Es ist früh, als ich zurück gehe. Erst sechszehn Uhr. Aber der heftige Regen und der Wind, der mir meine dunklen Haare ins Gesicht peitscht, treiben mich an und so stehe ich nun vor der Tür. Meine Glieder sind klamm vor Kälte und ich zittere wie Espenlaub, sodass es mir schwer fällt, den Schlüssel aus der Tasche zu holen und aufzuschließen.
Drinnen ist es angenehm warm und ich gestatte mir ein kurzes Lächeln. Nur kurz. Der Schmerz, den die Kälte draußen in mir hervorgerufen hat, vergeht langsam und bald wird es eine andere Art von Kälte sein, die mich quält. Meine Mutter ist in der Küche, aber sie hat mich noch nicht bemerkt. Ich glaube, sie kocht. Ich husche die Treppe hinauf und werfe meine Tasche auf mein Bett, lege die Jacke über die Heizung und kicke die Schuhe in die Ecke. Ein kurzer Blick in den Spiegel zeigt mir, dass ich fürchterlich aussehe. Verdammt. Ich ziehe mich um und schleiche ins Bad. Meine Haare liefern mir einen erbarmungslosen Kampf und das verlaufene Make-Up verleiht mir das Aussehen eines Waschbärs. Schnell beseitige ich die gröbsten Spuren des Unwetters, dann übe ich ein fröhliches Lächeln vor dem Spiegel, bis ich mir sicher bin, es eine Zeit lang halten zu können. Anschließend gehe ich in die Küche.
Mama zuckt erschrocken zusammen, als sie mich sieht.
„Mensch, Irena! Du hast mir einen Schrecken eingejagt, dich einfach anzuschleichen!“
Das Lächeln klebt an meinen Lippen.
„Tut mir leid“, sage ich und umarme sie flüchtig. Für zwei Sekunden. Fünf… Ich reiße mich los. Länger halte ich es nicht aus.
„Wie war’s?“, fragt sie neugierig. Sie meint den angeblichen Filmenachmittag mit Nele und Lissa, der nicht stattgefunden hat.
„Schön“, antworte ich, „wir haben alte Disneyfilme geschaut.“ Haben wir. Vor zehn Jahren.
Sie runzelt die Stirn. „Seid ihr dafür nicht zu alt?“
Ich erweitere das Lächeln zu einem Grinsen, behutsam und erfolgreich. „Nö. Niemals.“ Ich blinzele verschwörerisch und sie gluckst leise.
„Freut mich, dass du einen schönen Mittag hattest.“
Hatte ich nicht. Wir sind schon lange nicht mehr befreundet. Nele und Lissa schon, aber ich nicht. Ich habe seit langer Zeit keine Freunde mehr. Dafür hat er gesorgt. Und das Jugendamt hat mir nicht geholfen. Ich bin allein. Allein, allein, allein.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, wirft sie einen Blick auf die Uhr und dreht am Rädchen des Herds. Reis. Lecker. „Heiko kommt in zehn Minuten“, sagt sie, „er hat heute Morgen seinen Schlüssel hier vergessen. Also wundere dich nicht, wenn er klingelt.“
Sie schnappt sich ihre Tasche und ihre Jacke.
„Wohin gehst du?“, will ich wissen. Ein kleiner Rabe sitzt in meinem Herzen und beginnt, unruhig mit den Flügeln zu schlagen. Ich atme tief durch. Wir haben ein gutes Verhältnis, der Rabe und ich. Wann er in meinen Körper eingezogen ist, weiß ich nicht mehr, aber ich habe ihn Angst getauft und er hört auf mich. Ich mag ihn. Auf ihn kann ich mich verlassen.
„Luisa abholen. Sie ist vorhin zwar mit dem Fahrrad gefahren, aber bei diesem Unwetter will ich nicht, dass sie zurückfährt. Morgen kann sie das Rad immer noch abholen.“
Meine Schwester. Stimmt, sie ist ja gar nicht da. Ich wünschte, ich wäre ein halbes Jahr älter. Dann hätte ich den Führerschein und könnte Luisa abholen. Und müsste Heiko nicht die Tür öffnen. Das Monster nicht selbst ins Haus lassen.
Angst krächzt leise.
„Bis dann.“ Sie haucht mir einen Kuss auf die Wange, dann geht sie.
Ich halte sie nicht auf. Es ist krank und selbstmörderisch, aber ich lasse sie gehen. Weil ich sie liebe.
Angsts Krächzen wird lauter. Er warnt mich, aber ich kenne die Gefahr schon.
Er klopft. Er klopft an die Tür, synchron mit dem Klopfen meines Herzens. Ich drücke mich gegen die Wand und lausche. Nachdem meine Mutter gegangen ist, bin ich in der Küche geblieben und habe Angst mit Schokolade gefüttert, damit er still ist. Ich erzähle ihm eine Geschichte, während ich dem Klopfen lausche. Pro Geräusch ein Wort. Es wird schwieriger, wenn die Worte länger sind.
Ich versuche, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu sagen, was die Freundin, bei der Luisa gerade ist, hat, als es dicht neben mir ein seltsames Geräusch gibt. Ich fahre zusammen, springe mit einem erstickten Aufschrei zurück und starre aus dem Fenster. Heiko. Es ist Heiko. Er ruft irgendwas, aber bei seinem Anblick lässt Angst ein lautstarkes Krächzkonzert los, sodass mir der Kopf dröhnt. Ich verstehe nicht, was Heiko macht, zu beschäftigt bin ich damit, meinen Raben zu beruhigen. Es klappt nicht. Hilfe.
Heikos Gesicht wird immer wütender, während ich ihn teilnahmslos anschaue. Er nimmt einen der großen Steine, die am Weg liegen und wirft ihn gegen die Hauswand. Das Geräusch erschreckt Angst und er hält kurz inne. Das gibt mir Zeit, tief durchzuatmen und ich bedeute Heiko gestikulierend, dass ich ihm die Tür aufmache.
aberichkannnicht, ichhabangst, waswirdpassieren, hilfe, ichsterbe, erwirdmichumbringen, hilfe, mamawobistdu, wassollichnurmachen, ichwillhierweg, ichkannnichtmehr, hilfe
Halt die Klappe, Angst.
Heiko lächelt mich an und schiebt sich durch die Tür.
„Hallo“, ruft er, aber niemand antwortet ihm und er dreht sich zu mir um, „Wo sind denn deine Mutter und Luisa?“
„Mama holt Luisa von einer Freundin ab.“
Ich schaue auf die Uhr. Noch fünfzehn Minuten. Dann müssten sie wieder da sein.
„Oh. Gut.“
Er zieht seine Jacke aus und streift die Schuhe von den Füßen. Dann greift er in seine Hosentasche und befördert einen 50-Euro-Schein zutage. „Hast du meine sms bekommen?“, fragt er mich über die Schulter, während er Richtung Badezimmer läuft.
Angst schlägt laut mit den Flügeln, versucht, aus mir heraus zu flattern. Ich schlucke, um ihn wieder nach unten zu pressen, bevor er mir die Luft abdrückt. „Nein. Der Akku ist leer und ich hab das Ladegerät Nele ausgeliehen. Sie hat dasselbe Handy, ihr Ladegerät aber verloren.“
Er runzelt die Stirn. „Bringt sie es dir morgen mit in die Schule?“
Ich nicke hilflos.
„Dann warte ich morgen auf deine Antwort.“ Er steckt das Geld wieder ein.
Mein Handy ist in meiner Tasche, der Akku voll. Ich habe keine Ahnung, was für ein Modell Nele hat, aber das ist egal. Egal, egal. Alles egal.
Hast du gehört, Angst? Es ist egal.
„Du hast mich ja gar nicht richtig begrüßt“, sagt Heiko und steht plötzlich vor mir. Er umarmt mich und ich lege leicht die Arme um ihn. Angst flattert so heftig, dass ich zittere.
Seine Hand wandert meinen Rücken herunter, weiter, weiter, macht an meinem Hintern halt, als ich huste. Ich huste wie ein Hund, bellend, laut.
„Alles okay?“, fragt Heiko und lässt mich los.
Angst kratzt weiter mit seinen Krallen an meiner Kehle. Er ist schon so weit oben, dass er einen Hustreiz in mir auslöst… ich umklammere meinen Hals, versuche, ihn zurück zu drängen. Er ist so übermütig momentan.
„Ich gehe kurz an die frische Luft“, röchele ich. Fast klingt es wie Angsts Krächzen.
Er nickt und weicht zurück. Schnell stolpere ich in mein Zimmer, hänge mir die Tasche über die Schulter und ziehe die Jacke darüber an.
Dann verlasse ich mein Zimmer und eine halbe Minute später das Haus.
Mama und Luisa kommen in zehn Minuten.
Sie brauchen zehn Minuten, wenn alles gut läuft. Aber in zehn Minuten kann viel passieren. Und ich habe heute nicht die Kraft, solange auszuhalten. Angst klaut sie mir. Ihm schmeckt nichts mehr, womit ich ihn normalerweise füttere, also ernährt er sich von meiner Energie. Ich kann nicht mehr. Heute nicht mehr und auch sonst nicht mehr. Es muss sich etwas ändern.
Wer weiß, was mit mir innerhalb der nächsten zehn Minuten geschieht.
Ich renne los, als ich das Ende der Straße erreiche.
Ich sitze auf dem Geländer der Brücke und starre ins Wasser des Flusses. Das Unwetter hat zugenommen und ich glaube, es wird heute noch ein Gewitter geben. Ich mag Gewitter. Aber eigentlich nur, wenn ich dabei zuhause im Bett liege… Jetzt bin ich hier und es macht mir nichts aus. Es ist seltsam, aber mir ist wirklich alles egal.
Ich betrachte die Wellen durch einen Vorhang aus meinen Haaren und seltsamerweise beruhigt mich der Sturm. Je mehr er tobt, desto ruhiger werde ich. Auch Angst räkelt sich zufrieden.
Komisch.
Ausgerechnet jetzt, jetzt, wo ich nicht mehr weiß, wie es weiter gehen soll, sind wir beide selig.
Aber eigentlich ist es mir klar. Zumindest unterbewusst. Ich kann nicht mehr nach Hause. Nicht, dass ich nicht mehr will. Ich kann wirklich nicht mehr. Leise seufze ich und schließe die Augen. Ob meine Mutter und Luisa schon zu Hause sind? Vielleicht… Aber es interessiert mich nicht. Oh Gott, mich interessiert wirklich gar nichts mehr.
Ich umklammere das Geländer der Brücke und reiße mir an einem scharfen Stein die Handfläche auf. Fasziniert betrachte ich das Blut. Es quillt schnell aus der kleinen Wunde und als ich die Hand über dem Fluss austrecke, tropft es herunter und vermischt sich mit dem Wasser. Nur für den Bruchteil einer Sekunde sieht man das schillernde Rot, dann sieht das Wasser wieder normal aus. Grau. Dreckig.
Ich runzele die Stirn und fahre mit der Hand noch einmal über den Stein, vergrößere den Riss.
Ich bin erbärmlich. Was mache ich hier nur? Sitze bei einem Unwetter auf einer Brücke, schlitze mir die Hand auf und sehe zu, wie mein Blut in den strömenden Fluss tropft. Was ist nur los mit mir?
Angst flattert, er breitet seine Flügel aus, als wolle er mich tröstend umarmen. Ich könnte jetzt wirklich Gesellschaft brauchen… Natürlich ist bei diesem Wetter niemand unterwegs. Ob Heiko nach mir sucht? Ich bin schon seit einer ganzen Weile weg… Ich hoffe, er sucht mich. Und findet mich nicht. Ich hoffe, er irrt in dieser gottverlassenen Welt herum bis er verreckt. Ich hoffe es so sehr, dass es beinahe weh tut. Aber nur beinahe. Mir tut nichts mehr weh. Ich spüre nicht einmal die grausame Kälte, ich bin gefühlstaub geworden. Mehr Puppe als Mensch, nur ohne jemanden, der mich, die Marionette, lenkt. Haha. Wie komme ich nur auf solche Gedanken?
Zu spät merke ich, dass ich weine. Na nu? Wann hat das denn angefangen? Ich presse die blutende Hand auf die Tränen, die mir die Wangen hinunterfließen. Wahrscheinlich habe ich jetzt rote Spuren im Gesicht. Oder der Regen wischt sie weg… das ist das Tolle an Unwettern:
Niemand sieht, dass man weint.
Angst ist beunruhigt über meine Gedanken. Er hat Angst vor mir. Ich muss schmunzeln. Armer, kleiner Angst. Er hat sich wirklich die falsche Person ausgesucht… Aber ich bin ihm dankbar. Er hat mich schon so oft gerettet, wenn ich am Abgrund stand… Am Abgrund? Was für ein Schwachsinn. Ich stand noch nie an einem Abgrund. Außer jetzt. Ich stelle mich auf das Geländer, halte mich an einer hässlichen Statue fest, bis ich sicher bin, dass ich mein Gleichgewicht halten kann. Dann lasse ich los und schreie.
Angst schlägt heftiger mit den Flügeln. Ich glaube, er will fliegen. Die Sehnsucht hat ihn gepackt. Mich auch. Ich würde auch gern fliegen können, wie mein kleiner Rabe. Vielleicht schaffe ich es ja… Stirnrunzelnd blicke ich nach unten. Ganz schön tief. Und der Wind weht wahnsinnig stark. Vielleicht reicht es. Auf einen Versuch kommt es an.
Ich breite die Arme aus, springe ab und lasse mich auf dem Wind gleiten.
Angst hilft mir und gemeinsam fliegen wir.
Es ist fast zu schön, um wahr zu sein.
Wir sind frei.
Ende
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Tag der Veröffentlichung: 08.02.2012
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