen können. Eine Valium zum alleine Schlafen wäre ihr viel lieber gewesen – das hatte sie dem Herrn Doktor auch gesagt. Nein, da war er nicht so davon begeistert gewesen – die könnten die Halluzinationen fördern. Als könnte das noch so einen großen Unterschied machen!
Ein bisschen über eine Woche musste sie auf ihren Termin zum Durchchecken warten. Und wenn die nichts fänden? Dann würden sie weitersehen, hatte er es vorsichtig ausgedrückt. Doch sie hatte sich nicht damit abspeisen lassen. Also hatte er ihr die Wahrheit gesagt. Wenn keine neurologische Ursache gefunden würde, müssten sie sich intensiver mit ihrer Psyche auseinandersetzen. Das war noch immer schonend ausgedrückt, fand sie, aber genauer hatte sie es gar nicht wissen wollen. Sich mit ihrer Psyche auseinandersetzen. Ihren Geist zerpflücken. Das klang noch unangenehmer.
Aber sie sollte sich nicht jetzt schon den Kopf zerbrechen über Möglichkeiten, von denen noch gar nicht gesagt war, dass sie eintreten würden. Mit dergleichen beruhigte sie sich selbst gerne ein wenig, doch tief im Inneren war ihr natürlich klar, dass es irgendeine Erklärung geben würde, selbst wenn es nur die wäre, dass es keine Erklärung gäbe. Und keine würde ihr gefallen, solange die Symptome sich nicht in Luft auflösten ohne ihr ganzes Leben auf den Kopf zu stellen.
Joanna riss reflexartig das Lenkrad herum und schlitterte wagemutig um die Kurve, nachdem sie gerade in letzter Sekunde das von grünen Ranken überwucherte Hinweisschild entziffern hatte können. Wahrscheinlich sollte sie gar nicht fahren, solange sie so mit ihren Gedanken beschäftigt war. Aber jetzt war sie gleich da. Nach weiteren 100 Metern, die ihr auf dem holprigen, schlecht präparierten Weg allerdings viel länger vorkamen, konnte sie schon das alte Bauernhaus sehen, das mittlerweile im Besitz ihrer Freundin war. Sie hoffte inständig, dass dieser Ausflug ihr die Ablenkung brachte, die sie sich selbst davon versprach.
Sie hätte es kaum zu hoffen gewagt, doch Joannas Erwartungen waren tatsächlich erfüllt worden. Es hatte gut getan Laury wiederzusehen, auch wenn es ein bisschen gedauert hatte den Anschluss wieder zu finden, nachdem ihr letztes Treffen ein Weilchen her war.
Die beiden hatten während des Studiums Freundschaft geschlossen und damals die eine oder andere wilde Party zusammen gefeiert. Aber dann war James in Laurys Leben getreten und nichts war mehr gewesen wie zuvor. Er hatte das Landgut seiner Eltern übernommen und sie hatte beschlossen ihn dabei zu unterstützen und ihr Leben in der Stadt hinter sich gelassen. Joanna war bis heute der Ansicht, dass ihre Freundin, wie sie sie damals kennen gelernt hatte, nicht in verdreckte Arbeitsklamotten und einen Stall passte, doch Laury wirkte glücklich. Jetzt, wo sie hier war, fand Joanna es allerdings ein wenig traurig, dass sie beide nur mehr so sporadisch Kontakt pflegten. Wo sie doch wirklich Spaß miteinander hatten, wenn sie einmal beisammen waren. Ein paar Gläschen Wein, um die Zungen zu lockern, und schon hatten sie gequatscht und gelacht wie in den guten, alten Zeiten. Die Stunden waren wie im Flug vergangen und ehe sie sich versahen, hatte die Uhr Mitternacht geschlagen und sie hatten einander eine gute Nacht gewünscht. Schließlich würde der nächste Tag am Bauernhof schon in wenigen Stunden beginnen – zumindest für Laury.
Das Haus lag in friedlicher Stille da, als Joanna aus der Badewanne stieg und versuchte möglichst leise über die knarrenden Bodendielen ins Gästezimmer zu huschen. Sie atmete erleichtert auf, als sie behutsam die Türe hinter sich schloss und in ihrem vorläufigen Schlafgemach stand. Es war recht bescheiden eingerichtet – Laury und James hatten laut eigener Entschuldigung zu selten Gäste, um dem allzu viel Aufmerksamkeit beizumessen -, doch das Bett sah durchaus einladend aus. Die blütenweißen Daunendecken und -kissen schienen das stumme Versprechen in sich zu tragen, dass sie darauf himmlisch wie auf Wolken schlafen würde. Joanna war ebenfalls zuversichtlich. Der Tag hatte ihre Gedanken aufgehellt und beruhigt und einmal so zu tun, als wäre nichts geschehen, machte es für den Moment fast wahr. „So leicht lass ich mich nicht unterkriegen“, murmelte sie leise in den leeren Raum hinein, wie um sich selbst zu bestätigen, und mit einem zufriedenen Lächeln löschte sie das Licht und schlüpfte unter die kühle Decke. Sie lag noch eine Weile wach und starrte in die Dunkelheit, lauschte. Es war so friedlich – nur hin und wieder ein Laut aus Richtung der Stallungen, sonst nichts, nur absolute Stille. Langsam nahmen die Müdigkeit und der Wein Überhand und ihre Lider wurden schwerer und...
Sie sog scharf Luft ein, als der Schreck sie wie ein Schlag mit dem Hammer traf. Da war es wieder, dieses Paar glühender Augen, das der Anfang allen Übels gewesen war. Sie hatte es gesehen, als sie ihre Augen geschlossen hatte, doch als sie sie wieder aufriss, war es noch immer da.
'Nichts, wovor du dich fürchten müsstest', versuchte sie sich selbst zu beruhigen, doch irgendwie funktionierte es nicht. Ein leises Lachen folgte ihrem Gedanken. Dabei war ihr gar nicht zum Lachen zumute. Die Augen starrten sie weiterhin aus einer dunklen Ecke an und sie war unfähig ihren Blick abzuwenden.
'Das ist alles nur Einbildung. Es ist nicht wirklich', versuchte sie sich in Gedanken einzureden.
Das Blut gefror ihr in den Adern, als eine dunkle Stimme ihr antwortete: „Glaubst du wirklich?“
Es konnte nur Einbildung sein. Es musste aus ihrem eigenen Kopf kommen. Wie sonst konnte sie eine Antwort auf etwas bekommen, das sie nicht einmal ausgesprochen hatte?
Joanna wollte schreien, doch sie brachte nur ein entsetztes Keuchen heraus, als die Dunkelheit Form anzunehmen begann und eine Gestalt aus ihrem Versteck hinter den Schatten trat. Es war der Mann aus der Kneipe. Die Geißel ihrer Gedanken, seit er verschwunden war. Der geheimnisvolle Fremde, der eigentlich nie da gewesen war. Er stand nun vor ihrem Bett und lächelte kühl.
„Überrascht mich wiederzusehen?“, fragte er heiser.
Joanna konnte sich nicht rühren, konnte nicht aufspringen und davonrennen, wie es jede Faser ihres Körper verzweifelt von ihr verlangte. Ihr Kopf war wie leergefegt – da war nichts mehr außer dem rasenden Pochen ihres Herzens und ihren lauten, stoßweisen Atemzügen. Er trat noch einen weiteren Schritt auf sie zu und die Dielen ächzten unter seinen Füßen.
Wäre sie noch bei Verstand gewesen, hätte sie sich gefragt, ob eine Halluzination tatsächlich so komplex sein konnte, doch ihr Verstand war vollkommen von seiner Erscheinung gefesselt, ihr klares Denken völlig lahm gelegt. Für einen kurzen Moment war sie fasziniert davon, wie die Matratze unter ihm nachgab, als er sich zu ihr auf die Bettkante setzte. Mit einem Mal war er ihr so nahe, dass sie die Hand nach ihm hätte ausstrecken können und testen, ob er echt war, doch ihre Muskeln verweigerten ihr den Dienst.
„Hast du Angst?“, fragte er. Es klang fast besorgt, doch unter seiner sanften Stimme, die ihre Gedanken in Watte hüllte, brodelte purer Hohn.
Joanna blieb stumm - war es, weil sich ihre Zunge wie taub anfühlte oder weil sie die Antwort auf diese einfache Frage schlichtweg nicht wusste. Sie hätte gerne versucht sich weiter einzureden, dass sie sich ihn nur einbildete, doch etwas, das weitaus mächtiger war als ihre Vernunft, schimpfte ihre Gedanken Lügen. Sie konnte ihn sehen, ihn hören, konnte fühlen, wie sich jede kleinste seiner Regungen in der Matratze unter ihr fortpflanzte. Ja, sie konnte ihn sogar riechen. Er roch … fremdartig. Geheimnisvoll. Auf eine nicht in Worte zu fassende Art und Weise verlockend und dieser Eindruck wurde nicht von billigem Rasierwasser erzeugt. Wie alles an ihm war es eine Wahrnehmung, die sich ihrem Verstand einfach entzog, bevor sie diese genauer erforschen konnte.
Es war einfach zu viel. Zu viel, was sie nicht verstand, und... Sogar ihr Denken schien zu erstarren, als er bedächtig seine Hand hob und ihr klar wurde, dass er sie berühren würde. Panik überschwemmte ihren Körper, doch scheinbar ohne Sinn und Zweck. Die Angst erlosch in dem Moment, als seine Finger in einer zärtlich anmutenden Geste eine verirrte Locke aus ihrem Gesicht strichen. Es war, als wäre er in der Lage mit einem einzigen kleinen Wink seines Fingers all ihre Furcht und zugleich auch ihren Unglauben einfach fort zu wischen.
„Das wird dir zwar keiner glauben, aber … du bist nicht verrückt.“ Er sprach zu ihr in einem beruhigenden, süßlichen Tonfall, als würde er zu einem eingeschüchterten Kind sprechen. Sie hing wie gebannt an seinen Lippen und ihr betäubter Verstand schluckte jedes Wort, das davon perlte, ohne Widerspruch. Sie glaubte ihm. Und obwohl das unter normalen Umständen tausend neue Fragen aufgeworfen hätte, verspürte sie nichts als Erleichterung darüber, dass sie doch noch nicht den Verstand verloren hatte. Auf einmal fühlte sie sich sicher. Das Gefühl war nicht in ihr entstanden, es war trügerisch, aber dennoch fühlte sie es. Es war, als wäre er in ihrem Kopf und in jeder Faser ihres Körpers und erfüllte sie von innen heraus mit Empfindungen, die sich ihrem Verstand einfach entzogen. Und unter diese Empfindungen mischte sich ein seltsames Verlangen, das erschreckend schnell wuchs, je länger sein durchdringender Blick durch ihre Augen in ihre Seele hinab tauchte und in ihren Geheimnissen wühlte. Wo seine Finger ihr Gesicht berührten, sprang ein aufregendes Prickeln auf sie über wie ein Funke und pflanzte sich unter ihrer Haut fort, infizierte sie immer weiter mit Begierde nach dem mysteriösen Fremden, der von ihr Besitz ergriffen hatte. Jegliche Gedanken an ihr Leben jenseits der Dunkelheit waren verschwunden. Alles, was jetzt noch zählte, waren er und die düstere Welt, in die er sie entführt hatte.
Sie konnte seine Macht ebenso deutlich spüren wie seine Berührung, als seine Hand sich seitlich an ihrem Hals niederließ, sein Daumen fast spielerisch die kleine Kuhle unterhalb ihrer Kehle liebkosend. Er war unglaublich sanft zu ihr, doch das konnte die Härte, die unter der Oberfläche lauerte, nicht vor ihr verbergen. Sie gehörte ihm und es lag nun in seiner Macht zu entscheiden, ob er ihre Existenz zu Staub zerfallen oder Gnade walten ließ. Sogar der dünne Stoff ihres Nachthemds schien ehrfürchtig vor seinen Händen zurückzuweichen. Er eroberte nicht, er beherrschte. Wie ein Inkubus, der sie heimsuchte – gefährlich, gerade weil eine Versuchung von ihm ausging, der sie sich nicht entziehen konnte.
Mit einem verzückten Seufzen schloss sie die Augen, fühlte nur noch – im Stich gelassen von Vernunft und Moral. Seine gierigen Hände, die nach ihrem pulsierenden Leben tasteten. Seine hungrigen Lippen, die ihr ihren Willen raubten und sie gefügig machten. Seine kühle, geschmeidige Haut auf ihrer heißen, als träfen Feuer und Eis in unmöglicher Leidenschaft aufeinander. Seine sinnlichen Küsse folgten den verschlungenen Pfaden ihrer Adern – völlig fasziniert von dem Leben, das sie in sich barg. Schon bald vernebelte die Lust ihre Sinne so vollkommen, dass sie nicht einmal den geringsten Anflug von Schmerz verspürte, als er mit den Spitzen seiner Zähne beinahe in einem Akt der Zärtlichkeit ihre weiche Haut durchbrach und einen Schwall rot glühenden Lebens freisetzte. Ein erstickter Laut drang aus ihrer Kehle, als sie sich der Verbindung, die er geschaffen hatte, bewusst wurde. Als Bilder, schreckliche Bilder, ohne Kontrolle durch ihren Kopf schossen und Empfindungen ihren Körper durchzuckten, die so stark waren, dass sie daran zerbrochen wäre, hätte er auch nur noch ein wenig mehr von seinem Leben mit ihr geteilt. Doch da war es auch schon wieder vorbei.
Ihr Kopf war leer. Wo seine Berührungen und Küsse vor einer Sekunde noch ihre Haut zum Glühen gebracht hatten, fühlte sie sich plötzlich kalt und verwundbar. Joanna riss die Augen auf, doch sie war alleine. Und so angestrengt sie auch in die Dunkelheit starrte und die Schatten nach ihm absuchte, er war nicht mehr da, war es vielleicht auch nie wirklich gewesen.
Während eines kurzen Moments der Erleichterung fiel alle Anspannung von ihr ab, ehe sie das unmissverständliche Pulsieren von Lust in ihrem Inneren wahrnahm, das in ihrem Körper zu leben und zu atmen schien wie ein eigenständiges Wesen, das sich ihrem Einfluss entzog. Reflexartig flog ihre Hand an ihren Hals und betastete suchend jeden Zentimeter Haut, doch nur um festzustellen, dass sie ohne jeden Makel war...
Die kühle Nachtluft trug sein bitteres Lachen über die Felder, zurück zu ihr, um sie ein letztes Mal erschaudern zu lassen, bevor er sich davon stahl – dunkel und lautlos wie ein Schatten. Mit ihr zu spielen hatte ihm allerdings nicht die Genugtuung verschafft, die er sich erwartet und bezweckt hatte. Es war zu einfach mit ihr. Sie war wie Wachs in seinen Händen gewesen. Da war kein Feuer, kein Funke Leidenschaft gewesen. Zumindest nichts, das seine Kraft auch nur im Geringsten herausgefordert hätte. Eine glatte Enttäuschung.
So wie sie sich im Leben nahm, was sie wollte, hätte er angenommen, dass sie kämpfen würde. Aber was konnte man schon von den Sterblichen erwarten? Sie waren so naiv, so ignorant. Er wollte nicht, dass sie daran glaubte den Verstand zu verlieren. Das war zu … trivial. Unter seiner Würde. Seine Macht war echt und so wenig wie er darum gebeten hatte, würde auch sie das noch zu spüren bekommen. Aber alles zu seiner Zeit. Jetzt würde er erst einmal dem nächstgelegenen Städtchen einen Besuch abstatten. Sein Durst war noch lange nicht gestillt. Bei ihr hatte er diesmal noch Gnade und Bescheidenheit walten lassen, nicht weil sie die verdient hätte, sondern weil er noch Pläne mit ihr hatte. Und so huschte er weiter auf leisen Sohlen wie der Jäger, der er war, dorthin, wo das Leben auch zu dieser nächtlichen Stunde noch nicht ruhte. Doch sein spöttisches Lachen blieb zurück in ihrem Kopf, wo es begraben unter dem, was sie Vernunft nannte, wartete und lauerte.
Joanna klammerte sich so krampfhaft am Lenkrad fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten, und auch sonst fühlte sie sich alles Andere als entspannt. Sie hatte Mühe sich auf den dichten Verkehr zu konzentrieren und auf ihrer Zunge lag noch der schale Geschmack von dem Schrecken, als sie vorhin beim Abbiegen beinahe einen Radfahrer zu ihrer Kühlerfigur gemacht hatte. So aufgewühlt, wie sie war, hätte sie eigentlich gar nicht fahren dürfen, doch der Drang nachhause zu kommen hatte mit Leichtigkeit über ihre Vernunft gesiegt.
Es war nur ein Traum gewesen. Ein wirklich böser, wirklich realistischer Traum. Aber das Risiko danach noch eine Nacht allein im Bett zu verbringen wollte sie nicht eingehen. Die Spannungen zwischen Matt und ihr mochten erdrückend sein, doch im Gegensatz zu den Visionen, die sie heimsuchten, wenn sie alleine war, erschienen sie plötzlich geradezu beruhigend. Also hatte sie sich bei Laury mit einer lahmen Ausrede entschuldigt und war in ihren Wagen gestiegen, kaum dass sie das späte Frühstück höflich hinunter gewürgt hatte.
Nach der unheimlichen Begegnung letzte Nacht hatte sie kaum mehr ein Auge zu bekommen und wenn doch, war sie keine zehn Minuten später schweißgebadet wieder aufgewacht, weil sie sich eingebildet hatte etwas zu hören. Erst als die ersten Sonnenstrahlen langsam durch das Fenster gekrochen waren, hatte sie ein wenig Ruhe gefunden.
Natürlich war es nur ein Traum gewesen. Sie hatte ein oder zwei Gläschen zu viel getrunken und wenn sie getrunken hatte, schlief sie für gewöhnlich nicht besonders gut. Und wenn sie schlecht schlief, suchten sie oft die bizarrsten Träume heim. Aber noch nie hatte sich ein Traum so echt angefühlt. So lächerlich sie sich selbst dabei vorgekommen war, hatte sie dennoch nach dem Aufstehen sofort einen prüfenden Blick in den Spiegel geworfen. Doch ihre Haut war so ebenmäßig und vor allem heil wie eh und je gewesen. Nicht die kleinste Verletzung. Und ein Biss hätte ganz bestimmt Spuren hinterlassen.
Trotzdem fiel es ihr auch jetzt noch schwer zu glauben, dass das alles nur ein Traum gewesen war. Es war als hätte sie ein Stückchen dieser unheimlichen, beklemmenden Aura mit in die Wirklichkeit genommen. Und dieses bösartige Lachen. Sie wusste, dass es nicht wirklich da war, aber sie konnte es auch nicht abschütteln. Wie ein hartnäckiger Ohrwurm, nein, viel unangenehmer, wie Tinnitus hatte es sich in ihrem Kopf festgesetzt. Eigentlich sollte es sie gar nicht überraschen, dass ihre Halluzinationen sie jetzt schon bis in ihre Träume verfolgten, so unablässig wie ihre Gedanken im Wachzustand mit diesem Problem beschäftigt waren.
Der schwarze Wagen in der Einfahrt riss sie aus ihren Überlegungen. Es war erst kurz nach Mittag – warum war Matt nicht im Büro? Darauf, dass er sie gleich in Empfang nehmen würde, hatte sie sich nicht vorbereitet. Er würde sich wundern, warum sie schon wieder zurück war. Um umzudrehen und noch eine Runde um den Block zu fahren, war es zu spät – das würde nur noch mehr Fragen aufwerfen, falls er sie schon gesehen haben sollte. Also stellte sie den Motor ab und fischte ihre Tasche vom Rücksitz, während ihr Kopf bereits fieberhaft nach einer plausiblen Antwort suchte und sie zugleich versuchte ihren höchstwahrscheinlich noch immer ziemlich fassungslosen Gesichtsausdruck in den Griff zu bekommen.
Was konnte sie bloß dazu bewegt haben so früh wieder zurück zu kommen, wo sie es doch gestern noch so eilig gehabt hatte die Stadt zu verlassen? Irgendeine geschäftliche Angelegenheit konnte nicht warten? Sie brütete etwas aus und fühlte sich dementsprechend unwohl? Es war dort einfach zum Gähnen langweilig gewesen? Sie hatte ihn vermisst?
Sie hatte die Haustüre erreicht, aber jede Ausrede, die ihr in den Sinn kam, klang genau wie eben das: eine Ausrede. Dennoch griffen ihre Finger ganz automatisch nach der Türklinke und sie trat ohne großes Zögern ein.
„Matt? Du bist schon zuhause?“, rief sie ins Haus hinein und versuchte möglichst unbefangen zu klingen.
„Ich könnte dich dasselbe fragen“, antwortete er trocken und erschien in der Tür zur Küche. Er musterte sie von unten nach oben, als sie sich hinunter beugte, um die Riemen ihrer Schuhe zu lösen. Als ihr Blick wieder zu seinem Gesicht zurückkehrte, hatte sich der Ausdruck darin auf erschreckende Weise verändert. Er war schon zuvor nicht die Freude in Person gewesen, doch jetzt glich seine Miene der einer Statue – hart und unnachgiebig. Sie konnte seinen Blick eiskalt auf ihrer Haut fühlen, als er diesen auf eine Stelle mehrere Zentimeter unter ihrem Ohr fixierte, und ein äußerst ungutes Gefühl stieg in ihr hoch. Als ihre Blicke sich trafen, musste sie die größte Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht schuldbewusst zusammenzuzucken. Er wusste, dass sie log, noch bevor das erste Wort ihren Mund verlassen hatte. Sie konnte diese Tatsache so deutlich in seinen Augen lesen, als stünde sie dort tatsächlich geschrieben. Sie würde ihm wohl oder übel die Wahrheit sagen müssen. Dass er mit einer Irren verheiratet war. Und dass sie sich ihm, ihrem eigenen Ehemann, nicht anvertraut hatte, würde ihr Geständnis wohl kaum entkräften.
„War er etwa nicht gut?“ Matts Sarkasmus schnitt so scharf durch das Schweigen wie eine Klinge.
Für einen langen Moment starrte sie ihn nur entgeistert an, ehe sie verwirrt stotterte: „W-wie bitte?“
„Na du bist viel früher als geplant zuhause“, erklärte er in einem so selbstverständlichen Tonfall, als müsste sie noch viel besser als er verstehen, wovon er sprach.
Joanna wusste nicht, was sie sagen sollte, als ihr plötzlich klar wurde, was er ihr da unterstellte. „Und weiter?“ Sie kräuselte irritiert die Stirn und bemühte sich um einen möglichst unbedarften Tonfall, so als hätte sie nicht die geringste Ahnung, was er ihr damit sagen wollte, doch unter der Oberfläche brodelte es bereits nervös. Er mochte ihren kurzen Ausflug missverstanden haben, aber das bedeutete nicht, dass er prinzipiell nicht die richtigen Schlüsse zog.
„Du kannst aufhören damit mir was vormachen zu wollen.“ Er spie die Worte voll Verachtung aus. „Oder hast du mich noch nicht lang genug für dumm verkauft?“ Es machte ihr beinah Angst, wie er sie anstarrte, wie die Wut hinter seinen Augen brannte.
„Matt, ich...“, begann sie kleinlaut, doch er schnitt ihr barsch das Wort ab: „Lass es! Wenn du den Mund aufmachst, kommen ja doch nur Lügen heraus. Jetzt macht das alles auf einmal Sinn: die ganzen Überstunden bis in die Nacht hinein, die abendlichen Arbeitsessen, wie du mich in letzter Zeit auf Abstand gehalten hast... Eigentlich hätte ich es längst wissen müssen, aber wahrscheinlich will man die bittere Wahrheit nicht sehen, wenn einen die eigene Ehefrau nach Strich und Faden belügt und betrügt. Aber denkst du denn, ich bin blind?“ Er hatte sich so in Rage geredet, dass er schon beinahe schrie. Normalerweise war er eher der Typ, der einen mit Schweigen und leisem Sarkasmus strafte, so dass sie jetzt, wo er so drohend die Stimme erhob, geradezu eingeschüchtert war. Für einen langen Moment breitete sich drückende Stille zwischen ihnen aus und sie wusste beim besten Willen nicht, was er nun von ihr hören wollte. Die Wahrheit würde ihre Situation keinesfalls verbessern, aber eine weitere Lüge würde er in diesem Moment bestimmt auch nicht schlucken. Wenn sie nur gewusst hätte, was genau er zu wissen glaubte! Wie war er gerade jetzt darauf gekommen, wo sie sich bei ihrem Besuch bei Laury diesmal wirklich nichts zu Schulden kommen lassen hatte?
„Bin ich dir nicht mal mehr eine Antwort wert?“ Seine Stimme troff vor Enttäuschung und ließ sie innerlich zusammenzucken.
„Was willst du jetzt von mir hören?“, fragte sie hilflos und so leise, dass er sie nur mit Mühe verstand.
„Die Wahrheit, verdammt nochmal“, donnerte er. „Bei wem warst du?“
Sie schloss für eine Sekunde die Augen und zwang sich selbst zur Ruhe. Wenn sie jetzt auch noch aufbrauste, würde das keinem von ihnen beiden von großem Nutzen sein. „Ich war bei Laury und ihrem Mann. ... Und das ist die Wahrheit“, fügte sie betont hinzu. Es war nur ein Strohhalm in einer ausweglos erscheinenden Situation, aber sie würde sich daran festklammern, so lange wie es ihr irgend möglich war.
„Ach, und hast du dir von ihm ein paar Knutschflecke verpassen lassen, während deine vertrauensselige Freundin gerade nicht im Zimmer war?“ Da war er wieder, sein vertrauter Sarkasmus, doch das fiel ihr nicht mehr auf. Ihre Aufmerksamkeit war viel mehr an dem hängen geblieben, was er gesagt hatte. Woher zum Teufel sollte sie Knutschflecke haben, wie er es nannte? Sie hatte doch nichts getan. Sie...
Bevor er protestieren konnte, stürmte Joanna ins Badezimmer. Ihr eigener Anblick im Spiegel erschreckte sie viel tiefer als alles, was Matt je hätte sagen können. Das war nicht möglich! Es war nur ein Traum gewesen. Es war einfach nicht möglich!
Ihr Verstand blockierte vollkommen, aber das änderte nichts an dem Bild des Schreckens, das sich ihr bot. An ihrem Hals stachen deutlich sichtbar zwei rundliche Stellen geschundener Haut hervor. Sie wusste, es konnte nur eine Erklärung dafür geben, doch die war zu bizarr, um sie zu akzeptieren. Vorsichtig ließ sie ihre Fingerkuppen über die rötlich-violetten Male gleiten und stellte mit Entsetzen fest, wie überaus empfindlich ihre Haut auf diese Berührung reagierte.
„Dumm gelaufen, wenn man nachlässig wird, was?“, spottete Matt ohne einen Hauch von Humor. In ihrer Fassungslosigkeit hatte sie gar nicht bemerkt, wie er ihr gefolgt war und nun täuschend lässig im Türrahmen lehnte, um sie weiter anzustarren. Er interpretierte ihre Reaktion völlig falsch, doch ihre Gedanken waren plötzlich zu weit weg, um sich darum zu kümmern. Sie konnte hören, dass er weiter wetterte, aber seine schroffen Worte prallten einfach an ihr ab, als hätten sie von einem Augenblick zum nächsten jegliche Bedeutung für sie verloren. Selbst die Tatsache, dass die Rötungen an ihrem Hals heute Morgen bestimmt noch nicht da gewesen waren, rückte plötzlich in den Hintergrund. Das Einzige, was noch in ihrem Kopf herumschwirrte, was im Moment ihr gesamtes Denken beherrschte, war, was das bedeutete.
Letzte Nacht war ein Fremder bei ihr gewesen und er hatte ihr Gewalt angetan und sie hatte ihn gewähren lassen, weil sie dachte, sie würde verrückt. Er musste sie von Anfang an verfolgt haben. Aber... Um Himmels Willen, wer war wahnsinnig genug sie zu … beißen? Sie getraute es sich fast nicht einmal zu denken. Das war doch Irrsinn! Auf einmal schien die Temperatur um sie herum um mehrere Grade abzufallen und ein eisiges Frösteln beutelte ihren Körper. Ihre Sicht verschwamm hinter Tränen, die in ihren Augen brannten wie Säure, aber die roten Flecken an ihrem Hals verschwanden nicht.
Sie wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatte – innerlich starr vor Schreck, keine Kraft mehr sich zu rühren -, doch irgendwann riss der Knall, mit dem die Haustüre ins Schloss krachte, sie wieder aus ihrer Erstarrung. Joanna blinzelte verwirrt, lauschte, doch da war nichts, absolut nichts. Selbst ihre eigenen Atemzüge gingen so flach, dass sie sie nicht mehr hören konnte. Matt war weg und sie konnte es ihm nicht einmal verdenken, doch das war es nicht, was ihr solche Angst einflößte. Sie war alleine und jemand war da draußen, der ein sadistisches Vergnügen dabei empfinden musste, seine bösen Spielchen mit ihr zu treiben. Die Stille, die sie umgab, weckte wieder die Erinnerung an das bösartige Lachen, das sie bis hierher verfolgt hatte, und es klang so real, als versteckte es sich in ihrem eigenen Schatten, um sich aus nächster Nähe an ihrem Unglück zu weiden und sie zu verhöhnen.
Zu behaupten, dass Joanna sich sich etwas später wieder gefasst hatte, wäre übertrieben gewesen. Sie mochte nach außen hin ruhig wirken – zu ruhig -, aber in ihrem Inneren tobte ein Sturm. Es mussten Stunden vergangen sein, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, was sie in der Zwischenzeit getan hatte, wahrscheinlich weil sie nichts getan hatte außer zu versuchen die Leere in ihrem Inneren mit Alkohol und Nikotin und dem viel zu schwachen Beruhigungsmittel, das ihr verschrieben worden war, zu füllen. Es blieb bei dem Versuch, denn da war nichts in ihr, was sie wiedererkannt hätte. Der Schock schien alles lahm gelegt zu haben.
Matt war nicht zurückgekommen und wahrscheinlich würde er das so schnell auch nicht. Ein paar seiner Sachen fehlten, aber sie wusste nicht, wohin er gegangen war, wusste nicht mal, ob er es ihr überhaupt verraten hatte, während sie nicht mehr fähig gewesen war seinen Worten Beachtung zu schenken. Vielleicht war er zu seiner Schwester gefahren. Vielleicht auch in ein Hotel, um erst mal seinen Ärger und die Enttäuschung abkühlen zu lassen. Sie wusste nur, dass sie kein Recht hatte, ihn darum zu bitten nach Hause zu kommen, auch wenn langsam die Dämmerung heranzog und mit ihr die Furcht, vor der sie nun niemand mehr beschützen konnte. Sie hätte zur Polizei gehen können und denen erzählen, dass sich ein Psychopath an ihre Fersen geheftet hatte, den niemand sonst je gesehen hatte und der stets an Orten auftauchte, wo es ihm eigentlich gar nicht möglich sein sollte ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Sehr glaubwürdig! Besonders wenn es von einer Frau kam, die sich erst kürzlich an einen Psychiater gewandt hatte, weil sie unter Halluzinationen und Verfolgungswahn litt. Da würden ihre Sorgen eingewiesen zu werden plötzlich gar nicht mehr so unbegründet sein. Sie durfte jetzt also bloß nicht hysterisch werden.
Stattdessen griff sie nach ihrem Handy und wählte Nicks Nummer. Sie konnte heute Nacht nicht allein sein. In dieser noch weniger als in jeder davor. Es läutete einmal, zweimal, fünfmal, dann sprang die Mobilbox an und erklärte ihr mechanisch, was sie ohnehin schon wusste: dass er nicht abheben würde. Mit einem entnervten Schnauben warf sie das Handy aufs Sofa und kümmerte sich nicht darum, dass es nur haarscharf von einem Sturz aufs Parkett entfernt war. Nick tauchte doch sonst immer ungefragt zu den unpassendsten Zeitpunkten auf – warum war er jetzt nicht da, wo sie seine Gesellschaft wirklich hätte brauchen können?
Als sie sich umsah, schienen die Schatten bereits wieder ein Stück länger geworden zu sein und sie konnte nicht leugnen, dass es nackte Angst war, die sich in ihr ausbreitete und ihr bereits jetzt in der Dämmerung zu schaffen machte. Sie würde kein Auge zu kriegen, wenn sie heute Nacht allein blieb. In ihr tobte ein Kampf zwischen dem wachsenden Unbehagen und dem bisschen Stolz, das ihr noch geblieben war. Doch als ein Knacken in den Dielen sie wie unter einem Donnerschlag zusammenfahren ließ, vergaß sie auch das noch, sprang auf und verließ eilig das Haus. Sie bemühte sich nicht zu rennen, aber sie konnte nicht leugnen, wie erleichtert sie war, als sie in ihrem Wagen saß und das gleichmäßige Schnurren des Motors sie zumindest ein wenig beruhigte.
Fast wie von selbst fand ihr Wagen den Weg zu Nicks Wohnung, während sie mit ihren Gedanken wieder einmal ganz woanders war. Sie spähte neugierig nach oben, als sie sich dem vierstöckigen Wohnhaus im Kern der Stadt näherte, und stellte erleichtert fest, dass Licht brannte hinter der Glastür, die auf seinen minimalistischen Balkon hinaus führte. Er war also zuhause. Wahrscheinlich war er vorhin einfach nur unter der Dusche gestanden oder er hatte Musik laufen gehabt und sein Handy deswegen überhört. Vermutlich hatte er in der Zwischenzeit bereits zurückgerufen, nur sie hatte ihr Handy in der Eile zuhause vergessen.
Joanna fühlte sich schon etwas optimistischer, als sie ohne Hektik die Treppen in den dritten Stock hoch stieg. Sie rang sich sogar zu einem zaghaften Lächeln durch, als sie kurz den Klingelknopf betätigte und dann geduldig wartete. Zehn Sekunden später konnte sie Schritte hören, die sich der Türe näherten. Der Schlüssel wurde geräuschvoll im Schloss herumgedreht und Nicks Gesicht tauchte in dem schmalen Spalt zwischen Tür und Rahmen auf. Er wirkte überrascht, aber nicht gerade im positiven Sinn.
„Joe, was machst du denn hier?“ Sein Tonfall bestätigte ihren ersten Eindruck noch.
„Ich hab angerufen, aber du bist nicht ran gegangen“, erklärte sie etwas verunsichert. „Ich war in der Gegend, also hab ich gedacht, ich schau einfach vorbei.“ Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern. Dass er sie nicht herein bat, irritierte sie. „Kann ich reinkommen?“, fragte sie hoffnungsvoll – sie wollte wirklich nicht zwischen Tür und Angel den heruntergekommenen Zustand ihrer Ehe darlegen.
„Ähm, tut mir Leid, aber jetzt ist kein guter Zeitpunkt“, druckste er verlegen herum. „Ich...“
„Willst du auch Peperoni auf deine Pizza, Süßer?“, erschallte eine zuckersüße, wenn auch etwas penetrante Stimme aus der Wohnung und nahm ihm jede weitere Erklärung ab.
„...bin nicht allein“, murmelte er dennoch leise seinen Satz zu Ende.
„Oh“, formten ihre Lippen verstehend und plötzlich fühlte sie sich wieder ganz unwohl in ihrer Haut. „Tut mir Leid, dass ich gestört hab“, sagte sie trocken und machte am Absatz kehrt ohne ihm noch mal in die Augen zu sehen. Sie hörte, wie er die Türe mit einem leisen Klicken hinter ihr schloss ohne noch etwas sagen zu wollen, ohne ihr nachzusehen, wie sie den Flur hinunter verschwand. Er war ihr keine Rechenschaft schuldig und für gewöhnlich interessierte es sie auch nicht, was er in den Nächten trieb, wo er nicht mit ihr zusammen war, aber dass er sie gerade heute für bedeutungslosen Gelegenheitssex abserviert hatte, versetzte ihr einen geradezu schmerzhaften Stich.
Ihre Schritte wurden immer langsamer, als sie die Treppen wieder hinab stieg, fast so als hoffte sie, die Zeit würde an ihr vorüber eilen und es würde ganz schnell wieder Morgen werden. Aber so einfach ließ sich die Nacht leider nicht austricksen. Die Zeiger standen gerade mal auf kurz nach neun, als sie wieder in ihrem Wagen saß. Und jetzt? Sie wollte nicht wieder nach Hause. Allein die Vorstellung die Nacht in dem großen Haus ganz allein zu verbringen, ließ sie schaudern. Also blieb sie erst mal im Wagen sitzen und zündete sich nervös eine Zigarette an. Sie schmeckte scheußlich genau wie die zehn oder mehr davor. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie viele von den Drecksdingern ihrer schlechten seelischen Verfassung bereits zum Opfer gefallen waren.
Sie hätte nach Hause zu ihren Eltern fahren können, doch so tunlichst, wie sie sich sonst von dort fern hielt, hätte sie denen erst mal eine Erklärung geschuldet. Matt war so ziemlich die einzige ihrer Entscheidungen, die ihre Eltern jemals gutgeheißen hatten. Da wollte sie sich jetzt nicht auch noch Vorwürfe anhören, dass sie diesen fürsorglichen, soliden Mann betrogen und in die Flucht geschlagen hatte. Zum Teufel noch mal! Sie hatte doch so ein erfülltes Leben. Das alles konnte doch nicht innerhalb weniger Sekunden zu Staub zerfallen sein.
Joanna erschrak fast zu Tode, als ein wohl bekanntes spöttisches Lachen ihr zu bestätigen schien, dass dies sehr wohl passieren konnte. Ihr Blick flog zum Rückspiegel und ein Paar eiskalter Augen starrte sie daraus an, doch als sie ihren Kopf herum riss, war der Rücksitz leer.
„Bitte, lass das aufhören!“, flehte sie leise und ihre Stimme bebte, als sie sich ängstlich nach allen Seiten umsah, aber sie konnte nichts und vor allem niemand Ungewöhnlichen entdecken. Sie wurde also doch verrückt. Vor allem war sie nahe daran in Hysterie auszubrechen. Doch sie schaffte noch einmal den Absprung und startete mit einer entschlossenen Geste den Motor, allerdings nur um ihn ein paar Blocks weiter vor der nächsten Bar wieder abzustellen. Vor dem Eingang stand ein Grüppchen junger Leute an und wartete ungeduldig auf Einlass. Der perfekte Ort um nicht allein zu sein. Sie wusste, wie lächerlich das geklungen hätte, wenn sie es jemandem erzählt hätte, aber hier konnte sie die Stunden bis zur Morgendämmerung totschlagen.
Joanna war fix und fertig, als sie um fünf Uhr morgens in einem Taxi nach Hause saß.
„Lange Nacht gewesen?“, fragte der junge Fahrer überflüssigerweise und ohne hinsehen zu müssen konnte sie spüren, wie er sie von der Seite musterte.
„Mhm“, murmelte sie nur abwesend – sie hatte jetzt wirklich keine Lust sich zu unterhalten. Nach ein paar Gläsern Wodka mit Saft hatte sie zwar für die restlichen Stunden die Finger vom Alkohol gelassen, doch ihr war noch nie zuvor bewusst geworden, wie lange eine Nacht dauern konnte, wenn man so verzweifelt auf ihr Ende wartete. Sie fühlte sich körperlich erschöpft, doch ihr Geist war rastlos, selbst nach der zweiten Nacht in Folge, in der sie keine Ruhe gefunden hatte.
Abwesend reichte sie dem Fahrer das Geld, das er für die Fahrt berechnet hatte, und stieg aus ohne ein Wort des Grußes zu verlieren. Sie fühlte sich wie ein Zombie, als sie die Einfahrt hinauf schlich – ein Schatten ihrer Selbst – und im Haus verschwand. Alles war, wie sie es verlassen hatte. Matt war nicht zurückgekommen. Sie fühlte sich so ausgelaugt, dass sie dafür nicht einmal großes Bedauern aufbringen konnte. Sie hatte selbst auch nicht vor lange hier zu bleiben.
Sie ließ eine heiße Dusche ihre Lebensgeister zumindest ansatzweise wecken, schüttete zwei Tassen bitter-schwarzen Kaffee hinunter und tauschte ihre Klamotten gegen neue, die nicht nach einer durchzechten Nacht rochen. Den Weg zur Arbeit lief sie – er war ja nicht so weit und die kühle Morgenluft tat ihrem brummenden Kopf gut. Um Punkt sieben war sie im Büro und fragte sich, was sie dort eigentlich tat, während sie sich wahllos durchs Internet klickte, nur um irgendetwas zu tun. Sie holte sich noch einen dritten Kaffee in der Hoffnung, dann eher fähig zum Arbeiten zu sein. Doch stattdessen wäre sie fast am Schreibtisch eingenickt, wäre Nick nicht geräuschvoll hereingeplatzt. Sie konnte beobachten, wie sein Gesichtsausdruck sich mit Sorge füllte, als er sie ansah. Sie bot heute wohl keinen so verlockenden Anblick wie sonst.
„Himmel, was hast du denn letzte Nacht getrieben?“, entfuhr es ihm.
Was hatte sie bloß verraten? Waren es die dunklen Ringe unter ihren Augen oder die unnatürliche Blässe ihrer Wangen oder der Abdruck, den ihre Schreibunterlage sicherlich auf ihrer Wange hinterlassen hatte?
„Du warst beschäftigt, also hab ich die Zeit mit Trinken verbracht“, brummte sie und es klang mehr nach einem Vorwurf, als sie beabsichtigt hatte.
„Hör mal, ich...“, begann er teils entschuldigend, teils abweisend, doch sie winkte ab: „Nein, nein, schon okay. Ich glaube, Matt hat mich verlassen, und ich dachte, es würde dich vielleicht interessieren.“ Schon wieder dieser vorwurfsvolle Tonfall.
Für einen Moment sah er sie nur perplex an, doch dann sah sie Ärger in seinen sonst so strahlenden Augen aufglimmen. „Und das ist jetzt meine Schuld oder was?“, fragte er mittlerweile dezent gereizt.
Eigentlich trug sie ganz alleine die Verantwortung dafür, doch dieses Eingeständnis wollte ihr nicht über die Lippen kommen. Stattdessen meinte sie trocken: „Na ja, ganz unschuldig bist du daran nicht.“ Sie wusste genau, das hätte sie sich verkneifen sollen, doch nach allem, was passiert war, fühlte sie sich nicht stark genug, um ihre Wut im Zaum zu halten, auch wenn diese ursprünglich nicht Nicolas gegolten hatte.
„Hör mal, du hast ganz offensichtlich eine harte Nacht hinter dir, aber ich hab keine Lust mich mit dir zu streiten.“ An der Anspannung in seinem Gesicht konnte sie deutlich erkennen, wie viel Mühe es ihn kostete, die Ruhe zu bewahren, als er so beherrscht zu ihr sprach. „Aber ich hab dir von Anfang an gesagt, dass es mich nichts angeht, was sonst so bei dir los ist. No strings attached. Daran hat sich nichts geändert.“
Joanna fühlte sich wie taub, aber wie eiskalt er ihr ins Gesicht sagte, dass ihm ihre Misere herzlich egal war, drang sogar in ihrem Zustand noch zu ihr durch. Die Enttäuschung musste ihr ins Gesicht geschrieben stehen, denn er schlug sofort einen sanfteren Tonfall an, als er erneut das Wort ergriff: „Geh nach Hause! Du siehst nicht gut aus. Schlaf deinen Kater aus, dann sieht die Welt wieder ganz anders aus.“
Als wäre ein Kater auch nur das geringste ihrer Probleme! Als hätte er auch nur den Hauch einer Ahnung, wie ihr zumute war! Doch sie verbiss sich den nächsten spitzen Kommentar, der ihr auf der Zunge brannte, und nickte stattdessen nur schwach.
„Gut“, sagte er mehr oder minder zufrieden und verließ ihr Büro wieder ohne anzusprechen, weswegen er eigentlich gekommen war.
Als Joanna nach einem Tod-ähnlichen Schlaf die Augen wieder aufschlug, war es Nacht. Sie hätte eine Lampe angelassen, wenn sie geahnt hätte, dass sie den ganzen Tag verschlafen würde, denn jetzt umgab sie nur undurchdringliche Finsternis. Für einen langen Moment wagte sie nicht sich zu rühren, sondern lauschte und starrte nur angestrengt in die Dunkelheit hinein, um sich zu vergewissern, dass sie alleine war. Erst als ihre Augen von dem Versuch etwas zu sehen, wo es nichts zu sehen gab, brannten, atmete sie auf und tastete nach dem kleinen Schalter an der Nachttischlampe. Es machte leise Klick und warmes Licht flutete den Raum. Dann knackte es plötzlich neben ihr und das Licht erlosch ebenso schnell wieder. Die Glühbirne musste durchgebrannt sein, stellte sie mit einem genervten Seufzen fest und versuchte gegen das Unbehagen, das die Dunkelheit in ihr weckte, anzukämpfen. Sie schwang die Beine aus dem Bett und tapste blind von dem kurzen Aufflammen des Lichts in Richtung Tür. Gerade wollte sie die Hand nach dem Lichtschalter ausstrecken, als sie unsanft gegen etwas Massives stieß und mitten in der Bewegung erstarrte.
'Nein, nein, nein! Bitte nicht!', hallte ein verzweifeltes Flehen in ihrem Kopf wider, doch sie wusste bereits, dass ihr das nicht helfen würde.
„Freust du dich denn gar nicht mich wiederzusehen?“, fragte die dunkle Gestalt vor ihr voll Hohn. „Hat es dir denn letztes Mal nicht gefallen? Dann muss ich mich diesmal wohl etwas mehr anstrengen.“ Was bei jedem Anderen wie ein verheißungsvolles Versprechen geklungen hätte, klang bei ihm nach einer gefährlichen Drohung, doch eine Flucht war unmöglich. Es war, als würde ihr eine unüberwindliche Mauer aus Schatten und Macht den Weg versperren, selbst dann noch, als er hinter sie trat, sie umkreiste wie ein Raubtier seine Beute, die längst hoffnungslos in der Falle saß.
„Was willst du?“, stieß Joanna zitternd hervor, den Blick ängstlich zu Boden gesenkt.
Als Antwort drang ein düsteres Lachen aus seiner Kehle hervor. „Dich. Ich dachte, das wäre klar...“ Er stand wieder vor ihr und hob bedächtig die Hand, um ihr Gesicht zu berühren, doch bevor er die Bewegung zu Ende führen konnte, taumelte sie zurück und stolperte, als die Bettkante ihren Beinen den Weg versperrte. Die weichen Laken schluckten den Laut, als die Matratze ihren Sturz abfing.
„Schon besser. Ich sehe, du verstehst“, höhnte er und die Bedeutung hinter seinen Worten ließ sie bis ins Mark erschaudern. Ihr Atem ging schwer und ihr Herz pochte so laut, als würde es nach ihm rufen, als er näher kam und bedrohlich von oben auf sie hinabstarrte. Sein machtvoller Blick schien am Stoff ihres Nachthemds zu zerren und ihre Haut geradewegs zu versengen dort, wo sie nicht bedeckt war. Sie schloss nur die Augen und erwartete ihr Schicksal, von dem sie wusste, dass sie ihm ohnehin nicht entrinnen konnte, als er über sie kam wie ein Dämon aus der Hölle.
Ein Seufzen der Erleichterung durchdrang die Stille, als er seine Fänge in ihren Geist schlug und die Angst von ihr nahm, sie stattdessen mit Leichtigkeit und Wohlbehagen erfüllte. So kalt seine Haut auch war, so heiß zog sein Atem einen brennenden Pfad über ihren Körper und wo er sie berührte, entflammte sie in Begierde. Joanna war nicht mehr sie selbst, als sie sich ihm so bereitwillig hingab. Das, was sie einst gewesen war, hatte er ihr genommen und mit etwas Düsterem, ungleich Machtvollerem ersetzt. Sie wollte seine Macht spüren, die Erleichterung darüber, dass ihr zur Qual gewordenes Leben nun nicht mehr in ihrer eigenen Verantwortung lag, sondern er die Möglichkeit in Händen hielt, sie leben oder sterben zu lassen. Sie wollte von der Süße der Sünde kosten, die nur er ihr zuteil werden lassen konnte.
Seine Lippen tanzten über ihre seidenweiche Haut, seine Zunge lechzte nach dem kostbaren Leben, das sich darunter verbarg, während sie sich wie gequält unter ihm wand und nach Erlösung bettelte. Ihr Denken war vollkommen umnachtet von dem unbändigen Verlangen, das in ihr loderte und sie innerlich zu verbrennen drohte. Fordernd vergrub sie ihre Finger in die seidigen Wogen seines pechschwarzen Haars und wimmerte verzückt auf, als er seine durstigen Fänge tief in das weiche Fleisch ihres Schenkels vergrub. Bittersüßer Schmerz explodierte unter ihrer Haut und fraß sich in ihr Innerstes hinein, wo er ein wahres Feuerwerk der Ekstase entzündete. Sie konnte hören, wie gierig er Schluck um Schluck seine Kehle hinabrinnen ließ, doch dieser trügerisch befriedigende Laut ging plötzlich in einem spitzen Schrei unter und dann war es auf einmal totenstill.
Joanna saß aufrecht in ihrem Bett und das Haar klebte ihr schweißnass auf der Stirn. Ihr Hals fühlte sich wund an und brannte und sie erkannte, dass es ihr eigener Schrei gewesen war, der sie geweckt hatte. Geweckt? Ihre Gedanken stockten verwirrt. War sie nicht schon vorher wach gewesen? Sie tastete nach dem Nachttisch, hielt aber inne, als sie sich daran erinnerte, dass die Glühbirne zum Teufel gegangen war. Also stand sie auf, um die Deckenlampe einzuschalten. Ein seltsames Gefühl von Déjà-vu überkam sie, wurde jedoch je unterbrochen, als sie die warme, klebrige Nässe bemerkte, die ihr Bein hinunter lief. Sie betätigte den Lichtschalter und ihr Herzschlag schien auszusetzen.
Die Flut von Rot, die ihr entgegenschlug, war überwältigend. Blut. Überall war Blut. Die weißen Laken hatten sich damit vollgesogen, der Boden war entlang ihrer Schritte besudelt und als sie erschrocken an sich selbst hinunter sah, wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Sie fühlte sich schwindelig und Übelkeit stieg in ihr hoch, als sie die Wunde an ihrem Oberschenkel, aus der noch immer mehr Blut floss, vorsichtig betastete, so als könnte sie ihren Augen allein nicht trauen. Sie war außer Stande einen klaren Gedanken über das Wie und Warum zu fassen, doch sie rannte instinktiv ins Badezimmer und riss den halben Schrankinhalt heraus auf der panischen Suche nach etwas, um die Wunde zu versorgen. Als sie endlich eine Mullbinde fand, ließ sie sich schwer an der Wand zu Boden gleiten und presste den Mull fest gegen die Wunde. Der Schmerz, der ihr aus Protest entgegenschlug, übermannte sie beinahe und das Schwächegefühl drohte Überhand zu nehmen, doch sie durfte nicht aufgeben! Sie biss die Zähne zusammen und drückte noch fester zu. Gleich würde es aufhören. Gleich...
Ihre Sicht schien zu zerfasern und alles verschwamm vor ihren Augen, doch nicht genug, um sie vor der erschreckenden Wahrheit zu beschützen. Die Blutung stoppte nicht. Der Mull sog sich voll und verwandelte sich unter ihren hilflosen Händen in einen nassen, roten Lappen, während ihr Herz weiter wie rasend dahin galoppierte und nur noch mehr Blut aus ihr herauspumpte. Sie wagte nicht mal richtig hinzusehen, als sie den nutzlos gewordenen Mull zur Seite warf und darunter wieder die scheußliche Wunde zum Vorschein kam, die ihre Tore einfach nicht schließen wollte. Als wäre Gift in ihren Körper gelangt, das ihr diese Gnade verwehrte.
'Warum tust du mir das an?', heulte eine verzweifelte Stimme in ihrem Kopf auf, doch niemand war da um zu antworten. Mühsam stemmte sie sich zurück auf die Beine, die mittlerweile so stark zitterten, dass sie beinahe unter ihrem Gewicht nachgegeben hätten, und taumelte zurück ins Schlafzimmer. Der Gestank von trocknendem Blut war hier fast übermächtig und für eine Sekunde ließ die Woge der Übelkeit, die sie überrollte, sie zurückprallen. Sie hielt den Atem an und versuchte das leuchtende Rot überall auszublenden, als sie sich ihr Handy schnappte und so schnell sie konnte wieder aus dem Schlafzimmer floh. Kraftlos sank sie auf das Sofa und wählte den Notruf, während sie weiter gegen die Dunkelheit ankämpfte, die sich in ihrem Kopf viel zu schnell ausbreitete.
Seitdem waren beinahe 24 Stunden vergangen, als Joanna in einem weißen Bett in einem weißen Zimmer lag und apathisch in die Abenddämmerung hinaus starrte, die den Himmel in die schönsten Farben tauchte. Doch diese Schönheit fiel ihr nicht mehr auf. Für sie waren alles, was die untergehende Sonne noch mit sich brachte, Schrecken und Angst. Doch in diesem Moment drangen nicht einmal diese Eindrücke mehr zu ihr durch.
Sie hatten ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht, dessen Namen sie noch im selben Augenblick wieder vergessen hatte, in dem es ihr genannt worden war. Wie durch Watte gedämpft und unklar stiegen Erinnerungen an die wenigen Momente hoch, die sie nicht in betäubtem Schlaf verbracht hatte. Das Einzige, was sich glasklar in ihren Kopf eingebrannt hatte, war all das Blut. Wenn sie die Augen schloss, war sie wieder dort, irrte wieder durch ihr Haus wie ein verwundetes Tier. Ihr Bett und sie selbst waren voller Blut und ihre Schritte hinterließen bizarre, rote Muster auf dem sauberen Fußboden. Warum hatten sie es nicht gesehen? Warum zum Teufel hatten sie nicht sehen können, was sie so in Panik versetzt hatte?
Der Arzt hatte versucht sie zu beruhigen. Er hatte mit ihr so langsam und geduldig gesprochen wie mit einem Kind, während sie immer wirreres Zeug gestammelt hatte von Blut und einem wahnsinnigen Mann, der aus den Schatten kam. Sie konnte sich noch erinnern, dass sie sich immer wieder aufgeregt hatte, warum er nicht endlich ihre Wunde versorgte. Dass sie ihn nicht gerufen hatte, damit er zusah, wie sie langsam krepierte.
Jetzt wusste sie, warum er nichts getan hatte, nichts tun hatte können. Als sie hier in diesem Bett aufgewacht war, war die perfekte Illusion in Schall und Rauch aufgegangen. Wie ein Alptraum, der sich unter den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne aufgelöst hatte. Ein Arzt hatte ihr erklärt, dass sie sich gezwungen gesehen hatten sie ruhig zu stellen. Dass sie vollkommen hysterisch gewesen war. Dass sie entgegen ihrer Überzeugung keine Verletzung hatten finden können.
Sie hatte geweint, hatte immer wieder vor sich hin geschluchzt, dass sie nicht verstand, was mit ihr geschah. Immer wieder hatte sie nach ihrem Bein getastet oder unter das Laken gelinst, um sich selbst davon zu überzeugen, dass sie in Ordnung war, denn sie konnte den Schmerz immer noch fühlen – wie ein Echo, das in ihrer Seele gefangen schien.
Dann hatte man einen Psychiater zu ihr geschickt. Sie hatte ihm nicht zugehört. Sie wusste selbst, dass sie jetzt offiziell verrückt war. Irgendjemand hatte ihre Sachen durchwühlt und Matt angerufen, doch sie hatte ihn nicht sehen wollen. Sie war jetzt nicht in der Verfassung irgendjemanden länger als unbedingt nötig in ihrer Nähe zu ertragen. Sie wusste, was das bedeutete – das alles. Sie würde in eine Klinik gehen, wo man sie analysierte und therapierte. Aber das war ihr egal. Dort würde man auf sie Acht geben und das war momentan alles, was ihr wichtig war. Dort hatten sie Medikamente, die es ihr erlaubten zu schlafen ohne zu träumen, ohne Angst zu haben. Sogar ihre Gedanken waren unter Kontrolle, überschlugen sich nicht mehr wie wild und trieben sie nicht mehr weiter in den Wahnsinn. Alles war ungewöhnlich friedlich – ein Gefühl, das sie seit – wie ihr schien – einer Ewigkeit vermisst hatte. Sie würde dorthin gehen und nicht zurückblicken. Worauf sollte sie auch zurückblicken? Ihr fiel nichts ein. Langsam fielen ihre Augen zu und sie ergab sich der dumpfen Müdigkeit, die sie in ihrem Inneren erwartete...
Damian leckte sich genüsslich die von Blut feuchten Lippen, als er sich zu dem Gebäude umdrehte, aus dem er soeben lautlos und ungesehen herausgehuscht war. Für den Moment war sein Durst gestillt, doch er empfand keine Befriedigung. Die massiven Fenster und Türen hielten ihre Schreie im Inneren gefangen, doch ihr Echo hallte noch in seinem Kopf wider. Er hatte sich noch ein letztes Mal an ihr gelabt, an ihrem Schmerz und ihrer Pein.
Sie war ein Wrack. Zu nichts mehr zu gebrauchen. Ein kurzer Zeitvertreib, der ihm mit jedem Mal schneller langweilig wurde. Mit ihr zu spielen hatte ihm keine Genugtuung verschafft. Das tat es schon lange nicht mehr. Er dachte kaum noch daran, warum er es tat. Macht der Gewohnheit. Der letzte Hauch von Menschlichkeit, der ihm noch geblieben war.
Er blickte noch einmal zurück, ehe er sich gleichgültig abwandte und wieder mit der Dunkelheit verschmolz, aus der er gekommen war.
TEIL 2
Die Stille war betäubend. Der Frieden wie eine Droge, die ihre Seele überschwemmte und jede Faser an sich riss. Als hätte die Zeit selbst für einen Moment ehrfürchtig den Atem angehalten. Dann fiel der erste Regentropfen. Die Nacht weinte dunkle Tränen, die auf ihren Wangen stumm mit den ihren tanzten. Sie war nicht traurig, nicht wirklich. Es war die Bedeutung dieses Augenblicks, der sie so tief bewegte. Die Endgültigkeit. Die Freiheit, die sie hinter dem Horizont erwartete.
Sadie hatte die Stunden nicht gezählt, die sie schon hier saß – in stillem Einverständnis mit der Einsamkeit. Wozu auch? Es gab keine Eile mehr. Sie hatte beobachtet, wie die letzten Funken Tageslicht einer nach dem anderen ihr Leben ausgehaucht hatten und von der Nacht verschluckt worden waren, so wie die Nacht auch sie bald verschlucken würde. Es gab kein Zurück mehr – nicht für sie. Die letzten Zweifel hatte sie in der Stadt zurückgelassen, deren Lichter nun klein wie Sterne am Horizont leuchteten.
Nachdenklich bewunderte sie die kalte Schönheit der silbernen Klinge, die im fahlen Mondlicht glänzte. Ihre Finger zitterten nicht, als das geschliffene Metall grausam ihre weiße Haut liebkoste und ihr weiches Fleisch sich unter dieser letzten Berührung teilte. Ein heißes Pochen schwoll in ihren Adern an und ein Schwall Blut quoll hervor, um sich für die Ewigkeit mit der Nacht zu vereinen. Sie spürte den Schmerz, aber nur dumpf. Es war ein beruhigendes Gefühl. Sie hatte keine Angst. Da war nichts, um das zu fürchten es sich gelohnt hätte.
Diesmal zitterte ihre Hand merklich, wenn auch vor aufglimmender Schwäche, und der Schnitt entlang ihres zweiten Handgelenks fiel unsauberer aus als der erste. Der Schmerz durchzuckte sie wie ein Blitz, entzündete etwas völlig Neues tief in ihrem Inneren. Sie fühlte sich so … lebendig im Angesicht ihres Todes. Das dichte Blätterdach hinter ihr sang unter dem sanften Prasseln des Regens. Ein Abschiedslied, das jeglicher Worte entbehrte. Nur ein leises, monotones Murmeln, das ihr versicherte, dass sie jetzt nachhause kam.
Der Gesang der Bäume schwoll in ihren Ohren zu einem übermächtigen Rauschen heran und eine seltsame Leichtigkeit machte sich in ihrem Kopf breit. Unablässig schlich Kälte sich durch die Wunden in ihren Körper und ließ sie frösteln, doch sie schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Nicht mehr lange... Aus glasigen Augen blickte sie an sich hinab, studierte die hypnotisierenden Muster, zu denen sich das nachtschwarze Blut und der klare Regen auf ihrer Haut vereinigten. Nicht mehr lange...
Sie blickte ein letztes Mal auf ihr junges Leben zurück. Würde man sie vermissen? Sie würde nichts vermissen. Ein letztes Mal ließ sie die Momente, die ihr Leben gewesen waren, an ihrem inneren Auge vorbeiziehen, dann entließ sie sie einen nach dem anderen in die Freiheit. Es gab keinen Grund um das zu trauern, was sie zurückließ, höchstens um das, was sie nicht zurücklassen konnte. Doch sie würde nicht trauern. Sie war schon fast nicht mehr da. Je mehr Erinnerungen und unerfüllte Wünsche aus ihrer Seele bluteten, desto mehr Platz für Frieden war da. Einer nach dem anderen erloschen die Sterne vor ihren Augen und auch der Mond schien sich hinter ein paar dicke Wolken zurückzuziehen. Die Dunkelheit breitete ihren Mantel des Schweigens über sie, hüllte sie vollkommen ein. Jetzt... Sie schloss die Augen und hoffte auf einen Traum, der niemals enden würde.
Nachtschwarzes Haar, das sich wie ein Fächer aus Seide über das Kissen ausgebreitet hatte. Blasse Haut, die so gläsern anmutete, dass er das komplizierte Netz feinster Adern darunter schimmern sehen konnte. Die grazilen Arme und Finger halb verborgen unter getrocknetem Blut. Wie sie so da lag – nach wir vor völlig ihrer Ohnmacht erlegen – sah sie unglaublich zerbrechlich aus. Sie war ja noch ein halbes Kind. Vielleicht nicht ihr Körper, aber was sich darin verbarg. Er sah sie an und konnte Unschuld in ihren Zügen lesen – etwas, das er lange nicht mehr hatte sehen wollen.
Damian wanderte schon eine geraume Weile im Zimmer auf und ab wie ein Raubtier hinter Gittern. Immer wieder schloss er die Augen und blähte die Nasenflügel, sog ihre intensive Witterung in sich auf. Sie hatte schon vor Stunden aufgehört zu bluten, doch der schwere Geruch hüllte sie ein wie ein Kokon. Sie roch so süß, dass seine Fänge unter der Versuchung schmerzten.
Warum eigentlich nicht? Was hatte sie getan, dass sie seine Gnade verdient hätte? Sein gieriger Blick wanderte von ihren blutleeren Lippen hinab über ihre weiblichen Rundungen, die von Blut-verkrustetem Stoff verhüllt waren, und blieb zum hundertsten Mal an ihren malträtierten Handgelenken hängen. Alles, was von den beiden klaffenden Schnitten noch übrig war, waren zwei dünne Narben. Und auch die würden bald verblasst sein. Was hatte er ihr angetan?
Er riss sich wutentbrannt von dem Anblick los, der ihn fesselte, seit er seine Aufmerksamkeit so erbarmungslos an sich gerissen hatte. Warum hatte sie sich nicht woanders die Pulsadern aufschneiden können? Er hätte den lockenden Geruch zwar mühelos über Meilen hinweg wahrnehmen können, doch aus der Nähe hatte er ihn beinahe erschlagen. Ihr Herzschlag war nur mehr ein Echo, das in der Ferne verklang, als er seine Sinne endlich wieder unter Kontrolle hatte. Er verschwendete keine Zeit an Nachdenken. Das Blut, das er gesehen hatte in seinem übermenschlich langen Leben, konnte einen Ozean füllen, doch ihr Anblick ließ ihn erstarren. Und das Leid, das er gebracht hatte, hatte ausgereicht, um unzählige Existenzen zum Einstürzen zu bringen, doch ihres traf ihn wie ein Blitzschlag. Er sah das Blut, das von ihren schlaffen Fingern tropfte und die Erde mit ihrem Leben tränkte, sah den kalten Regen, der ihr einen Strom von Tränen aufs Gesicht malte, und bevor er wusste, was er tat, hielt er ihren leblosen Körper in seinen Armen. Er schlug seine Fänge in sein Handgelenk und presste es an ihre stummen Lippen.
Es war reiner Instinkt, nach dem er handelte. Dass er das Ergebnis nicht durchdacht hatte, dämmerte ihm langsam, während er darauf achtete, dass sein Blut ihre Kehle hinabrann und sie nicht noch weiter besudelte. Damian hatte nicht die geringste Ahnung, ob er ihr damit wieder Leben einhauchen konnte. Würde es sie mit genügend Kraft versorgen, um zu kämpfen? Würde es sie zu dem machen, was er verdammt war zu sein? Er wusste es nicht. Es kursierten alte Legenden, die sich allerdings nicht einig waren – das war alles, worauf sich seine Hoffnung in diesem Moment stützte.
Hoffnung? Wie kam er denn darauf? Was kümmerte ihn dieses Mädchen, dem sein eigenes Leben keinen Deut wert war? Und doch hatte er sie gerettet. Hatte sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen können. Hatte sich auch nicht an ihrem überwältigenden Schmerz gütlich tun können.
Sie war noch nicht aufgewacht, seit er sie hierher gebracht hatte, aber ihr Atem ging wieder zunehmend regelmäßiger. Er konnte deutlich sehen, wie ihr Brustkorb sich hob und senkte. Es hatte also wirklich funktioniert. Was tat er eigentlich noch hier? Seine Arbeit, die ihm keiner auferlegt hatte, war längst getan. Er war ihr nichts schuldig – im Gegenteil. Er sollte verschwinden, solange seine Existenz noch keine unangenehmen Fragen aufwarf. Aber eine unsichtbare Macht schien ihn hier in diesem Raum mit ihr gefangen zu halten. Was war es, dem er sich nicht entziehen konnte?
War es ihr Gesicht? Sie war wunderschön in ihrer Unschuld. Aber wenn er zu lange hinsah, schien ihr Anblick vor seinen Augen zu verschwimmen. Als lauerte etwas unter der Oberfläche. Als schimmerte da etwas Anderes hinter einer Maske, das ans Licht wollte. Er schüttelte ärgerlich den Kopf und wandte sich ab, steckte seinen Kopf zum Fenster hinaus, um seine Lungen mit frischer Luft zu füllen. Der Geruch von Blut fing an seinen scharfen Verstand zu vernebeln.
Was war, wenn sie aufwachte? Wenn die Ohnmacht sie nicht mehr zu einem wehrlosen Opfer machte? Er wusste es nicht und es war ihm auch egal. Vor dem Freitod gerettet und doch dem Tod geweiht... Wenn das nicht Ironie des Schicksals wäre! Damian blickte zum Mond empor, der bereits langsam zu verblassen begann, doch auch der wusste keine Antwort auf seine unausgesprochenen Fragen. Eine Sekunde der Schwäche und alles war aus dem Gleichgewicht geraten. Er brachte den Tod, seit er sich erinnern konnte, kein Leben. Das schien so … verkehrt.
Mit einer zornigen Handbewegung strich er sich eine Locke aus dem Gesicht und kehrte dem Mond, der nur ein weiteres Zeugnis seiner Einsamkeit war, wieder den Rücken zu – und blickte in ein Paar weit aufgerissener Augen.
Ihre Augen waren beinahe genauso dunkel wie ihr Haar und sie starrte ihn stumm an. Verwunderung zeichnete ihre Züge und darunter versteckte sich ein Funke Schrecken – ganz offensichtlich versuchte sie noch zu verstehen, was mit ihr geschehen war. Damian verharrte in Reglosigkeit, nur sein Blick tauchte suchend in ihre Seele hinab, zog sich jedoch sogleich wieder zurück, als ihm etwas Dunkles entgegenschlug.
„Was hast du getan?“ Sie schleuderte ihm die Worte wutentbrannt entgegen – keine Spur von Angst oder Schrecken mehr. Ihre Stimme mochte trotz des vorwurfsvollen Tonfalls noch so sanft klingen wie zuvor, doch dahinter brodelte bereits seine Stärke. Sie hatte ihm mit ein paar simplen Worten eindeutig klargemacht, dass, WAS er getan hatte, nichts zur Sache tat, nur DASS er überhaupt etwas getan hatte. Doch ihr Zorn ließ auch ihn nicht kalt, rührte an etwas in ihm, das gefährlich sein konnte. „Ich hab dir das Leben gerettet. Wäre da nicht ein wenig Dankbarkeit angebracht?“, grollte er leise und beherrscht.
„Hab ich etwa so ausgesehen, als würde ich dankbar dafür sein, dass man mir das Leben rettet?“ Die Bitterkeit in ihrer Stimme hätte ihn nicht überraschen sollen und doch passte sie gar nicht zu dem, was er sah, wenn er sie anschaute.
Er wusste, dass sie mit ihrem Vorwurf im Recht war, aber...
„Wie hast du überhaupt...?“ Sie brach mitten in ihrer Frage ab und die Verwunderung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie behutsam die kaum noch sichtbaren Narben entlang ihrer Handgelenke untersuchte.
„Ist das wichtig?“ Es klang gleichgültig, doch das war es ihm nicht wirklich. Er hatte sein Geheimnis – wohl eher seinen Fluch – noch nie preisgegeben und irgend so ein dahergelaufenes Mädchen würde nicht die Erste sein, die es ihm entlockte. Es ging sie nichts an. Er hatte getan, was er in jenem Moment geglaubt hatte tun zu müssen und damit hatte sich die Sache.
„Für mich schon“, zischte sie – offensichtlich wieder vollständig bei Kräften.
„Das ist dann deine Sache“, winkte er unwirsch ab.
Für einen langen Moment kehrte Stille ein, doch ihre Blicke fochten ein stummes Duell aus, aus dem keiner als Sieger hervorging. Er konnte ihren Blick nicht bannen wie den aller Anderen und sie würde ihm auch in keiner anderen Hinsicht unterliegen wie jeder Andere. Seine Schuld.
„Warum wolltest du dich eigentlich umbringen?“, brach er das Schweigen schließlich, das ihm unangenehm wurde, weil er keinerlei Kontrolle über die Situation mehr hatte. „Du bist zu jung. Was kannst du denn schon Schreckliches von der Welt gesehen haben?“ Es war kein Interesse, das aus ihm sprach, es war ein unverhohlener Vorwurf.
„DAS ist dann ja wohl auch meine Sache“, entgegnete sie trotzig und plötzlich stimmte das Bild wieder – die Worte stammten von dem verletzten Kind, das nun hinter den abgeklärten Augen und der geschundenen Gestalt hervorlugte. Damian biss so fest die Zähne aufeinander, dass das Knirschen wohl deutlich zu hören sein musste. Ihr trotziges Verhalten stachelte einen Zorn in ihm an, den er lange nicht mehr verspürt hatte – und das war auch gut so gewesen. Hatte sie auch nur die geringste Ahnung, in welche Gefahr sie sich brachte, wenn sie ihn weiter so offen provozierte? Doch er schaffte es sich noch einmal im Zaum zu halten. „Wir sind nicht weit von der Stelle, wo ich dich gefunden habe. Du solltest keine Probleme haben dich zurecht zu finden“, erklärte er sachlich. „Wenn ich zurückkomme, bist du weg.“ Es war kein Befehl, es war eine simple Feststellung, die keinen Widerspruch geduldet hätte, und sie schien die unausgesprochene Drohung in seinen Worten zu akzeptieren, denn sie blickte ihm nur stumm nach, als er hinaus in die anbrechende Morgendämmerung verschwand.
Damian wusste, dass er ein Monster auf die Welt los ließ, auch wenn es ihr selbst noch nicht klar war. Er hatte es in ihren Augen sehen können, die ihn selbst widerspiegelten – damals... Doch was kümmerte es ihn? Er trug keinerlei Verantwortung für sie. Sie würde schon zurecht kommen. Das Leben, das so schnell nicht enden würde, würde sie dazu zwingen, denn es kannte kein Erbarmen. Und er kannte es auch nicht.
Tag der Veröffentlichung: 19.09.2011
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