Life is peachy with(-out) you
Band 2: Keine echte Feige sein
If I kissed you
Would you lose track of time?
Would you feel a surge of happiness
Running up your spine?
Would you run naked in the street
With a tattoo of my name on your behind?
You could be one in a million
You could be the one for me
But l guess I'll never know if I never try
I guess I'll just have to grab you in my arms
and kiss you
- Corrinne May ‘If I Kissed You’ -
- (Un-)gesagte Worte -
Hey Mam, hey Dad
Irgendwie ist alles so furchtbar schnell gegangen. Nun ist es bereits beinahe ein halbes Jahr her, seit ihr euch irgendwo in Kenia verbuddelt habt, um verborgene antike Schätze ans Tageslicht zu zaubern. Merkwürdig.
Wisst ihr, ich war in diesem ersten halben Jahr eurer Abwesenheit nicht immer ehrlich zu euch. Zu behaupten, dass ich gelogen habe, wäre allerdings auch eine Unterstellung. Vielmehr habe ich in den letzten paar Monaten versucht, meinen Platz in einem recht skurrilen Eliteinternat zu finden (während ihr in Kenia weilt und Hitze leidet, befinde ich mich hier im „Reich-und-stolz-darauf“-Dschungel und leide Eitelkeit. Schicksal, würden es manche nennen). So ist es schliesslich auch dazu gekommen, dass ich euch nicht mehr von allen Geschehnissen erzählt habe, die mein Leben in einen ziemlichen Strudel transportiert haben. Einen Strudel bestehend aus… Veränderungen.
Ich bin weiser geworden. Ha, ihr schmunzelt bei diesen Worten? Dann solltet ihr wissen, dass eure herzallerliebste Tochter ihre halbe Zeit im Internat bisher damit verbracht hat, an der Bedeutung und der Definition des Begriffes „Freundschaft“ zu tüfteln. Dies hat damit geendet, dass eure immer noch herzallerliebste und seit neuestem auch weise Tochter täglich nach grauen Haaren auf ihrem Kopf sucht. Bisher zum Glück mit Misserfolg – aber welches 16jährige Mädchen wäre schon stolz darauf, erste Zeichen des fortgeschrittenen Alters auf seinem eigenen Kopf zu entdecken? Nun, auf alle Fälle war das Projekt „Freundschaft“ ziemlich Kräfte zerrend. Zumindest habe ich auf diese Weise Nicki, Juliane, Lauren und Kaitlin kennengelernt. Diese Namen werden euch bestimmt nichts sagen – müssen sie aber auch nicht; bei diesen vier Mädchen handelt es sich eindeutig um Unikate, an denen man sich erst satt sehen muss, bis der Funke überspringt. Ihr kennt das bestimmt: Wenn ihr eine verrostete Gabel aus dem Dreck herauszieht, dauert es doch bestimmt auch etwas länger, bis ihr das geheimnisvoll Anmutende an diesem uralten Gegenstand erkennt, nicht (nun gut, meiner Meinung nach könnte eine uralte, verrostete Gabel auch gleich vergraben bleiben, aber da ihr ja eure ungetrübte Freude am Buddeln habt, bin ich ganz brav lächelnde Tochter)? Worauf ich eigentlich hinaus will: Ich fühle mich hier nicht einsam, aber ich vermisse euch. Ganz schrecklich. Viel zu sehr.
Das war jedoch nur der Anfang meiner Berichterstattung. Der heikle Teil zum Schluss, heisst es doch immer so schön. Chris Graham. Witziger oder gar schicksalhafter Weise habe ich ihn auf der Busfahrt zum Internat kennen und mögen gelernt. Jetzt wären wir an der Stelle angelangt, wo ihr auf elterliche Weise unheilverkündend eure Brauen zusammenziehen könnt. Da ich dies jedoch nicht sehen kann, will ich noch etwas ausführen. Chris bedeutete für mich nicht nur Herzrasen… Ich könnte auch heute rückblickend noch sagen, dass es ein Band zwischen und gab und wohl immer geben wird, dass mich auf naive Art an ihn band und bindet. Ich bin sein Überlebensgroschen. Oder ich war es. Nun lacht schon! Leider ist mir nicht zum Lachen zumute. Denn eigentlich… nun… Es ist kompliziert. Ich will es nicht zu weit ausführen, aber es waren einige Geheimnisse im Spiel, die mich dazu bewogen haben, einen Schlussstrich zu ziehen. Dies hört sich jetzt wahrscheinlich unglaublich gefühlskalt aus. Aber ihr werdet wissen, dass das nicht so ist. Es ist einfach so… so verdammt schwer, einen klaren Gedanken zu fassen und mich richtig auszudrücken. Es tat weh und das tut es wohl immer noch. Und ich muss sagen, dass meine romantische Ader momentan arg angeschlagen ist. Auch Chris vermisse ich. Ach und wieder verdammt, ihr seht bestimmt mein Dilemma?
Während den letzten beiden Wochen Weihnachtsferien habe ich dennoch versucht, vorwärts zu schauen, sofern es irgendwie ging. Und da kommt Matt ins Spiel. Ach, schaut mich doch nicht so anschuldigend an! Oder tut es vielleicht doch besser. Schliesslich gibt es allen Grund dazu. Auf alle Fälle haben ich und Matt während den letzten beiden Wochen einige SMS ausgetauscht und… nun, morgen – Montag – werde ich wohl unweigerlich sehen, wohin das führt. Und ob mich dieser Weg nicht auch zwangsweise einen weiteren Aufenthalt bei Chris machen lässt. Ich bin verwirrt. Furchtbar verwirrt und würde jetzt gerade wirklich alles geben, um euch in die Arme zu schliessen. Natürlich weiss ich, dass dieser Gedanken kindisch ist und sich nicht in die Realität umsetzen lässt. Aber vielleicht könnt ihr mir ja doch auf irgendeine Art versichern, dass die nächsten Wochen für mich besser laufen werden? Irgendwie habe ich tatsächlich Angst. Angst vor…
Hailey Summer seufzte leise. Unzufrieden starrte sie auf den nicht vollendeten Brief, der eigentlich schon längst hätte abgeschickt werden sollen, und rümpfte die Nase.
Hätte sollen…
Wie oft hatte dieser leise Zweifel in den letzten Wochen ihr Leben bereits gehörig aus seiner Bahn geworfen? Wahrscheinlich so oft, dass Hailey es aufgegeben hatte zu zählen. Von ihrem Herzen, so dachte sie, während sie sich zögernd mit den Fingern über die Brust fuhr, war auf alle Fälle nicht viel übrig geblieben. Nun galt es, nach dem bestwirkenden Klebstoff Ausschau zu halten und die einzelnen Herzsplitter so gut als möglich wieder zu einem funktionierenden Organ zu verbinden. Ein weiteres Mal bedachte Hailey den nicht fertigen Brief mit einem kritischen Blick. Durfte sie wirklich so egoistisch sein und ihre Eltern mit nichtzufriedenstellenden Antworten belasten? Ruckartig griff sie nach dem Stück Papier und zerknüllte es in ihrer Faust. Nein, das durfte sie nicht. Sie zerzupfte die faltige Kugel, während sie sich langsam erhob und begann, in ihrem Zimmer auf und ab zu gehen. Aus dem Nachbarzimmer drang der donnernde Bass irgendeiner Kinder-Punkband – ihre Schwester Sara musste wohl wieder einmal auf Kriegsfuss mit ihren Grosseltern sein, bei denen sie wohnte, bis sie das Alter erreichte, um ebenfalls auf das Edward Steppfield Internat für neureiche Schüler zu wechseln. Hailey galt als glatte Ausnahme, da sich die bescheidenen Verhältnisse, in denen sie aufgewachsen war, in nichts mit den Villen vergleichen liessen, in denen der Grossteil ihrer Klassenkameraden nun während den Weihnachtsferien residierte.
Und Morgen früh bereits würde sich Hailey wieder von ihren Grosseltern verabschieden müssen, um die Rückreise zu der Schule anzutreten, die für sie in den letzten Monaten Heimat für wichtige Veränderungen geworden war. Nachdem Hailey die nun leeren Handflächen aneinander gerieben hatte, fischte sie zwischen den restlichen Unterlagen auf ihrem Tisch nach ihrem Mobiltelefon. Mit einem geschickten Knopfdruck gelangte sie zum Mitteilungseingang. Müde lächelte Hailey, als sie sich in ihrer Ahnung bestätigt sah: Sie hatte tatsächlich eine Kurzmitteilung erhalten, während sie wie ihm Wahn nach den Worten gesucht hatte, die sie an dem nun nicht mehr existierenden Brief an ihre Eltern hatte richten wollen. Nachdem sie einige Sekunden lang den Atem angehalten hatte, wagte sie es endlich, sich die Textmitteilung anzeigen zu lassen.
Matt Handy
Hey Hailey, eigentlich wollte ich dich ja nicht mehr stören, aber wie du siehst, habe ich mein Gelübde gebrochen. Freue mich auf dich! Bis morgen, Matt
Mehrmals glitt Haileys Blick über die zwei Zeilen. War es nicht verlogen, dass ihre Gedanken dennoch in Chris Richtung gedriftet waren? Was, wenn er ihr geschrieben hätte? Entschieden schüttelte Hailey den Kopf. Nein, es gab für ihn eindeutig keinen Grund mehr, sich bei ihr zu melden. Immerhin hatte sie sich gegenüber der schönsten Liebeserklärung, die sie je erhalten hatte, gleichgültig gezeigt. Und immerhin hatte er ihr verschwiegen, was er nicht hätte verschweigen dürfen: Indem er niemandem davon erzählt hatte, dass sein Bruder Trevor am Internat Drogen vertrieb, hatte er Kaitlin Hundsman in eine lebensgefährliche Situation gebracht. So sass Kaitlin auch ab heute noch für zwei weitere Wochen im Krankenhaus fest, um die Wirkung ihres Drogencocktails auszukurieren. Weihnachten hatte sie mit einer fremden Person als Zimmerpartner im Krankenbett verbringen müssen. Zumindest war Trevor Graham anschliessend vom Internat verwiesen worden, versuchte sich Hailey selbst tröstend einzureden.
Von einer plötzlichen Trägheit erfasst, liess sich Hailey auf ihr Bett fallen, das ihr mit einem protestierenden Quietschen antwortete. „Ach verdammt!“, murmelte sie leise und zwang sich dazu, ihre Gedanken an Chris loszulassen. Wo kein Vertrauen war, reichten auch die tiefsten Gefühle nicht aus. Punkt. Wohl auch, um sich selbst von dieser Schlussfolgerung zu überzeugen, las sie zum erneuten Mal die eben angekommene Textmitteilung und schrieb beinahe trotzig zurück:
An: Matt Handy
Freue mich auch. Bis morgen, Gruss Hailey.
Matt war toll. Er war verständnisvoll und schien wirklich an ihr interessiert. Immerhin hatte es kaum eine Minute gedauert, da er auf ihre erste Textmitteilung vor zwei Wochen geantwortet hatte. Zwar konnte Hailey noch nicht sagen, wie sich die ganze Sache in der Schule nun entwickeln würde, doch sie zwang sich und ihr geschundenes Herz, optimistisch in die nahe Zukunft zu blicken.
Ausserdem sah Matt gut aus. Er hatte diese tollen Locken, die sein markant geschnittenes Gesicht umrahmten. Seine Augen glühten stets hellbraun zwischen einzelnen haselnussbraunen Locken hervor. Doch gleichzeitig, so dachte Hailey, ehe sie sich noch davon abhalten konnte, war er auch vollkommen normal. War dies nicht eine wünschenswerte Eigenschaft? Wenn Hailey aber verbotene Gedanken zuliess und sich den geheimnisvollen Blick aus dunklen Augen von Chris in Erinnerung rief, zuckte sie unwillkürlich zusammen, Gänsehaut schmiegte sich eng um ihre Knochen. Sein Blick hatte Hailey nicht nur zurückschrecken sondern auch hinschmachten lassen...
Stöhnend lehnte sich Hailey zurück, drückte ihren Kopf fest gegen das alte Kissen und richtete ihr Augenmerk an die Zimmerdecke über ihr. Egal, was sie tat, verwirrende Gefühlsregungen bestimmten ihr Leben momentan. Wie sie damit klarkommen sollte? Nun, wie es aussah, galt es dies zwischen Mathe- und Englischstunden in den kommenden Wochen zu lernen und notfalls Überstunden einzulegen.
Juliane Piper drückte sich ihr Mathematikbuch noch enger an die Brust, als sie endlich genügend oft tief durchgeatmet und sich in den Schulkorridor gewagt hatte. Wärme empfing sie und verdrängte das Fröstelgefühl, das sie auf ihrem Weg zum Schulgebäude mit jedem Schritt begleitet hatte.
„Niemand starrt dich an“, versuchte sie sich selbst zu versichern, als sie erste Schritte unternahm, um pünktlich zur Mathematikstunde zu kommen. Ein vorsichtiger Blick, den sie durch den Flur schweifen liess, liess sie geknickt zurück. Es war erstaunlich, aber in ihrer momentanen Gefühlsfassung zugleich auch erschreckend, wie schnell sich das Schulgebäude doch gefüllt hatte. Meist sah man in den ersten Tagen nach den Ferien besonders gut, wie viele Schüler das Edward Steppfield Internat tatsächlich fasste – mit vorangeschrittener Zeit schwoll normalerweise auch die Zahl der Blaumacher an. Ob wohl auch nur einer dieser vielen Schüler ahnte, wie Juliane gerade zumute war?
Unweigerlich drängte sich ein Bild in ihr Bewusstsein. Es war der 21.Dezember des letzten Jahres und sie befand sich mitten auf der Tanzfläche – natürlich unfreiwillig. Dominic Newcole führte sie durch die Melodie eines furchtbar kitschigen Liedes. Wahrscheinlich hatte er mit seinem für die Newcoles üblichen tollen Aussehen alle giftigen Blicke der anderen Schüler betäubt und Juliane dadurch etwas in den Hintergrund rücken lassen – dies hatte Juliane damals zumindest etwas beruhigt. Und dann war es geschehen. Er hatte sie geküsst vor allen Leuten… und sie hatte es genossen. Juliane hatte in den letzten zwei Wochen bemerkt, dass es nichts nützte, ihr wahres Empfinden zu verleugnen. Sie hatte es genossen und daran gab es nichts zu rütteln. Leider. Wie sollte es jetzt bloss weitergehen?
Juliane schluckte leise und schob beinahe trotzig ihre Brille zu Recht. Sie hatte sich an diesem Morgen ganz bewusst dazu entschlossen, auf die Variante „alte, grässliche Brille“ zurückzugreifen und ihre Kontaktlinsen in der Schublade ihrer Kommode ruhen zu lassen. War es ein Zufall, dass sie sich ihr Zimmer ausgerechnet mit Lauren Newcole – Dominics Schwester – teilte und diese sie während ihres modischen Malheurs nur stirnrunzelnd gemustert hatte?
Auf alle Fälle wollte Juliane an ihrem ersten Tag an dieser Schule seit dem 21.Dezember nicht auffallen. Sie wollte irgendwo in der Menge untertauchen und die Blicke vergessen, die man ihr mit Sicherheit zugeworfen hatte, als Dominic sie so… hinterhältig… so… unerschrocken… so… leidenschaftlich geküsst hatte.
Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als sie bemerkte, dass sie keinen weiteren Schritt mehr gegangen war, seit ihre Gedanken sie wieder in Beschlag genommen hatten. Schmollend schob sie ihr Kinn vor und befahl sich selbst, sich endlich in das Klassenzimmer zu begeben. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet ihr, dass auch die Zeit sie langsam, aber sicher dazu aufforderte: Bereits in wenigen Minuten würde irgendwo über den Köpfen der Schüler die Schulglocke unheilverkündend mitteilen, dass sich nun alle Schüler in dem richtigen Klassenzimmer zu befinden hatten.
„Ist ja schon gut“, sagte Juliane mehr zu der Uhr als zu sich selbst. Schnelleren Schrittes drängte sie sich nun an den Schülern vorbei, den Kopf gesenkt, um gar nicht erst nach giftigen Blicken ihrer Mitschüler Ausschau halten zu müssen. Allerdings war Juliane nur wenige Schritte weit gekommen, da sie gegen etwas Weiches stiess, zurücktaumelte, und ihren Griff um das Mathebuch löste - im allgemeinen Stimmengewirr prallte es tonlos auf dem harten Marmorboden des Gebäudes auf. Juliane entging diesem Schicksal nur, da sich im letzten Moment eine Hand um ihren Arm gelegt hatte. Die plötzliche Kräftewirkung veranlasste ihren trägen Körper dazu, die verlorenen Schritte in einem Ruck wieder vorwärts zu hüpfen und erneut gegen das weiche Etwas zu stossen. Dieses Mal jedoch blieb ihre Stirn auf dem weichen Etwas ruhen. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Juliane bewusst wurde, dass sie den freien Fall erfolgreich überlistet hatte und blinzelnd die Augen zu öffnen wagte. Ihr Blickfeld liess sie jedoch nur Schwarz erspähen… Schwarzen Stoff. Sie hörte es beinahe laut rattern, als ihr Verstand krampfhaft versuchte, die ihm neue Situation zu verstehen. Schwarzer Stoff, wiederholte Juliane in Gedanken. Moment mal…
Einen leisen Aufschrei ausstossend, sprang sie einen Schritt zurück. Gegen wen war sie in ihrem Willen, das Klassenzimmer mit gesenktem Blick zu erreichen, geprallt?
Die Antwort dazu lieferte sich Juliane sofort, als sie nun den Blick an ihren Gegenüber richtete, der die Kollision jedoch unbeschadet überstanden zu haben schien. Natürlich – wie hätte es auch anders sein können – erspähte sie als Erstes blondes, perfekt sitzendes Haar. Klarblaue Augen musterten sie interessiert, die Lippen ihres Retters in Not verrieten ein Schmunzeln.
„Dominic“, keuchte Juliane erschrocken. Obwohl sie ihn nun deutlich vor sich sah, war sie nicht imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Noch immer ratterte es in ihrem Verstand, noch immer weigerte er sich, wieder in Funktion zu treten.
Juliane besass jedoch gerade noch genügend funktionierende Hirnmasse, dass sie sich mit den winterkühlen Fingern über die nun glühenden Wangen fahren konnte. Sie fühlte sich gefangen in einem Ereignis, das sich bereits vor mehreren Monaten einmal ereignet hatte; auch damals war sie mit Dominic Newcole zusammengestossen und auch damals hatte er sie vor dem freien Fall bewahrt – wenn auch eher unfreiwillig, da sie sich mit aller Kraft an ihn geklammert hatte. Auch damals hatte er sie unverhohlenen Interesses gemustert. Nur – und Juliane konnte bei dieser Erkenntnis einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken – hatte damals ein Mädchen der Sorte „Endlosbeine“ in seinen Armen gelegen. Dieses Mal jedoch war er alleine und seine Hände ruhten nach dem beherzten Rettungsgriff wieder auf der Seite – kein anderes Mädchen hatte sich um ihn geschmiegt.
Auch Dominic schien die Komik dieser Situation aufgefallen zu sein. „Was für ein Zufall, auf diese Weise auf dich zu treffen.“
Juliane schüttelte den Kopf, bemüht, ihren Verstand wieder zu seiner üblichen Arbeit zu zwingen. Sie verschränkte die Arme, liess sie dann jedoch wieder an den Seiten baumeln, nur um sich schliesslich etwas unbeholfen zu bücken, um nach dem verlorengegangenen Mathebuch greifen zu können. Unsicher verstaute sie es in ihrer Tasche. Während diesen Sekunden liess sie Dominics Worte auf sich einwirken - sie fühlten sich an wie Samt auf ihrer Haut. Juliane hätte ob dieser Erkenntnis gar nicht mädchenhaft geflucht, wenn sie denn alleine gewesen wäre. So jedoch fuhr sie sich lediglich durch das mahagonifarbene Haar, das so überhaupt nicht mit dem glänzenden Blond ihres Gegenübers mitzuhalten wusste. Er hatte sich die letzten beiden Wochen nicht bei ihr gemeldet
, rief sich Juliane ins Gedächtnis, froh, wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. „Zufall, ja“, brummte sie deshalb zurück. Warum musste auch ihr Herz trotz dieser Erkenntnis so furchtbar schnell und unregelmässig gegen ihre Brust hämmern?
„Du unterschätzt mich“, lautete Dominics in Julianes Ohren zusammenhangslose Antwort. Ohne sich um ihren protestierenden Aufschrei zu scheren, griff er mit seiner Hand nach der ihrer, verschränkte die Finger in ihren und begann sie weiter in das Innere des Schulgebäudes zu zerren.
Juliane atmete unterdessen tief ein, nicht mächtig, sich gegen Dominics vorwärtstreibende Bewegung zu stemmen. Nur kurz war ihr schwarz vor Augen geworden, als er nach ihrer Hand gegriffen hatte, und für dieses wohlbedachte Handeln lobte sie sich nun innerlich - immerhin hatte sie sich nicht vollends wie eine kichernde Pubertierende aufgeführt und hatte trotz des vorübergehenden Herzstillstandes das Gefühl, ihrem Verstand nun wieder mächtig zu sein. Nun spürte Juliane ihr Herz jedoch wieder in halsbrecherischen Tempo gegen ihre Brust hämmern. „Tue ich das?“, fragte sie keuchend und sprang ein paar Schritte vor, um mit Dominic auf gleicher Höhe zu gehen und nicht wie ein Kleinkind hinter ihm hergezogen zu werden.
„Man könnte es meinen.“
„Aha.“ Warum wirkte dieser Junge nur immer so ungeheuerlich selbstbewusst und sich seiner Wirkung auf Juliane ganz bewusst? Sie beschloss, ihrem Herzen kurz nachzugeben und fügte zögernd an: „Warum könnte man das meinen?“
Juliane taumelte, als Dominic plötzlich ruckartig stehen blieb. Ihre Hand gab er jedoch nicht frei. Stattdessen begann er nun mit seinem Daumen in gewohnt selbstbewusster Manier über ihren Handrücken zu streichen.
Ärgerlich verzog sie den Mund. Gleichzeitig, so wurde Juliane nun klar, war dies jedoch die einzige Möglichkeit gewesen, um ihren Trotz irgendwie mit ihrer Mimik oder Gestik zu zeigen: Mit nur einer freien Hand liess sich wenig Bedeutsames anstellen und ihr Blick hatte sich bei der prickelnden Berührung stark verschleiert. „Mist“, murmelte Juliane lautlos.
„Weil du tatsächlich zu glauben scheinst, dass mir nicht aufgefallen ist, wie verärgert du in Wirklichkeit bist.“ Dominic musterte sie eine Weile amüsiert, und als sie ihm mit aller Mühe eine Antwort verweigert hatte, fuhr er fort: „Ich nehme mal an, ich muss selber erraten, warum du mich am liebsten in den Boden treten würdest?“
Warum mussten männliche Wesen nur immer das Gefühl haben, Frauen zu verstehen? Nein, Juliane wollte Dominic keineswegs flachgedrückt sehen. Leider… Dennoch blickte sie ihn weiterhin wortlos an. Wenn er bereits annahm, dass sie ihm eine Erklärung schuldig bleiben würde, warum sollte sie sich dann gegen diese Meinung sträuben? Es war Juliane eigentlich ganz recht, dass Dominic weiter sprach. Dass es mit ihrer Stimme nicht zum Besten stand, hätte wohl sonst bald bereits das ganze Schulhaus gewusst.
„Liegt es an einer schlechten Mathenote, die ich trotz deiner Nachhilfe geschrieben habe?“ Dominic schüttelte schwach den Kopf. „Leider kann ich mich nur an schlechte Noten erinnern, also musst du mir schon auf die Sprünge helfen.“
„Ich bin nicht verärgert“, antwortete Juliane zwischen zusammengebissenen Zähnen. Das war sie ja auch eigentlich wirklich nicht. Wie konnte man darüber verärgert sein, dass sich ein Junge zwei Wochen lang nicht gemeldet hatte, wenn man doch eigentlich bereits wusste, welcher Ruf ihm nachhing? „Hattest du schöne Weihnachten?“, fragte sie schliesslich dennoch, möglichst unbeteiligt klingend. Eigentlich hätte es ihr bereits im Vorneherein bewusst sein sollen, dass sie ihren Worten genauso wenig wie ihrer Stimme Herr war, wenn Dominic sich in ihrer Nähe befand. Fügte man die Tatsache hinzu, dass er gerade eben Julianes Hand hielt, war es eigentlich umso erstaunlicher, dass sie einigermassen ruhig geblieben war.
„Daher rührt also diese zwiespältige Mimik.“ Dominic lächelte schwach. „Wenn du eine Erklärung dafür willst…“
„Ich schaue nicht zwiespältig“, warf Juliane aufbrausend ein und erntete dafür neugierige Blicke seitens der Schüler, die sich noch auf dem Schulflur befanden.
„…warum ich mich in den letzten beiden Wochen nicht bei dir gemeldet habe…“
„Wie kommst du eigentlich darauf?“ Ungestüm fuhr sich Juliane mit der freien Hand über die gerunzelten Brauen. Nun gut, vielleicht wirkte sie etwas erzürnt, aber ihr verschleierter Blick konnte doch so offensichtlich nicht sein? Also nichts da mit Zwiespältigkeit.
„…dann gebe ich sie dir gerne.“
„Ich bin vollkommen kristallklar“, fauchte Juliane nun ungewollt heftig, sich erneut über die Brauen fahrend. Wenn Dominic ihr ernsthaft verkaufen wollte, dass er ihren schwärmerischen Blick bemerkt hatte… Nein, das konnte er unmöglich getan haben.
„Ich dachte, es wäre besser, wenn ich dir etwas Zeit gebe.“ Und mit diesen Worten fasste Dominic auch nach Julianes zweiter Hand. Juliane wurde erst verspätet bewusst, dass er sie nun im Klammergriff hielt.
„Ich muss gehen. Meine Mathestunde beginnt in wenigen Minuten.“, warf Juliane mit brüchiger Stimme dazwischen. Die Entwicklung, die dieses Gespräches durchlief, gefiel ihr eindeutig nicht.
„Genauer gesagt beginnt sie in einer Minute. Und du befindest dich geradewegs vor dem Zimmer, also gibt es keinen Grund zur Sorge.“ Dominic lächelte sie spitzbübisch an. Juliane hasste ihren Körper für die Reaktion, die er darauf zeigte: Überall standen ihr nun die Härchen zu Berge.
„Oh.“ Sie begann zu stottern, stellte Juliane unzufrieden fest. Erst nach einigen Sekunden – die übrigbleibende Minute war bereits arg zusammengeschrumpft – wagte sie zu fragen: „Warum sollte ich Zeit brauchen?“
„Muss ich das wirklich ausführen?“ Dominics Gesicht hatte sich ihrem genähert und seine Augen glitzerten nun amüsiert auf. Hitze stieg ihr unwillkürlich in die Wangen, doch sie wagte es noch immer nicht, irgendwelche Anstalten zu machen, sich aus seinem Griff zu winden.
„Ich… Also…“ Juliane stockte der Atem. „Was… was verstehst du unter ausführen
?“, schaffte sie schliesslich anzufügen.
„Das zu wiederholen, was mich dazu bewogen hat, dir Zeit zu geben.“
„Oh.“ Juliane erstarrte vollkommen zu Marmor, als Dominics Gesicht sich ihrem noch weiter näherte. Erst nachdem sie einige sich elendig hinauszögernde Sekunden lang tatenlos in seine Augen gestarrt hatte, wagte sie das Unmögliche und trat einen Schritt zurück. Nur zu gut war sie sich den Blicken derjenigen im Rücken bewusst, die sich bereits im Schulzimmer befanden. Gleichzeitig mit dem Erklingen der Schulglocke flüsterte Juliane: „Ich weiss nicht, ob wir das wiederholen sollten.“
Dominic rührte sich keinen Zentimeter von der Stelle und verzog seine Mimik nicht, entliess Juliane jedoch aus seinem Griff.
„Das werden wir noch sehen!“, hörte Juliane ihn hinter sich her rufen, als sie sich schliesslich dazu durchgerungen hatte, auf dem Absatz kehrt zu machen und ins Zimmer zu schlüpfen, ehe ihr Mathelehrer ihr die Tür vor der Nase zuschlug. Mit vor Hitze zitternden Gliedmassen hörte sie hinter sich die Tür zuschlagen. Ihr war heiss, obwohl es tiefster Winter war – entsprach dieses Verhaltensmuster in irgendeiner Weise den Regeln der Logik?
Während Juliane dem Gang durch die zweite Sitzreihe folgte, schüttelte sie langsam den Kopf. Nein, das tat es nicht – überhaupt nicht. Tief in Gedanken versunken gelangte sie schneller am Ende der Reihe an, als ihr bewusst gewesen war.
Lauren Newcole, Dominics Schwester, befand sich auf dem Stuhl am Rande der Reihe, den Blick stur geradeaus gerichtet. Juliane schaffte es tatsächlich zu lächeln, als sie sich bestimmt auf den Nachbarplatz fallen liess.
„Ich nehme mal an, du willst mir ebenfalls Zeit geben?“
„Was?!“, grunzte Lauren zurück, liess ihren Blick jedoch auf der Wandtafel an der Frontseite des Raums ruhen.
„Na, du gibst mir Zeit, ehe du wieder ein Wort mit mir wechselt. Keine Bange – ich nehme es dir abwechslungsweise nicht übel.“
„Aha.“ Lauren gab sich gewohnt zickig, sodass Juliane lediglich die Achseln zuckte und munter, aber immer noch zittrig nach dem Etui in ihrer Tasche suchte.
„Es scheint in eurer Familie zu liegen, den anderen Leuten ständig Zeit geben zu wollen“, führte Juliane weiter aus, ehe sie der mahnende Blick ihres Mathelehrers verstummen liess.
Was passierte da gerade mit ihr? Wie in Gottes Namen hatte sie es geschafft, all ihre guten Vorsätze über den Haufen zu werfen und mitten im Unterricht zu sprechen? Dominic lautete der banale Grund, dachte Juliane lautlos seufzend. Er machte sie verrückt. Und dummerweise gefiel ihr das.
Lauren Newcole sah Juliane neben sich überrascht zusammenzucken, als sie zum Ende der zweiten Stunde hin schliesslich Gnade walten liess und sich leise räusperte. Immerhin hatte Lauren fast 90 Minuten damit verbracht, ihrer offensichtlich aufgewühlten Sitznachbarin mit Schweigen entgegenzutreten.
Lauren musste wirklich keine Wahrsagerin sein, um zu wissen, was Juliane denn so aus der Bahn geworfen hatte. Dafür kannte sie das andere Mädchen mittlerweile einfach zu gut, auch wenn sie es nicht gerne zugab.
„Was hat Dominic dieses Mal angerichtet?“ Als Juliane ihr mit einem Stirnrunzeln Antwort zollte, führte Lauren aus: „Schwesterliche Intuition.“ Sie erwähnte mit keinem Wort, dass bei dieser Vorahnung auch die Tatsache mitspielte, dass sie die beiden zu Stundenbeginn vor der Tür erspäht hatte.
„Er will es wiederholen.“ Juliane seufzte leise.
Was auch immer Dominic wiederholen wollte – sonderlich enttäuscht wirkte Juliane darüber nicht, auch wenn sie es augenscheinlich versuchte. Lauren fuhr sich durch das seidige, schwarze Haar und warf einen schnellen Blick auf ihren Mathelehrer. Dieser schien sich keineswegs um die zu entgleisende Aufmerksamkeit zweier seiner Schülerinnen zu scheren, hatte stattdessen gerade dazu angesetzt, seine philosophische Ader mit der Klasse zu teilen – er nannte dies eine Abwechslung zu den trocken vorgetragenen Formeln und Gleichungen. Achselzuckend wandte sich Lauren wieder Juliane zu.
„Will er, dass du ihm wieder Nachhilfestunden in Mathe gibst? Wenn du ihm mit Mathe wirklich helfen willst, solltest du dies vielleicht ablehnen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihr beide in eurem momentanen Wahn etwas tun werdet, dass auch nur annähernd mit Mathe zusammenhängt.“
Juliane hüstelte bei diesen Worten leise. Hitze war ihr offensichtlich in die Wangen gestiegen – sie leuchteten nun flammend rot auf.
„Was ist? Willst du etwa sagen, dass ich mit meinen Worten nicht Recht habe?“ Lauren gab sich bei Julianes Kampf mit ihrer Verlegenheit gelassen. Es hätte ihre Zimmernachbarin eigentlich wirklich nicht erstaunen sollen, dass Lauren den Tatsachen einmal mehr ins Auge geschaut und diese nun ausgesprochen hatte.
„Ich habe mich nicht neben dich gesetzt, um über Dominic zu reden“, presste Juliane schliesslich ausweichend zwischen den Lippen hervor. Lauren sah, wie Juliane begann, unruhig mit einer Strähne ihres Haars zu spielen; tatsächlich zog sie sogar regelrecht daran.
„Ist gut“, versuchte Lauren beschwichtigend einzuwerfen, konnte jedoch ein anschliessendes Gähnen nicht verhindern.
„Ihr Newcoles seid wirklich aus anderem Holz geschnitzt.“ Ein letztes Mal zog Juliane an ihrer Haarsträhne, ehe sie sich so weit beruhigt hatte, dass ihre Hände keine ungewollten Bewegungen mehr ausführten.
„Edles Tafelholz. Du sagst es.“ Lauren zuckte möglichst teilnahmslos die Achseln, konnte jedoch ein schmales Lächeln um die Lippen nicht verhindern.
„Ich habe mit Kaitlin gesprochen.“
„Aha.“ Juliane meinte die Sache mit dem Themawechsel also tatsächlich ernst. Sich ungewohnt gnädig zeigend, entschloss Lauren sich dazu, sich ausnahmsweise dem Willen ihrer Zimmernachbarin zu beugen. So hob sie kurz die Brauen und gab Juliane damit ein Zeichen fortzufahren.
„Ihr Magen hat sich so weit wieder beruhigt. Aber irgendwie hat sie so geklungen, als würde es ihr dort im Krankenhaus gefallen.“, erwiderte Juliane nun.
Dass Juliane sich so überrascht von diesem Faktum gab, überraschte Lauren wiederum. Konnte man es nicht damit vergleichen, dass Juliane – aus welchem Grund auch immer – Gefallen an Dominic gefunden hatte und sich für ihn sogar zum Narren machte? Diese Tatsache erstaunte Lauren nämlich wiederum ungemein.
„Wann kommt sie zurück ins Internat?“ Dennoch entschloss sich Lauren erneut dazu, sich etwas kooperativ zu zeigen.
„In zwei Wochen.“ Und mit diesen Worten entstand erneut ein Schweigen, wenngleich es nicht dem entsprach, das zuvor zwischen Lauren und Juliane geherrscht hatte.
Schnell wagte Lauren einen Blick auf die Uhr, die sie um ihr linkes Handgelenk trug, und jubelte leise. Nur noch zwei Minuten und dann wäre sie für fünfzehn Minuten – für die grosse Pause – von der Schule erlöst.
Seufzend entschloss sie sich dazu, ihrem Lehrer für die nächsten zwei Minuten volle Aufmerksamkeit zu schenken. Manchmal gestalteten sich seine philosophischen Ergüsse eigentlich recht interessant, wenngleich Lauren in seinen Worten natürlich nie einen Funken Wahrheit fand. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Juliane es ihr gleich tat und sich leicht nach vorne beugte.
„Nun, meine Damen und Herren. Wie lautet noch mal das kleine Wörtchen, dass über euer Glück und euer Unglück im Leben entscheidet?“
Keine Antwort.
„Mut, richtig. Ihr werdet euch sicher auch bereits einmal in einer Situation wiedergefunden haben, in der euch läppischer Weise der Mut fehlte?“
Erneut keine Antwort aus der Klasse (was wohl auch daran lag, dass die meisten ihre Aufmerksamkeit mittlerweile auf andere Dinge verlagert hatten).
„Ja, solche Situationen kommen meiner Ansicht nach des Öfteren vor: Ihr müsstet nur einen kleinen Schritt unternehmen, um euer Ziel zu erreichen, doch das erscheint euch zu riskant. Es fehlt euch dann einfach der Mut, ausnahmsweise einmal etwas ganz Banales zu tun.
Nun, nicht umsonst umfasst das Wort „Mut“ nur drei Buchstaben: die brennen sich umso besser in euer Gedächtnis ein, solltet ihr euch wieder einmal in einer Situation befinden, die nach eben diesen drei Gedächtnissplittern verlangt. Also – warum lässt ihr nicht für einmal euer Gedächtnis über euren rational arbeitenden Verstand walten und reiht euch in die Liste derjenigen ein, die sich auf das Banalste, doch Naheliegenste eingelassen haben?“
Mittlerweile war es so still im Raum geworden, dass man die Schüler in seinem näheren Umfeld sogar stossweise atmen hören konnte. Lauren zwang sich dazu, gewohnt gleichgültig zu bleiben. Was änderten ein paar zugegebenermassen gut gewählte Worte schon an der Tatsache, dass Lehrer meistens nur falsche Lebensweisheiten kund taten?
In diesem Augenblick schrillte über den Köpfen der Schüler die Glocke und, als hätte man einen Stein in ruhiges Gewässer fallen lassen, sprangen sofort alle von ihren Stühlen auf. Lärm mischte sich nun in die angespannte Atmosphäre, die sich gebildet hatte. Lauren sah, wie ihre Mitschüler möglichst schnell nach ihrer Tasche griffen und aus dem Zimmer rannten. Das Quietschen von Schuhen ertönte.
In bewusst normalem Tempo machte sich Lauren daran, ihre eigenen Utensilien einzupacken. Warum auch sollte sie wie ein Mensch auf Drogen aus dem Zimmer rennen? So stark war dann ihr Freiheitssinn doch nicht ausgebildet. Als sie sich schliesslich auf den Weg zur Tür machte, hörte sie, dass sie nicht alleine war. Natürlich – Juliane hatte auf sie gewartet.
Lauren versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie diese nette kleine Geste aus der Bahn warf. In typischer Manier ignorierend trat sie deshalb weiter auf die Tür zu.
„Was hältst du eigentlich von Mut?“, hörte sie nun Juliane hinter sich fragen. Ein kurzer Blick genügte Lauren, um festzustellen, dass Juliane ernsthaft über die Worte ihres Lehrers sinnierte.
So beschloss sie sich zum dritten Mal an diesem Morgen etwas kooperativ zu zeigen und sich zu einer Antwort herabzulassen. „Manche sollten ihn wohl tatsächlich mal in ihr Verhaltensrepertoire aufnehmen, andere wiederum sollten endlich davon ablassen.“ Dabei erschien ihr unwillkürlich ein Bild vor dem inneren Auge. Wie konnte er es nur wagen! Sie konnte ihn selbstverständlich absolut nicht ab! Doch ganz bestimmt würde Lauren ihre Sorge nicht mit einem anderen Menschen – Juliane - teilen. Wenn, dann würde Dominic zu ihrem Zuhörer werden. Aber so beliess sie es bei einem anschliessenden Schweigen.
Sie zuckte zusammen, als sie Julianes Hand auf ihrer Schulter spürte, als sich ihre Zimmernachbarin schliesslich an ihr vorbeidrängte. Sie sah, dass Juliane ihr kurz zuwinkte und sich dann schnellen Schrittes ihren Weg durch den Korridor bahnte, anscheinend nach etwas Ausschau haltend. Natürlich wusste es Lauren besser – Juliane hielt nach jemandem Ausschau – nach Laurens Bruder. Da hatte sich wohl tatsächlich jemand die muttrunkenen Worte des Lehrers sehr zu Herzen genommen. Kopfschüttelnd wandte sich Lauren von dem Szenario ab, das sich ihr bot, und begann ihrerseits selbst, sich einen Weg durch den Korridor zu bahnen; sie würde einfach früher zum nächsten Klassenzimmer gehen, anstatt verloren in die Weite zu starren und sich selbst dazu zwingen, das eben wieder erschienene Bild aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Ihr Herz schlug bei den Gedanken an ihn unnatürlich schnell - für diese Missetat ihres Herzens verfluchte sich Lauren lautlos. Keinesfalls wollte sie die Kontrolle über ihr Leben verlieren.
Juliane beschloss, ausnahmsweise einmal einfach zu handeln und nicht bereits im Voraus jeden einzelnen ihrer Schritte genauestens einzukalkulieren. Umso unsicherer fühlte sie sich, als sie endlich die Person ins Auge fasste, nach der sie Ausschau gehalten hatte; Dominic hantierte gerade an seiner Tasche herum, wie Juliane nun sehen konnte. Ungestüm rannte sie bei seinem Anblick vorwärts, nicht auf die umstehenden Schüler achtend. Auf diese Weise gelangte sie zwar auffallend schnell zu ihrem Ziel, hatte jedoch auf ihrem Weg so einige Schimpftiraden über sich ergehen lassen müssen.
Gab es gar einen tieferen Grund dafür, dass Dominic genau in dem Augenblick aufblickte, da Juliane ihre Arme um seinen Hals warf? Schicksal, wie es all diese kitschgeladenen Filme dem Zuschauer andrehen wollten? Doch sie verbot es sich, darüber nachzudenken und somit ihre Spontaneität in giftigen Gedanken zu ertränken. Stattdessen nahm sie vergnügt wahr, dass in Dominics Augen kurz Erstaunen aufblitzte, ehe er seine Fassung schliesslich wiedergewann.
„Sag nichts“, flüsterte Juliane sogleich und legte ihren rechten Zeigefinger auf Dominics Lippen. Erneut sah sie den überraschten Schimmer in Dominics Augen und erneut erfreute sie sich daran. Oh ja, sie würde ihn noch weiter an den Rand der Beherrschung treiben. Und ehe sie Zeit fand, die von ihr geplante Tat zu bezweifeln, hatte sie Dominic bereits einen kurzen Kuss auf die Lippen gehaucht – zwar schüchtern und unbeholfen, aber dennoch entschlossen. Es war richtig gewesen, versuchte sich Juliane einzureden, als sie sich schliesslich von Dominic löste und einen Schritt zurück trat. Und der gute Knabe schien nun tatsächlich von Grund auf verwirrt – eine umso erstaunlichere Tatsache, bedachte man, dass Dominic normalerweise nicht mit Selbstbewusstsein sparte. Wie es schien, hatte Juliane ihn gar so sehr überrumpelt, dass er nun lediglich in der Lage war, sie wortlos zu mustern.
Währenddessen lobte sich Juliane innerlich für diese impulsive Aktion. Sie hatte den von ihr geforderten Mut bewiesen und sich ausnahmsweise einmal dem überhaupt nicht rationalen Teil ihres Gedankengutes hingegeben. Dann sollte sie jemand halt als verrückt bezeichnen! Was war eigentlich schon dabei, abgesehen davon, dass es von nun an zur Gewohnheit werden würde, die giftigen Blicke ihrer eifersüchtigen Mitschülerinnen auf sich zu spüren? Juliane schauderte es bei diesem Gedanken, doch zugleich wusste sie, dass es nun kein Zurück mehr gab, sie auch gar keines mehr wollte. In diesem Fall stand sie nämlich überhaupt nicht auf eine Wiederholung. Insgesamt hatte sie doch nur das in die Tat umgesetzt, was ihr das Herz bereits seit Wochen zugeraunt hatte…
Kurz zuckte Juliane zusammen, als sie bemerkte, dass Dominics Augenmerk noch immer auf ihr lag, er nun aber Anstalten machte, sich zu dem Vorfall zu äussern. Was würde er sagen? Unruhig knabberte Juliane an ihrer Unterlippe. Wenn er sie nun abwimmeln würde… Das hätte ihr vor Unsicherheit pulsierendes Selbstbewusstsein eindeutig nicht verkraftet.
„Was war das denn eben?“ Dominic grinste sie nun wieder in gewohnt selbstbewusster Manier an, als hätte er nie an seiner Selbstbeherrschung zu knabbern gehabt. „Nicht, dass es mir nicht gefallen hätte…“ Sanft strich er Juliane nun mit seinem Daumen über die Wange, liess seine Hand schliesslich an ihrem Kinn ruhen. Juliane spürte, wie Gänsehaut ihren Körper übermannte.
„Mut“, murmelte sie leise zurück. Dann wandte sie sich in dem Wissen ab, ihre Aufgabe für diesen Tag erledigt zu haben. Doch sie kam keine zwei Schritte, da spürte sie bereits eine Hand auf ihrer Schulter, die sie vom Entkommen abhielt und – als sich der Griff verstärkte - sie erneut auf dem Absatz herumwirbeln liess. Natürlich gehörte diese Hand zu Dominic, der Juliane nun wieder interessiert musterte. Ehe sie protestieren konnte, griff er nach ihrer Hand und zog Juliane enger zu sich heran.
„Wo willst du hin? Das vorhin war zwar faszinierend – aber es wird doch nicht etwa bereits alles gewesen sein?“ Und mit diesen Worten senkte er sein Gesicht zu ihrem herab und berührte mit seinen Lippen spielerisch ihre eigenen, ehe sich die neckische Berührung in einen langen Kuss verwandelte.
Juliane keuchte, als sie schliesslich voneinander abliessen.
Kurzatmig sagte sie: „Dann wäre das mit dem ‚mir Zeit geben’ wohl endgültig geklärt? So ist es eindeutig besser.“ Sie lächelte vorsichtig, während sie sich so unauffällig als möglich mit den Fingern über die heiss geküssten Lippen fuhr.
„Mhm.“ Dominic nickte, während er sich erneut vorbeugte, um sie zu küssen. Juliane protestierte nicht. Sie löste sich jedoch ruckartig von ihm, als die Schulglocke das Ende der Pause verkündete.
„Mist. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag bin ich spät dran. Und die Schule hat gerade erst wieder begonnen!“ Verzweiflung mischte sich in ihre Züge.
„Wenn du schon vom Teufel sprichst: Könntest du dich möglicherweise wieder dazu erbarmen, dich aufopferungsvoll um meine Mathekenntnisse kümmern? Manche Menschen nennen es auch Nachhilfe.“
Juliane seufzte schwach. Es dauerte nicht lange, die Gegen- und Fürargumente gegeneinander abzuwägen – sicher würden sie die eingeplante Zeit nicht nur zum Lernen nutzen, doch zugleich gaben die Stunden Juliane immer ein gewisses Machtgefühl, das sie keinesfalls hergeben wollte. Denn wenn es etwas gab, damit sie auftrumpfen konnte, dann war es ihre Intelligenz.
„Ist gut.“ Juliane nickte und wandte sich ab, um im Eiltempo zum richtigen Schulzimmer zu gelangen. Im Laufen rückte sie ihre Brille zurecht und richtete ihre Tasche.
„Bis morgen Abend, also?“, hörte sie Dominic noch rufen, kurz bevor sie die Hände um den Türgriff legen konnte, um in den angrenzenden Raum zu gelangen.
„Da bleibt mir wohl nichts Anderes übrig.“ Mit diesen Worten versuchte Juliane möglichst leise in das Klassenzimmer zu schlüpfen. Und wurde dabei natürlich trotzdem von ihrem Lehrer erwischt und zusammengestaucht.
Mit kribbelnden Händen sass Nicki Mayer über ihrem Französischbuch und verbrachte die Stunde damit, ihren Lehrer konsequent zu ignorieren. Mittlerweile war sie dazu übergegangen, kleine Herzchen in ihr Buch zu zeichnen. Da sie normalerweise ein Talent dafür besass, ihre Schulutensilien ständig in ihrem Zimmer liegen zu lassen, musste sie sich zumindest nicht davor fürchten, dass jemand die Auswüchse ihrer Verrücktheit zu Gesicht bekam. So malte sie weiter, wenngleich sie sich innerlich dafür verfluchte. Seit wann bitteschön war sie dazu übergegangen, romantische Symbole in ihr Leben zu integrieren?
Nicki brauchte nicht lange darüber nachzudenken. Mürrisch strich sie sich eine ihrer rotbraunen Locken aus dem Gesicht und berührte dabei ihr Ohrläppchen, das mit zahlreichen Steckern verziert war. Ihre Finger blieben auf dem Stecker ruhen, der sich wie ein Totenkopf anfühlte, und begannen schliesslich mit ihm zu spielen. Ja, normalerweise mochte sie Totenköpfe und keine Kringelherzchen. Warum musste denn das Leben so kompliziert sein? Warum wartete sie bereits seit den frühen Morgenstunden darauf, Joonas zu begegnen? Ebenso normalerweise war Nicki nämlich ein Morgenmuffel und Morgenstund hatte in ihren Augen eindeutig nur Nasenpopel im Mund. Nicki unterdrückte ein Gähnen, während sie ihr letztes Herzchen fertigte. Irgendwie wuchs in ihr die dumpfe Ahnung, dass ihre fehlenden Kenntnisse in der französischen Sprache nicht nur damit zusammenhingen, dass es ihr an Talent fehlte. Vielleicht hätte sie sich einfach einmal konzentrieren und diesen idiotischen blonden Jungen – Joonas – aus ihrem Kopf verbannen sollen? Aber wie war das denn bitteschön möglich, nachdem er ihr während den Ferien zwei so süsse (oh Himmel, sie verabscheute Wörter wie „süss“ normalerweise) … lesenswerte Briefe geschrieben hatte? Und wie war das denn bitteschön möglich, nachdem er auf dem Weihnachtsball eine gefühlte Ewigkeit ihre Hand gehalten und sie als „besonderen Menschen“ bezeichnet hatte? War es da nicht natürlich, dass sie auf ein Treffen mit Joonas pochte? Eigentlich verlangte sie ja nicht… viel mehr als Freundschaft, was doch wirklich im Bereich des Möglichen lag.
Nicki schüttelte schwach den Kopf, als sie sich an die grosse Pause vor wenigen Minuten erinnerte – sie hatte Juliane Piper erspäht und gesehen, wie glücklich sie doch momentan war. Konnte sie nicht ein Stück dieses Glückes an Nicki aushändigen? Zumindest suchte Nicki momentan mühevoll nach dem Quäntchen Glück, das es verlangte, um Joonas in der Schülermasse über den Weg zu laufen.
„Hailey?“ Ihre Stimme klang verabscheuenswert kleinmädchenhaft, als sie sich ihrer Sitznachbarin zuwandte, die ihrerseits fleissig damit beschäftigt war, gebrochene Herzchen in ihr Französischbuch zu zeichnen.
„Jetzt nicht. Ich versuche gerade zuzuhören.“
Sicher. Nicki rümpfte die Nase, liess sich jedoch Zeit mit einer Antwort. „D’accord.“
„Von welchem Akkord sprichst du?“ Nicki sah regelrecht, wie es in Haileys Verstand rumorte, als sie eine Entscheidung treffen musste: Hörte sie Nicki zu oder hörte sie ihr nicht zu und wurde trotzdem für den Rest der Stunde von ihr zugeplappert? Ganz offensichtlich hatte Hailey Solidaritätsempfinden überwogen, sodass sie Nicki nun breitwillig entgegenstarrte.
„Das nennt man die Magie der französischen Sprache“, erklärte Nicki gerade gespielt schockiert über Haileys Ahnungslosigkeit.
„Und du willst mir jetzt also ernsthaft verklickern, dass dich diese Magie urplötzlich mitgerissen hat?“
„Warum nicht?“ Nicki stöhnte leise genug, dass es nicht an die Ohren ihres Lehrers drang. „Immerhin spricht Joonas griechisch… oder zumindest liest er griechische Literatur. Da muss ich doch irgendwie mithalten, nachdem ich ja bereits seine Lesefreude nicht teile. Also will ich im Gegenzug Französisch lernen.“
„Das tust du bereits seit fünf Jahren ohne Erfolg. Und ausserdem liest er die deutschen Fassungen der griechischen Literatur, Nicki“, zischte Hailey ungläubig zurück. Nicki registrierte, dass Haileys Mundwinkel zuckten.
„Was macht das gross für einen Unterschied?“, fragte Nicki zurück.
Haileys Augen wurden einen Moment lang grösser, ehe sie verständnisvoll nickte. „Ach, vergiss es.“ Nicki spürte instinktiv, dass es Hailey grosse Anstrengung kostete, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
„Nein, ich will es nicht vergessen.“ Nicki fühlte das Unglück kommen, noch ehe es an die Oberfläche drang. Es begann damit, dass sie trotzig das Kinn vorschob und endete darin, dass sie laut – und dadurch natürlich für alle hörbar – ausrief: „Ach, verdammt noch mal. Ist es wirklich zu viel verlangt, dass ich die französische Sprache lernen will?!“
Nicki sah aus den Augenwinkeln, wie Hailey sich peinlich berührt über die gerunzelte Stirn strich. Dann wandte sich Nicki erstmal seit Beginn der Stunde der Tafel und somit dem Lehrer zu. Monsieur Clochard betrachtete sie mit seitlich abgewinkeltem Kopf, doch erwiderte nichts. Dies brauchte er jedoch auch nicht, da die pulsierende Ader an seinem Stirnansatz zur Genüge verriet, dass er gerade um Fassung rang.
„Nicole Mayer, es ist mir wirklich ein Vergnügen, Sie diese Worte erstmals nach fünf Jahren im Fach Französisch sagen zu hören. Auch wenn diese Erkenntnis reichlich spät kommt.“, brachte er schliesslich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Es brauchte keinen Wahrsager, um Nicki erkennen zu lassen, dass „Vergnügen“ den tieferen Sinn der Worte ihres Lehrers eindeutig verfehlte.
„Bei manchen von uns gilt es ja bekanntlicherweise als unumgehbare Hürde, zwei Sprachen auf einmal beherrschen zu können. Leider.“
Witzigerweise fühlte sich Nicki direkt angesprochen. Es war klar, dass ihr Lehrer gerne damit angab, wie perfekt er doch französisch und deutsch sprechen konnte, doch Nicki in diese Sache miteinzubeziehen und sie als sprachstummen Fall zu bezeichnen… Das ging eindeutig zu weit. Sie wimmerte leise, als ein unangenehmes Brennen sich in ihrem rechten Arm ausbreitete, dort, wo Hailey sie heftig gekniffen hatte, um sie vor einer bissigen Erwiderung zu bewahren. Eigentlich hätte es Hailey besser wissen müssen –
„Ja, sogar ich kann mir lebhaft vorstellen, wie es sein muss, zwei Sprachen auf einmal beherrschen zu können, auch wenn ich mich weit davon entfernt befinde, es auch tatsächlich zu tun. Nun, Deutsch ist ideal, um andere Leute niederzumachen, wo das Französisch wiederum etwas Erotik in Ihr wahrscheinlich grösstenteils eingeöltes Leben bringt. Aber da ich hingegen in meinen jungen Jahren mit frischem Motor durch das Leben düse, reicht mir die eine Sprache. Es lässt sich nämlich durchaus auch gut leben, ohne unnötig Vokabeln pauken zu müssen.“
- Natürlich liess sich Nickis Mundwerk von einem blauen Fleck auf dem Arm von nichts abbringen.
Auf ihre Worte folgte ein langgezogenes „Aha“ von Seiten des Lehrers. Dann blieb es eine ganze Weile still. Schlagartig wurde Nicki während der eingesetzten ruhelosen Stille bewusst, dass ihr die Herzchen anscheinend tatsächlich zu Kopf gestiegen waren, obwohl es sich vom anatomischen Standpunkt her eher so anfühlte, als ob ihr Herz ihr geradewegs in die Hose gerutscht war. Wie sonst hätte sie einen Lehrer jemals als erotisch bezeichnet? Himmel, sie musste Joonas eindeutig bald einmal zu Gesicht bekommen, wenn sie nicht das Risiko eingehen wollte, von dieser Schule zu fliegen.
Erst nach einigen Minuten fuhr die Stimme ihres Französischlehrers dröhnend wieder durch den Raum. „Nachdem in diesem Fall alles gesagt scheint, können wir wohl mit dem Unterricht fortfahren.“ Und mit einem zuckersüssen Lächeln in Nickis Richtung fügte er an: „Wenn Sie, Ms. Mayer, doch bitte so gut wären und Ende Stunde bei mir vorbeikommen, um Sich Ihre Strafarbeit und Ihre Vermahnung abzuholen.“
Nicki nickte wie in Trance. Sie schluckte laut den nächsten spitzbübischen Kommentar in ihrer Kehle hinunter und dachte bei sich, dass sie sich zukünftig darum bemühen würde, ihr Französischbuch regelmässiger in die Schule mitzubringen – auch wenn das zur Folge hatte, dass dadurch alle 10.Klässler ihren viel zu kitschigen Herzchen ansichtig wurden.
„Nun denn, da mir die Konzentration für heute etwas gebrochen scheint, will ich euch stattdessen eine wichtige Mitteilung bezüglich unserer zukünftigen gemeinsamen Französischstunden durchgeben: Bereits in zwei Wochen wird eine Französisch- und Griechischstudentin unseren Unterricht mit ihrer Anwesenheit bereichern und als Praktikantin zusätzlich einige Stunden mit euch halten. Ich bitte euch, der klugen Dame mit genauso viel Achtung entgegenzutreten, wie ihr das bereits bei mir tut.“
Bei diesen Worten seufzte Nicki lautlos. Sie war sich nun endgültig sicher, dass – egal wie regelmässig sie ihr Französischbuch künftig mit zum Unterricht brachte – Monsieur Clochard sie für den Rest ihrer Zeit als Schülerin verabscheuen würde. Und wie es aussah, konnte Nicki nichts dagegen unternehmen. Vielleicht hatte Gott die Welt ja tatsächlich so aufgebaut, dass jeder über kurz oder lang sein Elend mit dem eigenen Löffel essen musste? Auf alle Fälle wirkte es gerade so, als ob Nicki ganz tief ins Elend gegriffen hatte und einen Löffel der Grösse von Russland bräuchte, um ihren Lehrer gnädig zu stimmen. So blickte Nicki hoffnungsvoll der Praktikantin entgegen – vielleicht würde ja zumindest sie in Nicki mehr als nur das einsprachige Biest sehen?
Nicki klappte ganz bewusst ihr Französischbuch zu und verdeckte somit die freie Sicht auf die unförmigen Herzen, die auf Seite 51 unter dem Titel „le futur simple“ prangten. Eine einfache Zukunft
– oh ja, das klang wirklich viel zu schön, um wahr zu sein. Einen letzten Gedanken wagte sie in Richtung Joonas zu vergeuden, ehe sie die Zeit bis zum Stundenende damit totschlug, ihren Lehrer zwar weiterhin zu ignorieren, aber zumindest den Eindruck erwecken zu lassen, dass ein gewisses Interesse für diese Fremdsprache durchaus vorhanden war. Und dennoch spürte Nicki während der ganzen Zeit Haileys mitleidigen Blick auf sich und fühlte plötzlich instinktiv, dass dies erst der Anfang des Elends bedeutete, das es für sie von nun an auszulöffeln galt.
Haileys zweiter Schultag begann damit, dass sie beinahe verschlief und es sich deshalb in Windeseile zum Schulgebäude zu bewegen galt. Sie hustete leise die morgenfrische Winterluft ein, als sie endlich nach draussen stiess und sich auf den Weg machen konnte. Der frische Schnee knirschte unter ihren Füssen reklamierend. „Ach, sei still!“, schnauzte Hailey ihn sogleich unerwartet heftig an – wenn der Schnee ihr mit seinen puderigen Finger schon anbot, ihre Frustration an ihm auszulassen, dann sagte dazu Hailey ganz bestimmt nicht nein.
Eigentlich hätte es sie ja nicht erstaunen sollen, dass sie an diesem Morgen nur schwer aus dem Bett gekommen war. Immerhin lag ihr momentan mehr auf dem Herzen als ihr recht war. Hinzu kam die Belastung, weder Chris noch Matt an ihrem ersten Tag angetroffen zu haben. Im Gegensatz zu Nicki hatte sie sich zwar um Ruhe und Gelassenheit bemüht, war mit dieser Einstellung aber nicht weit gelangt. So seufzte Hailey leise, als sie in einiger Entfernung die Kirchenuhr acht Mal schlagen hörte.
„Na toll“, murmelte Hailey leicht verstört und hob fröstelnd die Arme an den Körper, als die Kälte bei diesen bissigen Worten von ihr vollends Besitz ergriff. „Lass mich ruhig zu spät kommen, du dämlicher Schnee!“
„Was ist denn dir über die Leber gelaufen?“
Hailey zuckte erschrocken zusammen. Sie konnte sich nur von einer Bauchlandung in das matschige Weiss bewahren, indem sie sich mit den nackten Händen am Boden abstützte. „Kalt“, murrte sie weiter, als ihr Blick auf Juliane fiel, die sie offensichtlich amüsiert musterte.
„Ich weiss, ich weiss“, murmelte Hailey, nur mit dem Anflug von Verlegenheit. „Ich bin drauf und dran Nicki ihren Posten als aufgescheuchtes Huhn streitig zu machen.“
„Dann muss ich mich wohl ebenfalls in dieser Gruppe einschreiben.“ Juliane grinste verschmitzt, als sie Hailey ihre Hand anbot und ihr schliesslich half, sich zurück in die Höhe zu stemmen. „Ich glaube, momentan spielt einfach das ganze Internat verrückt. Na ja, vielleicht legt es sich ja bald wieder. Woran liegt es bei dir?“
„Ach, das ist kompliziert“, erklärte Hailey zaghaft. Obwohl sie Juliane mittlerweile als eine Art Freundin zu bezeichnen wagte, mischte sich doch stets eine Prise Vorsicht in ihre Worte, wenn es um private Angelegenheiten ging.
„Ist es das nicht immer?“
„Wahrscheinlich.“ Hailey nickte schwach, während sie Juliane die letzten Schritte auf das Schulgebäude zu folgte.
„Ich schätze mal, du weißt nicht davon Bescheid, dass wir erst zur zweiten Stunde Schule haben? Zumindest hat dein Schritttempo nicht gerade den Eindruck erwecken lassen.“ Juliane stiess die Tür mit einem erstaunlich festen Tritt auf und schlüpfte sofort in die gemütliche Wärme des geheizten Korridors. Anscheinend hatte sie Haileys zurückhaltende Antworten durchaus richtig aufgefasst.
„Sag bloss.“ Hailey schmiegte sich trotz der plötzlichen Wärme noch enger in ihre Jacke, bemüht, das wohlige Kribbeln in ihrem Magen nicht durch die schulverpestete Luft absterben zu lassen – ihr Herzschaden reichte ihr für eine Weile durchaus an körperlichen Defekten aus. Die Uhr über der Tür zur Kantine zeigte Hailey an, dass ihr noch weitere zwanzig Minuten blieben, ehe sie sich in die Klauen des obligatorischen Unterrichts begeben musste. „Ich sollte mir meinen Stundenplan wohl besser anschauen.“
„Es ist immerhin erst der zweite Tag nach den Ferien.“ Juliane zuckte lächelnd die Achseln.
„Und das sagst ausgerechnet du.“ Hailey grinste und begann, mit dem Verschluss ihrer Tasche zu spielen. Warum in Herrgottes Namen war sie zu diesem Gebäude geeilt, wenn sie nun doch warten sollte? Ein Blick durch das Dachfenster über ihr auf den stahlgrauen Himmel genügte jedoch aus, um sie davon abzuhalten, noch einmal zurückzugehen und in ihr Bett zu schlüpfen.
„Ich weiss, ich bin definitiv zu faul geworden. Und das werde ich jetzt ändern – ich gehe in die Bibliothek. Kommst du mit?“
„Hmm. Ich soll mich zwischen einem stillen Bibliotheksraum und einem ebenso stillen Korridor entscheiden? Ich glaube, ich bleibe lieber hier. Irgendwie gefällt es mir, mich einmal gründlich danebenbenehmen zu können, ohne dass mich eine ganze Schülerschar dabei mustert.“ Hailey drehte sich einmal im Kreis und stellte tatsächlich fest, dass ein Schulgebäude eigentlich gar nicht so düster wirkte, war man nicht als ein von einem Raum zum nächsten hetzenden Schüler darin gefangen.
„Gut. Dann geniess du deine ruhigen Minuten. Ich setzte mich unterdessen in den Bibliotheksraum, benehme mich richtig daneben und lese gleichzeitig, ebenfalls ohne als Lästeropfer auserkoren zu werden.“ Um Julianes Lippen hatte sich bei dem Wort „Lesen“ ein verträumtes Lächeln gekräuselt. Sie nickte Hailey kurz zu und drehte sich schliesslich ab, um die Abkürzung über den Naturwissenschaftstrakt zu nehmen. Bald schon waren ihre dumpfen Schritte auf dem marmornen Boden verklungen, das Echo verstummt.
Alleine zurück blieb Hailey, der es nun doch nicht wirklich gut dabei zumute war, verlassen im Schulflur zu stehen. Viele Erinnerungen lagen in diesen Wänden eingeschlossen, und je länger sie darüber nachdachte desto höher schlug ihr Gedächtnis Alarm.
Wie hatte sie sich damals gefühlt, als sie das erste Mal dieses Gebäude betreten hatte, mit dem Wissen, dass es kein Zurück mehr gab? Hatte nicht Unverständnis ihre Sinne benebelt, nachdem sie Chris einst hatte ansprechen wollen, aber arg zurückgewiesen worden war (eine weitere Handlung, die sie nun Trevor Graham zuzuweisen wusste)? Hatte sie nicht gerade erst gestern diesen Korridor passiert, ihr Herz und ihr Verstand gleichsam nach zwei Jungen Ausschau haltend?
Hailey wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, die sie lediglich in ihren Gedanken zugebracht hatte. Plötzliche Nackenschmerzen liessen sie jedoch aufschrecken – sie musste wohl irgendwann ihre Körperhaltung so verlagert haben, dass ihr Blick nach oben durch das Fenster gerichtet gewesen war. Während Hailey versuchte, dass leidige Brennen in ihrem Nacken zu lindern, indem sie mit den Handflächen über den betroffenen Bereich strich, fluchte sie erneut lautlos auf. Fluchen war normalerweise nicht ihr Ding, aber hier galten keine mildernden Umstände – dieser Tag lief eindeutig gerade gehörig schief. Obwohl sich erst die Morgenstunden ankündigten, konnte das Hailey bereits mit einer solchen Inbrunst behaupten, dass ihr beinahe bereits wieder angst und bange wurde; grundsätzlich zog sie Gute-Laune-Tage vor.
Sie unterdrückte ein Murren und drehte sich zum zweiten Mal an diesem Morgen im Kreis, die Arme ausgebreitet, der Blick den Schmerzen wegen jedoch auf den Boden gerichtet. Schliesslich hielt sie in ihrer Bewegung inne und strich sich das Haar aus der Stirn. „So. Soweit, so gut“, dachte Hailey, während sie unschlüssig den Mund verzog. Was sollte sie nun mit der restlichen Zeit anfangen? Wie es schien, galt in Schulen auch ausserhalb der eigentlichen Unterrichtszeiten der Grundsatz, dass die Zeit künstlich verzögert wurde – egal wie wenige Minuten auch verstrichen, sie erschienen dem Betrachter immer wie eine Ewigkeit. Oder zumindest erschienen sie Hailey wie elendige Qualen vor der vorübergehenden Befreiung (vor allem während Physikstunden).
Als Hailey den Blick erneut über die nackten Wände driften liess, erstarrte sie jedoch so plötzlich, dass es ihr beinahe so war, als hätte sie ihren Nacken vorwurfsvoll stöhnen hören. Ihr Augenmerk galt nun der Tür, die halb geöffnet war; jemand hatte sich zwischen Tür und Angel gedrängt, den Korridor aber nicht betreten. Stattdessen starrte dieser Jemand Hailey mit einem nur angedeuteten Lächeln auf den Lippen an. Chris.
Hailey fröstelte, als sie kalte Luft von draussen schliesslich auch sie erreichte. Doch noch immer glich ihr Körper einem unbeweglichen Klotz und so liess Hailey davon ab, sich ihre Arme wieder warm zu reiben. Ihr Blick war konstant nach vorne gerichtet geblieben, während ihr Herz trotz der Trägheit begann, beunruhigend schnell zu schlagen. Hätte Hailey nicht ahnen sollen, dass ihr schlechter Tag seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hatte? Sie schalt sich innerlich für ihre Naivität, blieb jedoch weiterhin starr stehen. Selbst als Chris ihren Blick erwiderte und ein paar Schritte vortrat – die Tür fuhr hinter ihm in die Angeln -, gab sie nichts von der Ruhelosigkeit her. Lediglich ihr Herz gebührte Chris für seinen Hailey zugerichteten Blick. Hailey spürte instinktiv, wie Wärme in ihre Haut – insbesondere in ihre Wangen – schoss, als ihr Blutkreislauf durch den rasenden Herzschlag aus dem gewohnten Rhythmus geriet. In den Hallen des Schulgebäudes eingeschlossen schien es Hailey bald wie die typische Ewigkeit, da sie ruhelos und doch völlig reglos an der gleichen Stelle stand und mit Chris zu einem Menschen verschmolzen war. Doch dieser Ewigkeit konnte Hailey ausnahmsweise nichts Schlechtes abgewinnen. Vielleicht lag es auch daran, dass die Ewigkeit hier tatsächlich eine Ewigkeit war und nicht nur wenige Minuten dauerte? Zumindest hatten sich Hailey und Chris so lange angestarrt, dass sich nun der Korridor bereits mit Schülern zu füllen begann und das Stimmenvolumen um sie schon bald zunahm. Erst als Hailey angerempelt wurde und zur Seite stolperte, wurde der Blickkontakt unterbrochen.
Laut ausatmend senkte Hailey den Blick und strich sich den nachtblauen Pullover glatt, nur um ihre zittrigen Finger irgendwie zu beschäftigen. Sie strich sich das Haar zurück, als sie den Kopf wieder leicht anhob, um – so sehr es ihr aus widerstrebte, es zuzugeben – nach Chris Ausschau zu halten. Unwillkürlich zuckte sie zusammen, als sie ihn nur knapp einen Meter von sich entfernt entdeckte. Er musterte sie noch immer wortlos.
„Hi.“ Unsicher biss Hailey auf ihrer Unterlippe herum und beschloss, ihre zittrigen Hände ruhig zu stellen, indem sie sie in die Taschen ihrer Jeans steckte.
„Hallo.“ Chris machte Anstalten, noch näher zu treten, doch da Hailey bei der nur angedeuteten Bewegung bereits leicht erschauderte, beliess er es bei seinem Platz. „Wie geht es dir?“
Hailey seufzte lautlos ob des Gesprächs, das so furchtbar erzwungen schien. Wem wollten sie hier eigentlich etwas vormachen? Es schien offensichtlich, dass keine freundschaftliche Konversation möglich war, so lange die Luft zwischen ihnen verräterisch knisterte. Dennoch sträubte Hailey sich nicht, ihren Teil des erzwungenen Gesprächs abzuliefern. „Gut. Und dir?“
„Gut.“
Hailey spürte, wie das Knistern zwischen ihnen anschwoll. Sie beschloss, Vorsicht walten zu lassen und trat einen Schritt zurück. „Also dann. Ich sollte wohl in den Unterricht.“ Genauer gesagt hatte Hailey keine Ahnung, wie sehr die Zeit denn wirklich drängte. Doch sie spürte instinktiv, dass ihr Herz bald alle ihre guten Vorsätze über den Haufen werfen würde und hatte entschieden, früh genug das Gespräch zu beenden. Vielleicht brauchten sie und Chris auch einfach nur Zeit? Oder vielleicht sollte sie ihn einfach noch ein letztes und zugleich erstes Mal küssen, um endlich loslassen zu können? Hailey schüttelte bei diesem Gedanken fassungslos den Kopf. Wie konnte sie nur so denken?
„Ich gehe dann“, erklärte sie schliesslich lahm und drehte sich mit rotgefärbten Wangen auf dem Absatz. Peinlich.
Die Hände noch immer in den Taschen vergraben, den Blick gesenkt, kämpfte sich Hailey nun an dem von Schülern eingenommenen Korridor entlang. Still bat sie, dass die Peinlichkeiten für den heutigen Tag ausgestanden seien – das waren sie natürlich nicht. Bereits im nächsten Moment hörte sie jemanden rufen: „Hailey!“
Erschrocken blickte sie auf und entdeckte in einigen Metern Entfernung Matt, der ihr freundlich lächelnd zuwinkte. Eine seiner haselnussbraunen, kurzen Locken fiel ihm dabei in die Stirn, die er nun mit der freien Hand automatisch zurückstrich.
Hailey war klar, dass es unglaublich kindisch wirken würde, würde sie einfach von dannen ziehen und vorgeben, ihn nicht bemerkt zu haben. So atmete sie noch einmal tief ein und setzte schliesslich ein möglichst aufrichtiges Lächeln auf.
„Matt“, sagte sie mit schwacher Stimme, als sie schliesslich die paar Schritte zu ihm aufgeschlossen hatte.
„Ich hatte dich gestern bereits gesucht, aber du schienst wie vom Erdboden verschluckt.“ Matt lächelte unbekümmert weiter, doch Hailey spürte, dass er sie nun genauer musterte. Seine Hände spielten mit dem Einband seines Vokabelbuches für das Fach Französisch.
„Ging mir gleich.“ Hailey nickte schwach den Kopf. So sehr sie sich auch bemühte, Matt ihre volle Aufmerksamkeit zu schenken – ein Teil ihres Verstandes, und noch schlimmer; ein Teil ihres Herzens waren noch immer von dem langen Blickkontakt mit Chris wie paralysiert.
„Ich dachte, wir könnten uns vielleicht mal treffen. Zusammen lernen oder so.“ Matt zuckte möglichst gleichgültig die Schultern, doch Hailey meinte, in den hellbraunen Augen leichte Nervosität erkennen zu können.
„Sicher.“ Hailey spürte, wie ihr Lächeln aufrichtiger wurde. Matt schien ein toller Mensch zu sein und vielleicht, wenn die Zeit die letzte Wunde geschlossen hatte, dann…
Sie zuckte nicht zurück, als Matt mit seiner freien Hand nach ihrer griff und sie näher zu sich zog. Übermut glitzerte nun in seinen Augen, als seine Hand zu Haileys Kinn wanderte und er ihr schliesslich einen kurzen Kuss auf die Lippen drückte.
Erstaunt nahm Hailey wahr, dass es sich gut anfühlte. Fast schien es, als würden ihre Wunden dabei schneller heilen.
Sofort hatte sich Matt wieder zurückgezogen. „Ich wollte nur kurz etwas klar stellen“, erklärte er schliesslich und neigte schelmisch lächelnd den Kopf, so dass seine Locken leicht wippten. „Ich finde dich interessant, Hailey Summer.“
Hailey konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Danke.“ Sie lachte kurz auf, ehe sie hinzufügte: „Ich teile mir Zimmer 34 im dritten Stock mit einer Vorzeigezicke, falls du mich mal wieder suchen solltest.“
„Ich merke es mir.“
Haileys Lippen kräuselten sich erneut zu einem Lächeln, als sie sich schliesslich umwandte, um sich auf den Weg zu ihrem Französischkurs zu machen, den sie nicht mit Matt besuchte. Wegen des enormen Ansturms an neuen Schülern hatte die Schulleitung im Sommer beschlossen, jeweils zwei Klassen für jedes Fach zusammenzustellen. Chris hingegen war ein Jahr über ihr was in Haileys augenblicklicher Situation natürlich vollkommen nebensächlich war. Leider nur beinahe hätte Hailey dieser Aussage einen bestimmten Wahrheitsgehalt zugesprochen.
Während sie erneut versuchte, einen Weg zwischen den Schülermassen zum Schulzimmer zu finden, stellte Hailey fest, dass Schmetterlinge im Übermass in ihrem Bauch ihr Unwesen trieben. Nun galt es, sie irgendwie zu beruhigen und ihnen einzutrichtern, dass sie nur für Matt zu schweben hatten. Sie würde es mit allen Mitteln versuchen, schwor sich Hailey nun, als sie am Klassenzimmer ankam. Matt meinte es gut mit ihr, wohingegen Chris ihr Herz bereits einmal gebrochen hatte. Sie war nicht bereit, es sich erneut nehmen zu lassen. Doch Haileys unsicheres Lächeln gefror, als sie ein letztes Mal den Blick durch den Gang schweifen liess und Chris erspähte, der geradewegs zurückstarrte. Er wirkte geknickt, soweit es Haileys weibliche Instinkte ihr richtig verrieten. Hailey ahnte, dass er sie und Matt zusammen gesehen hatte. Mit hochrotem Kopf zwang Hailey sich dazu, sich wegzudrehen und das Klassenzimmer zu betreten. Doch ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie sich nun ihren Platz im Raum suchte.
Nicki inspizierte ihr Tablett kritisch, als sie schliesslich das Salatdressing am Sossenausschank über das Grünzeug in dem kleinen, runden Teller verteilt hatte. Hätte ein Schildchen am Büffet nicht klar und deutlich darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um Salat handelte, hätte Nicki die Blättchen auf dem Teller geradewegs als hochgradig giftig eingestuft. Wie es ein Elite-Internat schaffte, solches Essen zu servieren, war ihr schon immer ein Rätsel gewesen. Vielleicht hatte das Direktorat beschlossen, die meist von Reich-Mama und Reich-Papa gehätschelten Schülern zumindest in diesen Belangen auf das wahre, harte Leben vorzubereiten? Nun, in Nickis Augen galt es als absolute Folter, dem Menschen das Nächstliegende zu verwehren: Einen guten Teller Pasta und Salat, der sich auch als solcher zu erkennen gab.
Seufzend beendete sie ihre Inspektion und liess den Blick stattdessen über den Kantineraum fahren. Aberdutzende Tische und Stühle nahmen den Grossteil des Raumes ein, was sich dadurch erklären liess, dass die Kantine Platz für wirklich alle Schüler des Internats hergeben musste. Nickis Blick blieb an einem Tisch auf der rechten Seite des Raumes ruhen; sie erkannte Lauren und Juliane, die wohl in eisigem Schweigen ihre Gesellschaft teilten.
„Tun wir uns das auch an?“, fragte Nicki, als Hailey schliesslich zu ihre aufgeschlossen hatte, lediglich ein Sandwich in der Hand. Ja, Hailey wusste wohl um ihre Gesundheit zu sorgen. „Tauschen wir?“, fügte Nicki deshalb mit einem zuckersüssen Lächeln an.
„Was tauschen?“ Hailey beäugte Nickis Salatschale so kritisch, wie sie es selbst zuvor getan hatte.
„Du kriegst meine Pasta und meinen Salat und ich dafür dein… Tomaten-Mozzarella Sandwich.“
Hailey hob überrascht die Augenbrauen. „Das sind keine Tomaten, Nicki. Das ist Schinken.“
„Oh.“ Nicki schluckte. Seit wann besass Schinken eine knallrote Farbe? „Dann wohl besser nicht.“
„Was wolltest du dir eigentlich auch antun?“ Unschlüssig blickte sich Hailey ebenfalls im Raum um, wie Nicki erkannte.
„Wir könnten uns zu Juliane und Lauren setzen und uns freiwillig der Gefahr ausliefern, an eiskaltem Schweigen qualvoll zu erfrieren.“, erklärte Nicki mit geschürzten Lippen. Nun, wo sie das potentielle Risiko, sich an rotem Schinken oder an eisigem Schweigen zu vergiften gegeneinander abwog, kam sie klar zu dem Schluss, dass letzteres die eindeutig umweltfreundlichere Variante darstellte. Zu ihrem Erstaunen erhielt sie jedoch keine Antwort von Hailey, sodass Nicki automatisch annahm, dass Hailey Nickis Vorschlag zu akzeptieren wusste. Erst als sie ein paar Schritte unternommen hatte, um an Julianes und Laurens Tisch zu gelangen, fiel ihr auf, dass Hailey nicht reagierte.
„Was ist los?“, fragte Nicki möglichst laut, um das Knurren ihres Magens zu übertönen. Das Essen hier war zwar grottenschlecht, aber zumindest füllte es ihren Magen.
Eigentlich war zu erwarten gewesen, dass Hailey zu erstarrt war, um ihre Frage mitzukriegen, dachte Nicki nun im Nachhinein. Seufzend tat sie die paar Schritte wieder zurück und wedelte mit der einen Hand vor Haileys Gesicht herum, während sie mit der anderen ihr Tablett balancierte. „Nicki Hunger. Nicki essen“, sprach sie nun eindringlich flüsternd. „Nicki wartet.“
Hailey reagierte nicht.
„Ach Mensch, Hailey. Lass mich doch bitte nicht verhungern. Ich stelle es mir eindeutig qualvoller vor als wegen den Salatbakterien in meinem Magen ins Gras zu beissen.“ Wie passend, dachte Nicki zugleich lautlos.
Hailey liess ein schwaches Grunzen ertönen und schüttelte schliesslich ungläubig den Kopf. „Hast du etwas gesagt?“
„Nein, ich stand nur stillschweigend neben dir und habe mich mit meinem Schicksal abgefunden, an Hunger zu sterben.“
„So schnell stirbst du nicht an Hunger“, meinte Hailey lediglich monoton. „Wo willst du dich hinsetzen?“
„Eisiges Schweigen auf 20° Ost.“, erwiderte Nicki mürrisch. Wer die These aufgestellt hatte, es brauchte einige Zeit, um zu verhungern, hatte eindeutig Nicole Mayer nicht gekannt.
„Woher weißt du, dass es 20° sind?“ Nicki sah zufrieden, dass Hailey nun ebenfalls Julianes und Laurens Tisch ins Visier gefasst hatte.
„Können wir nicht einmal so tun, als würden wir uns nicht in einer Schule befinden und müssten deshalb nicht automatisch mit all unserem Laienwissen angeben und nicht jede These beweisen wollen?“ Trotzig rieb sich Nicki mit der einen Hand den Magen. Sie sprach nicht laut aus, dass sie in Mathe eine absolute Niete war und bei Winkelberechnungen gerne mal Zahlen nach Belieben wählte und mit einem „°“-Zeichen versah.
„Sicher“, sagte Hailey grinsend.
Nicki beschloss, sich ausnahmsweise mit einer solchen Antwort zufriedenzugeben und begann erneut, sich ihren Weg zum Tisch zu suchen. „Welches Gespenst hast du eigentlich vorhin gesehen?“, fragte sie möglichst beiläufig. Natürlich zerbarst sie zugleich innerlich beinahe vor Neugier – und vor Hunger. Eine explosive, wenn nicht gar tödliche Mischung.
„Chris.“, flüsterte Hailey.
Stirnrunzelnd nahm Nicki zur Kenntnis, dass sich Haileys Wangen bei seinem Namen rot färbten.
„Dann seid ihr beide…?“ Nur zu gut wusste Nicky über das Auf und Ab in der Beziehung zwischen ihrer neu gewonnen Freundin und Chris Bescheid.
„Freunde. Oder auf dem Weg dahin. Ach, ich hoffe es zumindest.“ Hailey seufzte schwach. „Joonas hat übrigens mit ihm an einem Tisch gesessen, falls du immer noch auf der Suche nach ihm sein solltest.“
Augenblicklich erstarrte Nicki, sodass Hailey beinahe mit ihr zusammenstiess. Sie spürte, wie sich Haileys Tablett in ihren Rücken bohrte und doch spürte sie zugleich nur Ungläubigkeit jeden ihrer Sinne benebeln. „Wie war das noch gleich?“, fragte Nicki mit zitternden Lippen. Es konnte doch unmöglich sein, dass Joonas Hochverrat beging und mit Haileys quasi Ex-Freund das Mittagessen oder zumindest den Tisch teilte? Joonas konnte doch unmöglich jeden Funken Loyalität gegenüber Nicki vergessen haben? Immerhin handelte es sich bei Hailey um Nickis gute Freundin.
„Joonas und Chris essen zusammen zu Mittag.“ Nicki spürte Haileys kritischen Blick auf sich. „Mach dir keinen Kopf drum“, fügte sie deshalb vorsichtig hinzu.
„Idiot“, zischte Nicki leise und hob den Blick. Es dauerte keine paar Sekunden, da hatte sie Joonas bereits erspäht. Ihr zog sich der Magen zusammen und sie verfluchte ihren Körper dafür wie er auf Joonas reagierte.
Tatsächlich sass Joonas seelenruhig an einem Tisch in der linken Hälfte des Raums und biss gerade genüsslich in sein Tomaten-Mozzarella (beziehungsweise Schinken-) Sandwich, während Chris sich leicht zu ihm vorgebeugt hatte und ihm gerade etwas erzählte. Wie konnte Joonas das bloss zulassen? Chris hatte Hailey immerhin das Herz gebrochen! Sofort beschloss sie, dass, was immer Joonas dazu bewogen hatte, es zuzulassen, sie es mit Sicherheit nicht zulassen würde.
„Warte mal kurz auf mich“, murmelte sie und setzte dazu an, in Joonas Richtung zu stürmen.
„Nicht!“, hörte sie Hailey warnend rufen. Im nächsten Augenblick spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. „Willst du, dass es so ausartet, wie gestern in Französisch? Vertrau mir doch ausnahmsweise einfach mal und geh dein Hungergefühl löschen.“
Nicki wollte protestieren, doch im nächsten Augenblick vernahm sie bereits Julianes vertraute Stimme, die ihnen zurief: „Nicki, Hailey, setzt euch doch zu uns!“
„Sicher, das machen wir“, antwortete Hailey sogleich. Leiser sagte sie: „Mir macht es nichts aus, Nicki, ehrlich.“
Seufzend gab Nicki für einmal Haileys Drängen nach. Doch sie hörte ihr Herz laut klopfen, als sie erneut an Joonas dachte. Über kurz oder lang würde sie schon noch die Chance bekommen, ihn für sein unloyales Verhalten irgendwie in die Schranken zu weisen. Pikiert folgte sie Hailey schliesslich zum Tisch des eisigen Schweigens.
Manche verhalten sich wirklich zu mutig, dachte Lauren gerade aufgewühlt, als sie aus den Augenwinkeln erkannte, wie Nicki und Hailey an ihren Tisch traten. Sie ignorierte die Begrüssungsfloskeln, die ausgetauscht wurden und hängte stattdessen noch ein paar Momente länger ihren Gedanken nach.
Collin MacDonald. Dieser Typ nervte sie momentan wirklich ganz schrecklich. Reichte es nicht aus, dass sie mit ihm zusammen zum Weihnachtsball hatte gehen und anschliessend sogar mit ihm hatte tanzen müssen? Offenbar nicht. Da er zu allem Übel der beste Freund ihres Bruders war, hatte sie das Vergnügen, ihm öfter zu begegnen, als ihr lieb war. Jedes Mal warf er ihr dann diesen Blick zu, der reihenweise Mädchen dahinschmelzen liess. Lauren gehörte selbstverständlich nicht zu diesen Mädchen, doch es strapazierte ihre Nerven, dass er diesen Blick überhaupt erst bei ihr anwandte. Sie wusste instinktiv, dass er dies nicht unbeabsichtigt tat, sondern dass reines Kalkül dahintersteckte. Es konnte doch unmöglich sein, dass Collin MacDonald mehr von ihr wollte, als Lauren bereits war ihm zu geben (was sich auf eisige Kommentare belief)? Fakt war, dass er gerade erst an ihrem Tisch vorbeistolziert war, seinem Aussehen nur zu gut bewusst. Das halblange, zimtfarbene Haar war ihm dabei in lockeren Strähnen ins Gesicht gefallen. Und dann dieser schrecklich selbstverliebte Blick aus honigfarbenen Pupillen, den er ihr zugeworfen hatte. Er hatte Lauren eindeutig so lange angeschaut, dass sie diesen Blick in die Kategorie „gefährlich“ einstufen musste. Nein, Collin gefiel ihr keineswegs. Er hatte nicht nur das Auftreten eines selbstüberzeugten Machos, er verhielt sich auch so. Bis vor kurzem noch hatte zwischen ihm und Dominic regelrecht ein Konkurrenzkampf geherrscht, wer mehr und vor allem hübschere Mädchen zu verführen wusste. Nun, da Dominic ganz offiziell aus diesem Kampf ausgetreten zu sein schien, führte Collin das Prozedere alleine weiter. Dass er ernsthaft in Betracht zu ziehen schien, dass Lauren sich als Trophäe hergab – dies war wirklich läppisch. Nein, sie empfand nichts für Collin - bis auf tiefste Abneigung. Und dies würde auch so bleiben. Dieser Typ konnte ihr eindeutig gestohlen bleiben. Eindeutig!
Lauren strich sich ihr seidiges, dunkles Haar aus dem Gesicht und stellte dabei wütend fest, dass ihre Wangen auf Collins Auftritt reagiert hatten – tatsächlich fühlten sie sich nicht so kühl an, wie sie es sonst taten. Dass sie kurzfristig ihre Kontrolle verloren hatte, war eindeutig kein gutes Zeichen und zeigte ihr auf, wie gefährlich dieser Blick tatsächlich gewesen war. Schliesslich gab sich Lauren damit zufrieden, dass sie in Zukunft einfach noch kontrollierter handeln und spitzzüngigere Kommentare abgeben würde, und wandte schliesslich ein Teil ihrer Aufmerksamkeit den drei Mädchen zu, die mit ihr den Tisch teilten.
„Was macht ihr eigentlich hier?“, liess sie sogleich ihre aufgestauten Gefühle an Hailey und Nicki raus. An Nicki gerichtet fügte sie an: „Und diesen Salat willst du auch tatsächlich essen?“
„Es ist doch immer wieder ein Vergnügen, mit dir Gespräche zu führen“, meinte Nicki mit falschem Lächeln und stiess herausfordernd ihre Gabel in die Schüssel mit dem Salat. Demonstrativ führte sie sie anschliessend zu ihrem Mund. Im nächsten Moment war das Salatblatt in Nickis Mund verschwunden und im übernächsten Moment bereits begann sie heiser zu husten.
Juliane bot ihr ein Glas Wasser an, doch Nicki schüttelte lediglich den Kopf, während sie mit dem Salatblatt in ihrem Mund kämpfte. „Lecker“, keuchte sie, als sie ihre Kiefermuskulatur zum Schlucken gezwungen hatte. „Willst du auch?“, fügte sie mit verheissungsvollem Blick an und streckte Lauren die Gabel entgegen.
„Sehe ich so aus, als müsste ich dir irgendetwas beweisen?“ Möglichst unbeteiligt faltete Lauren die Hände. „Ausserdem möchte ich nicht wissen, wie viele Bakterien sich auf dieser Gabel befinden, aber danke für das liebreizende Angebot.“
„Liebreizend“, wiederholte Nicki leicht knurrend und stiess ihre Gabel erneut in die Salatschüssel, gab es dann jedoch auf und liess sie scheppernd auf ihr Tablett fallen. „Sonst noch etwas?“
„Die vielen Ohrstecker lassen deine Ohren unmenschlich gross erscheinen und du bist so bleich, dass deine Augenringe Schatten bis zu meinem Sitzplatz hin werfen. Aber das weißt du ja alles bereits“, erwiderte Lauren triumphierend. Ein Blick zu Juliane und Hailey verriet ihr, dass die beiden es wie sooft aufgegeben hatten, sich einzumischen.
„Ach, weißt du, Lauren, ich hab dich in den letzten beiden Wochen auch so richtig vermisst.“ Nicki klimperte kleinmädchenhaft mit den Wimpern. „Aber manchmal machst du wirklich jedem unausstehlichen Menschen Konkurrenz.“
Und trotzdem schien sich Collin für sie zu interessieren, fügte Lauren in Gedanken an, antwortete jedoch nichts auf Nickis Worte. Sie beschloss, dass es genug an Aufmerksamkeit gewesen war, die sie den drei Mädchen gespendet hatte, und erhob sich von ihrem Stuhl. „Man sieht sich“, murmelte sie, während sie mit einer Hand nach dem leeren Plastik griff, in dem einst ein Tomaten-Mozzarella Sandwich eingepackt gewesen war.
„Wir haben dich auch lieb!“, rief ihr Nicki hinterher. Doch Lauren beschloss – wie so oft – sie zu ignorieren.
„Kein Knutschen auf meiner Zimmerhälfte!“, verordnete Lauren, während sie ihre Wäsche sortierte. „Und macht nicht zu viel Lärm.“ Scheinbar ungerührt von ihren Worten tänzelte sie zu ihrem Schrank und verstaute die Kleidungsstücke penibel geordnet auf den einzelnen Ablageflächen.
Einige Sekunden lang beobachtete Juliane sie wortlos dabei, zu überrascht, um ein Wort über ihre Lippen zu bringen. Erst langsam teilte ihr Verstand ihr mit, dass sie etwas zu entgegnen hatte. „Lauren!“, rief sie schliesslich lahm, während sie sich von ihrem Bett hoch kämpfte und aufrecht sitzend zur Ruhe kam. Und dann etwas fester: „Was sollen ich und Dominic laut deinen Vorstellungen heute Abend denn genau treiben?“ Sie schüttelte schwach den Kopf. Sie fühlte sich viel zu hibbelig, um ihre Zimmernachbarin in ihre Schranken zu weisen, und Schuld alleine daran trug Dominic. Warum musste er sie denn auch so um den Verstand bringen, dass sie Lauren nicht einmal mehr den Mund zu stopfen wusste?
„’Laut’ und ‚treiben’ – deine Worte. Das trifft so ziemlich genau meine Vorstellung dessen, was heute Abend hier geschehen wird.“ Lauren hielt kurz in ihrer Bewegung inne, um Juliane schelmisch anzulächeln, und ging dann anmutigen Schrittes zurück zu ihrem Bett.
„Ich bring dich um“, versuchte es Juliane halbpatzig, noch immer sprachlos. Lautlos verfluchte sie ihr Herz für den Atem, den es ihr bei Gedanken an Dominic stahl, so dass sie gerade eher japste als deutlich zu sprechen.
„Momentan siehst du eher danach aus, als würdest du nicht einmal ein Mäuschen zum Zittern bringen.“ Lauren schnappte sich den giftgrünen Pullover auf ihrem Bett und zog ihn sich auf unmenschlich grazile Weise über den Kopf.
Warum mussten die Newcoles auch bloss so… perfekt sein? Juliane seufzte leise, was Lauren als Zeichen auffasste weiterzusprechen.
„Herrgott, Juliane, nimm mich bloss nicht ernst.“ Lauren schien es sich mitten im Satz anders zu überlegen. „Oder nimm mich doch besser ernst. Man kann bei meinem Bruderherz nie vorsichtig genug sein.“
„Wir lernen Mathe“, protestierte Juliane.
„Ja, und ich habe ein Date mit Ed Westwick.“ Lauren grinste Juliane unverstohlen an. Juliane konnte ihr geradewegs von den Lippen lesen, dass sie sich an ihren Worten erfreute, die Juliane noch nervöser machten. Und leider behielt Lauren Recht. Tatsächlich fühlte sich Juliane jetzt noch unruhiger und sie sehnte sich den Abend möglichst schnell vorbei. Oder zumindest sehnte sie sich Dominic herbei, der gewiss wieder in Selbstbewusstsein badete und Lauren garantiert eine Mundfessel aufzulegen wusste.
Sie sah, wie Lauren mit den Achseln zuckte. „Ich gehe dann. Um elf bin ich zurück – dann ist Schluss mit ‚laut’ und ‚treiben’.“
„Ach, halt doch den Mund!“, fuhr Juliane sie etwas lauter an.
„Sieh an, sieh an, du scheinst dich tatsächlich zu fassen. Glaub mir, es ist auch besser, wenn du meinem Bruder mit Verstand gegenübertrittst. Wir Newcoles wissen eure Schwächen sonst nämlich ziemlich gut auszunützen.“ Lauren grinste bei ihren Worten verheissungsvoll und drehte sich schliesslich ab, um zur Tür zu gelangen. Juliane hörte die Tür mit einem leisen Quietschen aufgehen und zuckte im gleichen Moment zusammen, da sie zum Eingang schaute. Ihre Wünsche waren ihr schneller erfüllt worden, als es ihr lieb war; da stand er bereits, in den Händen ein dünnes Heft und ein verschlissenes Buch. Dominic.
„Dominic.“, sprach Lauren dann sogleich Julianes Gedanken aus. „Ich war gerade am Gehen“, erklärte sie, schien es sich dann aber doch noch einmal anders zu überlegen.
„Lässt du mich reinkommen?“, hörte Juliane Dominic mit seiner verführerisch sanften Stimme sagen. Schwach schüttelte sie den Kopf über ihr eigenes Hörorgan. Immerhin war sie immer stolz darauf gewesen, zu der intelligenten Sorte Mädchen zu gehören. Wollte sie dies nun wirklich für einen Jungen hergeben? So gerne sie auch Nein gesagt hätte – Juliane schaffte es einfach nicht.
Widerwillig sah sie Lauren zur Seite treten. Sie stellte sich in den Türspalt, drehte sich aber noch einmal zu den beiden um. „Lässt du mich noch kurz zu Wort kommen, bevor du dich deinem Liebesrausch hingibst, Brüderchen?“
„Sicher.“ Dominic lächelte zögerlich, blieb aber nachgiebig in der Zimmermitte stehen und wandte sich seiner Schwester zu.
„Nachdem du es geschafft hast, deinen Frauenverschleiss arg zu minimieren - wie sieht es da eigentlich bei deinem besten Freund aus? Zieht er mit?“
Juliane zwang sich dazu, Laurens Worte nicht zu hinterfragen, obwohl es ihr recht merkwürdig erschien, dass sich ihre Zimmerpartnerin plötzlich für solch niedrige Belange interessierte, wie Lauren selbst es gerne ausdrückte.
„Du meinst Collin?“, hackte Dominic nach. Juliane spürte instinktiv, dass auch er sich ob des Interesses seiner Schwester wunderte.
„Ich nehme nicht an, dass du sonst noch einen besten Freund hast?“, Lauren seufzte leise.
Dominic runzelte verwirrt die Stirn. „Da musst du ihn selber fragen.“
„Dominic!“ Juliane konnte Ungeduld in Laurens Augen glitzern sehen.
„Lauren“, entgegnete er grinsend. „Ach, Schwesterchen, was soll das gross bringen? Du weiss ja – er liebt die Frauen und die Frauen lieben ihn. So war es schon immer und so wird es wohl immer sein.“
„Man kann sich ändern“, erwiderte Lauren überraschend gereizt.
Juliane wusste, dass sie auf Dominic selbst anspielte, der gerne den Abend mit verschiedenen Frauen verbrachte. Der früher gerne den Abend mit verschiedenen Frauen verbrachte hatte, korrigierte sich Juliane sofort selbst.
„Frag ihn selbst, wenn es dich interessiert“, wiederholte Dominic lediglich. „Dürfte ich dann mal meine Freundin ordentlich begrüssen?“
Juliane spürte, wie sie rot wurde. Nicht nur war es merkwürdig, zwei Leute von sich selbst in der dritten Person sprechen zu hören, auch schauderte es sie bei dem Gedanken, dass Dominic sie soeben zum ersten Mal „seine Freundin“ genannt hatte. Keuchend rang sie nach Luft, die ihr ihr Herz wieder einmal ausgepresst hatte.
„Tu, was du nicht lassen kannst.“ Lauren seufzte einvernehmlich. Kurz bevor die Tür hinter ihr zuschlug, rief sie noch hinterher: „Und wehe, du verlierst ein Wort dazu gegenüber Collin!“
Dann kehrte Stille in den Raum ein, die Julianes Bauchgegend in Feuer aufgehen liess. „Wie ich sehe, hast du dein Mathezeug mit dir“, sagte sie mit schwacher Stimme, als sie schliesslich aufstand, um Dominic zu begrüssen. Wie begrüsste man „seinen Freund“ eigentlich?, fragte sie sich sogleich, beschloss aber, sich ihre Ahnungslosigkeit nicht anmerken zu lassen.
„Ich hatte angenommen, dass du mich sonst gleich wieder raus wirfst“, erklärte Dominic, liess das Heft und das Buch jedoch auf das Bett fallen, um mit seinen Händen in Julianes Haar fassen und sie zu sich ziehen zu können.
Juliane wusste nicht, wie lange der Kuss dauerte. Es war sie, die irgendwann ihre Lippen von Dominics löste, um nach Luft zu schnappen. Ein Blick auf die Uhr um ihr Handgelenk liess sie aufschrecken. „Mist“, fluchte sie leise. „Wir müssen Mathe lernen“, fügte sie dann an Dominic gewandt an. Der drückte ihr jedoch entschlossen einen weiteren Kuss auf.
„Dominic!“ Geschickt wand sich Juliane aus seinem Griff, nur um dann im Spiegel am Schrank erkennen zu können, dass sie durch Dominics ungehemmtes Zupacken nun eher wie eine Vogelscheuche als wie eine seriöse Nachhilfelehrerin aussah. Mürrisch strich sie sich durch ihr Haar, das nie so perfekt sitzen würde wie das von Dominic. „Wir lernen Mathe“, erklärte sie dann noch einmal, dieses Mal eine Spur strenger. Noch immer musste sie darum kämpfen, zurück zu normalem Puls zu finden.
„Muss das sein?“
Juliane quiekte auf, als Dominic sie erneut in seine Arme ziehen wollte. „Ja“, sagte sie möglichst ernst, doch ihr Lächeln verriet sie.
Etwas orientierungslos schaute sie sich in ihrem eigenen Zimmer um. „Also. Ich denke, es ist das Beste, wenn du das Bett nimmst und ich den Stuhl.“ Mit leichtem Schaudern erinnerte sie sich an Laurens Worte „laut“ und „treiben“ und spürte, wie sie erneut rot wurde.
„Schau mich nicht so an“, sagte sie grinsend, als sie Dominics Hundeblick auf sich spürte. „Später kriegst du mehr davon.“ Sie drückte Dominic einen kurzen Kuss auf den Mund auf und stiess ihn dann in Richtung Bett, ehe er protestieren konnte.
„Du bist ja ganz schön entschlossen“, stellte er schelmisch grinsend fest.
„Entschlossen Mathe zu lernen, ja.“ Juliane seufzte schwach, schnappte sich dann aber Dominics Buch und liess sich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen. „Und jetzt erklär mir den Unterschied zwischen ‚abhängig’ und ‚unabhängig’ in der Stochastik.“
„Mein Leben hängt davon ab, ob du mir noch einen weiteren Kuss gibst. Unabhängig davon, was du darüber denkst.“
Juliane bedachte Dominic mit einem kritischen Blick. Warum musste es bloss so unglaublich schwierig sein, diesem Blick, diesem Mund, diesem Lächeln zu widerstehen? Und so gab sie mit einem Aufstöhnen nach und beugte sich vor, nur um erneut in einem Kuss mit Dominic zu versinken.
Später bereute Juliane diese Tat, denn als sie es endlich schaffte, sich von ihm zu lösen, war die Stunde längst um.
Es war kurz vor acht, als Nicki in die Bibliothek der Schule stürmte. Sie war es sich bereits gewöhnt, von der Bibliothekarin höchst kritisch gemustert zu werden, sodass sie sich nicht gross darum kümmerte, dass die Schwingtür hinter ihr an der Wand aufknallte und sicher einige Kratzer hinterliess.
Nicki ging dennoch schnell in Deckung, als die ältere Dame am Ausleihtresen aus den Gedanken aufschreckte und ihren Röntgenblick sogleich erbarmungslos durch die Regale strahlen liess. Denn obwohl es – zugegebenermassen - äusserst gut getan hatte, ihre aufgestaute Energie etwas freien Lauf zu lassen, war keine Zeit da, um mit der Bibliothekarin über die Konsequenzen ihres unsittlichen Verhaltens zu sprechen; die Bibliothek würde um acht Uhr schliessen. So versteckte sich Nicki heftig atmend hinter Regal 1, während ihr Herz ebenso ungestüm gegen ihre Brust schlug.
Sie hatte sich bis jetzt geduldet, hielt sie Nicki zugute, als sie nun langsam in Richtung „griechische Literatur“ schlich. Es war doch eigentlich vollkommen natürlich, dass sie sich nach zwei elendlangen Tagen dazu entschlossen hatte, etwas direkter nach Joonas zu suchen, oder nicht? Ihr Verstand hatte ihr kurz nach ihrem Abendessen – einem Schinkensandwich – eingeflüstert, dass sie ihn bestimmt an dem Ort finden würde, wo sich sonst kein normaler Jugendlicher aufhielt – bei der griechischen Literatur. Wo sonst sollte er sich um diese Zeit abends befinden?
Nicki zwang sich ruhiger zu atmen, während sie vor dem richtigen Regal zu stehen kam. Eigentlich hätte sie stolz sein müssen, dass sie sich mittlerweile so gut in der Bibliothek zurechtfand – ebenfalls Joonas zumindest indirekter Verdienst -, doch stattdessen spürte sie nur andere Gefühle, die nun jede ihrer Handlungen leiteten. Da wäre zum einen Wut gewesen – wehe, sie würde Joonas zusammen mit Chris vorfinden. Das wäre eindeutig zu viel des Guten! Dann war da die Vorfreude, gleich wieder einem schweigenden Joonas gegenüberzustehen, so merkwürdig dies auch klang. Und schlussendlich war da ein Gefühl, das sich stark nach Sehnsucht anfühlte und das am meisten Verantwortung für jede von Nickis Bewegungen trug. Sie musste Joonas einfach wiedersehen. So fühlte sich Nicki also recht verwirrt, als sie schliesslich um das Regal auf den Raum dazwischen linste. Ihr Herz schlug automatisch fester und ihr Verstand setzte ganz aus – tatsächlich fasste sie Joonas ins Auge, als sie ihren Blick im schmalen Zwischenraum gleiten liess.
Er hatte sich gegen das Regal mit der Aufschrift „Griechische Literatur“ gelehnt und den Kopf über ein Buch gesenkt, dass äusserst verschliessen aussah. Ob es wohl auf Griechisch geschrieben war oder wirklich nur die deutsche Fassung, so wie es Hailey behauptet hatte? Auf alle Fälle musste Nicki bei Joonas Anblick laut schlucken. Seine Augenbrauen waren zusammengezogen und betonten so sein markant geschnittenes Gesicht mit den hell leuchtenden Augen, den schmalen Lippen und der geraden Nase. Das blonde Haar war kurz und störte ihn so nicht beim Stöbern in den vielen Büchern, die er täglich bei sich trug. Kurz: In Nickis Augen sah er einfach phantastisch aus. Und das erschrak sie, wie sie nun feststellte, da sie ihr heftig pochendes Herz betastete.
Es war wahrscheinlich die Mixtur all dieser Gefühle, die Nicki dazu anspornte, die letzten Schritte um das Regal zu tun und ihrem Gefühlschaos Ausdruck zu schenken. Keuchend sprang sie vor und baute sich möglichst unheilverkündend vor Joonas auf. Allerdings verfehlte Nicki die Wirkung, da ihre zierliche, kleine Gestalt einfach nicht dazu geschaffen war, „unheilverkündend“ zu wirkend. Seufzend beliess es Nicki schliesslich dabei, die Arme zu verschränken. Sie brauchte nicht einmal etwas zu sagen, da schaute Joonas bereits von seinem Buch auf, die Augen noch immer leicht verklärt von den Zeilen, die er gerade verschlungen hatte. Warum konnte er nicht sie abwechslungsweise einmal mit solcher Inbrunst anschauen?
„Nicki!“, rief er aus, während er sich mit den Fingern über die glasigen Augen fuhr.
„Also wieder kein Hallo“, stellte Nicki kopfschüttelnd fest. Eigentlich hätte sie es ja wissen sollen – immerhin lag „Hallo“ so überhaupt nicht im Repertoire an Worten, die Joonas gerne verwendete, wie Nicki bereits zur Genüge hatte erfahren müssen. Nun, er sprach ja eigentlich generell überhaupt nicht viel und schien sie lieber still schweigend und süss anzuschauen, dachte Nicki schaudernd. So tat er es auch dieses Mal. Zugleich zuckte sie ab ihrer eigenen Wortwahl zusammen. „Süss“ wiederum entsprach nämlich so gar nicht dem Repertoire an Worten, die Nicki freiwillig benutzte. In den letzten beiden Tagen alleine hatte sie es zu allem Übel mindestends vier Mal benutzt. Aber da sie dazu neigte, viel zu sprechen, beschloss sie sich diesen gedanklichen Ausrutscher zu verzeihen. Ja, eigentlich lautete das Problem eher, das sie zu gerne sprach und ihre Gefühle schon mal ihren Verstand überrollen liess, was an diesem Abend nur Schlechtes bedeuten konnte, bei den Gefühlen, die sie alle gleichzeitig heimgesucht hatten. So geschah es auch dieses Mal, dass ihr Mund Herr über ihr Verstand wurde.
„Wie kannst du es eigentlich wagen?“ Nickis weibliche Intuition flüsterte ihr sogleich zu, dass sie mit dieser Frage so sehr danebengegriffen hatte, wie es eigentlich nur irgendwie ging. Wie hätte sich Joonas seinem schwerwiegenden Fehler auch bewusst sein sollen? Er war immerhin lediglich ein normaler Junge, der gerade dazu gezwungen wurde, mit einer Verrückten zu sprechen. Da konnte man es ihm eigentlich wirklich nicht vorwerfen, dass sein Blick nun eher fragend als reuig war.
„Ich nehme an, du wirst mich gleich darüber aufklären, was ich angestellt habe?“
Wie sollte sie es am besten formulieren? Automatisch rückte Nicki in die Defensive. Er würde sie auslachen, würde sie ihm erklären, dass er Mitschuld an dem Desaster während des Französischunterrichts trug. So begann sie schliesslich mit einem langgezogenen „Also.“ Sie hustete gekünstelt, während sie entschied, dass nur die Sache mit Chris erwähnenswert war.
„Du hast mit Chris zu Mittag gegessen“, brachte sie schliesslich hervor und versuchte ihre Augen wütend aufblitzen zu lassen, wie es Lauren immer so wirkungsvoll tat. Natürlich klappte es bei Nicki nicht.
„Ich weiss“, kam es lediglich von Joonas.
Nicki seufzte theatralisch. „Und sonst hast du dazu nichts zu sagen?“
„Was soll ich denn zu sagen haben?“, entgegnete Joonas und klappte das Buch in seinen Händen ganz zu. Es gefiel Nicki gar nicht, dass sich um seine Lippen ein leichtes Lächeln spielte, auch wenn es eher von Verwirrung als von Hohn zeugte.
„Er ist immerhin Haileys quasi Ex-Freund. Loyalität, Bürschchen“, erwiderte Nicki sogleich und musterte verstohlen den Titel des Buches in Joonas Händen. „Apologie des Sokrates“ von Manfred Fuhrmann, liess der Buchdeckel verlauten. Obwohl es eindeutig nicht griechisch klang, hörte es sich ebenso wenig deutsch an. Vielmehr schien es so, als hätte sich der sehr geehrte Autor nicht entscheiden können, welche Sprache er denn nun wählen sollte. Und Joonas las dieses Buch tatsächlich gerade freiwillig! Dieser Junge war einfach nur höchst verwirrend. Nicki stöhnte schwach. Erst jetzt bemerkte sie, dass Joonas sie überrascht musterte.
„Verstehe ich dich richtig? Du bist wütend auf mich, weil ich mit dem Ex-Freund eines Mädchens, das du irgendwoher kennst, zu Mittag gegessen habe?“
„Quasi Ex-Freund. Und Hailey ist eine gute Freundin von mir. Und... und… Na ja, ich dachte, dass wir auch so etwas wie Freunde sind und deshalb ein bisschen Loyalität nicht zu viel verlangt wäre.“ Um sich ihre Unsicherheit nicht anmerken zu lassen, versuchte sich Nicki möglichst gross zu machen. Warum hatte sie sich auch nur für Chucks entscheiden müssen, die sie optisch noch kleiner erscheinen liessen?
Joonas kam nicht dazu, weiterzusprechen, da in diesem Moment ein Mann von der grossen Halle her in denselben Zwischenraum einbog und sich fast schon demonstrativ zu Joonas gesellte, ihm sogar auf die Schulter klopfte. War Nicki plötzlich blind geworden oder handelte es sich bei dem Mann tatsächlich um ihren Direktor? Mr.Eddings, erinnerte sich Nicki an seinen Namen. Sein Bäuchlein wölbte sich unter dem fleckenlosen weissen Hemd hervor, während er an Joonas gewandt fragte: „Joonas, kommst du? Es ist acht Uhr.“
Verdattert beobachtete Nicki Joonas dabei, wie er nickte und Anstalten machte, sich von ihr abzuwenden.
„Halt!“, sagte sie eine Spur zu laut. Dieses Mal entkam sie einem kritischen Blick der Bibliothekarin mit Sicherheit nicht. „Es tut mir Leid, Herr Direktor, aber Sie werden ihre lobenden oder kritischen Worte an Joonas noch eine Weile runterschlucken müssen. Ich bin nämlich noch nicht mit ihm fertig.“
„Was hat mein Sohn denn dieses Mal angerichtet?“, fragte Mr. Eddings prompt.
„Das übliche Unverständliche“, erwiderte Joonas, ehe Nicki die Chance hatte zu antworten. „Gibst du mir noch ein paar Sekunden? Ich verstehe nämlich ebenso wenig wie du und bin gerade drauf und dran erste Erfolge zu erzielen.“
„Testosteron benebelt wirklich eure Sinne, nicht?“ Nicki seufzte ob der Erkenntnis, dass die meisten Männer nur von einem Hormon geleitet wurden. Immerhin hörten sich ihre Erklärungen doch eigentlich recht verständlich an? Warum verstand Joonas sie dann bitteschön nicht? „Also, noch mal für alle zum Mitschreiben: Ich mag es nicht, wenn du mit Chris…“ Mitten im Satz hielt Nicki inne. Stotternd fragte sie Mr. Eddings: „Moment mal. Haben Sie gerade Sohn gesagt?“
„Genau. Ich bin der stolze Vater von Joonas Eddings. Und Sie müssen wohl Nicole Mayer sein?“ Mr. Eddings antwortete ihr mit einem amüsierten Grinsen.
Nicki war zu erstaunt ob der plötzlichen Erkenntnis, die sich ihr ergab, dass ihr gar nicht auffiel, dass der Direktor ihr Name ebenfalls gewusst hatte. „Oh… ich… ja… also.“ Sie ahnte, dass es nun vollkommen mit ihr geschehen war und sie für den Rest des Abends keinen normalen Satz mehr herausbringen würde. Ihre Peinlichkeiten hatten ihr jegliche Spuren von ihrem Verstand geraubt.
„Es freut mich. Joonas hat mir bereits von Ihrer etwas speziellen Art berichtet. Ich würde gerne noch weiter plaudern, doch es ist bereits nach acht Uhr und Agatha möchte sicher langsam Feierabend machen. Vielleicht ein anderes Mal?“
Nicki nickte schwach, während sie sich von Joonas in Richtung Ausgang dirigieren liess. Normalerweise hätte ihr Körper heftig gekribbelt, wenn Joonas seine Hand auf ihren Rücken gelegt hätte. Nun nahm sie jedoch überhaupt nichts wahr, sehnte sich nur ihr Zimmer herbei, um möglichst schnell den ganzen Abend zu vergessen. Nur schwach zuckte Nicki zusammen, als die Bibliothekarin sie mit ihrem Röntgenblick durchdrang und sich anscheinend fragte, ob dem Mädchen noch zu helfen war. Agatha, fiel Nicki der Name der Bibliothekarin nun wieder ein und sie grinste ihr schwach zu. Die gute Frau musste sich endgültig in ihrer Vermutung bestätigt sehen.
„Pass auf dich auf“, murmelte Joonas ihr aufrichtig besorgt zu, als sich am Ausgang des Schulgebäudes ihre Wege schieden. Sie ahnte, dass er nun erst einmal mit seinem Vater – ihrem Direktor – das Verhalten der Nicole Mayer diskutieren würde.
Seufzend murmelte Nicki „danke“ und machte sich schliesslich ins Unermessliche verwirrt zurück in Richtung ihres Zimmers. Die frische Luft half auch nicht, ihre Gedanken zumindest etwas zu ordnen.
Die beiden Zeiger ihrer Uhr näherten sich unheilverkündend der Elf. Noch fünf Minuten blieben ihr. Sonst würde ihr deutlich der Marsch geblasen werden. Hailey stöhnte leise. Warum musste die Nachtruhe im Internat denn auch bereits auf elf Uhr angesetzt sein? Doch Hailey ahnte, dass es nichts an dieser Regel zu rütteln gab und sie die Argusaugen ihres Hauswartes besser nicht mit unterschwelligem Zorn erfüllte. Umso zügiger ging Hailey deshalb nun ihres Weges.
Es war Nickis Idee gewesen, kurz vor Nachtruhe einen Spaziergang zu machen und sich so einmal gründlich den Kopf durchzulüften. Schliesslich hatte sich Hailey Nickis Willen gebeugt. Ironischerweise war diese dann aber nicht erschienen, hatte sich mit einem Telefonat bei ihr abgemeldet. Sie hatte ihr mitgeteilt, dass sie denn restlichen Abend lieber alleine wäre. Nicki und das Bedürfnis alleine zu sein? Grundsätzlich ein riesiger Widerspruch, doch Nicki hatte ganz klar darauf beharrt, dass Hailey keine Steppvisite bei ihr machte, um zu kontrollieren, was Nicki tatsächlich den Kopf zermarterte. So hatte sich Hailey widerwillig dem Wunsch ihrer neu gewonnenen Freundin gefügt. Dies hatte sie aber vor die Qual der Wahl gestellt: Sollte sie alleine an die frische Luft gehen oder lieber in ihrem gemütlichen, warmen Zimmer bleiben? Ein Blickwechsel mit ihrer mitunter sehr zickigen Zimmernachbarin hatte genügt und Hailey hatte sich nach draussen begeben. Irrsinnig an diesem Entschluss war nur, dass sie die Zeit dabei völlig ausser Acht gelassen hatte. Und so unfreiwilligerweise in ein Dilemma schlitterte. Sie würde es doch unmöglich noch pünktlich zum Schlafgebäude schaffen? Immerhin befand sie sich momentan am südlichen Ende des Internatgeländes, in der Nähe des Tores. Ohne sich gross dessen bewusst zu sein, hatte ihr Weg nämlich genau dort gemündet, wo das dicht gestrickte Eisengitter Hailey von der Aussenwelt abtrennte. Sie hatte unmittelbar Heimweg verspürt, wo sie denn endlich dort angelangt und den Blick über die nächtlichen Silhouetten dahinter hatte fahren lassen. Mit mulmigem Gefühl im Magen hatte Hailey festgestellt, dass es als unabhängiger Mensch ohne festgesteckte Raumgrenzen viel einfacher war, den Problemen zu entkommen. Immerhin war die Welt, die hinter dem Internat lag, weit und von Hailey grösstenteils noch unerkundet. Als Schülerin des Internats war es ihr jedoch verunmöglicht worden, ihre Gedanken von dem Zauber der Welt ablenken zu lassen. Festen Druck auf ihre Schläfen ausübend, verharrten sie viel lieber in ihrem Kopf und führten ihr ihr chaotisches Leben fast bereits spöttisch vor Augen. Chris und Matt. Beide Jungen bedeuteten ihr etwas. Und glaubten in ihr jemand Speziellen gefunden zu haben. Erneut seufzte Hailey schwach, während sie die Weggabelung mit dem grossen Brunnen passierte. Hier führten Pfade zum Schulgebäude, zum Unterstufen- sowie zum Oberstufenschlaftrakt. Hailey bog links ab. Und blieb abrupt stehen.
„Oh“, stammelte sie und fuhr sich gleichzeitig ärgerlich über ihre Wangen, die Opfer einer plötzlich in ihr gekeimten Hitze geworden waren. „Hallo Chris. “ Gleichwohl beunruhigt starrte den Jungen an, der fast gänzlich in die Schatten der Nacht getaucht war. Nur seine Füsse erreichten den Lichtstrahl der Strassenlaterne. Trotzdem hatte Hailey instinktiv gespürt, dass es sich bei der Gestalt vor ihr um Chris handelte. Sollte es sie beunruhigen, dass sie ihn ausgerechnet mitten in der Nacht traf und vor allem nach dem, was an diesem Morgen geschehen war? Hailey konnte keinen klaren Gedanken fassen und so beschränkte sie ihre Bewegungen darauf, unruhig auf ihrer Unterlippe zu knabbern.
„Hailey.“ Hailey ahnte, dass Chris ihr soeben auf seine typische Art zulächelte, was ihre Beine nur noch zittriger werden liess. Lautlos seufzte sie über die Reaktionen ihres Körpers.
„Gut, dass ich dich erwische.“
„Warum?“ Ihre Frage hätte nicht schroffer klingen können. Ob sie aus Verlegenheit oder aus Instinkt ein paar Schritte vortrat, hätte sie im Nachhinein nicht mehr zu sagen vermocht. Sie kam unmittelbar vor Chris zum Halt und musterte ihn nun genauer. Seine Augen wirkten schwarz gepinselt im Dunkel der Nacht. Doch das Lächeln, das sich um seine Lippen gelegt hatte, konnte Hailey trotz der Finsternis erkennen.
„Ich wollte dir etwas erklären. Damit wir uns nicht falsch verstehen.“ Chris Lächeln veränderte sich bei seinen Worten kaum merklich, doch die Veränderung, die es in seinen Gesichtszügen bewirkte, war gravierend: Seine Mimik offenbarte nun Wehmütigkeit.
Hailey nickte lediglich. Erst mit einiger Verspätung wurde ihr bewusst, dass er diese Geste im Dunkel der Nacht vielleicht nicht hatte ausmachen können. Als sie plötzlich seine Finger auf ihrer Wange spürte, musste sie sich einen Überraschungsschrei verkneifen. Die Berührung fühlte sich zu Haileys Unmut wunderbar an. Sie versetzte ihren ganzen Körper in einen Ausnahmezustand.
„Du bedeutest mir viel zu viel, Hailey.“, meinte Chris mit kehliger Stimme.
Dieses Mal schreckte Hailey nicht zurück, als Chris begann, mit seinem Daumen ihre Wange zu erforschen und bei ihrem Mundwinkel schliesslich in der Bewegung inne hielt.
„Aber ich verstehe deine Entscheidung. Letztlich will ich dich glücklich sehen. Wenn er dich glücklich macht, muss ich das akzeptieren.“
„Ach so.“ Bereits im nächsten Augenblick hätte sich Hailey für ihre schamlose Antwort prügeln können. Ach so?! Mehr hatte sie nicht dazu zu sagen, dass Chris Daumen verbotenerweise an ihren Lippen ruhte und ihr Herz dabei gleichsam heftig pochte und schmerzte?
„Vielleicht können wir ja eines Tages so etwas wie Freunde sein? Wer weiss, was die Zukunft bringt“, flüsterte Chris nun.
Hailey schaffte es nicht, sein höfliches Lächeln zu erwidern. Ihr Atem ging mittlerweile nur noch stossweise. Keuchend schnappte sie nach Luft, als Chris schliesslich seinen Daumen zurückzog und sich ein paar Schritte von ihr entfernte.
Wer weiss, was die Zukunft bringt, wiederholte sie in Gedanken Chris Worte, als er sich umgewandt hatte und gänzlich vom Dunkel der Nacht verschluckt worden war. Tränen stiegen ihr unwillkürlich in die Augen und erstickten somit jeden wehmütigen Gedanken im Keim. Während erste Tränen ihren Weg zum winterharten Boden fanden, schlug die Kirchenuhr in der Ferne elf Mal.
Lauren überprüfte ihr Aussehen ein letztes Mal im Spiegel im schmalen Badezimmer, das zu ihrem und Julianes Zimmer gehörte. Sie schob die Lippen etwas vor, sodass sie nun noch sinnlicher und voller wirkten. Zufrieden fuhr sie sich durch das seidige, volle Haar. Jawohl, sie war bereit für ihr Treffen mit Dominic. Bereit dazu, irgendwie zu Informationen rund um Collins wahrscheinlich langweiliges Leben zu gelangen. Irgendwie musste sie diesen Halbwüchsigen doch loswerden, oder etwa nicht?
„Ich gehe dann!“, rief sie Juliane zu, die sich hinter irgendeiner Lektüre zu den genetischen Grundbausteinen versteckt hatte. Zögerlich tauchte Julianes Gesicht über dem Buchrand auf.
„Richtest du ihm bitte…“
Lauren hob in Abwehrstellung die Arme. „Mädchen, du siehst mein sehr geehrtes Bruderherz fast täglich. Kannst du ihm deine schnulzigen Worte nicht bei eurem nächsten Treffen persönlich ausrichten?“
Wie von Lauren erwartet, lief Julianes Gesicht rot an. Lauren sah, wie Juliane dazu ansetzte, ihr etwas zu entgegnen, sich dann aber anscheinend umentschloss und stattdessen demonstrativ wieder hinter dem Buch verschwand. „Viel Spass“, zischte sie Lauren zwischen wohl zusammengepressten Lippen nach.
„Werde ich haben!“, gab sich Lauren gütig und schloss die Tür hinter sich. Zu ihrer eigenen Überraschung fühlte sie sich heute ausserordentlich gut. Beschwingten Schrittes bezwang sie die Treppenstufen nach unten und durchquerte beflügelt von diesem Schub guter Laune die Eingangshalle. Nicht einmal der lüsterne Blick des Hauswartes wusste ihren Gemütszustand zu dämpfen.
Es war Samstag, das Wochenende war also noch frisch, rief sie sich in Gedanken, während sie ihren schicken schwarzen Mantel enger um sich zog und sich in Richtung der wenigen Tische aufmachte, die auch im Winter ihren Platz auf der Terrasse der Kantine behielten und nicht vorsorglich in den Keller transportiert worden waren. Was würde sie heute Abend anstellen? Lauren beschloss, sich erst nach dem gemeinsamen Mittagessen mit Dominic darüber Gedanken zu machen. Es eilte definitiv nicht.
Den Weg, den sie nahm, war beinahe wie ausgestorben. Es war frühe Mittagszeit und die meisten Schüler würden wahrscheinlich noch in ihren Zimmern ruhen, wo sie ihren Rausch ausschliefen, fleissig Kopfschmerztabletten vertilgten und Schutz vor den winterlich kühlen Temperaturen fanden. Lauren hingegen hatte einen klaren Kopf, da sie den vorangegangenen Abend mit Juliane und ihrem Geschichtsbuch verbracht und das ordentlich erzogene Mädchen hatte raushängen lassen. Ein triumphierendes Lächeln hatte sich um Laurens Lippen gekräuselt, als plötzlich etwas in ihrer Tasche begann zu vibrieren und sie so aus ihren schadenfreudigen Gedanken riss.
Ungeduldig riss Lauren den Reissverschluss ihrer Umhängetasche auf und stöberte mit ihrer Hand zwischen der Packung Taschentücher, dem kleinen Schminktäschchen und ihrem Geldbeutel herum. Ihre Finger umfassten schliesslich ihr vibrierendes Mobilgerät. Normalerweise bevorzugte Lauren das Vibrieren zu nervtötenden Klingentönen, doch in diesem Moment verfluchte sie ihr Mobiltelefon gleichsam für das nicht enden wollende Zittern.
„Wer ist da?“, fauchte Lauren ungewollt heftig, als sie schliesslich den Anruf entgegennahm. Innerlich rügte sie sich dafür, dass sie nicht auf der Informationsleiste geschaut hatte, wer sie denn überhaupt anrief.
„Lauren?“
Unwillkürlich entfuhr ein Überraschungsschrei ihrer Kehle. Was um Himmels Willen…? „Kaitlin.“, stellte Lauren fest und versuchte möglichst unbeteiligt zu klingen. Wehe, sie würde sie auf ihren kurzzeitigen Ausbruch ansprechen!
„Wie geht es dir?“, kam Kaitlins Stimme aus Laurens Mobilgerät.
Lauren runzelte lediglich die Stirn und wartete ein paar Sekunden mit einer Antwort. Unterdessen zwang sie jeden Muskel ihres Körpers dazu, sich zu entspannen und sie weiter des Weges zu tragen.
Lauren ahnte, dass es eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre, sich bei Kaitlin nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen. Immerhin lag Kaitlin im Krankenhaus, während Lauren zwar gesund, aber mittlerweile schlecht gelaunt durch den Tag ging.
„Gut.“, gab sich Lauren schliesslich kurzangebunden. Mit einem Seufzen gab sie den Regeln der Höflichkeit nach. „Und dir?“
„Wunderbar!“
Wunderbar? Nun, als das würde Lauren es eindeutig nicht bezeichnen, wenn sie an Kaitlins Stelle ans Krankenbett gefesselt war und Nahrung zu sich nehmen musste, die in jeglichen Belangen das Kantineessen des Internats auf negative Weise übertraf.
„Weisst du, eigentlich bergen Krankenhäuser so einige… süsse Überraschungen“, flötete nun Kaitlins schwärmerische Stimme. Seltsamerweise klang sie so gar nicht schüchtern und von Selbstkomplexen geplagt, wie es normalerweise der Fall war.
„Ach?“, sagte Lauren deshalb einen Tick zu forsch. Sie wollte keinesfalls neugierig klingen – nicht dass bei Kaitlin der Anschein erweckt wurde, dass Lauren sich für Kaitlins Leben irgendwie interessierte. Dennoch schlich sich Neugier in ihre Mimik. Sie drückte sich ihr Mobiltelefon näher ans Ohr, während sie über einen abgebrochenen Ast am Boden trat. Von weitem erkannte sie bereits die groben Umrisse der Tische. Lauren hoffte innig, dass Dominic bei Juliane gelernt hatte und sich nicht verspätete.
„Tu nicht so.“ Kaitlin kicherte.
Misstrauisch hob Lauren eine Braue. Seit wann kicherte Kaitlin bitteschön? „Was haben sie mit dir angestellt?“, fragte sie schliesslich. Ihre Stimme war eindeutig nicht von Besorgnis über das andere Mädchen erfüllt, oder etwa doch? Angewidert zuckte Lauren bei diesen Gedanken zusammen. Es durfte ihr doch eigentlich reichlich egal sein, was Kaitlin Hundsman ihr zu berichten hatte. Eigentlich. Die letzte Spur guter Laune war aus ihrem Körper gewichen. Dieses Mädchen schien allen Ernstes nur ihre Nummer gewählt zu haben, um unwichtige, sterbenslangweilige Dinge zu besprechen.
„Sie? Die Krankenschwestern?“
„Frag besser mal nach, ob sie deine Medikamente nicht geringer dosieren sollten.“
Erneut ertönte ein Kichern aus dem Mobiltelefon. „Ich nehme keine Medikamente mehr. Sie wollen schauen, wie es die nächsten beiden Tage ohne läuft.“
Interessant, dachte Lauren betont gelangweilt. Sie war bei den Tischen angelangt. Natürlich fehlte von Dominic jede Spur.
„Dann sag ihnen, sie sollen dich wieder damit vollspritzen. Damit du wieder einigermassen…“ Lauren zögerte. Klang „normal“ nicht etwas barsch? Mir doch egal!, gab sich Lauren trotzig. „… normal wirst.“, sprach sie deshalb energisch aus.
„Lauren Newcole vermisst mich.“, stellte die Stimme am anderen Ende der Leitung vergnügt fest.
„Du denkst doch nicht wirklich…?“ Mitten im Satz blieben Lauren die Worte regelrecht im Hals stecken. Ihr Blick war über die Umgebung gefahren, nachdem sie hatte feststellen müssen, dass Dominic wohl so bald nicht auftauchen würde. Was ihr Blick nun erfasst hatte, jagte ihr Gänsehaut über den Rücken. Ihr Herz schlug automatisch fester.
An einen der umliegenden Platanen gelehnt stand Collin. Die nackten Äste zeigten vorwurfsvoll auf sein Haupt und hatten in Lauren Augen auch allen Grund dazu. Sie schluckte leise, als sie das Mädchen erspähte, dass er eng umschlungen hielt. Sein Gesicht war mit ihrem verschmolzen, so tief versunken waren sie in ihren Kuss.
Aus weiter Entfernung hörte Lauren, wie Kaitlin gerade sagte: „Also, die Krankenschwestern haben nichts mit meiner wunderbaren Laune zu tun. Da gibt es andere, bessere, süssere Gründe…“
Laurens Ohren fühlten sich an wie in Watte gepackt. Was war mit ihr los? Dann steckte Collin halt seine Zunge in den Mund eines anderen Mädchens. Was ging das Lauren gross an? Er würde sich ja schliesslich auch nicht darum kümmern, welchen Jungen sie mit ihren Lippen verschlang. Gehässig blitzten ihre Augen auf. Als hätte Collin ihre wütend funkelnden Augen auf sich gespürt, befreite er sich aus der Verschmelzung und sah auf. Als er Lauren entdeckte, kniff er die Augenbrauen zusammen. Seine Mimik konnte Lauren aus der Entfernung nicht entschlüsseln.
„Wir sehen uns in einer Woche, ja? Nerv mich nicht länger!“ Und mit diesen wenig freundlichen Worte liess Lauren das Mobilgerät von ihrem Kopf sinken und trennte die Verbindung.
Collins ausdruckslosem Blick begegnete Lauren mit einem bittersüssen Lächeln. Scher dich doch zur Hölle!, sollte ihm dieses Lächeln im Geheimen sagen. Ihr Lächeln begann erst zu bröckeln, als er das andere Mädchen wieder enger zu sich zog, um erneut in einem Kuss mit ihm zu verschmelzen. Lauren machte dies selbstverständlich nichts aus.
Als Dominic endlich eintraf, war Collin Arm in Arm mit dem Mädchen verschwunden. Schon von weither sprühten Laurens Augen Gift.
Während sich Dominic trotz der Kälte auf einen der Bänke fallen liess und Lauren erwartungsvoll entgegenstarrte, funkelte diese ihn nur eisig an.
„Ich bin wohl etwas zu spät“, gab Dominic schliesslich mit gespielter Reumütigkeit zu.
Lauren verkniff sich einen scharfzüngigen Kommentar, funkelte ihren Bruder stattdessen lieber noch weitere Augenblicke lang erzürnt an. Er war schliesslich Schuld daran, dass sie den Blick hatte schweifen lassen und so Collin bei seinem Zungenspiel hatte beobachten müssen – wäre er pünktlich gekommen, hätte sich Lauren gar nicht erst die Mühe machen müssen, die Zeit bis zu seinem Erscheinen mit herum driftendem Blick zu überbrücken.
„Ich musste noch kurz in der Sporthalle vorbei. Du weisst doch selbst genau, dass die Fussballsaison bald anfängt. Ich konnte mich nicht so einfach davonstehlen, während Old Bernie etwas von wegen Strategie- und Gruppenspiel schwafelte.“
Natürlich wusste Lauren, dass ihr Bruder als Starfussballspieler des Internats so seine Pflichten zu erfüllen und sein Trainer Old Bernie oben drein immer ein loses Mundwerk hatte. Dennoch besänftigte ein brüderlicher Erklärungsversuch ihr Gemüt dieses Mal nicht.
„Dann sag deinem Old Bernie, dass du eine dringende Verabredung hast“, erwiderte Lauren umso vorwurfsvoller, während ihre Gedanken damit spielten, wie es gewesen wäre, an Stelle des anderen Mädchens in Collins Armen zu liegen und ihn stürmisch zu küssen. Sie hasste sich für diese Phantasien.
Dominic lachte schallend. Sein ganzer Körper erbebte unter diesem Lachen.
„Ach, du Idiot!“, schimpfte Lauren aufbrausend. Fast hätte sie auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre zurück zum Schlafgebäude gestürmt. Doch die Möglichkeit, Collin dabei zu begegnen, bestand durchaus. So blieb Lauren nichts Anderes übrig als verächtlich zu schnauben und die Arme ungläubig über die Reaktion ihres Bruders in die Luft zu werfen.
Langsam fasste sich Dominic wieder. Lachfältchen lagen noch immer um seine Augen, als er lässig meinte: „Schwesterherz, Schwesterherz. Was muss ich mir da anhören? Bin ich denn automatisch ein Idiot, wenn ich mir Old Bernies kaltschnäuziges Grinsen vorstelle, während ich ihm zu erklären versuche, dass ich leider das Training schwänzen muss, um einem armen Mädchen bei Zeit beizustehen? Das ist nun mal absurd, Lauren.“
„Trotzdem bist du ein Dummkopf“, erwiderte Lauren spitz und liess sich ihm gegenüber auf die andere Bank fallen. Sogleich zuckte sie schaudernd zusammen – das Holz der Bank hatte mit Sicherheit die Aussentemperaturen angenommen.
„Es wird ja immer besser.“ Dominic seufzte gespielt beleidigt. Seine Augen wurden allerdings urplötzlich ernster, als er Lauren schliesslich musterte und leiser fragte: „Bin ich wirklich ein Dummkopf?“
Lauren war drauf und dran mit einem trotzigen „Ja“ zu antworten. Schliesslich hob sie misstrauisch die Brauen und fragte zurück: „Warum fragst du mich das?“
„Weil ich es wissen will.“ Dominic zuckte die Schultern doch Laurens schwesterliche Intuition sagte ihr, dass mehr hinter dieser Geste steckte.
„Spuck‘s schon aus.“, sagte sie gutmütig. Dann hatte sich ihr Bruder also mit ihr treffen wollen, um seine Seelensorgen mit ihr zu besprechen. Lauren glaubte zwar nicht dran, dass sie den richtigen Kniff drauf hatte, um mit den Werkzeugen eines Klempners seine seelischen Wunden zu verarzten, doch sie war so schwesterlich nett und würde es zumindest versuchen. Vielleicht blieb sie durch diese gute Tat künftig auch von Collin und seiner spitzen Zunge verschont. „Was hast du auf dem Herzen?“
Einen Moment lang musterte Dominic seine Schwester kritisch, als sei auch er sich ihrer Seelenklempnerqualitäten nicht sicher. Schliesslich schien er jedoch dem Bedürfnis seine Sorgen loszuwerden nachzugeben und meinte müde: „Ich hatte noch nie eine feste Beziehung.“
Daher rührte also sein seelenvoller Blick, dachte Lauren lautlos seufzend. Irgendwie schien sie bei Dominic und Juliane die Rolle der Vermittlerin inne zu haben und das gefiel ihr zunehmend weniger.
„Ich will sie nicht enttäuschen und ganz bestimmt kein Dummkopf sein“, führte Dominic gerade sein Dilemma weiter aus. „Wahrscheinlich bin ich einfach nicht gut genug für sie.“
„Sag mal, spinnst du?“, entfuhr es Lauren bei Dominics letztem Satz ungewollt laut. Das Echo ihrer Frage hallte über die nackten Wipfel der Bäume. Etwas ruhiger erklärte sie: „Ich habe keine Ahnung, warum bei dir plötzlich solche aberwitzigen Ideen spriessen. Echt nicht. Du bist ein Newcole! Du gibst dein Bestes, das sollte wohl reichen, um Juliane in eurer Beziehung wohl fühlen zu lassen.“
„Mein ‚Bestes‘ besteht darin, dass ich weiss, wie ich einem Mädchen seine körperlichen Wünsche erfüllen kann“, erwiderte Dominic trocken.
Normalerweise hätte Lauren Dominic bei solch schlüpfrigen Aussagen wütend zusammengestutzt. Da ihr Bruder jedoch ehrlich verunsichert schien, antwortete sie genauso trocken: „Das…‘Körperliche‘, wie du es nennst, ist immerhin auch ein Aspekt einer Beziehung.“
„Aber es ist nicht genug“, führte Dominic aus. „Gibt es nicht einen Crashkurs in Sachen Beziehung?“
Obwohl die Sätze ihres Bruders mit Zweifel gespickt waren, hatte er rein äusserlich seinen selbstbewussten Schein bewahrt. Es überraschte Lauren immer wieder zu sehen, wie viel es brauchte, um Dominics Selbstbewusstsein auch rein optisch bröckeln zu lassen. Gleichzeitig wusste sie, dass sie eine ähnliche Wirkung auf aussenstehende Personen erzeugte. „Lass doch alles erst mal auf dich zukommen.“
„Ich will, dass es dieses Mal klappt, Schwesterchen. Ich glaube, aus dieser Beziehung könnte sich wirklich was entwickeln.“
Bei diesen Worten verspürte Lauren unerklärlicherweise einen Stich im Herzen. Lag es daran, dass ihr Bruder bisher abgesehen von kleinen Affären nur immer Augen für seine Schwester gehabt hatte und diese Aufmerksamkeit nun abhanden kam? Oder lag es daran, dass sie sich insgeheim einsam fühlte? Nie und nimmer hätte Lauren diese Gedanken laut ausgesprochen. Stattdessen schmiegte sich ein selbstbewusstes Lächeln um ihren Mund.
„Dann sei stolz auf deine Gefühle und lass deine Unsicherheit eure Beziehung nicht zernagen. Sprich mit Juliane, wenn alles nichts hilft. Sie wird es sicher verstehen.“ Diese Worte kamen Lauren so einfach über die Lippen, dass sie sich im Nachhinein ungläubig über den Mund fuhr. Seit wann fiel es ihr so leicht, Ratschläge zu geben? Seit es dir selber beschissen geht, murmelte ihre innere Stimme. Lauren lächelte zuckersüss weiter.
„Mit ihr darüber sprechen… Das stell ich mir als recht schwierig vor. Immerhin… Ich zeige mich nicht gerne schwach“, gab Dominic nun kleinlaut zu.
„Dominic! Juliane ist kein Unmensch. Ausserdem wird sie dich verstehen. Ach, verdammt, lass uns mit dieser dummen Seelenklempnerstunde aufhören. Ich kriege Kopfschmerzen davon.“ Und davon, ständig an Collins ausdruckslosen Blick denken zu müssen, führte Lauren lautlos aus.
„Ich weiss, dass sie kein Unmensch ist. Im Gegenteil…“
Das schwärmerische Leuchten in Dominics Augen und das dümmliche Grinsen um seine Lippen veranlassten Lauren dazu, mitleidig den Kopf zu schütteln. „Spiel Fussball. Lenk dich ab. Und nerv deine Schwester nicht länger.“ Müde rieb sich Lauren die Schläfen. „Und nur damit dir das klar ist: Du bist ein Newcole und hast stolz darauf zu sein. Ein Newcole gibt sich nicht einfach dem Nächstbesten hin.“ Lauren schob es auf Zufälligkeit ab, dass sie bei diesen Worten ausgerechnet an Collin dachte. Ja, wirklich, Collin war einfach nur der „Nächstbeste“. Und das reichte Lauren eindeutig nicht aus. Warum zermarterte sie sich dann überhaupt den Kopf?
„Abgesehen davon, dass dein letzter Satz so ein richtiger Stuss war und nichts mit meiner Situation zu tun hat – danke für dein Mitleid Schwesterherz.“, sagte Dominic mit einem nun wieder üblicheren Grinsen. Er legte den Arm um Lauren, während sie sich auf den Weg in die Kantine machten, um gemeinsam zu essen.
Mit meiner Situation hat es aber sehr viel zu tun!, schrie Lauren stumm, als sie ins wärmende Innere des Gebäudes stiessen. Statt ihre Gedanken laut auszusprechen, behalf sie sich zum wiederholten Mal einem nachgiebigen Lächeln und erwiderte ohne mit der Wimper zu zucken: „Kein Problem. Und ich warne dich: Wenn du das nächste Mal vor hast, zu spät zu kommen, kannst du dich auch gleich bei Old Bernie ausschütten.“ Lauren kniff Dominic warnend in den Oberarm. Sie zwang sich dazu, jegliche quälenden Gedanken loszulassen, was aber nicht wirklich klappte. Sie fluchte daraufhin lautlos. Zumindest war es beruhigend zu wissen, dass auch Dominics und Julianes Glück nicht perfekt war.
Nicki war zu allem entschlossen. Vorerst war Adam Opfer dieser Entschlossenheit. Und weil sie sich so entschlossen fühlte, klopfte sie umso entschlossener an die Tür zum Zimmer Nummer 56, das Adam mit irgendeinem Gruftie teilte.
Nicki empfand es als durchaus verständlich, dass Joonas sie seit ihrer Begegnung am Dienstag mied. Er hatte allen Grund dazu, nach dem ganzen Debakel. Zudem ging er Nicki aus dem Weg, seit sie ihn kannte. Es war schwer zu akzeptieren, aber es schien tatsächlich in seiner Natur zu liegen. Was alles umso komplizierter und verworrener machte.
Umso rücksichtsloser erschien Nicki Adams Verhalten – ihr ältester, neurotischster Freund, der bisher eigentlich immer zu ihr gehalten hatte, so wie es ihnen das Siegel „Freundschaft“ abverlangte. Seit geraumer Zeit jedoch hatte Nicki ihn weder persönlich gesprochen noch eine Karte zu Weihnachten oder etwas in der Art erhalten. Kurzum: Er wich ihr aus. Adam wich ihr aus. Adam war ihr noch nie zuvor ausgewichen. Da Nicki nicht mit Sicherheit wusste, ob er dies mit Absicht tat, glomm in ihr immer noch die kleine, kindische Hoffnung, dass sich alles um ein Missverständnis handelte.
Schleppend ging die Tür auf und der Geruch von Bier drängte sich in ihre Nasengänge. Nicki hustete automatisch. Sie vertrug Alkohol nicht gut und bei der Menge, die in der Luft lag, hätte sie schwören können, alleine vom Atmen einen Promilletest nicht mehr zu bestehen.
„Was zum Kuckuck…?“ Ihre Frage blieb ihr im Hals stecken.
Aus verschleiertem Blick und mit verwischten Zügen musterte sie der Gruftie. Nicki meinte, dass Adam ihn einst Peter genannt hatte. Doch so, wie er sich nun vor Nicki aufbaute, hatte er gar nichts mit einem sanften, gutmütigen Peter gemein. Er hätte Severus Snape alle Ehre gemacht, nur dass ihm das Haar bleichblond statt schwarz fettig am Gesicht herunterhing. Sein Gesicht war verquollen. Entweder, weil er das Pech hatte, so geboren worden zu sein oder weil sich der Alkohol in seinem Magen nicht in einem Bierbauch abbaute, sondern geradewegs in sein Gesicht strömte und es künstlich aufplusterte.
Der Gruftie wischte sich über den speichelnassen Mund, ehe er sein Kinn vorschob und mit düsterer Stimme fragte: „Was willst du?“ Seine Knopfaugen richteten sich scharf auf Nicki.
Beunruhigt stellte Nicki fest, dass er seine Entschlossenheit mit ihr gemein hatte. Zwar hatte er die Tür so entschlossen aufgemacht, als stünde sich ein bewaffneter Polizist zur Alkoholkontrolle auf der Matte, doch umso entschlossener schien der Gruftie nun in seinem Vorhaben, Nicki möglichst schnell loszuwerden. Sein Blick sagte ihr: Welche Mittel er dazu auch anwenden musste…
„Also…“ Nicki schnappte wie eine Ertrinkende nach Luft. Sie wusste, dass es erst einmal, galt, ruhig zu atmen, wollte sie irgendwie in Adams Reich vordringen. Oh, wie sie es doch hasste, ihn in seinem Zimmer zu besuchen! Aber Adam liess ihr anscheinend keine andere Wahl. Und Nicki war zu allem bereit. Selbst zu einem Gespräch mit dem Gruftie. Oder war es zumindest bis vor wenigen Minuten noch gewesen.
Lustigerweise mochte der Gruftie Adam aus welchem unerfindlichen Grund auch immer. Nicki selbst hatte für ihren Freund im Moment gerade nämlich nicht sehr viel mehr übrig als für die abgetragenen, einen üblen Geruch absondernden Chucks in ihrem Zimmer. Aber würde sie es erst einmal schaffen, Adam irgendwie auf sich aufmerksam zu machen, würde er sicher zu ihrer Rettung herbei stürmen und sie aus den Fängen den muffigen Grufties befreien.
„Adam. Ich will zu Adam.“
„Er will dich aber nicht sehen.“
Das sass! Da hatte sich Nicki sicher verhört. Warum auch sollte Adam sie nicht sehen wollen? Möglichst beiläufig richtete sich Nicki auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf den dunklen Raum dahinter werfen zu können. Es war zwar erst Dämmerungszeit, aber im Zimmer sah es aus wie spät nachts. Zudem war der Gruftie gut zweieinhalb Köpfe grösser und etwa doppelt sie breit wie Nicki. Es war hoffnungslos, ihr Unterfangen blieb ohne Erfolg.
„Ich bin mir sicher, dass er mich sehen will, wenn er erst mal weiss, dass ich vor der Tür stehe.“
„Da brauche ich ihn nicht fragen.“ Der Gruftie runzelte kritisch die Stirn. „Er hat Momentan nix übrig für halbe Portionen.“
Halbe Portionen? Halbe Portionen! „Bei der ‚halben Portion‘ Nicki Mayer macht er sicher eine Ausnahme.“
„Ne, besonders bei der nicht.“
Was fiel diesem mieslaunigen Gruftie überhaupt ein? Sicher wollte Adam sie sehen. Sie war schliesslich Nicki… seine älteste Freundin. „Versuchs mal damit: Rötliche Locken, blaue Augen und eine doppelte Portion Ungeduld warten darauf, mit ihm zu sprechen.“
Der Gruftie verzog gelangweilt den Mund. „Versuch du’s unterdessen mal damit: Umkehren, die Fliege machen, uns in Ruhe lassen. Ich meld‘ mich dann mal bei dir und sag dir, wie Adam auf die doppelte Portion Ungeduld reagiert hat.“ Nun wagte es der Gruftie tatsächlich, herzzerreissend zu gähnen. Er offenbarte dabei eine Reihe gelbbrauner Zähne. „Wart mal kurz, ich glaube, er sagt was.“ Der Gruftie machte einen Schritt zurück und steckte seinen Kopf hinter die Tür, um mit der verborgenen dritten Person – Adam – sprechen zu können. „Ach ja, richtig. Du sollst verschwinden“, nuschelte der Gruftie, als sein Blick wieder auf den von Nicki traf. Nicki spürte, wie ihre Entschlossenheit bei diesen Worten bröckelte.
Wie immer traf sie ihre Entscheidung frei aus dem Bauch heraus und äusserst spontan. Der Gruftie hatte gerade genug Zeit, um fragend den Kopf zu neigen, als sie sich auch schon an ihm vorbei quetschte und in Adams Zimmerhälfte stürmte.
Dieser sass seelenruhig auf seinem Bett und blätterte trotz der Dunkelheit in irgendeinem Musikmagazin. Seine Rastas wippten hin und her, als er schliesslich schnell den Blick hob, nur um ihn dann sofort wieder auf die Zeitschrift senken zu lassen.
„Was ist hier drin eigentlich los? Trinkst du?“ Alarmiert schaute sich Nicki in seiner Zimmerhälfte um, entdeckte jedoch nur eine Dose Cola, halb von einer herumliegenden Taschenlampe beleuchtet. Nicki seufzte erleichtert. Gleichzeitig stieg Frust in ihr auf. Hatte Adam sie tatsächlich nicht sehen wollen?
„Sorry Mann“, dröhnte die Stimme des Grufties hinter ihr. Sie hörte, wie die Tür zugedonnert wurde und sich schwere Schritte dem Bett auf der anderen Seite des Zimmers näherten. Ein lautes Quietschen ertönte, als der Gruftie die Stabilität des Bettgerüstes herausforderte und sich auf die Matratze fallen liess.
„Und wenn schon. Nicki, es ist Samstagabend, falls dir das noch nicht aufgefallen sein sollte.“, fuhr Adam sie an.
Nicki zuckte erschrocken zurück. Das letzte bisschen Entschlossenheit war gebröckelt und sie war froh, dass sie die letzten Resten dazu verwendet hatte, sich am Gruftie vorbeizudrängen.
„Was willst du hier, Nicki?“ Es klang wie ein Vorwurf.
„Reden“, entgegnete Nicki spontan und liess sie erschöpft auf Adams Bett sinken. Adam rührte sich nicht, sein Blick verharrte auf der aufgeschlagenen Seite des Magazins.
„Lasst euch von mir ruhig nicht stören!“, drang es entnervt aus der anderen Zimmerseite.
„Ich kann nichts für diesen Besuch“, antwortete Adam dem Gruftie.
Nicki spürte einen Riss ganz tief in ihrer Magengegend. Es schien, als wollte Adam sie absichtlich verletzen. Was aber war sein Grund?
„Also, Nicki, lass uns reden. Über was willst du denn reden?“
„Ich habe mich gerade gefragt, wann ich dich das letzte Mal gesehen und mit dir gesprochen habe“, murmelte Nicki leise. Adams ablehnendes Verhalten verunsicherte sie zunehmend.
„Das muss kurz vor dem Weihnachtsball gewesen sein. Wenn wir schon davon sprechen – wie geht es Joonas?“
Entrüstet riss Nicki Adam das Magazin aus den Händen und warf es zu Boden. Aus der anderen Zimmerhälfte tönte ein ärgerliches Grunzen.
Nicki versuchte im nur schwachen Schein der Taschenlampe Blickkontakt mit Adam aufzubauen, doch er schien ihr beharrlich ausweichen zu wollen und starrte nun stattdessen auf seine eigenen Hände.
„Hast du ihn denn nicht mehr gesehen? Ich meine, du nimmst schliesslich Nachhilfestunden bei…“
„Momentan nicht. Er hat mir viel beigebracht, aber er hat sich einfach zu sehr in mein Leben eingemischt, wenn du verstehst, was ich meine.“
Verwirrt runzelte Nicki die Stirn. Joonas und sich einmischen? Der gute Knabe hielt doch viel lieber einen Sicherheitsabstand von etlichen Metern. Ihren Gedanken sprach Nicki auch aus, froh, dass ihr Gespräch mit Adam langsam Gestalt annahm, auch wenn es sich äusserst seltsam anfühlte. „Joonas tut doch keiner Fliege etwas zu Leide. Er gibt sich viel lieber stumm.“
Aus Adams Kehle drang ein höhnisches Lächeln, was Nicki zusammenzucken liess. Hatte er vielleicht Alkohol in die Coladose gemischt? „Oh ja, die Schüchternen sind immer noch die Hinterlistigsten. Kannst du mir das bestätigen, Nicki?“
„Was…?“ Fragend hob Nicki die Brauen. Doch diese Geste verschwand im Dunkel des Raums.
„Ach, vergiss es. Es tut mir Leid. Ich bin nur etwas müde.“ Wie um diese Aussage zu unterstreichen, rieb Adam sich über die Augenbrauen. „Hattest du schöne Weihnachten?“
Unsicher, was Nicki von Adams plötzlich freundlicher Stimme halten sollte, meinte sie schleppend: „Sicher. Meine sehr geehrte Mutter war wieder einmal masslos überfordert. Deshalb hat sie umso lieber zur Alkoholflasche gegriffen. Das wird ihren Psychologen überhaupt nicht freuen.“ Verbittert dachte Nicki an die Geschehnisse am Weihnachtsabend. Ihre Mutter war ein seelisches Wrack und dies miterleben zu müssen, brachte Nicki immer wieder an den Rand des Wahnsinns. Es war einfach kein schönes Bild. „Ich hab ihr einen der neuesten Horrorschocker geschenkt. Das fand sie wohl nicht so toll.“, meinte sie schliesslich mit vor Ironie triefender Stimme.
„Ach, Nicki!“
Nicki hätte fast erleichtert aufgeseufzt, als sich auf Adams Gesicht ein ehrliches Grinsen zeigte.
„Wie kann ich denn auch wissen, dass sie nicht so auf fleischfressende Zombies steht? Ich tu’s auf jeden Fall und ich bin immerhin ihre Tochter. Ich habe ihre Gene oder so was in der Art.“
„Du hast in Bio also doch aufgepasst“, erwiderte Adam lachend.
Nicki nickte zögerlich den Kopf.
„Dann ist zwischen uns beiden alles in Ordnung?“, fragte sie schliesslich und empfand sich selbst als ungeheuerlich tapfer und mutig dabei.
„Sicher. Ich bin nur müde. Ich schau mal bei dir vorbei, wenn’s mir besser geht.“
„Gut.“ Widerwillig erhob sich Nicki. Ihr war der Hinweis nicht verborgen geblieben, dass es Zeit für sie war zu gehen. Insgeheim fühlte sie sich bei dem Gedanken daran, sich bald in ihr eigenes Bett verkriechen zu können, unglaublich erleichtert.
„Mach’s gut.“, meinte Adam zum Abschied, als Nicki sich schliesslich durch die Dunkelheit und die stickige, alkoholgetränkte Luft zur Tür vorgekämpft hatte.
„Noch eine Frage. Bist du irgendwie wütend auf Joonas?“
„Ach quatsch. Ich hatte in den letzten Tagen nur keine Zeit, mich mit ihm zu treffen.“
„Wenn das so ist.“ Nicki lächelte ihm möglichst offen zu, ehe sie die Tür öffnete, durch den Türspalt glitt und sie möglichst leise hinter sich zuzog. Während Nicki zu ihrem Zimmer eilte, bekam sie nichts von der Konversation mit, die in Adams Zimmer Einzug hielt.
„Willst du nicht ehrlich zu der Kleinen sein?“, meinte der Gruftie gerade zu Adam.
„Wir sind Freunde, Pete. Mehr nicht. Weniger will ich nicht sein. Also gebe ich mich damit zufrieden.“, erklärte Adam zögernd.
„Und was ist mit diesem Joonas?“
„Der kann mir eindeutig gestohlen bleiben.“
Der Gruftie nickte, ehe er sich abwandte, um ein kurzes Nickerchen zu machen.
Seufzend starrte Nicki auf die Pommes Frites, die vom Öl in ihrem Teller ertränkt wurden und nun schlapp und weich auf dem Billigporzellan thronten. Mittwochmittags lautete das Motto der Kantine üblicherweise „Surprise, surprise“, was so viel bedeutete, wie: Heute gibt es ganz besondere Menüs. Nicki fasste es eher so auf, dass es ganz besonders schlechte Menüs gab. Ertränkte, nur halbfritierte Kartoffelstängelchen gehörten eindeutig nicht zur „Haute Cuisine“, wie sich die Kantine gerne selber bezeichnete.
Aus den Augenwinkeln erkannte Nicki, dass Hailey mittlerweile neben ihr aufgetaucht war, ein Teller Pasta in den Händen, und ungläubig den Kopf schüttelte.
„Ich fass es einfach nicht“, murmelte sie, einen Blick auf Nickis armselige Fritten werfend. „Obwohl ich glaube, dass es langsam an der Zeit wäre, sich daran zu gewöhnen.“ Argwöhnisch stach sie mit dem kleinen Finger in das Knäuel Pasta. Ein eklig-schlürfendes Geräusch ertönte.
„Ich blättere momentan gerade in einem Buch über das menschliche Verdauungssystem. Glaub mir – wenn du wüsstest, wie unser Körper dieses Essen nachher in Fett und Auspuff umwandelt, würdest du ganz fasten.“
„Auspuff?“, fragte Hailey, hob im gleichen Augenblick jedoch abwehrend den linken Arm, während sie mit dem rechten das Tablett balancierte. „Nein, stopp, ich will es nicht wissen.“
„Braun, je nachdem dunkel oder hell. Stinkend, zum Teil klebrig und körnig. Manchmal auch flüssig.“ Nicki grinste provozierend, während sie gewahrte, dass Juliane neben Hailey auftauchte.
„Nicki!“, rief Hailey entrüstet aus.
„Über was redet ihr?“, fragte Juliane möglichst beiläufig, während sie in die rechte Ecke des Speisesaals linste. Als Nicki ihrem Blick folgte, sah sie Laurens Bruder, der gerade mit einem ebenso holden Schönling mit zimtfarbenem Haar in ein Gespräch verstrickt war. Nicki lächelte spitzbübisch. „Auspuff“, erklärte sie Juliane, die daraufhin abwesend nickte.
„Auspuff, also?“
„Jules, das willst du eindeutig nicht wissen. Glaub’s mir.“
Nicki grinste noch unverschämter, als sie den unterschwellig flehenden Ton in Haileys Stimme erfasste. Während sie ihren Blick an Laurens Bruder vorbeiziehen liess, erwiderte sie: „Richtig eklig braun, matschig und muffelnd. Nicht jedermanns Sache, obwohl’s jedermann von sich gibt. Klebrig und feuchtfest in der Konsist“ –
Nicki blieb das Wort regelrecht im Hals stecken, als sie nur wenig entfernt vom rechten Eck Adam ins Auge fasste. Sein Blick war stur auf die gegenüberliegende Seite des Speisesaals gerichtet. Unsicher folgte Nicki seinem Blick.
„Danke, Nicki, für diese bildreiche Erklärung.“
Wie von weiter Entfernung nahm Nicki Laurens bissige Worte wahr – Lauren musste also ebenfalls bei ihnen angelangt sein. In der Zwischenzeit hatten Nickis Augen ihr Ziel gefunden – Joonas sass auf der linken Seite des Speisesaals, unweit vom linken Eck. Er sprach gerade angeregt mit… Chris. Er schien Nickis erschrockenen Blick zum Glück nicht zu bemerken, während er seinem Tischpartner gerade beipflichtete, indem er nickte. Joonas hatte also nicht auf ihre Bitte gehört. Eigentlich hatte Nicki dies bereits erwartet, sinnierte sie dennoch resigniert. Langsam liess sie ihren Blick zurück zu Adam fahren. Noch immer schaute dieser etwas verbissen und mit vor Wut blitzenden Augen in Richtung des linken Ecks des Speisesaals. Vielleicht gar in Joonas Richtung? In diesem Augenblick wandte er den Kopf und erfasste Nicki. Augenblicklich wandelte sich das wütende Blitzen in das typisch schelmische Funkeln. Hatte Nicki sich ersteres gar nur eingebildet? Sie seufzte hörbar, lächelte Adam dann jedoch mit erzwungenem Lächeln zu.
„Haltet mich davon ab, dass ich laut losschreie“, murmelte Nicki mit gedämpfter Stimme.
„Schrei ruhig los, Nicki. Glaub mir, es würde niemanden in diesem Raum verwundern“, erklärte Lauren spöttisch und drehte sich ab, um sich einen Weg zu einem der wenigen freien Tische zu bahnen. Juliane folgte ihr wortlos, während Hailey Nicki kurz beruhigend zulächelte und es Juliane dann gleich tat. Nicki biss die Zähne fest zusammen. Dann eilte sie den anderen drei Mädchen nach und liess sich schliesslich auf einen der Stühle fallen.
Sie fühlte sich vollends verwirrt. Zudem war ihr der Appetit gehörig vergangen und das kam bei ihr überhaupt nicht häufig vor. Eigentlich sogar nie, dachte Nicki gerade. Normalerweise konnte sie nichts erschüttern, nicht einmal eine eklige, auspuffreiche Unterhaltung. Doch im Moment fühlte sie einen solch schweren Klotz im Magen, dass es ihr verunmöglicht wurde, auch nur eine der Fritten zu essen. Stattdessen spielte sie abwesend mit einer der ölgetunkten Kartoffelstängelchen, drückte auf ihr herum, formte sie zu einer Kugel.
„Also, Nicki, schiess los. Mir ist es deutlich lieber, wenn du schreist als wenn du ruhig vor dich hin vegetierst. Nicht, dass ich etwas gegen ein schweigsames Mittagessen habe. Aber ich bin nun mal ein höflicher Mensch und hacke nach.“, hörte Nicki Lauren schliesslich mit engelszarter Stimme flöten.
Nicki hätte Laurens Verhalten mit Sicherheit nicht als „höflich“ betitelt. Pure Neugier trieb Lauren zu diesen Worten, meinte Nicki mit einem schiefen Grinsen feststellen zu können. „Ich schätze mal, du hackst nach, um später auf mir herumzuhacken? Ne, das brauche ich gerade echt nicht.“, entgegnete sie lediglich und warf die Fritte zurück auf den Teller. Zögernd hob sie den Blick und entdeckte, dass auch Julianes und Haileys Augenmerk auf ihr lagen. „Was starrt ihr mich eigentlich alle so an?“, versuchte sie mit ihrem typischen Grinsen zu fragen. Es misslang ihr, das wusste Nicki in dem Moment, da Juliane ihr beruhigend die Schulter tätschelte.
„Können wir nicht über etwas anderes reden?“, versuchte Nicki nun von sich abzulenken.
Juliane zuckte einvernehmlich die Achseln. Und sprach zwangsläufig von dem Thema, das Nicki momentan gar nicht abkonnte: Jungs.
„Ich schau unseren Jungs heute beim Fussballtraining zu. Dominic spielt ja. Wisst ihr, mir ist es vollkommen zuwider, eines dieser kreischenden Cheerleader zu werden.“, meinte sie zaghaft.
„Wenn Dominic auf Cheerleader stehen würde, hätte er mit einem angebandelt und nicht dir den Vorzug gegeben.“ Das war Laurens Art nett zu sein. Nicki musste unwillkürlich grinsen, obwohl ihr das Thema höchst suspekt war.
„Ich weiss. Aber vielleicht erwartet er von mir, dass…“, sagte Juliane gerade, doch Lauren liess sie nicht aussprechen.
„Mensch, Mädchen, rede doch gefälligst mal mit meinem Bruder. Das würde mir so manch langweilige Unterhaltung ersparen. Du bist ihm völlig genug, so wie du bist und hoffentlich auch umgekehrt.“ Lauren quittierte ihre Aussage mit einem entnervten Stöhnen.
„Ach so“, erwiderte Juliane wenig überzeugt.
„Ich kriege die Krise. Könnte ausnahmsweise mich einmal jemand vom Schreien abhalten?“, fragte Lauren gereizt. Gleichzeitig warf sie sich die Hand vor den Mund, offenkundig schockiert über ihre eigenen Worte, die so gar nicht unbeteiligt vorgebracht worden waren. „Vergisst es.“, fauchte sie.
„Ich schreie dann gleich mit. Die Sache vor Weihnachten zerbricht mir wirklich den Kopf“, sagte Hailey vorsichtig. Augenblicklich richteten sich alle Blicke auf sie. Seit wann sprach die romantische, schüchterne Hailey so offen über ihre Probleme? Als schien sie die erstaunten Blicke richtig zu deuten, murmelte sie: „Verzweiflungstat, könnte man es nennen.“
„Kaitlin klingt im Vergleich zu uns ungemein fröhlich. Sie hat mich vor ein paar Tagen angerufen und geflötet, wie wunderbar es ihr doch geht.“, warf Lauren nun schmallippig ein. Ihr Blick verriet ihre eigene Unzufriedenheit. Sie hatte sich ihren kleinen Ausbruch noch immer nicht verziehen.
„Du sprichst von Kaitlin Hundsman? Unserer Kaitlin Hundsman?“, fragte Nicki kritisch. Sie mochte es nicht wirklich glauben.
„Eine Kaitlin reicht mir völlig aus. Also ja, unsere Kaitlin“, erwiderte Lauren mit zuckersüssem Lächeln zu Nicki.
Nicki zuckte daraufhin lediglich die Achseln und dachte ein paar Augenblicke nach. Die anderen schien es ihr gleich zu tun, denn Schweigen kehrte ein, das nur von Juliane unterbrochen wurde, die mit der Gabel über ihren Teller kratzte.
„Also gut“, zischte Nicki schliesslich. Mit gerunzelter Stirn blickte Nicki in die Runde. Sie konnte einfach nicht glauben, was da gerade vor sich ging. Irgendwie wirkte die ganze Welt momentan verkehrt und Nicki begann sich daran zu ärgern. Sie wollte ihren Adam zurück. Sie wollte, dass Joonas ihr erneut sagte, dass sie ein besonderer Mensch sei. Sie wollte wieder einmal ertränkte Fritten essen können, ohne sich den Appetit an ihren Problemen zu verderben. „Wir haben uns genug lange in unserem Elend gesuhlt. Ab jetzt wird alles besser.“ Demonstrativ steckte sich Nicki eine der ekligen Fritten in den Mund und zwang sich, sie zu schlucken. Nur kurz würgte sie. Dann reckte sie möglichst selbstbewusst ihren Kopf in die Höhe und streckte ihren Rücken gerade durch. „Wir müssen nur etwas mutig sein. Dann wird das alles schon werden.“
„Mutig?“, fragte Juliane mit ungläubigem Lächeln. „Du erinnerst mich an meinen Mathelehrer.“
Was Mut mit Mathe zu tun hatte, war Nicki fraghaft. Ihr Mut richtete sich eindeutig nicht in die Richtung, künftig das Mathebuch regelmässig mitzunehmen und im Unterricht aufzupassen. Es gab wichtigere Dinge im Leben, wo es Mut erforderte. Joonas, dachte Nicki schaudernd. Adam. Und sie wollte griechisch lernen. Ihren Französischlehrer von ihrem Talent für die ihr bislang noch ausgesprochen fremde Sprache überzeugen.
Nicki kam die zündende Idee, als sie Hailey erspähte, die gedankenverloren mit der Feige in ihrer Hand spielte, die sie als kleines Dessert erhalten hatte. Es schien nicht, dass sie vorhatte, sie auch tatsächlich zu essen. Deshalb riss Nicki Hailey die Fege wagemutig aus der Hand und legte sie vor sich auf eine leere Stelle auf ihrem Tablett. „Wir dürfen nicht länger feige sein“, erklärte sie mit möglichst überzeugtem Ton den anderen drei Mädchen.
„Nicki, bewerb dich für ein politisches Amt. Du hast das unsagbare Talent, Leute mit deinen Worten“, Lauren warf einen schnellen, kritischen Blick auf die Feige, „und dieser Feige an Veränderungen glauben zu lassen.“ Es war Nicki klar, dass Laurens Worte reinster Ironie entsprachen. Doch so leicht gab sie sich nicht geschlagen.
Entschlossen ballte sie die Faust und liess sie mit Anlauf auf die Feige sinken. Feigenfleisch spritzte über den Tisch und Juliane schrie überrascht auf, als sich ein Stückchen in ihrem Haar verfing.
„Nicki!“, rief Lauren empört auf, so, als spreche sie mit einer Irren.
„Wir haben doch alle irgendwelche Probleme und irgendwie tun wir nicht gut darin, ihnen auszuweichen. Also Schluss mit der Feige und willkommen tollkühner Verstand.“, erwiderte Nicki ungerührt.
„Du spinnst!“ Lauren schüttelte ungläubig den Kopf. „Du bist höchstens tollwütig. Das hat nichts mit Mut gemein.“
Nicki sah, dass Juliane sich noch immer ungläubig durch die Strähne strich, in der eben noch Feigenfleisch verfangen gewesen war. Hailey hingegen hatte unschlüssig den Mund verzogen.
„Das war eine Echte Feige“, meinte Hailey schliesslich, als niemand etwas auf Laurens Worte erwidert hatte.
Lauren bedachte Hailey eines höchst beunruhigenden Blickes. „Ich glaube, dass war jedem klar, dass dieses Ding eine echte Feige war.“
„Nicht so. Diese Feigenart heisst ‚Echte Feige‘.“, erklärte Hailey achselzuckend.
„Und was verändert das bitteschön an unserer Situation?“, sagte Lauren spitz.
„Vielleicht hat Nicki ja Recht und wir sind zu feige. Irgendwoher müssen unsere Probleme ja kommen.“
„Und was schlägst du vor?“, fragte Lauren kopfschüttelnd.
„Warum lassen wir nicht für einmal unser Gedächtnis über unseren rational arbeitenden Verstand walten und reihen uns in die Liste derjenigen ein, die sich auf das Banalste, doch Naheliegendste eingelassen haben?“, ertönte Julianes Stimme. Als Nicki Juliane näher betrachtete, sah sie, dass sie durchaus konzentriert wirkte.
„Lernst du eigentlich alle Worte unserer Lehrer auswendig?“, entgegnete Lauren bissig, ehe eines der anderen Mädchen die Chance hatte, einzugreifen.
„Irgendwie liegt unser Mathelehrer mit den Worten ja wirklich nicht falsch. Immerhin habe ich mich dadurch getraut, Dominic zu küssen.“
Drei paar Augen waren nun auf Juliane gerichtet.
„Dankeschön. Das wollte ich unbedingt wissen.“, meinte Lauren. Doch um ihre Lippen hatte sich ein schwaches Grinsen gelegt. „Du musst mir eines Tages verraten, wie mein Bruder so küsst“, flüsterte sie nun verheissungsvoll.
„Lauren – lenk nicht ab!“, rief Nicki unverblümt aus. Aber sie war froh über Julianes Eingreifen. Immerhin hatte sich Lauren dadurch halbwegs beruhigt. „Sind wir uns also einig, dass wir künftig keine Feigen mehr sind?“
„Keine Echten Feigen“, korrigierte sie Lauren mit bittersüssem Lächeln. Doch Nicki erkannte Laurens Einverständnis in diesen Worten. „Also, was unterscheidet echte Feigen denn von unseren tollkühnen Helden?“
Einen Moment nahm sich Nicki, um über Laurens Frage nachzudenken. Dann sagte sie entschlossen: „Wir sagen, was wir denken, nehmen Risiken in Kauf, lassen uns nicht so einfach abwürgen und erwarten im Gegenzug auf Händen getragen zu werden. Und: Wir geben nie und nimmer auf!“ Während sie dies aussprach, dachte sie an Joonas und Adam und ihr Magen krampfte sich augenblicklich zusammen.
„Wenn es sonst weiter nichts ist.“ Lauren schüttelte ein letztes Mal den Kopf, ehe sie widerstrebend murmelte: „Von mir aus.“
Es war viertel nach drei, als Hailey heftig seufzend aus dem Klassenzimmer stürmte, Matt nur wenige Schritte hinter ihr. Die Physikstunden am Mittwochnachmittag gehörten zu den wenigen Fächern, bei deinen sie im gleichen Kurs zugeteilt waren.
Kaum hatte sie den Flur erreicht, lehnte sich Hailey an die kalte Wand gegenüber dem Klassenzimmer und schloss für ein paar Augenblicke die Augen.
„Physik sorgt bei mir jedes Mal für Kopfschmerzen“, murmelte sie schwach, als sie schliesslich eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Mühsam öffnete Hailey die Augen. Sie sagte nicht laut, dass auch das heutige Mittagessen von ihr einiges an Konzentration und gutem Willen abgefordert hatte. Lächelnd erwiderte sie den Blickkontakt, den Matt gerade versuche mit ihr aufzubauen. Seine Hand ruhte noch immer auf ihrer Schulter.
„Machen wir einen Spaziergang? Es heisst doch immer, dass das den Kopf klären soll.“ Grinsend zupfte er an einer von Haileys blonden Strähnen.
„Warum nicht?“ Hailey griff zögerlich nach Matts Hand, die noch immer in ihrem Haar versteckt war. „Dazu musst du aber mein Haar loslassen“, sagte sie nach ein paar gescheiterten Versuchen, seine Hand von ihrer Haarsträhne zu lösen.
„Hmm. Eigentlich ist es gar nicht so schlecht, einfach nur da zu stehen und dein weiches Haar zu berühren.“
Hailey spürte, wie ihre Wangen sich rot färbten. Es war noch immer merkwürdig für sie, sich öffentlich zu Matt zu bekennen. Doch wollten sie je eine Beziehung zueinander aufbauen, so glaubte Hailey, musste sie sich endlich mutig zeigen. Wir nehmen Risiken in Kauf, murmelte ihre innere Stimme aufbauend. Das Risiko hiess in Haileys Fall Chris. Er hatte ihr seinen Segen gegeben, wenn man es denn so nennen konnte. Trotzdem musste Hailey sich erst noch an diese prekäre Situation gewöhnen.
„Kopfschmerzen“, erinnerte Hailey Matt schliesslich und tippte sich mit der Hand, die eben noch nach seiner hatte greifen wollen, an die Schläfen.
Äusserst widerwillig gab Matt nach. Demonstrativ verschränkte er seine Finger in ihren, kaum dass er von ihrem Haar abgelassen hatte. Es war spannend für Hailey, seine Bewegungen, seine Gesten und auch seine Mimik zu betrachten. Sie kannte Matt zwar mittlerweile einigermassen, wusste etwa, dass er eine kleine Schwester hatte, die an einem Herzfehler litt und deshalb zuhause unterrichtet wurde, aber doch lernte sie bei jedem seiner Worte dazu. Bisher hätte sie ihn als aufgeschlossenen, treuen Jungen beschrieben, der als einer der Verteidiger der Fussballschulmannschaft zudem auch noch grosse Popularität genoss. Ob er noch andere Seiten an sich hatte? Hailey stellte fest, dass sie darauf brannte, mehr von ihm zu erfahren. Er war gut und geduldig zu ihr und schien es mit der Ehrlichkeit genauer zu nehmen als Chris. Das hatte ein Vertrauen in ihr geweckt, dass in den letzten Tagen kontinuierlich gewachsen war.
Nachgiebig liess sie sich von ihm zur grossen Tür buxieren. Der Korridor hatte sich mittlerweile fast geleert und nur noch vereinzelt hörte Hailey andere Schüler irgendwo tuscheln oder Pläne fürs Wochenende schmieden.
„Erzähl mir von deiner Schwester“, meinte Hailey schliesslich, als sie die winterliche Kälte umhüllt hatte und sie sich auf den Weg zum Internatszirkel mit dem grossen Brunnen machten.
„Sie heisst Kendra“, sagte Matt mit schwärmerischem Lächeln. Diese Geste zeigte mehr als tausend Worte – er liebte seine kleine Schwester abgöttisch, wusste Hailey augenblicklich.
„Wie alt ist sie?“
„Gerade 14 geworden. Sie hatte um Weihnachten ein riesiges Fest mit all ihren Freunden veranstaltet. Sogar ihr behandelnder Arzt ist erschienen und hat ihr gratuliert.“
Hailey nickte zögerlich. Sie wollte und konnte es sich wohl auch nicht vorstellen, wie es war, mit einem Herzfehler zu leben. „Das hört sich gut an“, erwiderte sie unsicher.
„Ja. Kendra ging es an Weihnachten richtig gut. Sie erblüht, wenn Verwandte sie besuchen. Sie ist eindeutig ein Mensch, der nicht ohne Gesellschaft sein kann.“
„Hat sie auch dein haselnussfarbenes Haar?“
Nun grinste Matt sie überrascht an. „Du nennst es haselnussbraun? Das würde meiner Mutter gefallen. Sie hat einen Tick für spezielle Farben. Sie sagt immer, es glänzt wie geschmolzenes Kaffeeeis. Na ja, ob ich das als Kompliment auffassen kann, habe ich immer noch nicht rausgekriegt.“
Hailey erwiderte sein Grinsen, während sie sein Haar möglichst unauffällig musterte. Für sie blieb es trotz gründlicher Inspektion haselnussfarben.
„Kendras Haar ist dunkler“, sagte Matt gerade. „Sie trägt es kinnlang. Frag mich besser nicht warum. Sie hätte eigentlich tolles Haar, so dass sie einen Kurzhaarschnitt gar nicht nötig hat.“
„Du musst dir dein Haar auch nicht immer trockenfönen“, antwortete Hailey neckisch lächelnd. „Das ist im Winter unglaublich mühsam.“
Sie waren am Brunnen angekommen. Das Wasser darin war gefroren, sodass der Wasserhahn nun von Eiszapfen ummauert war. Die Engelskulptur am Rande des Brunnen bedachte sie desselben freundlichen Lächelns, das wohl schon seit Jahrzehnten in sein Marmorgesicht eingemeisselt war.
Hailey kreischte überrascht auf, als Matt sie plötzlich gegen die mannshohe Engelsfigur drückte, sodass sie nun zwischen der Skulptur und Matt eingeklemmt war.
„Ich mag dein Haar, ob geföhnt oder nicht. Ich würde dir sogar erlauben, es kinnlang zu schneiden.“, wisperte Matt an ihrem Ohr und strich Hailey einen der Strähnen aus der Stirn.
„Du erlaubst es mir? Wie gütig von dir.“ Hailey lächelte amüsiert, erstarrte jedoch, als Matt Daumen plötzlich begann, über ihre Wange zu streicheln. An ihrem Mundwinkel verharrte er. Matt musterte sie wortlos.
Augenblicklich fühlte sich Hailey wie in einem Déjà-vu gefangen. Sie sah wieder Chris wehmütige Gesichtszüge vor sich, als sein Daume zu reglos auf ihrem Mundwinkel lag und er ihr mitteilte, dass er Hailey glücklich sehen wolle.
Als Matt Anstalten machte, seine Lippen auf ihre zu senken, schüttelte sie ängstlich den Kopf. „Bitte nicht“, flüsterte sie dann.
„Was ist los Hailey? Alles in Ordnung?“ Wie in Trance nahm Hailey wahr, dass Matt zurücksprang und seine Hände in den Taschen seiner Jeans versteckte. Seine Augen funkelten besorgt.
Hailey schluckte verlegen und trat ein paar Schritte von der Engelskulptur weg. Einen Heiligenschein über ihrem Kopf war momentan wirklich das letzte, was sie brauchen konnte. Sie fühlte sich gerade nur egoistisch und… mutlos. Bei dieser Erkenntnis runzelte sie beunruhigt die Stirn.
„Ja, alles in Ordnung“, schaffte sie schliesslich zwischen zittrigen Lippen hervorzupressen.
„Hast du kalt?“ Matt schien es nicht zu wagen, ihre Lippen wieder zu berühren. Stattdessen deutete er lediglich auf ihren Mund. „Sollen wir zurück ins Warme?“
„Ja, ich habe kalt“, erklärte Hailey, obwohl es nur halbwegs stimmte. Vielmehr verleiteten sie all ihre haarsträubenden Gedanken in einen körperlichen Ausnahmezustand. Plötzlich fühlte sie sich nur noch erschöpft. Um ein kleines bisschen zumindest ihrem Echte-Feigen-Abkommen nachzugehen, fügte Hailey an: „Es tut mir Leid. Ich glaube, ich sollte mich einfach kurz hinlegen. Was hältst du davon, wenn ich im Gegenzug heute Abend zu deinem Fussballtraining komme?“ Sie fühlte sich Juliane gegenüber unglaublich dankbar. Immerhin war sie es gewesen, die dieses Training erwähnt hatte.
Matt schien der Situation etwas überfordert. Sein Kopf neigte sich zur Seite, während er versuchte, Haileys Worte zu verstehen und zu verdauen. „Aber nicht, dass du mich dann ablenkst“, meinte er schliesslich mit vorsichtigem Grinsen und hielt Hailey möglichst unauffällig seine Hand hin. Ohne lange zu überlegen suchten ihre Finger Matts.
Als sie sich auf den Rückweg zum Schlafgebäude machten, fühlte sich Hailey trotzdem nicht vollständig zufrieden. Sie hatte viel zu feige agiert. Es war dringend nötig, dass sie endlich den Schalter in ihrem Kopf fand, der sie von Chris ablenkte und sie mutiger werden liess. Doch Hailey ahnte, dass das ein wahrer Kampf werden würde.
Es war unmittelbar vor fünf Uhr. Der Sekundenzeiger näherte sich mit erbarmungslos konstantem Rhythmus der zwölf. Dennoch gab sich Lauren rein äusserlich als die Ruhe in Person; völlig ruhig wischte sie Krümel ihres Sandwiches von der Tischplatte, schlüpfte ruhig in ihre Jacke und griff sogar noch ruhiger nach ihrer Tasche. Ihre Mundwinkel zuckten unablässig, doch ansonsten zeigte sie keinerlei Anzeichen irgendeiner Nervosität. Erst als sie die Zimmertür erreichte, gewährte sie es sich selbst, einmal tief durchzuatmen. Zischend fuhr der Atem über ihre Lippen, ein nur gehauchtes „Mist!“ folgte. Dann würde sie halt zu spät am Treffpunkt erscheinen – wen kümmerte es schon? Juliane, wurde Lauren stirnrunzelnd bewusst. Wenn Juliane etwas nicht abkonnte, dann handelte es sich dabei um Unpünktlichkeit. Insbesondere an Tagen, an denen ihr Temperament aus welchem Grund aus immer mit ihr durchging. Am heutigen Abend trug dieser Grund den Namen „Dominic“. Das Fussballtraining, das Juliane erstmalig besuchen würde, ging mit diesem Grund einher. Und dieses Fussballtraining begann um Punkt zehn nach fünf. Keinerlei Verzögerung wurde bei diesem strengen Zeitplan geduldet. Wie also hatte es Lauren trotz dieser äusserst prekären Bedingungen schaffen können, sich zu verspäten und nicht wie abgemacht um fünf vor der Halle zu erscheinen?
Die Erklärung klang läppisch: Lauren hatte es doch tatsächlich geschafft, so weit mit ihren Gedanken abzudriften, dass sie nicht einmal bemerkt hatte, wie sich Juliane gegen halb fünf in Richtung Ausgang gemacht hatte, um ihrer kleinen Schwester Becky vor Trainingsbeginn noch einen Besuch abzustatten, geschweige denn bis vor wenigen Minuten fähig gewesen war, sich von ihrem Bett hochzukämpfen. Zu Laurens Beunruhigung hatten sich ihre Gedanken dabei unablässig um das Thema „egozentrischer, eingebildeter, verlogener, aber leider attraktiver bester Freund meines Bruders“ gedreht. Sie hasste es, dass ihre Gefühle sich nicht ihrem Verstand anpassten. Wie sollte sie je beginnen, mutig zu agieren, wenn sie noch nicht einmal vollständige Kontrolle über sich selbst ausübte? Es passte Lauren so gar nicht, dass die Kontrolle ihr irgendwie aus den Händen geglitten war und nun ausser Reichweite schien. Wie lange würde es dauern, bis Lauren wieder den Titel „Miss Makellos“ inne hielt?
Missmutig riss sie die Zimmertür auf, während in einiger Entfernung die Kirchenglocken fünf Mal unheilverkündend schlugen. Doch alles, was ihre Augen erfassten, als sie auf den Gang trat, war die Farbe Rot. Dies war umso erstaunlicher, da der rote Punkt eigentlich nur einen kleinen, aber umso bedeutsameren Teil ihres Blickfeldes einnahm. Irgendjemand wedelte mit diesem Stück Rot unmittelbar vor ihrer Nasenspitze herum. Alarmiert sprang Lauren den eben gemachten Schritt wieder rückwärts, als ihr ein merkwürdig anheimelnder Luft in die Nase stieg.
„Eine Rose?“, fragte sie verdattert. Sie blinzelte einige Male und der rote Punkt formte sich zu der schönsten Rose, die Lauren je zu Gesicht bekommen hatte. Natürlich, so hielt Lauren sogleich mit messerscharfem Verstand fest, hing dies nicht damit zusammen, dass es Collin war, der ihr diese Rose entgegenstreckte.
„Für dich“, meinte er grinsend. Als Lauren ihn weiterhin nur verdattert anstarrte und so überhaupt keinen Anschein erwecken liess, dass sich ihre Finger bald um den dornigen Stiel der Rose schliessen würden, drängte sich Collin kurzentschlossen an Lauren vorbei ins Zimmer. An der Grenze der beiden Zimmerhälften blieb er stehen.
„Rechts oder links?“, fragte er unvermittelt.
„Was tust du da?“, flüsterte Lauren prompt. Sie fühlte sich äusserst aufgebracht ob Collins ungehobeltem Verhalten, doch irgendwie hatte sich lediglich eine kindliche Schwärmerei in ihre Stimme gemischt, die sie beschämt den Blick senken liess.
„Hast du eine Vase oder ein Glas oder etwas in der Art?“
Lauren wurde unbehaglich zumute. Gerade eben raunte ihr ihre innere Stimme zu, dass sie erstmals seit der Weihnachtsfeier direkt mit Collin sprach. Lauren zwang sich dazu, sich zu räuspern und rang sich ein selbstgefälliges Lächeln ab. „Was soll ich mit dem Ding?“, sagte sie betont selbstbewusst, machte sich jedoch wie automatisch daran, auf ihrem Tisch nach einem leeren Behälter zu suchen. Penibel geordnet lagen Blätter und Stifte über der Tischplatte verteilt. Irgendwo hinter dem Mathematikwälzer fand sie schliesslich ein staubverkrustetes Glas.
„Die rechte Zimmerhälfte, also. Das passt zu deiner dominanten Ader“, erklärte Collin amüsiert, während er Lauren das Glas geschickt aus der Hand riss und zielstrebig in Richtung Toilette strebte.
„Was haben meine rechte Zimmerhälfte und Dominanz denn bitteschön miteinander gemein?“, fluchte Lauren. Ungeduldig hastete sie hinter Collin her. Sie war zu langsam, um ihn davon abhalten zu können, das Glas mit dem Wasser vom Lavabo zu füllen. Zufrieden platzierte er die Rose inmitten des kalkigen Nass.
Lauren stöhnte lediglich, als sich Collin schliesslich erneut an ihr vorbeikämpfte und mit einer Selbstgefälligkeit, die bis zum Himmel stank, das Glas mit der Rose auf ihre Tischplatte stellte. Nun trat Collin einen Schritt zurück, um sein Meisterwerk zu bewundern. Anschliessend rieb er sich zufrieden die Hände und lächelte Lauren provozierend entgegen. Eine Antwort zu ihrer Frage lieferte er ihr jedoch nicht.
„Was fällt dir eigentlich ein, hier einfach so mir nichts, dir nichts aufzukreuzen und mein Zimmer in Beschlag zu nehmen?“ Lauren wusste, dass ihr diese Frage viel zu spät von ihren mittlerweile wütend vorgeschobenen Lippen gekommen war. Sie versuchte diese Tatsache dadurch zu verbergen, dass sie ihre Arme in die Seiten stützte und ihre Augenbrauen wütend verzog. Normalerweise bewirkte diese Geste Wunder und ihre Besucher flüchteten sich in die dunkelste und deshalb unsichtbarste Ecke des Raums. Collin hingegen liess seine makellos weissen Zähne blitzen, während sein Grinsen noch ein Stück breiter wurde.
„Ach komm, Schätzchen, alle Frauen stehen doch auf Rosen.“
„Als ob das Grund genug wäre, in mein Zimmer einzubrechen.“
„Juliane hätte sicher nichts dagegen, wenn ich hier ‚einbreche‘ – wie du es nennst -, um eine gute Tat zu vollbringen. Oder wäre es der gnädigen Madame Newcole lieber, wenn ich das nächste Mal mit einer Einlasserlaubnis hier auftauche?“
„Wehe dir, wenn du es wagst, ein weiteres Mal unerwünscht vor meiner Zimmertür zu erscheinen! Ich bin verabredet und wegen dir bin ich jetzt spät dran“, log Lauren nun. Unbarmherzig wies sie mit einer Hand zur Tür. „Wenn du so gut wärst und jetzt gehen würdest.“
„Welchem Jungen verdrehst du denn dieses Mal den Kopf?“, flötete Collin amüsiert, während er – wie eigentlich zu erwarten war - keinen Schritt unternahm, um Laurens Aufforderung nachzukommen.
„Als ob dich das was angehen würde.“ Lauren verband ihre ausladende Geste mit einem unter normalen Umständen unmissverständlichen Räuspern. Verschwinde gefälligst!, sollte dieses Räuspern bedeuten. Collin zuckte lediglich die Achseln.
Dieser Idiot, zischte Lauren lautlos, während ihr Gegenüber zu einem Konter ansetzte.
„Und wie mich das etwas angeht! Immerhin stehst du in Wirklichkeit auf mich. Wenn du es doch bloss zugeben würdest… Du würdest es uns beiden so viel leichter machen.“ Collin liess auf seine Worte ein falsches Aufstöhnen folgen.
„Verschwinde!“, sprach Lauren ihre Gedanken fauchend aus. Keine Sekunde länger wollte sie mit diesem Jungen alleine in einem Raum sein.
„Nur, wenn du mit mir verschwindest.“ In gemütlichem Gang bahnte sich Collin seinen Weg an Lauren vorbei zur Tür. Selbstverständlich ganz zufällig streiften seine Hände dabei Laurens Kehrseite.
Lauren grummelte daraufhin drohend. „Ich bin bereits verabredet“, brachte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen mühsam hervor.
„Na und? Du bist doch sowieso zu spät dran. Dann kannst du deine Verabredung mit Mr. Unbekannt gleich ganz abblasen.“ Mit einem koketten Lächeln streckte Collin ihr seine Hand entgegen. Er stand nur Millimeter entfernt von der Tür, doch seine Absicht zu gehen schien niederschmetternd minimal. „Ich nehme mal an, du hattest vor, dein Bruderherz in kurzen Hosen zu bewundern? Das können genauso gut wir beide gemeinsam machen. Du darfst es mir einfach nicht übel nehmen, wenn ich während des Trainings lieber deine Vorzüge in Augenschein nehme. Ich stehe nicht so auf muskelbepackte Männerbeine.“
„Gar nichts machen wir gemeinsam!“ Vorwurfsvoll deutete Lauren auf das Glas mit der Rose auf ihrer Tischplatte. „Und die kannst du gleich wieder mitnehmen. In einer Minute bist du hier weg – mit der Rose!“
„Sonst was?“ Herausfordernd liess Collin seinen Blick über Laurens Körper gleiten. Er blieb unmittelbar über ihrem Nabel ruhen.
Ja, was sonst?, äffte Laurens innere Stimme seine unverschämten Worte nach. Was konnte Lauren schon gross gegen Collin anrichten? Sie konnte sich beim Rektor über ihn beschweren, doch das hätte ihr nur Dominics Unmut eingebracht. Zudem, so musste sich Lauren ungläubig eingestehen, schlug ihr Herz gerade unnatürlich schnell. Was hatte dieser Junge nur an sich, dass er die gewohnten Körpermechanismus bei Lauren ausser Kraft treten liess? Eigentlich hatte sie Collin ja bereits vom ersten Moment an nicht leiden können und dieser erste Eindruck hatte sich während den Weihnachtsballs noch verhärtet – das hatte sie zumindest geglaubt. Nun hingegen fühlte sich Lauren Collins gierigen Blicken hilflos ausgeliefert.
„Jedes andere Mädchen wäre beim Anblick der Rose vor Entzückung geschmolzen und bei meinem Anblick in Feuer aufgegangen. Warum folgst du diesem Exempel also nicht, Miss Newcole?“
„Ich bin nicht wie jedes andere Mädchen.“ Jede einzelne Silbe spuckte Lauren Collin entgegen und dachte dabei an das Mädchen, das erst kürzlich in einen Kuss mit dem schmierigen besten Freund ihres Bruders versunken gewesen war. Ich habe Kontrolle über mein Leben und meine Handlungen. Zumindest normalerweise, fügte Lauren in Gedanken an. Hilflos schüttelte sie den Kopf, so dass ihr seidiges Haar sich fliessend über ihren Rücken ergoss.
„Gut. Ich halte fest: Jedes andere Mädchen würde darauf brennen, mit mir zusammen das Fussballtraining zu besuchen. Lauren Newcoles Leidenschaft brennt jedoch nur unterschwellig. Bald schon wird jedoch auch sie einsehen, dass es keinen Grund gibt, mir einen Korb zu erteilen. Stimmst du mir da zu?“
„In deinen Träumen. Und wenn du nicht aufpasst, verbrennst du dir an mir die Finger und bist um ein Auge ärmer.“ Mit kaltem Lächeln, aber zittrigen Beinen stürmte Lauren zur Tür und versuchte mit geballter Kraft, Collin zur Seite zu stossen, um den Türgriff mit den Händen erreichen zu können. Es blieb jedoch bei dem Versuch – amüsiert, fast schon reflexartig umfasste Collin Laurens eine Hand, öffnete mit seiner anderen die Tür. „Meinen Fingern geht’s gut, danke der Nachfrage.“
Entschlossen zog er Lauren hinter sich her, die es lediglich noch fertig brachte, die Tür hinter sich zu schliessen.
„Was tust du da?“, schrie sie empört, aber zu leise, um den Argwohn des Hauswartes zu wecken, an dem sie nun vorbeischritten. Laurens freier Arm ruhte hilflos auf der Seite, der andere noch immer im Klammergriff festgehalten.
„Na was wohl? Ich nehme dich mit auf unser erstes richtiges Date.“, erklärte Collin, als wäre dies völlig selbstverständlich. Er zog sie mit sich ins Freie und bog nach links ab.
„Lass mich raten: Du schleppst mich zur Sporthalle.“ Lauren seufzte hilflos. Sie stemmte sich nicht gegen Collins nach vorne gerichtete Kraft.
„Vergiss nicht: Es war deine Idee.“
„Und was ist mit der Rose; wo hast du sie her? Hat eine deiner vielen Verehrerinnen nicht von dieser ach so netten Geste ablassen können und du schenkst sie nun ohne den Anflug eines schlechten Gewissens zu beweisen weiter?“
„Ich hab da so meine Kontakte“, erwiderte Collin mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen. „Aber kein Grund zur Sorge: Du bist eindeutig meine erste Wahl. Nathalie dient lediglich als Übergangsobjekt.“
Ärgerlich verpasste Lauren Collin mit der freien Hand einen Schlag in die Bauchhöhle. „Du nennst dieses Mädchen ein Objekt?!“ Nathalie, hiess dieses Mädchen vom Samstag also, dachte Lauren unterdessen. Insgeheim freute sie sich darüber, dass Collin Lauren den Vorzug gab. Lauren Newcole zu verschmähen sollte ein normalsterblicher Junge nämlich nicht so schnell wagen.
Ihr Inneres wurde erschüttert von gemischten Gefühlen. Wie konnte man jemanden gleichzeitig so sehr verabscheuen und so attraktiv finden? Lauren hasste sich inbrünstig für ihre fehlende Kontrolle. Noch nie hatte sie einen Jungen den ersten Schritt machen lassen. Normalerweise war sie – ihrer Meinung nach aus gutem Grund – wählerisch, was potentielle Freunde betraf. Wer brauchte schon ein unnötiges Anhängsel, wenn es auch ohne ging? Collin warf diese Prinzipien gerade gehörig über den Haufen. Warum also lehnte sie sich also nicht gegen sein selbstbewusstes Getue auf und verdrängte ihn samt Rose einfach aus ihrem Leben? Weil ich es einfach nicht über mein Herz bringe, dachte Lauren betrübt.
„Objekt oder Mädchen – was gibt es da schon gross für einen Unterschied?“ Collin grinste amüsiert, als Lauren ungläubig aufkeuchte.
„Du selbstverliebter, nichtsnutziger Trot…“ –
„Nichtsnutzig würde ich mich nicht gerade nennen. Ich kann dir die Kunst des Küssens beibringen und gebe ausserdem eine äusserst attraktive Begleitung ab. Grundsätzlich profitieren wir beide von diesem Zusammenschluss“, sagte Collin gerade ungerührt.
„Worin besteht denn bitteschön mein Profit?“ Schäumend vor Wut dröhnte Laurens Stimme durch die winterkalte Luft.
„Du wirst nicht länger von kleinen, milchgesichtigen Bengeln angesprochen. Du bekommst Rosen geschenkt. Du brauchst dir nicht länger über schlaflose Nächte Sorgen zu machen, da ich künftig dein Traumobjekt darstellen werde.“, zählte Collin auf. Sie befanden sich nun unmittelbar vor der Sporthalle am nördlichen Ende des Internatareals. Das Gebäude ragte bis weit über ihre Köpfe. Mit der weissen Farbe und der eckigen Form wirkte es wie ein Sahneklotz. Doch jeder im Internat wusste, dass die Sporthalle trotz der starren Form aussergewöhnlich gut ausgestattet war. Das Edward Steppfield Internat bedeutete immer ein beliebter Austragungsort während der Fussballsaison. Zu diesen Zeiten war die Halle bis auf den letzten Platz gefüllt. Bereits heute, kurz vor Saisonbeginn, drang ungewöhnlich viel Lärm aus der Halle nach draussen. Obwohl es bereits zehn nach fünf war, schien das Training noch nicht begonnen zu haben, die Spieler noch mit einigen Spässchen beschäftigt zu sein.
„Ich würde dich am liebsten erwürgen“, flüsterte Lauren drohend.
„Ich würde dich hingegen am liebsten küssen. Ich schätze, da müssen wir noch nach einem Kompromiss suchen.“ Collin begann mit einer von Laurens dunklen Haarsträhnen zu spielen, während er siegessicher einen Schritt näher trat – ihr nun zugewandt – und sie aus dem Klammergriff entliess. „Wie entscheidest du dich?“
Lauren wagte es nicht zu atmen, geschweige denn sich zu bewegen, obwohl sie nun eigentlich frei war.
„Ich habe wegen dir eine Verabredung versäumt und bin zu spät dran. Zudem verwüstet nun diese dämliche Rose optisch gesehen meine schöne Zimmerhälfte. Und du erwartest zum Dank tatsächlich einen Kuss?“, brachte Lauren schliesslich mühsam hervor.
„Ohne Zunge würde mir vollkommen ausreichen.“, antwortete Collin. Doch statt Laurens Reaktion auf seine unverschämten Worte abzuwarten, trat er ein paar Schritte zurück. „Für alle diejenigen, die es vergessen haben: Ich bin Teil des Fussballteams und sollte mich jetzt wohl schleunigst umziehen. Ja, und auch ich bin zu spät. Aber keine Bange: Ich kann dich auch von weitem mit meinen Blicken verführen, während du Dominics Muskelspiel zuschaust.“
Unwillkürlich horchte Lauren auf. Wie um Himmels Willen hatte sie das bloss vergessen können? Kalt erwiderte sie: „Tu, was du nicht lassen kannst. Ich bin froh, wenn ich dich los bin.“
„Vielleicht können wir ja dann unser zweites Date im Gegenzug etwas intimer gestalten?“
„Verschwinde!“, fauchte sie zum zweiten Mal an diesem Tag ungewöhnlich aufgebracht. Innerlich fragte sich Lauren noch immer: Wie hatte ich bloss vergessen können, dass dieser verlogene Charmebolzen Fussball spielt? Wie nur? Hatte er mich wirklich so mit seinen Worten aus der Bahn geworfen, dass es mir nicht auffiel, dass er eigentlich längst in der Sporthalle hätte sein sollen? Möglichst unbeschwert lächelte sie ihm entgegen. „Wie ich schon sagte: In deinen Träumen. Und – da kannst du sicher sein – in meinen werde ich mich garantiert nicht mit dir abmühen, Milchgesichter hin oder her.“
„Das werden wir alles noch sehen. Warts erst mal ab! Und bis dahin – lass die Rose als Zeichen unserer Zuneigung blühen.“ Und mit diesen Worten wandte Collin ihr seinen – leider – sehr attraktiven Rücken zu und machte sich mit lockerem Schritt in Richtung Hintereingang des Gebäudes davon, wo ihn mit Sicherheit eine deftige Standpauke des Coaches erwartete. Während Laurens Blick über Collins Gestalt huschte, stellte sie beruhigt fest, dass er keine Tasche bei sich trug, seine Sportkleidung also bereits in der Umkleidekabine verstaut haben musste. Das hiess wiederum, dass Lauren diesen entscheidenden Hinweis nicht einfach übersehen hatte – er hatte ganz bewusst vor ihr zu verschweigen versucht, dass er Teil des Fussballteams war. Und natürlich war die sonst so vorsichtige und kontrollierte Lauren glatt in die Falle getappt und hatte sich von ihm zu dieser Halle verfrachten lassen, vor der sie nun vollkommen alleine und veräppelt stand. Collin hatte sie hinters Licht geführt und Lauren hatte dies allen Ernstes zugelassen. Denn nie und nimmer wäre Collin fähig, eine normale, monogame Beziehung zu führen, selbst wenn das Mädchen dabei so umwerfend wie Lauren aussah. Nur teilweise befriedigt, stellte Lauren fest, dass sie zumindest so viel Mut bewiesen hatte, dass sie ihm sogar gleich zwei Mal ein „Verschwinde!“ an den Kopf hatte werfen können.
Mit chaotischen Gedanken machte sie sich schliesslich auf, das Gebäude zu betreten, um einen Sitzplatz zu ergattern, ehe ihre zittrigen Beine ihr jeglichen Stand verweigerten. Dass Lauren Newcole zu solch einem nervösen Ding mutieren konnte, hätte sie nie für möglich gehalten. Erneut verfluchte sich Lauren selbst, doch schaffte es trotz grösster mentaler Anstrengung nicht, Collins amüsiertes Lächeln aus ihrem Gedächtnis und ihrem heftig pulsierenden Herzen zu verdrängen.
Kurzentschlossen hielt sie in ihrer Absicht inne. Sie war eindeutig nicht mehr in der Stimmung, dem Training ihres Bruders beizuwohnen und somit den unverhohlenen Blicken seitens Collin ausgeliefert zu sein. So drehte sich Lauren um und machte sich auf den Rückweg zum Schlafgebäude.
„Wie war das noch gleich? Lauren ist ein pünktlicher Mensch?“, äffte Becky ihre grosse Schwester Juliane entnervt nach. Kurzentschlossen wandte sie sich um und machte sich selbstständig auf den Weg zur Halle, ihre protestierende Schwester missachtend.
Juliane seufzte ein letztes Mal schwach, ehe sie hinter Becky hersputete. Für ein 14jähriges Mädchen hatte sie ein ganz schönes Tempo vorgelegt. „Reg dich nicht auf“, meinte Juliane kurzangebunden, als sie zu Becky aufgeschlossen hatte. In ihr selbst sah es jedoch wesentlich weniger ruhig aus. Warum um Himmels Willen musste sich Lauren genau heute verspäten? Immerhin war der grosse Moment gekommen: Sie würde Dominic erstmals beim Fussballspielen zuschauen. Wie verhielt man sich als Freundin eines Fussballspielers, wenn man nicht als Cheerleader abgestempelt werden wollte? Leider gab es keinen Kodex dafür, dachte Juliane mit Anflug von Verzweiflung. So viel sie bisher hatte in Erfahrung bringen können (sie hatte in den vergangenen Tagen dazu extra einige Teenie-Bücher zur Hand genommen und darin gestöbert, was so gar nicht ihr Ding war), war man entweder ein Cheerleader oder man wohnte einem Fussballtraining gar nicht erst bei. Juliane hatte sich händeringend für ersteres entschieden. Und was war passiert? Lauren hatte sie ohne Entschuldigung im Stich gelassen. Lediglich ihre kleine Schwester war ihr an Gesellschaft geblieben. Und was sie erst für eine Gesellschaft darstellte…! Becky war das Sinnbild für einen heranreifenden Teenie, der jedem hübschen Jungen drei Mal hinterher starrte. Insbesondere Dominic. Nein, Beckys Schwärmerei für Dominic war wirklich nicht zu verleugnen.
„Ich freue mich wirklich darauf, Dominic in Fussballkluft zu sehen.“ Becky grinste schurkisch, während ihr Blick provozierend auf ihre grosse Schwester gerichtet war. „Vielleicht kannst du mir ja ein wenig beschreiben, was ich gleich zu Gesicht bekommen werde? Nur, damit ich nicht sofort an Herzversagen sterbe.“
„Was soll denn das wieder bedeuten?“ Juliane ahnte, dass das diabolische Aufblitzen in Beckys Augen nichts Gutes bedeuten konnte.
„Ach Schwesterchen.“ Becky schüttelte auf eine Weise den Kopf, die Juliane stark an die erzieherische Art ihrer Mutter erinnerte. „Dominic hat einen Astralkörper. Denkst du, dass die Mädchen zum Fussballtraining wegen des Spiels kommen? So naiv kannst du doch bitteschön nicht sein.“
Verständnislos legte Juliane den Kopf schief. Ihr gefiel das Gesprächsthema so ganz und gar nicht.
„Sie sind dort, um die Jungs zu bewundern. Fussballspieler sind scheinbar besonders hübsch und charmant. Das solltest du eigentlich am besten wissen, nachdem du dir einen geangelt hast.“ Beckys Grinsen schwoll an. „Ich kann immer noch nicht glauben, dass du und Dominic Speichel austauscht“, seufzte sie schwärmerisch.
„Becky!“, gebot Juliane ihrer Schwester Einhalt. Ihre Wangen glühten vor Verlegenheit.
„Ich bin noch nicht fertig“, meinte Becky ungerührt. „Worauf ich vorhin nämlich hinauswollte: Du kennst seinen Körper. Also warn mich vor, damit ich nachher nicht in Ohnmacht falle. Das kommt nämlich nicht gut an und ich will mein erstes Semester an der Oberstufe im Sommer nicht mit diesem Schandfleck auf meinem Steckbrief starten.“
„Niemand kümmert sich um Schandflecke auf deinem Steckbrief, Becky.“ Erleichert gewahrte Juliane die Sporthalle unmittelbar vor ihnen. Würden sie erst einmal in der Menge der Zuschauer untertauchen, würde Becky es garantiert nicht mehr wagen, so schamlos zu reden. Dazu war ihrer Schwester ihr Image einfach zu wichtig.
„Das ist vielleicht bei dir der Fall, Juls. Aber du hast auch so viele Schandflecke, dass nicht einmal ein Perlweiss-Mittel dir helfen könnte. Ich kann hingegen noch versuchen, in die oberste Liga der Mädchen aufzusteigen und die Ehre der Pipers zu retten.“ Becky erklärte dies mit einer Überzeugung, dass es Juliane schauderte.
„Die oberste Liga? Das wären dann wohl die grössten Zicken dieser Schule.“
„Ich kann durchaus eine Zicke sein“, erwiderte Becky schmollend.
„Ich weiss.“ Juliane schüttelte ungläubig über die Worte ihrer Schwester den Kopf. Seit Becky ihren Gameboy nicht mehr hatte, schien sie es plötzlich darauf angelegt zu haben, ihre Popularität um alle Mittel zu steigern. „Woher soll ich übrigens Dominics Körper kennen?“, fragte sie zaghaft. Sie traten gemeinsam durch den arkadenförmigen Eingangsbogen. Sofort dröhnten Juliane die verschiedensten Stimmen in den Ohren.
„Willst du damit etwa sagen, du hattest noch nicht die Ehre, ihn in einem Hauch von Nichts zu bewundern?“ Beckys Augen waren gross, als entschied die Antwort zu dieser Frage über den Fortgang ihres Lebens.
„Mhm.“, grunzte Juliane unsicher. Dominic in einem Hauch von Nichts? Juliane schauderte es bei diesem Gedanken. Was erwartete ihre Schwester da bloss von ihr? Dass sie ihrem Freund abends auflauerte? Oder etwas noch Verwegeneres? Juliane beschloss, nicht daran zu denken. Sie richtete ihre Gedanken dem Jetzt zu und liess ihren Blick über die Tribüne fahren, die sie gerade emporstiegen.
Erleichterung machte sich in ihr breit, als sie entdeckte, dass verhältnismässig wenige Schüler den Weg zur Halle gefunden hatten. Dass von diesen Schülern rund ¾ dem weiblichen Geschlecht angehörten, versuchte Juliane krampfhaft dem Zufall zuzuschreiben.
Die Halle selbst war in den Farben ihrer Schule gehalten: Blau und weiss leuchtete die Tribüne über ihnen auf. Ein Blick auf das Spielfeld selbst genügte, um über die Grösse davon erstaunt die Augen aufzureissen. Allerdings, so wusste Juliane, war diese Grösse notwendig, um das fehlende Grün während der Wintertrainingsstunden zu kompensieren – immer wieder regten sich Schüler darüber auf, dass es die Fussballwiese in der kältesten Jahreszeit nicht vor Frost und Schnee geschützt wurde. Doch die Schulverwaltung hatte sich stets dagegen gesträubt, noch mehr Aufwand für ihr Schulfussballteam zu tätigen. So musste die Fussballmannschaft der Schule im Winter mit einer modernen Halle vorlieb nehmen.
„Juls, weisst du eigentlich, dass du momentan das Gesprächsthema der Unterstufenschüler bist? Du hast ihnen imponiert.“
Juliane verdrehte genervt die Augen. Wenn es wirklich nichts mehr als einen gutaussehenden, populären Freund brauchte, um die Kleinen in Verzückung zu versetzen, so konnte das wirklich nichts Gutes bedeuten. Sie hoffte nur, dass dieses Gerede mit der Zeit verstummen würde. So sehr sich Juliane auch einredete, dass sie genug Mut besass, um das aufgeregte Flüstern hinter ihrem Rücken zu ignorieren – es kratze dennoch an ihrem Wohlbefinden. Sie hatte sich in den letzten Tagen stets angespannt gefühlt, Mut hin oder her. Sie musste also versuchen ihrem Mut-Abkommen noch mehr entgegenzukommen. Nur wie liess sich das einrichten?
„Das ist jetzt aber wirklich genug!“, unternahm Juliane einen ersten Schritt, um ihren Mut zu zeigen. Sie hatte es eindeutig satt, dass alle Menschen sie nur noch über das eine aushorchten. „Hast du nicht irgendein anderes Thema, über das wir reden könnten?“
„Abgesehen vom üblichen Klatsch?“, erwiderte Becky mit breitem Grinsen. „Nun, ich bin zur Überzeugung gelangt, dass du absolut verwirrt bist.“
„Wie das?“, fragte Juliane nur wenig interessiert. Sie hatte das Gefühl, dass das „neue Thema“ trotz allem auf das gleiche herauslief. Es schien, als würde Becky nicht so schnell nachgeben. Umso erschrockener war Juliane, als Becky ihr schliesslich die Begründung für ihre Überzeugung ablieferte.
„Du bist zu verwirrt, um dich bei Mam zu melden und erstaunlicherweise auch zu verwirrt, um auf einen ihrer vielen Anrufe zu reagieren.“
„Was…?“ Verwirrt hob Juliane die Augenbrauen. Sie stolperte beinahe über ihre eigenen Füsse, als Becky vor ihr plötzlich stehen blieb; sie befanden sich nun in der Mitte einer der zentral liegenden Tribünenreihen.
„Weil sie mich gestern angerufen hat und voller Sorge war. Kannst du mir bitte sagen, wenn sie das letzte Mal mich anrufen musste? Bisher warst immer du diejenige, bei der sie sich gemeldet hat, um ihr Gewissen darüber zu beruhigen, dass wir in einem Internat festsitzen. Du bist schliesslich auch die Ältere von uns beiden.“
„Oh“, rutschte es Juliane peinlich berührt über die Lippen. „Ich habe dieses ganze Prozedere wohl irgendwie vergessen.“ Sie schluckte den Kloss in ihrem Hals herunter, der sich bei Beckys Worten gebildet hatte.
„Und als nächstes erklärst du mir, dass du keine Ahnung hast, wie das passieren konnte?“ Beckys spitzbübisches Grinsen war im Einklang mit ihrer ironieumwölkten Frage.
„Ich habe es vor lauter anderer Dinge wahrscheinlich einfach verdrängt“, rechtfertigte sich Juliane lahm. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass Old Bernie eben die Halle betrat, im Schlepptau seine „Jungs“, wie er die Fussballspieler der Schule immer wieder gerne nannte. Und weil sie seine „Jungs“ waren, mussten sie auch sein launenhaftes Wesen in Kauf nehmen.
Juliane spürte augenblicklich, wie ihr Körper erbebte, als sie Dominic inmitten des Haufens gewahrte; er spässelte gerade eben mit Collin herum, der selbst aus der weiten Entfernung so zufrieden mit sich und der Welt wirkte, dass dies nicht nur auf Dominics loses Mundwerk zurückzuführen sein konnte. Doch Julianes Blick schweifte sofort zu Dominic zurück. Sie konnte ein schwärmerisches Lächeln nicht unterdrücken, rügte sich im nächsten Moment jedoch sofort dafür – Becky sollte bloss nicht noch mehr auf falsche Gedanken kommen.
Sei es die schwesterliche Intuition oder das nur kurzwährende liebestrunkende Lächeln, Becky hatte natürlich Wind von Julianes plötzlichen Herzrasen bekommen.
„So, so, du warst also beschäftigt?“, gab sich Becky wissend.
„Ich melde mich bei Mam, versprochen“, erwiderte Juliane seufzend.
„Fragt sich nur wann“, lautete Beckys Antwort, doch sie ging in einem gleichzeitig gesprochenen „Hallo“ unter. Die Stimme war Juliane nur allzu bekannt. Bereits im nächsten Moment erspähte sie Hailey am anderen Ende der Reihe. Sie winkte ihnen lächelnd zu, ehe sie sich an zwei langbeinigen Mädchen der Sorte „Zicke“ vorbeikämpfte, um zu Becky und Juliane aufzuschliessen.
„Wo habt ihr Lauren gelassen?“, sagte Hailey, als sie bei ihnen angekommen war.
„Das musst du sie fragen.“ Juliane zuckte müde die Achseln. „Ich habe keine Ahnung.“ In Gedanken nahm sie sich vor, ihre Zimmernachbarin später gründlich zur Rede zu stellen. Doch dieser Gedanke hielt nur so lange, bis ihr Augenmerk zurück auf Dominic fiel. Er erwiderte ihr Blick mit einer solchen Intensität, dass Julianes Haut begann zu prickeln.
„Na gut. Auf alle Fälle habe ich fest vor, Matt beim Training zuzuschauen, auch wenn Fussball absolut nichts für mich ist. Ich will mutig sein.“ Hailey Stimme ertönte wie aus weiter Ferne.
„Klingt gut“, keuchte Juliane abwesend. Sie blinzelte und als sie die Augen wieder öffnete, hatte sich Dominic abgewandt, um die letzten Anweisungen von Coach Bernie entgegenzunehmen.
Die nächste Stunde lief ungewöhnlich schnell an Juliane vorbei. Eher unbeteiligt folgte sie dem Trainingsablauf, sah, wie die Jungs ihre Runden liefen und anschliessend mit den Bällen jonglierten. Sie schaffte es trotz mehrerer Versuche nicht, ihren Blick von Dominic zu lösen. Selbst, als sie die Zuschauerinnen – vor allem die beiden langbeinigen Mädchen gleich neben ihnen – wiederholt jauchzen hörte, ruhte ihr Augenmerk unvermindert auf ihrem Freund. Ihrem Freund, sprach Juliane lautlos aus, während sie Becky leise zustimmen musste: Dominics muskulöser Körper wurde durch das Fussballtrikot und die Shorts hervorragend betont. Mit vor Stolz geschwellter Brust dachte Juliane erneut: Ja, das ist mein Freund.
Sie war so sehr in ihre Gedanken versunken, dass sie überrascht zusammenzuckte, als Dominic im Jonglieren inne hielt, nach dem Ball griff und sich in der Reihe eingliederte, die die Jungs nun ausbildeten.
„Showtime“, hörte sie Becky neben sich entzückt murmeln. „Jetzt gibt’s die Probeschüsse. Gleich werdet ihr sehen, wie gut sie wirklich mit dem Ball umgehen können. Unser Torwart ist astrein.“
Beckys Worte wurden dadurch unterstrichen, dass der Torwart – ein Junge mit rötlichem Haar und von hagerer Statur – den Torschuss des ersten Jungen in der Reihe mit einer Leichtigkeit verhinderte, dass ein paar der Zuschauer begeistert aufschrien.
Juliane spürte, wie die Spannung in ihr unwillkürlich wuchs, während sie Nummer zwei und drei bei ebenso erfolglosen Versuchen beobachtete. Bestimmt würde Dominic den Torwart überlisten. Oder doch nicht?
Nun war Collin am Zug. Er sagte etwas zu Dominic, worauf dieser amüsiert grinste. Schliesslich positionierte er den Ball auf der vorgegebenen Linie, liess sich kaum Zeit noch einmal durchzuatmen und zog ab. Wie in Zeitlupe nahm Juliane war, dass der eifrige Rothaarige nach dem Ball, der in das linke untere Eck vorstiess, hechtete. Mit Mühe und Not schaffte er es, den Ball mit den Fingerspitzen aus der Gefahrenzone zu schlagen. Juliane hörte Collin daraufhin genervt aufstöhnen. Als schien er jemanden zu erwarten, glitt sein Blick nur Sekundenbruchteile später über die Tribüne. Juliane ahnte, dass er nach dem nächsten weiblichen Objekt seiner Begierde Ausschau hielt. Sie lächelte ob diesem selbstbewussten Getue kopfschüttelnd in sich hinein.
Collin verzog den Mund, als er sich wieder abwandte, um Dominic aufmunternd auf die Schulter zu klopfen. Dominic nickte ihm zu. Er folgte Collins Beispiel und manövrierte seinen Ball auf die Linie. Irrte sich Juliane oder glitt sein konzentrierter Blick für die Dauer eines Wimpernschlags zu ihr? Ihr Herz klopfte augenblicklich schneller.
„Wie fühlst du dich, Schwesterchen?“, hörte sie Becky betont interessiert raunen.
„Absolut mies“, flüsterte Juliane zurück. Sie spürte intuitiv, dass es für die Jungs viel bedeutete, ihre Bälle im Tor zu verankern. Kurzentschlossen schloss sie ihre Hände zu Fäusten und begann die Daumen zu drücken.
Ihr Herz pochte ihr in ihren Ohren, als Dominic zum Schuss ansetzte. Mit geweiteten Augen folgte sie dem Ball, der durch die Luft und in Richtung des rechten oberen Ecks flog. Sie sah, wie der Torwart mit grosser Geschicklichkeit in die Höhe sprang, seine Arme reckte, sah, wie der Ball die Hände des Rothaarigen kurz berührte – nur um ihm dann zu entwischen und sich zielsicher im angestrebten Eck zu vergraben.
Applaus und überschwängliches Gekreische vermischten sich in Julianes dröhnenden Ohren. Ein Lächeln der Freude umspielte auch ihre Lippen, doch während Becky neben ihr entzückt auf und ab sprang, schaffte sie es nicht, auch nur einen Finger zu rühren. Regungslos, mit dümmlichem Lächeln beobachtete sie Dominic dabei, wie er von den Teamkameraden geneckt wurde und Collin ihn spierlisch bei den Schultern rüttelte.
Juliane konnte eigentlich ähnlich wie Hailey nicht viel mit Fussball anfangen. Dennoch war ihr bekannt, wie sich die Fussballer normalerweise selbst feierten, nachdem sie ein Tor erzielt hatten. Ja, sie wusste, dass die erfolgreichen Fussballer im Eifer des Gefechts schon einmal ihre Trikots hochzogen, um mit den versammelten Fans im Stadion und vor dem Fernseher ihre Freude zu teilen – auch wenn sie zu diesem Zwecke nackte Haut zeigen mussten. Trotzdem setzte Julianes Herzschlag für einige Sekunden aus, als Dominic es seinen Vorbildern gleichtat. Während die beiden Mädchen neben ihr noch lauter und hemmungsloser aufkreischten, spürte Juliane einen Stich in ihrem arg strapazierten Herzen. Sie hatte bisher nicht das Glück gehabt, wie es Becky ausgedrückt hatte, ihren Freund in einem „Hauch von Nichts zu sehen“. Das hatte sie nun eindeutig gerade unfreiwillig nachgeholt - und mit ihr die versammelte Zickenfraktion des Internats. Merkwürdigerweise machte ihr dies etwas aus, selbst wenn Juliane nie und nimmer zugegeben hätte, dass Eifersucht gerade überlebensgross in ihr brodelte.
Als Dominic sich schliesslich so weit beruhigt hatte, dass er das Trikot herunterzog und somit seinen durchtrainierten Bauch wieder verbarg, suchte sein Blick Juliane. Peinlich berührt senkte sie daraufhin die Wimpern, jegliche Spuren von Mut waren aus ihrem Körper gewichen. Ihr Lächeln erstarb.
„Das war doch grossartig, nicht?“, raunte Becky neben ihr bewundernd.
„Sicher.“ Doch nicht einmal Juliane selbst nahm sich den Wahrheitsgehalt dieser kurzen Antwort ab.
Als der Abend dämmerte, dachte Nicki mitnichten an die vielen kreischenden Mädchen in der Sporthalle. Demonstrativ hatte sie sich bereits nach Schulende die Schläfen gerieben und sich versprochen, dass die heutigen Schulstunden mit den tuschelnden Mädchen zwischen den Reihen und den hilflosen Lehrern genug an Tortur für den heutigen Tag gewesen war. Sie wollte sich den wesentlichen Dingen ihres Lebens zuwenden. Beziehungsweise dem wesentlichen Ding. Der französischen Sprache (wehe dem, der an etwas anderes gedacht hatte!).
„Ich lasse mich nicht ablenken. Ich bin mutig, aber ganz bestimmt nicht wagemutig oder verrückt. Oder zumindest nur teilweise.“, versuchte sich Nicki zu beruhigen, als die Tür zur Bibliothek aufschwang. Nein, sie würde gar nicht erst der Versuchung erliegen und einen Blick in die Reihe mit der Überschrift „griechische Literatur“ werfen. Nicht einmal einen kleinen Blick. Ganz abgesehen von einem klitzekleinen oder einem noch viel kleineren als klitzekleinen Blick!
Denn dann, so spürte Nicki, würde ihr Mut augenblicklich schwinden, ihr Herzklopfen jedoch ihre Ohren zudröhnen; sicher war Joonas zu dieser Zeit an einem Nachmittag in der Bibliothek. Wo sollte er sich sonst verstecken, wenn nicht hinter irgendeinem altbackenen Werk der griechischen Literatur? Sicher nicht in der Sporthalle. Bestimmt nicht. Wieso auch? Oder befände sich Joonas vielleicht gar nicht erst in der Reihe mit den griechischen Schmökern? Was, wenn er sich sonst wo herumtrieb – etwa eine Verabredung hatte? Verabredungen konnte man als Junge durchaus auch mit männlichen Geschlechtsgenossen haben, ermahnte sich Nicki. Man konnte sich zum Beispiel zum Fussballspielen verabreden. Möglicherweise hatte sich Joonas für Montag um 17.10 Uhr auch zum Lernen verabredet. Oder er hatte mit einem anderen Schüler der männlichen Hemisphäre verabredet, gemeinsam einen Spaziergang zu machen.
Nicki seufzte lauthals, nur um Sekunden später die Hand vor den Mund zu schlagen. Sie wusste selbst, wie abwegig ihre Ideen doch klangen. Joonas hatte mit einem Sportler ungefähr so viel gemein wie Nicki mit den anderen spindeldürren Internatsschülerinnen. Er war ein Einzelgänger, der also auch alleine lernte und sich nur bei Teilzeitidioten (nein, sie hatte Adam noch immer nicht ganz verziehen!) dazu herabliess, sich als Nachhilfelehrer engagieren zu lassen. Und so, wie die Lage momentan stand, würde Adam keine Nachhilfestunde mit Joonas arrangiert haben. Hightechgeräte konnte Nicki ebenfalls gleich abschreiben. Abgesehen davon, dass Joonas sicher nicht freiwillig auch nur die Tasten der Fernbedienung eines Fernsehers berührte, gab es an diesem Internat gar keine Extraleistungen dieser Sorte. Es blieb also lediglich zu klären, wie Joonas zu alltäglichen Dingen wie Spazierengehen stand. Nickis Befund: negativ. Das wiederum hiess, dass Joonas sich einfach in der Bibliothek befinden musste, vorzugsweise bei den griechischen Staubmagneten. Sollte Nicki nicht vielleicht doch einen kleineren als klitzekleinen Blick in die Regalreihe Nummer 3 riskieren, um sich in ihrer Vermutung abzusichern?
Tu dois apprendre français!, raunte ihre – zugegebenermassen gar nicht so dumme – innere Stimme in dem Augenblick, da Nicki diesen Gedanken zuliess. Verflixt! Was bedeutete „apprendre“ schon wieder? Nur Sekundenbruchteile dachte Nicki daran, endlich die Reihe mit der französischen Literatur aufzusuchen, um in einem der Fremdsprachenduden nachzuschlagen. Gleich im nächsten Moment verwarf sie diese Idee jedoch wieder. Das würde ihr nämlich die Bürde aufhalsen, zur von ihr heiss geliebten Bibliothekarin gehen und sich nach der Regalnummer erkundigen zu müssen. Viel zu mühsam! Ausserdem würde es so zu Verzögerungen kommen und Nicki könnte erst mit Verspätung einen Blick in Reihe 3 werfen. Doch Fakt war, dass Nicki nicht länger warten wollte, nicht länger warten konnte; ihr Herz drohte ihr soeben damit, in den Ruhestand zu treten. Und Nicki hatte vor, mindestens so lange zu leben, bis sie den Joonas’schen Mechanismus entschlüsselt und alle seine Funktionen vollständig kennengelernt hatte.
Umso sicherer fühlte sich Nicki deshalb in ihrem Entschluss, einen kleineren als klitzekleinen Blick in Regal 3 zu wagen. Französisch lernen könnte sie noch später – dann, wenn ihr Herz wieder im Normaltempo schlug, was bestimmt nicht in den nächsten zwanzig oder dreissig Jahren geschehen würde. Vielleicht auch später.
„Ich bin nicht wagemutig. Ich will lediglich noch nicht sterben. Pure Überlebensstrategie, also“, sagte Nicki gerade zu sich selbst, als sie in die gewünschte Regalreihe einbog. Prompt stolperte sie über ihre eigenen Füsse und fing sich nur mit äusserst holprigen Bewegungen wieder auf. Was natürlich einen Mordslärm veranstaltete.
„Hoppla“, kam es da sogleich vom anderen Ende der Reihe.
Vorsichtig hob Nicki den Blick, nun, wo sich ihre Beine wieder entwirrt hatten und sie wieder festen Halt auf dem Boden hatte. Ja, da gab es keinen Zweifel: Dieses gemeinerweise amüsiert ausgesprochene Wort entstammte Joonas‘ Mund; dieser kräuselte sich gerade zu einem ebenso amüsierten Lächeln. Wie Nicki beschämt feststellen musste, war Joonas‘ Augenmerk auf ihre Beine gerichtet. Erst nach einigen Sekunden driftete sein Blick von ihren Beinen zu ihren Augen. Augenblicklich erstarrte Nicki. Warum musste dieser Junge auch so unwiderstehliche eisblaue Augen haben?
„Ist was?!“, stammelte sie und legte ein wütendes Schnauben nach, um ihre brüchige Stimme zumindest etwas vergessen zu lassen.
Befand sie sich nicht sowieso schon viel zu lange in Reihe 3? Der kleinere als klitzekleine Blick war zwar gänzlich missglückt, aber er war auch passé. Das wiederum bedeutete für Nicki, dass sie sich nun lediglich brav umzudrehen und zu flüchten brauchte. Joonas konnte sie nicht einmal damit aufziehen – immerhin flüchtete sie nicht etwa, weil sie sich peinlich aufgeführt oder von Joonas‘ Blick wie verzaubert war. Nein! Sie flüchtete, weil das alles so geplant gewesen war. Punkt. Ausnahmsweise führte sie ihren ursprünglichen Plan in die Tat um, kehrte auf dem Absatz, stiess dabei gegen ein paar der griechischen Staubmagneten - die prompt zu Boden fielen, so aber zumindest, wenngleich unfreiwillig, entstaubt wurden – und wollte eben aus der Reihe rauschen, wenn denn ihr Temperament ihr keinen Strich durch die Rechnung gemacht hätte.
„Nicki? Täusche ich mich, oder hast du mittlerweile wirklich etwas für die Reihe mit der griechischen Literatur übrig? Nicht, dass du dabei jemals ein Buch dieser Sorte angeschaut hättest.“
Natürlich konnte Nicki dass nicht einfach so stehen lassen. „Wie meinst du das?“, fuhr Nicki ihn an, während sie sich Joonas wenig anmutig wieder zudrehte. „Und ich schau mir diese Staubm… diese Bücher durchaus an.“ Nur lesen tu ich sie nicht, führte Nicki in Gedanken aus. Damit ihre prickelnden Gliedmassen nicht unbeschäftigt blieben, liess sich Nicki auf die Knie fallen, um die verstreuten Bücher wieder einzusammeln. Obendrein hatte das den Effekt, dass sie reinen Gewissens die Bibliothek wieder verlassen könnte – und ohne von der Bücherfrau erdolcht zu werden. Beinahe, selbstverständlich nur beinahe, zuckte sie zurück, als Joonas sich zu ihr gesellte, um ihr mit den Büchern zu helfen.
Den Blick aufeinander gerichtet, beide auf dem Boden kauernd, meinte er schliesslich zu seiner Verteidigung: „Ich hab dich in letzter Zeit erstaunlich oft hier gesehen.“ Joonas liess keinen Zweifel daran, dass er mit „hier“ die Reihe 3 und nicht etwa die Bibliothek selbst meinte.
„Seit wann ist es denn verboten, sich für die griechische Literatur zu interessieren?“
„Ist es wirklich nur die griechische Literatur, für die du dich interessierst?“
Erneut traf Nicki dieser unbeschreibliche Blick aus eisblauen Augen. Wie gerne wäre Nicki Joonas bei diesen Worten doch in die Arme gefallen und hätte ergeben geseufzt. Aber nichts da! Nicole Mayer gab für gewöhnlich nicht einfach klein bei. „Ich wüsste nicht, was da sonst noch wäre. Warum bist du heute eigentlich so nicht-wortkarg?“ Als Joonas sie daraufhin mit diesem ernsten Ausdruck im Gesicht bedachte, den sie schon zur Genüge kennengelernt hatte, griff Nicki hastig nach dem letzten der Bücher – und streiften dabei Joonas‘ Finger, die ebenfalls nach dem letzten Staubmagneten hatten greifen wollen. Nicki zuckte zurück und kämpfte sich möglichst schnell auf die Beine.
„Seit mein Vater dich letzte Woche auf unerwartete Weise kennenlernen durfte und mich über dich… über uns ausgefragt hat.“ Joonas tat es Nicki gleich und stemmte sich in die Höhe. In seinen Händen wirkten die Bücher antik, aber wertvoll, während die Bücher in ihren eigenen Händen sich wie einfache Klötze anfühlten, stellte Nicki gerade zu ihrem Unmut fest.
„Was machen wir jetzt mit diesen Dingern?“ Nicki deutete mit einem Kopfnicken auf den Bücherstapel in ihren Armen und meinte dann möglichst gleichgültig: „Hat er das getan?“
„Wir legen sie zurück an ihren angestammten Platz.“, erklärte Joonas als spräche er zu einem Kleinkind. Noch unbeteiligter sagte er: „Das hat er. Als Direktor der Schule mischt er sich für gewöhnlich sehr gerne in jedermanns Angelegenheiten ein.“ Er machte den Anfang, indem er das oberste der antiken Werke seines Stapels in eine der Lücken bei „L“ schob.
„Mhm. Er muss mich wohl für völlig verrückt halten. Das wegen Dienstag tut mir übrigens Leid.“ Möglichst unbekümmert versuchte Nicki Tatendrang mit ihren Gesten zu zeigen und schob einen ihrer einfachen Klötze in die leere Stelle nebenan.
„Das gehört da nicht hin.“ Joonas liess Nicki nicht einmal die Zeit durchzuatmen, da hatte er bereits wieder nach dem plötzlich zum antiken Werk verwandelten Buch gegriffen und es bei „M“ verstaut. „Es ist nicht deine Schuld, dass mein Vater ein neugieriger Direktor ist.“ Ein schwaches Lächeln erschien auf Joonas Lippen, während er kurz den Blick Nicki zuwandte. „Was tust du denn jetzt eigentlich wirklich hier? Abgesehen vom Betrachten griechischer Literatur, natürlich.“
Nicki spürte ihr Herz rasen. Sie wagte es nicht zu sagen: Einen kleineren als klitzekleinen Blick auf dich werfen. Stattdessen meinte sie einigermassen wahrheitsgetreu: „Ich bin hier, um französisch zu lernen.“
„Französisch?“ Joonas fuhr augenblicklich in die Höhe. „Französisch?“, wiederholte er, in Nickis Augen und Ohren völlig überflüssigerweise.
Wie sollte sie seine Geste deuten? Als Zeichen der Anerkennung, der Bewunderung? Oder war es Spott und Unglauben, die er mit dieser Frage und der damit verbundenen Geste ausdrücken wollte?
„Französisch.“, erwiderte Nicki mit einem nachdrücklichen Nicken.
Nicki meinte, dass Joonas etwas auf der Zunge brannte, ja, er öffnete sogar bereits seinen Mund. Doch stattdessen fragte er (natürlich erneut völlig überflüssigerweise): „Was hast du dann bei der griechischen Literatur zu suchen?“
Na was wohl? Aber Nicki wusste, dass sie die Chancen verpasst hatte, vollkommen ehrlich zu ihm zu sein. Sie lächelte möglichst überzeugend. „Ich hab mir überlegt, ob mir Griechisch vielleicht nicht auch hilfreich wäre. Im späteren Leben und so, du weisst schon.“ Wie konnte sie sich bloss wieder aus dieser Situation rausreden? Nicki schluckte, still betend. Sie war zwar nicht die Frömmigkeit oder die Gläubigkeit in Person, aber sie glaubte zumindest, dass irgendein absolut männlicher Kerl für diese ganze Welt und ihre Insassen verantwortlich war.
„Willst du nach Griechenland?“
„Ich dachte dabei eher an ‚hilfreich‘ bezogen auf die griechische Literatur und so.“
Joonas begegnete ihr unverschämterweise mit einem fassungslosen Lachen. Es war eines der ersten Male, da sie Joonas so ausgelassen lachen hörte. „Es gibt gute deutsche Übersetzungen für das alles. Aber französisch und griechisch zu lernen ist sicher interessant.“
Interessant?!, dachte Nicki seufzend. Nein, nicht interessant, die absolute Tortur. Doch das brauchte Joonas nicht zu wissen. Genau so wenig, wie er davon wissen sollte, dass Nicki das alles nur für ihn tat. „Kannst du denn griechisch?“
„Nur ein paar Brocken. Es reicht gerade aus, um mir ein Glas Wasser bestellen zu können.“ Abwesend schaute Nicki Joonas dabei zu, wie er das letzte seiner Bücher im Regal verstaute und dann nach einem Buch von Nickis Stapel griff, um dem ihm zugesprochenen Platz zu finden. Natürlich fand er ihn prompt. Immerhin hiess dieser Junge Joonas und hatte die seltsamsten Vorlieben, die existierten. Und trotzdem schlug Nickis Herz schneller bei seinem Anblick.
„Danke“, murmelte sie schliesslich. Ihre Gedanken waren gerade drauf und dran sich zu einem entscheidenden Ganzen zu formen – einer selbstverständlich phänomenalen Idee. Warum fragte Nicki nicht einfach die Referendarin, ob sie ihr griechisch beibrachte? Und wenn sie gerade dabei war, vielleicht auch französisch? Damit konnte sie Joonas sicher imponieren und vielleicht auch bei seinem Vater in ein besseres Licht rücken. Und vielleicht könnte sie eines Tages sogar zusammen mit Joonas nach Griechenland reisen und dort gemeinsam mit ihm ein Glas Wasser bestellen…
Verwirrt stellte Nicki fest, dass sie begann zu träumen. Sie war keine Träumerin. Vielleicht eine Idealistin, aber ganz sicher verlor sie nie den festen Boden unter den Füssen, wie es die Träumerfraktion ständig tat. Nun, zumindest geschah dies bei ihr nur dann, wenn sich ihre Beine mal wieder zu einem Knäuel anordneten.
„Was hast du denn bereits alles gelernt? Abgesehen vom Schulfranzösisch.“
Mit diesen erbarmungslosen Worten riss Joonas Nicki augenblicklich aus den Gedanken. Sie landete in der harten Realität.
Sie beschloss, ihm nicht davon zu erzählen, dass sich ihr Schulfranzösisch auf „oui“, „d’accord“, „non“ und – am wichtigsten, da sie ihrem Lehrer stets so antwortete – „je ne comprends pas“ beschränkte. Stattdessen meinte sie vorsichtig. „Ähm… Also eigentlich war ich gerade auf dem Weg zum Regal mit dem ganzen Französischstoff, als ich zufälligerweise an diesem Regal vorbeikam. Und da dachte ich mir, dass ich eigentlich auch mit griechisch anfangen könnte. Das eigentliche Lernen folgt also erst noch.“ Puh, da hatte sie mit ihrer Erklärung gerade noch einmal die Runde gekratzt. Ihre zittrigen Finger begannen nun, da sie das Gewicht der Bücher nicht mehr trugen, mit ihren zahlreichen Ohrsteckern zu spielen. Nicki hoffte inständig, dass Joonas dieses Zeichen der Nervosität nicht auffiel. Aber das tat es ihm natürlich.
„Dann halte ich dich wohl gerade vom Lernen ab? Ich hatte sowieso vor, noch etwas in Tolstois Büchern zu stöbern. Dann lasse ich dich jetzt also alleine.“
Nein, geh nicht!, schrie Nicki innerlich. Denn wenn Joonas erst einmal weg wäre, gab es für Nicki keine Ausrede mehr, dass Lernen von Fremdsprachen auf die nächsten dreissig Jahre zu verschieben. Sie brauchte Joonas gerade eindeutig dringender als irgendein Tollstein es tat.
Doch statt zu protestieren, sagte Nicki nur schwach: „Sicher, tu das.“
„Du kannst mir ja dann sagen, wann du so weit bist, auf Griechisch ein Glas Wasser zu bestellen. Du weisst ja, wo du mich finden kannst.“ Zwinkerte Joonas ihr tatsächlich soeben zu?
„Wenn es dich wirklich interessiert, kannst du ja ausnahmsweise mal mich aufsuchen. Du weisst ja jetzt auch, wo du mich finden kannst.“
Joonas lachte erneut schallend. Was war heute bloss mit diesem Jungen los? Hatte ihn das ganze Gemurmel wegen dem Fussballtraining so aus der gewohnt ernsten Verfassung gebracht?
„Dann war es also doch nicht so zufällig, dass du heute hierher gekommen bist? Und die anderen Male davor?“
„Ich weiss nicht, von was du sprichst“, brummte Nicki miesepetrig.
„Schade.“
Schade?!
„Dann sieht man sich wohl mal bald wieder. Zufälligerweise, natürlich“, fügte Joonas an.
Sein Lächeln liess Nickis Kehle austrocknen, sodass sie nur schwach hustete und herauswürgte: „Wird wohl so sein. Und sag Chris Hallo von mir. Irgendjemand muss es ja tun und so, wie ich dich kenne, wirst es bestimmt nicht du sein.“ Erstaunlicherweise liess dieser Seitenhieb Nicki nicht besser fühlen. Es würde viel mehr brauchen, um Joonas zu zeigen, dass sie mehr an IQ als eine Eintagsfliege besass. Aber Nicki würde Joonas in den nächsten Wochen schon zeigen, wo der Hammer hing. Sie würde ihm zeigen, dass in ihr ein wahres Sprachgenie schlummerte. Selbst wenn es sie Nächte kosten würde, auf Griechisch ein Glas Wasser zu bestellen – sie wäre zu diesem Opfer bereit. Wer musste schon nachts schlafen, wenn man dies auch während des Unterrichts machen konnte?
Sie sehnte die Referendarin mittlerweile wirklich herbei. Immer mehr wurde sie zum tragenden Element für Nicki; sie würde dafür sorgen, dass Nickis Hirn mit Französisch- und Griechischvokabeln versorgt werden würde, wie normalerweise mit Sauerstoff.
Nicki konnte ja nicht ahnen, dass die neue Referendarin – Miriam Kevin – viel mehr dunkle Wolken als den märchenhaften Ritter auf dem Schimmel bedeuten würde. Oder zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
An die Echten Feigen und diejenigen, die keine mehr sein wollen :-)