Life is peachy with(-out) you
Band 1: Herbstnachtsträume
If there's a hole in your heart
You've gotta pull it together
It takes the courage to start
But now is better than never
It takes a push and a shove
Somehow it's never enough
And it's alarming how quick you could forget that
So smile right before you fall
And lay beside this mess and call it consequence
Somebody said that life isn't fair
When somebody else was saying a prayer
No one's taking me out
Nothing's pulling me down
I turn my head to the crowd
This love is big and it's loud
Nothing’s bigger than love
- My Favorite Highway “Bigger Than Love” -
Ein Semester am Edward Steppfield Internat konnte unglaubliche Gradwandlungen mit sich bringen. Hailey Summer hatte dies am eigenen Leib erfahren müssen, resümierte sie nun, als sie auch den letzten Pullover in ihrer Reisetasche verstaut hatte.
Würden ihre Grosseltern die vollbrachten Veränderungen von äusserem Auge erkennen können? Bald bereits würde dies Hailey erfahren. Sie hoffte nicht. Sie brauchte selbst Zeit, um zu verdauen, was geschehen oder auch nicht geschehen war. Lauren, Kaitlin, Nicki, Joonas, Adam, Juliane und Dominic – sie alle waren in diese Veränderungen involviert. Und natürlich Chris. Chris, der sie aufgefangen hatte. Chris, der sie fallen gelassen hatte. Chris.
Hailey schluckte ernüchtert, während sie nach der Tasche griff. Nur einen letzten kurzen Blick warf sie zurück in das Zimmer, das ihr beinahe ein halbes Jahr lang Obhut geboten hatte, dann trat sie hinaus auf den Gang. Nach dem Chaos der letzten Tage war nun Ruhe eingekehrt, die Hailey bis tief in die Glieder frösteln liess.
Es war also wirklich soweit – Hailey trat ihre Rückreise an. Weihnachten war tatsächlich bereits gekommen. Sie vermochte es selbst kaum zu glauben. Doch passierte sie ein weiteres Mal die im Internat verbrachte Zeit in Gedanken, erschien dies zumindest etwas plausibler. Erneut stand Hailey ein Aufbruch bevor. Aber bevor sie nach draussen in die Kälte trat, liess sie es ein letztes Mal zu, Revue passieren zu lassen, was das letzte Semester ihr alles geboten hatte …
4 Monate zuvor
(1) - Aufbruchsstimmung –
Es war wirklich kein Geheimnis, dass der Sommer endgültig vorüber war. Der Duft von Sonnenlotions wurde nun zunehmend von dem welkenden Laubes überdeckt. Übersäht von blutroten und honiggelben Flecken tanzten die Blätter sanft im Takt des Windes. Irgendwo in den Wipfeln der Tannen krähte ein Rabe seine Melodie, die von Melancholie erfüllt war. Leise sang er von der Vergänglichkeit, die sich wie unsichtbarer Dunst über das Land geschlichen hatte und unaufhaltbar auf die angekündigten Veränderungen hindeutete.
Der Tag neigte sich seinem Ende zu, die Dämmerung machte sich daran einzusetzen. Einer Feuerkugel gleich präsentierte sich die Sonne in ihrem abendlichen Antlitz, langsam hinter den zerklüfteten Hügeln schwindend. In Kürze würden die leuchtenden Kupfertöne durch das Grün der Wiesen erstickt worden sein.
Hailey Summer betrachtete unruhig das Schauspiel, das die Natur ihr bot. Bald schon, so wusste sie, würde sie den Himmel von einem anderen Flecken Erde aus beobachten müssen. Sie hatte gedacht, ebenfalls von der Melancholie gefangen genommen zu werden, nun, da sie dem Spektakel ein letztes Mal ihre Aufmerksamkeit widmete. Doch sie nahm nur eine merkwürdige Leere wahr, die sich von der Magengegend bis über ihr Herz ausgebreitet hatte.
„Jetzt ist es also soweit.“ Ihre Stimme klang heiser. Sie war alleine – das erste Mal in ihrem bisherigen Leben. Es schien ihr beinahe absurd, als sie daran dachte, wie schnell der Sommer dem Herbst gewichen war. Es musste Anfang Juni gewesen sein, als sie hier, in diesem kleinen Dörfchen, mitsamt ihrer ganzen Garderobe und persönlichen Wertgegenständen ihren ersten Atemzug in fremder Umgebung genommen hatte. Sara, ihre kleine Schwester, hatte an diesem Tag schrecklich geweint und ihre Arme mit geballter Kraft um ihre Mutter geschlungen. Dennoch hatten ihre Eltern noch am selben Abend das Dorf und somit auch ihre Kinder verlassen. Wie lange war es her, da ihre Eltern ihr mitgeteilt hatten, dass sie nach Kenia gehen würden? Als Archäologen, so war Hailey stets bewusst gewesen, zeigten sich oft Schwierigkeiten, Beruf und Privatleben miteinander zu verbinden. Niemand konnte ahnen, wo die nächsten Ausgrabungen ihren Einsatz forderten. So gesehen hatte es bereits schon als Wunder gegolten, dass ihre Eltern 16 Jahre das Land nicht hatten verlassen müssen. In diesem Sommer aber war dieser Zeitpunkt gekommen und somit auch der Augenblick des Abschiedes. Hailey wusste nicht, wie lange sie auf ein Wiedersehen würde warten müssen. Sie hatte den Sommer über bei ihren Grosseltern verbracht, hier, in diesem kleinen, bescheidenen Dorf. Jeder kannte an diesem Ort jeden und jeder kannte die Geheimnisse des anderen – so hatte es Hailey in den vergangenen Wochen erleben müssen. Doch mit dem Herbst war erneut die Zeit für einen Abschied gekommen – ihr eigener, wie ihr Unterbewusstsein ihr unentwegt zuraunte. Was sollte sie von einem Eliteinternat halten, wo doch ihre Eltern in ihren alten Kleidern irgendwo im Dreck wühlten? Es schien einer verkehrten Welt gleich, aber war es der ausdrückliche Wunsch ihres Vaters gewesen, ihr eine gute Zukunft zu ermöglichen. Eine saubere Zukunft, wie sich Hailey mit dem Anflug eines Lächelns an die Worte ihres Vaters erinnerte.
Ein Klicken ertönte. Die Strassenlaterne, die - ihrem Namen trotzend – am Wegrand eines schmalen Pfades angebracht worden war, verströmte nun flackernd ihr Licht. Der Abend war eindeutig angebrochen.
Schnell warf Hailey einen Blick auf die Uhr, um sich zu versichern, dass sie nicht zu spät war. Es blieben ihr noch einige Minuten, wie sie erleichtert feststellen konnte. Vielleicht wäre eine Autofahrt zur örtlichen Bushaltestelle bequemer gewesen, doch Hailey hatte es nach grosser Anstrengung geschafft, ihre Grosseltern von der Idee abzubringen, ihre Enkeltochter mit ihrem alten Auto aus dem vorangegangenen Jahrhundert vor das Schild mit der Aufschrift ‚Bushaltestelle’ zu verfrachten. Sie hasste Abschiede und dementsprechend hatten ihr die letzten Stunden stark auf die Nieren geschlagen. So hatte sich Hailey zwar in die Lage gebracht, ihr gesamtes Gepäck über einen Fussmarsch von zehn Minuten selbst tragen zu müssen, gleichzeitig hatte sie aber auch die tränenreichen Umarmungen vorverschieben können.
„Pass auf dich auf und sag dem Busfahrer, er soll vorsichtig fahren.“ Ihre Grossmutter hatte mit tränennassen Wangen ein Taschentuch gezückt und sich die Augen getupft.
„Chauffeur und nicht Busfahrer, meine Liebe.“ Ihr Grossvater hatte hingegen stirnrunzelnd die Arme verschränkt. „Dass dein Vater wirklich wollte, dass du dorthin gehst. Die Schule hier ist vielleicht klein, aber durchaus gut.“
Hailey hatte nichts darauf erwidert. Mit mulmigem Gefühl im Magen hatte sie kaum merklich genickt. Nie in ihrem Leben wäre ihr auch nur der Gedanke gekommen, dass ein schuleigener Bus sie zu dem Internat bringen würde – ihr neues Zuhause -, doch hatte sie in den letzen Tagen erfahren, dass auch diese Dienstleistung zu den Angeboten einer Eliteschule gehörte. Kopfschüttelnd zwang sich Hailey dazu, die Gedanken an den Abschied zu verdrängen. Sie musste jetzt all ihre Konzentration auf ihre neue Schule richten.
Endlich hatte sie die schmale Strasse erreicht, die nur selten benutzt wurde. Mitten am dünnen Gehsteig entdeckte Hailey schliesslich das Schild. Heftig keuchend liess sie sich auf ihrem viel zu grossen Ziehkoffer nieder. Wessen Idee war es bloss gewesen, ihre gesamte Garderobe samt beim Waschen geschrumpften T-Shirts und viel zu enge Jeans mitzunehmen? Nicht zu vergessen die leuchtend pinke Pyjamahose, die ihr vielleicht als fünfjährige noch gepasst hatte. Dies hatte sich nun eindeutig als ein grosser Fehler entpuppt.
Doch wie ihr das Dröhnen eines Motors verriet, das nur Sekunden später die Stille erstickte, blieb Hailey keine Zeit, ihre Gedanken solch belanglosen Dingen zuzuwenden. Lange Schatten verrieten den Bus, der gerade eben in Haileys Blickfeld aufgetaucht war. Laut Angaben ihrer Grosseltern war der Bus den ganzen Tag durch verschiedene Landschaften gefahren, um neue Schüler abzuholen und sie am Sonnabend wohlbehütet im Internat abzuliefern. Gegen halb acht abends gäbe es dann eine Begrüssungsrede des hiesigen Direktors und am nächsten Morgen würden die restlichen Schüler eintreffen. Um zehn Uhr beginne schliesslich der Unterricht nach Stundenplan. Wie Hailey wusste, teilte sie sich ein Zimmer mit einem Mädchen aus dem Norden. Und obwohl sie dem Internat zu Beginn sehr skeptisch gegenüber gestanden war, spürte sie nun doch leise Freude für das Neue in sich aufkeimen - das ungeduldige Kribbeln hatte sich bereits über ihren ganzen Körper verteilt. In Gedanken versunken nahm sie nicht wahr, wie viele Sekunden wiederum verstrichen, ehe der Bus ratternd vor ihr zum Stehen kam. Eine Tür am vorderen Ende des Wagens öffnete sich, durch die nun ein burschikoser Mann trat; die Arme muskulös, breite Schultern, dafür ein umso dünnerer Hals.
„Sie sind also der Busfahrer?“ Hailey hatte das Bedürfnis gehabt, etwas zu sagen, was sich ihr jetzt eindeutig als Missgriff darstellte.
„Chauffeur“, berichtigte sie der Mann sogleich, sein Blick wurde kühler, als fühlte sich der Mann in seiner Würde verletzt. Welcher Chauffeur wollte schon mit einem Busfahrer verglichen werden?
„Gut.“ Schon wieder war ihr Mundwerk schneller als ihr Verstand gewesen. Verlegen trat Hailey von einem Bein auf das andere. „Damit will ich wirklich nicht sagen, dass das schlecht wäre, weil ein Chauffeur nämlich durchaus viel können muss. Also Autofahren…und so. Busfahren wohl auch.“ Hailey deutete mit zittrigen Fingern auf das Verkehrsmittel vor ihr. „Und wie steht’s mit Motorradfahren?“ Es dauerte einige Sekunden, ehe Hailey bewusst wurde, was sie eben gesagt hatte. „Vergiss es.“, fügte sie schüchtern nickend an. „Vergessen Sie es, wollte ich sagen. Egal.“
Der Mann ihr gegenüber lachte nicht. Er beobachtete Hailey reglos, ehe er selbst zum Sprechen ansetzte. „Dein Name?“
„ Hailey…Summer.“ Insgeheim gab sie der Situation, in der sie sich nun wiederfand, die Schuld an ihrem unsicheren Auftreten - noch nie hatte sie sich alleine auf Reisen begeben.
„Reihe 12, Platz am Fenster.“ Der Mann hatte nach einer Liste gegriffen, nickte dann zufrieden. Anscheinend unsicher, was das Mädchen nun ausbrüten würde, griff er mit dem einen Arm nach dem Koffer, während er Hailey mit der anderen Hand in Richtung Tür dirigierte.
Im Bus war das Licht nur gedämpft. Kleine Glühbirnchen, die über den Sitzen befestigt worden waren, wiesen Hailey den Weg durch den Bus. Auf beiden Seiten fanden sich jeweils zwei Sitze, die nur durch einen schmalen Gang voneinander getrennt worden waren. Am Boden klafften in weisser Schrift Zahlen, die – wie Hailey ahnte – die Reihennummern angaben. Während Hailey sich den Weg zu ihrem Sitz bahnte, fiel ihr Blick auf neugierige Paar Augen - meist handelte es sich um Kinder im Grundschulalter, die das Mädchen nun interessiert betrachteten. Obwohl Hailey wusste, dass das Internat die Grundschulklassen und höheren Semester vereinte, erstaunte sie der Anblick der Kinder. Wie wäre es wohl für sie gewesen, in diesen jungen Jahren von ihren Eltern getrennt zu werden?
Weiter hinten entdeckte sie schliesslich die älteren Schüler. Erstaunlicherweise war der Bus jedoch erfüllt von einer Stille, die in keiner Weise auf die Anzahl Internatschüler in diesem Bus hindeutete; viele hatten sich hinter Büchern vergraben oder dösten leise vor sich hin.
Vor ihr auf dem Boden erspähte Hailey die Ziffern 1 und 2. Ihr Blick wandte sich nun in Richtung der Sitze, die dieser Reihe angehörten. Es gab zwei Fensterplätze, doch da einer davon bereits von einem Mädchen in Beschlag genommen worden war, erübrigte sich für Hailey die Frage. Sie richtete sich nach rechts und entdeckte eine Gestalt, die im Halbdunkel verborgen blieb; das Glühlämpchen über ihrem Kopf war entweder defekt oder gewollt ausgeschalten geblieben.
„Dürfte ich?“ Wie Hailey verärgert feststellen musste, war ihre Stimme noch immer heiser.
Mit einem Klicken flutete das schwache Licht der Glühbirne plötzlich über die beiden Sitze. Die Gestalt, die sich eben noch im Halbdunkel versteckt hatte, entpuppte sich nun als Junge, der ein Buch aufgeschlagen in seinen Händen hielt. Hailey schätzte, dass er nur geringfügig älter als sie selbst sein musste. Sein halblanges Haar erschien in dem gedämpften Licht der Glühbirne fast schwarz, die ebenso dunklen Augen verrieten nichts über ihn. Wäre nicht das unverkennbare Funkeln in ihnen zu erkennen gewesen, hätte Hailey geglaubt, er hätte ihre Anwesenheit nicht wahrgenommen. Alles in allem wirkte er verwegen.
„Hi.“ Irrte sie sich, oder deutete der Klang ihrer Stimme darauf hin, dass sie noch heiserer geworden war?
Sie spürte, wie sich ein Kribbeln über ihr Körper ausbreitete, als der Junge sie mit seinen dunklen Augen aufmerksam und unverhohlen musterte – Hailey schaffte es nicht, etwas in dem Blick zu lesen.
„Hallo.“ Breitwillig erhob er sich nun, damit Hailey sich an ihm vorbei auf ihren Platz drängen konnte. Er war über einen Kopf grösser als das Mädchen, sein Körper schlaksig, aber zugleich von breitschultriger Statur. Hailey roch den Duft von Shampoo und Pfefferminze, zugleich meinte sie jedoch, den Geruch von Zigaretten Tabak wahrnehmen zu können. Verlegen fuhr sie sich durch das Haar.
„Es ist normalerweise nicht meine Art, mich einem Jungen gleich so um den Hals zu werfen“, murmelte sie, als sie sich schliesslich in ihrem Sitz fallengelassen hatte. Bildete sie sich das nur ein, oder war es in diesem Bus fast schon unerträglich heiss?
Der Junge hatte sich ebenfalls gesetzt. Von ihrer Neugier getrieben wagte Hailey einen zweiten Blick. Unmittelbar spürte sie, wie sie sich von ihm angezogen fühlte. Der Junge besass eine unbeschreibliche Ausstrahlung; nachdenklich und geheimnisvoll, sich zugleich aber seiner irritierenden Ausstrahlung bewusst. Verärgert über ihre Gedanken, schüttelte Hailey den Kopf und versuchte den Anblick des Jungen aus ihrem schneller schlagenden Herzen zu vertreiben. Stattdessen versuchte sie krampfhaft, ihre Gedanken zurück auf das Internat und die Fahrt dorthin zu richten. Doch es war bereits zu spät.
Der Junge schien ihren starren Blick bemerkt zu haben und hob zögernd den Kopf. Schelmisch grinste er sie nun an. „Muss man nicht zuerst die Arme um die andere Person schlingen, damit man davon sprechen kann, dass man sich jemandem um den Hals wirft?“
„Wahrscheinlich“. Wahrscheinlich?! Eine nicht gerade originelle Antwort, wie Hailey beschämt bewusst wurde. Sie spürte, wie Hitze in ihren Körper stieg. Während sie versuchte, ihre glühende Haut mit den erstaunlich kalten Handflächen abzukühlen, zwang sie sich zu einem Lächeln. „Was liest du da?“ Sie deutete mit einer schwachen Kopfbewegung in Richtung des Buches, das er noch immer aufgeschlagen in seinen Händen hielt.
„Tolstoi.“ Der Junge hatte seinen Blick noch immer nicht abgewandt; unvermindert interessiert betrachtete er nun Hailey.
„Alte Literatur, also.“
„Alt, aber zugleich zeitlos. Allerdings bin ich vor deinem plötzlichen Auftauchen wohl oder übel kurz eingenickt.“
„Aha.“ Hailey räusperte sich leise. So sehr sie sich auch darum bemühte - sie schaffte es einfach nicht, einen vollständigen Satz zu bilden. Warum musste ihre Stimme denn auch so unmenschlich heiser klingen?
Einige Minuten des Schweigens folgten, während sie sich bemühte, kluge Worte zu sammeln, um die Konversation aufrecht zu erhalten. „Holen wir noch andere ab?“ Eine dämliche Frage in Anbetracht der langen Bedenkzeit, die sie sich genommen hatte.
Ungläubig über ihre eigene Dummheit schüttelte sie kaum merklich den Kopf. Doch der Junge schien keineswegs genervt, stattdessen begann er sie erneut aufmerksam zu beobachten – das Kribbeln, das eben noch für Haileys Unsicherheit für das Neue gestanden hatte, verwandelte sich nun in einen heftigen Sturm, zusammengesetzt aus allen möglichen Gefühlsregungen. Und während sie noch den in ihrem Innern wütenden Gefühlschaos auf den Grund gehen wollte, setzte der Junge bereits zu einer Antwort an.
„Ich glaube nicht. Die von ihren Eltern geliebhätschelten Schüler werden allesamt gefahren, und an diesem Internat wird es nur sehr wenige geben, die nicht… geliebhätschelt werden.“ Der Junge zuckte immer noch lächelnd mit den Achseln. Wie Hailey in diesem Moment bemerkte, hatte er ein aussergewöhnlich schönes Lachen.
Sie schluckte heftig, gewillt, den Knoten in ihrem Hals zu vertreiben.
„Ich bin übrigens Chris“, fügte er nun hinzu.
„Hailey.“ Immer besser gelang es ihr zu lächeln. Zumindest hoffte Hailey, dass ihr Grinsen nicht allzu gequält wirkte. „Na, dann kann ich mich also auf ein spannendes Schuljahr einstellen. Nichts ist interessanter, als zu beobachten, wie Menschen auf Liebesentzug ihre Krallen ausfahren.“ Mit diesen lockeren Worten versuchte sie zu verbergen, dass es ihr durchaus Sorgen bereitete, sich unter solche Leute zu mischen. Doch ihr Gegenüber hatte offenbar bemerkt, dass der Witz von Hintergedanken gezeichnet gewesen war.
„Dann gehst du also nicht freiwillig dorthin?“
„Das Internat soll ja gut sein“, gab Hailey widerstrebend zu. Sie wusste, wie schwierig es für ihre Eltern war, für das Schulgeld aufzukommen. Es war schrecklich, wie wenig dankbar sie sich für diese aufopferungsvolle Geste zeigte. Wie neugierig sie auf das Neue auch war…die Unsicherheit blieb.
„Wird wohl so sein.“ Chris nickte leicht, doch ein kurzes Aufblitzen in seinen Augen sagte Hailey, dass er mehr wusste, als er zugab. Oder hatte sie sich getäuscht?
Erneut trat ein Schweigen ein, das Hailey jedoch nicht als negativ einzustufen vermocht hätte. Minuten verstrichen.
„Und warum zwingt man dich, diese Schule zu besuchen?“ Chris Augen hafteten noch immer auf Hailey. Es schien, als brannte er sich jedes Detail ihres Gesichtes in sein Gedächtnis ein. Irritiert stockte Hailey kurz.
„Niemand zwingt mich.“ Toll. Sie hatte geradewegs so geantwortet, wie es jedes trotzige Kind getan hätte. „Also zumindest nicht direkt“, fügte Hailey deshalb noch leise hinzu.
„Es sind deine Eltern, nicht?“
Warum musste Chris Stimme bloss so unvergleichlich sanft klingen? Und wie um Himmels Willen war er zu der Idee gelangt, dass tatsächlich ihre Eltern der Grund für diese Veränderung waren? Sicher, auf gewisse Weise hatten solche Dinge wie Schulwechsel meist mit den Eltern zu tun…aber es gab sicher noch zig andere Möglichkeiten. Vielleicht hätte sie ja wegen schlechter Haltung von ihrer alten Schule fliegen können? Oder wegen Drogenkonsums? Warum musste Chris denn mit seiner These gleich richtig gelegen sein? War es wirklich so offensichtlich? Hailey war unangenehm heiss. „Ja.“ Sie hörte sich immer noch unnatürlich heiser an, ein weiterer Punkt, für den sie sich aufrichtig schämte. Hailey gab den Schmetterlingen die Schuld, die in ihrer Magengrube die Nach-Sturm-Zeit ausnutzen und übermütig jeden Winkel abflogen. „Sie sind in Kenia.“
„Kenia?“ Bewundernd hob Chris die Brauen. „Das ist ziemlich weit weg.“
„Leider, ja.“
„Und warum befindest du dich jetzt auf dem Weg in dieses Internat?“ Noch immer starrte Chris sie überrascht an.
„Sie sind Archäologen“, erklärte Hailey zögernd. „Sie arbeiten dort.“
„Und da bist du nicht mitgegangen?“ Erstaunt hob Chris die Brauen. „Die beste Schule ist doch noch immer die Realität.“
Hailey antwortete nichts darauf. In langen Debatten hatte sie mit ihren Eltern um ihre mögliche Zukunft in Kenia diskutiert, doch schliesslich hatte sie klein beigeben müssen. Schon alleine die Erinnerung an all diese Abende verschlugen ihr die Sprache. Und dann dieser Blick, mit dem Chris sie nun betrachtete…. Für einige Sekunden vergass Hailey vollkommen die Frage ihres Gegenübers, tauchte stattdessen ein in das irisierende Dunkel seiner Augen. Fast hätte Hailey geglaubt, er betrachtete sie auf die gleiche oder zumindest ähnliche Weise, doch sie entschloss sich sicherheitshalber, diesen Gedanken als Wunschdenken abzustempeln. Blamiert hatte sie sich in den letzten Minuten bereits zur Genüge.
„Woher kommst du?“ Haileys Stimme brach. Wäre sie alleine gewesen, hätte sie allerlei Beschimpfungen zu ihrem lahmen Mundwerk ausgestossen, doch so versuchte sie sich verzweifelt zusammenzureissen und nicht in das Grübchen in seinem Kinn zu starren, das jedes Mal auftauchte, wenn er sie wieder auf diese unbeschreibliche Weise angrinste.
„Ich komme aus einem dieser dunklen Orte, die in Filmen immer so glaubwürdig dargestellt werden. Ich glaube nicht, dass du mehr wissen willst.“, erwiderte Chris knapp. Sein Lächeln war etwas verblasst, er schien bedachter in seiner Wortwahl, und dennoch zeigte er keine Anzeichen von Traurigkeit ob dieser Vergangenheit. Vielleicht half seine ironiegetränkte Stimme, den tieferen Sinn der Worte etwas zu verdrängen? Hailey konnte nicht umhin, erstaunt über Chris Ehrlichkeit und seine augenscheinlich mentale Stärke zu sein. Und dennoch konnte sie sich eine Frage nicht verkneifen.
„Stimmen Film und Realität überein?“
„Du willst es also tatsächlich wissen?“ Nun war es an Chris, überrascht zu wirken. Gleichzeitig wurde sein Lächeln wieder breiter, als schien er sich über ihre Naivität zu amüsieren.
Hailey nickte mutig, wie sie empfand.
„Wie bereits gesagt, die beste Schule ist noch immer die Realität“, wich er der Frage geschickt aus. Chris verstummte und senkte den Blick erstmals seit Beginn ihres Gespräches. Ein Zeichen für Hailey, dass er nicht weiter auf seine Vergangenheit eingehen wollte.
So vermied es Hailey, danach zu fragen, wie seine Eltern das Schuljahr finanzierten. Sie hatte das dumpfe Gefühl, dass es besser war, nichtsahnend zu bleiben. „Es tut mir Leid.“
„Muss es nicht. Man gewöhnt sich dran.“ Chris zuckte schwach mit den Schultern.
Und wieder dieses Schweigen. Hatte Hailey bei den letzten beiden Malen die Minuten heimlich mitgezählt, so verlor sie sich nun völlig in Gedanken - an Chris. Dass sie sich dafür hasste, hatte sie schon zur Genüge erwähnt. Gerechtfertigt hatte sie sich ebenso bereits. Übrig blieb das Gefühl, zentimeterweit über dem Boden zu schweben – trotz aller ernüchternden Worte. Sie fuhr sich über die Wangen und spürte, dass sie erneut glühten. Energisch drückte sie an den Knöpfen über ihr herum, die zur Regulation der Klimaanlage dienten. Als Nächstes hörte Hailey ein verdächtiges Summen, doch sah sie sich nicht imstande, schnell genug zu reagieren: Ein bedrohlich pfeifender Luftzug schlug ihr entgegen und blies ihr die blonden Locken in einem heftigen Zug aus dem Gesicht. Irritiert und beschämt zugleich schlug Hailey sich die Hand vor den Mund und versuchte mit zittrigen Fingern, den Abschaltknopf zu finden. Warum musste diese verdammte Anlage nur so viele Knöpfe haben? Und warum fand sie nirgends eine Gebrauchsanweisung? Verärgert drückte sie einen blauen, kleinen Knopf. Hailey hatte das dumme Gefühl, die Wirkung des Windes eben noch verstärkt zu haben, als ihr ein weiterer Schwall entgegenschlug. Im nächsten Moment bereits nahm sie eine schnelle Bewegung von rechts wahr und sah, dass Chris ihr allem Anschein nach helfen wollte. Für einen Augenblick – Haileys Ansicht nach viel zu kurz - berührten seine Finger die ihren, strichen sanft über ihre Haut. Wie elektrisiert zog Hailey ihre Hand zurück. Von der Berührung paralysiert, beobachtete sie Chris dabei, wie er den roten Knopf drückte. Die Anlage schaltete unverzüglich ab.
Verlegen bemerkte sie Chris amüsiertes Grinsen. „Das nächste Mal lässt du besser einen Fachmann ran.“
„Kleine, hör sofort auf, mit den Knöpfen zu spielen“, schallte im nächsten Augenblick auch schon die wütende Stimme des Chauffeurs zu ihnen nach hinten.
Hailey senkte peinlich berührt den Blick, ihre Wangen glühten noch mehr als zuvor, was sie nicht nur den Worten des Chauffeurs zu verdanken hatte.
„Mach dir nichts draus“, sagte Chris lächelnd. „Eigentlich müssten wir bald da sein.“
Überrascht von der Selbstverständlichkeit, mit der er dies erklärte, betrachtete sie ihren Gegenüber irritiert. „Woher willst du das denn wissen?“ Hailey wagte es nicht hinzuzufügen, dass sie nicht einmal wusste, wo genau sich das Internat überhaupt befand.
„Vorahnung“, antwortete Chris grinsend und deutete aus dem Fenster, zu einem nur wenige Meter entfernten Gebäude, das im Halbdunkel tiefe Schatten warf. „Das ist der Schlaftrakt der höheren Semester“, erklärte er. „Wir müssen jetzt noch durch das Wäldchen fahren und die restliche Kurve nehmen, dann sollten wir in fünf Minuten beim Tor und den Parkplätzen ankommen.“
„Da hat aber jemand ein wirklich gutes und detailliertes Vermögen, Prognosen zu erstellen.“ Hailey hob überrascht und skeptisch zugleich die Augenbrauen. „Aber jetzt mal ehrlich.“ Ihre Stimme war nun ein neckisches Flüstern. „Wer hat dir das zugeraunt?“
„Dazu brauche ich niemanden. Prognosen alleine reichen schon aus.“ Chris antwortete ihr mit einem verschmitzten Grinsen und deutete erneut nach draussen.
Und tatsächlich: Kurz darauf hörte Hailey, wie der Bus ratternd zum Stillstand kam und die Stimme des Chauffeurs murrend erklärte: „ Wir sind da! Nehmt bitte alle eure Sachen mit und ich warne euch, sehe ich nachher auch nur ein einen kleinen Flecken, beginnt ihr das neue Schuljahr kopflos.“
„Das sollte er so nicht zu den Kindern sagen.“, meinte Hailey besorgt, nun abgelenkt von den strengen Worten des Chauffeurs. Dadurch vergass sie tatsächlich, bei Chris über sein ausgeprägtes Wissen zum Standort des Internates nachzuhacken.
„Keine Sorge, wenn er erst einmal beim Empfang sein Glas Wein getrunken hat, wird er nicht mehr imstande sein, mehr zu tun als zu wanken.“
„Wenn du meinst.“ Hailey zuckte immer noch leicht skeptisch die Schultern. Zugleich war sie froh, dass sie später beim Empfang zumindest jemanden kennen würde. Jemand, der ausserdem auch noch die schönsten Augen weit und breit besass. Beim Gedanken daran schüttelte Hailey erneut ihren Kopf. Wie konnte sie nur so empfinden?
Schliesslich folgte Hailey Chris aus dem Bus in die kalte Abendluft hinaus. Sterne hafteten mittlerweile wie kleine Diamanten am Himmel. Ein roter Strich zog sich wie ein Faden durch den Horizont und bildete den letzten Überrest des Farbspektakels, das sich ihr vor nur kurzer Zeit noch geboten hatte. Zugleich spürte Hailey, dass sie in der kühlen Abendluft fröstelte. Chris Angebot, sich seine Jacke überzuziehen, lehnte sie lächelnd ab. „Nur weil ich friere, heisst das noch lange nicht, dass du nicht auch frierst.“
„Dreh dich um“, befahl Chris ihr nun und meinte zuversichtlich: „Es wird dir die Sprache verschlagen.“
Zögerlich tat Hailey dem Befehl Folge – sie wandte sich um und tatsächlich liess sie das Bild, das sich ihr bot, im ersten Moment sprachlos zurück. Sogar ihre Lungen versagten ihr für diesen ersten Augenblick ihren Dienst.
Ein riesiges Tor offenbarte ihr den Einblick in das dahinter liegende Internatsgelände. Hailey konnte sehen, wie ein dicker langer Kiesweg sich seinen Weg durch das gut geschnittene Wiesengelände bahnte. Er führte zu einem Kreis, in dessen Mitte ein Brunnen mit einer Engelsfigur thronte und von dem aus sich noch weitere drei Wege abtrennten. Weiter hinten erkannte Hailey die Umrisse eines grossen Schlossgebäudes mit einem Türmchen und der Fassade eines Baustils aus dem letzten Jahrhundert.
„Das Schulgebäude“, meinte Chris, der ihrem Blick weniger überwältigt gefolgt war. „Das Gebäude, in dem du dich die nächsten Jahre durch den Alltag quälen und in welchem du unzählige schleichende Stunden verbringen wirst“, fügte er schelmisch grinsend an.
„Du bist ja so richtig schön zuversichtlich“, protestierte Hailey gespielt schockiert. Ihr erster Blick hatte ihrem Verstand soeben zugeraunt, dass er mochte, was er gesehen hatte. Auch wenn das, was sie von nun an Schule nennen würde, jegliche Vorstellungen übertraf. Wie war das gleich noch mal mit ihren Eltern? Sie suhlten sich im Dreck, während ihre Tochter nun neben einem Schloss weilte. Hailey lächelte unwohl.
„Was bleibt mir denn anderes möglich? Ich sehe der Realität ins Auge“, erklärte Chris seufzend. „Die Strassenlaterne schalten übrigens um elf Uhr ab.“
Erst jetzt bemerkte Hailey, dass Strassenlaternen das ganze Internatsgelände säumten, die die Wegen, Wiesen und Gebäude an Abenden wie diesem beleuchteten und Hailey erst den Blick um diese Uhrzeit auf das sie erwartende ermöglicht hatten. „Woher willst du das so genau wissen?“, fragte Hailey verwirrt – an diesem Abend sicher nicht zum ersten Mal - und fühlte immer mehr die Frage in ihr aufkeimen, warum Chris bereits so viel vom Internat wusste, wo er doch wie sie neu war. War sie einfach schlecht informiert oder verbarg er tatsächlich etwas vor ihr?
(2) - Alles nimmt seinen Anfang –
„Willkommen Schülerinnen und Schüler!“ Ein grosser, rundlicher Mann war auf die Tribüne getreten und starrte angestrengt auf seine Notizen, die vor ihm auf einem Tischchen ausgebreitet lagen.
Hailey wartete mehr oder minder gespannt auf die Fortführung der Rede. Sie befand sich auf einem hohen Stuhl aus reinstem Ahornholz in einem auffallend grossen Klassenzimmer des Schulgebäudes neben etwa zwei Dutzend ebenfalls neuen Schülern. Die meisten von ihnen blickten geradewegs an Hailey vorbei, als wäre sie unangenehmer Gestank, der es nicht wert war, den Duft, den ihre teuren Designerparfums versprühten, einzuatmen. Instinktiv spürte Hailey, dass der Reichtum hier tatsächlich Hand in Hand mit der Eitelkeit der Schüler ging. So blieb ihr lediglich die Hoffnung, dass es Schüler gab, die schon länger zu dieser Schule gehörten und sich weniger um ihr Geld kümmerten. Ansonsten würde sie eine nicht gerade rosige Zukunft empfangen, schloss Hailey. Eine einsame Zukunft, präzisierte sie ihre Gedanken.
Einige der Eltern waren ebenfalls anwesend und hatten sich mit strengem Blick neben ihre Töchter und Söhne gesetzt, die beinahe genauso grimmiger Mienen waren wie ihre Eltern. Der Direktor der Oberstufe, der sich ihnen zu Beginn als Mr. Martin Eddings vorgestellt hatte, hatte die Schüler nach Geschlechtern getrennt. Die Jungen sassen auf der linken Flügelseite des Klassenraums, die Mädchen auf der rechten. Hailey wusste wirklich nicht, was der Direktor damit bezweckte, denn würde die Rede erst einmal vorüber sein, würden sich Jungs und Mädchen in Grüppchen mischen, so dachte es sich Hailey zumindest. Wie Hailey von Chris erfahren hatte, waren auch die Schlaftrakte in einen Jungen- und einen Mädchenteil unterteilt. Instinktiv wagte Hailey bei diesem Gedanken einen Blick nach links zu Chris, der zwischen einem Vater mit kräuselndem Schnurrbart und einem Jungen mit langer Adlernase und schlitzartigen Augen sass. Sie sah wie der Junge neben Chris seinen Nasenlöchern ekelhaft viel Zuwendung schenkte und konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Es schien, als spürte Chris ihren Blick, denn auch er drehte in diesem Moment den Kopf in ihre Richtung und grinste ihr achselzuckend zu.
Nur Sekunden später hörte Hailey, wie der rundliche Mann – der Direktor der Oberstufe - sich räusperte und mit seiner Rede fortfuhr. „Wie manche von Ihnen vielleicht bereits in Erfahrung gebracht haben, bin ich, Mr. Martin Eddings, der hiesige Direktor der Oberstufe an diesem Internat. Es freut mich die neuen Schülerinnen und Schüler empfangen zu dürfen, und ich hoffe, ihr werdet euch schnell hier eingewöhnen, an einem Internat, das insbesondere für sein gutes Lernsystem und loyal agierende Lehrpersonen bekannt ist. Wir setzen auf ein gutes Lehrer-Schüler-Verhältnis und gewaltfreies Konfliktelösen. Ich bin froh, dass ihr euch für unser Internat entschieden habt, und wir so die Möglichkeit erhalten, euch im fortlaufenden Jahr auf hohem Leistungsniveau zu unterrichten.“
Hailey begann abzuschalten. Sie schalt sich zwar selbst dafür, doch nach der langen Busfahrt verbreitete die monoton näselnde Stimme des Mannes auf der Bühne eine schläfrige Atmosphäre. Zu alledem war ihr Verstand sowieso bereits damit beschäftigt, die nachmittäglichen Ereignisse rekapitulieren zu lassen. Nur ungern fügte sie in Gedanken hinzu: Chris‘ Worte, seine Körpersprache und die schiere Energie seiner blossen Anwesenheit rekapitulieren zu lassen. Verlegen zuckte Hailey zusammen, als Eddings weitersprach.
„Was die allgemeinen Schulregeln angeht, so dürfte manchem von Ihnen bereits zu Ohren gekommen sein, dass wir vom Edward Steppfield Internat auf Geschlechtertrennung in den Schlaftrakten setzen - bei den höheren Semestern ebenso wie bei den Grundschülern. Weiterhin gibt es zwei separate Gebäude für die Oberstufen- und Unterstufenschüler. Wie genau die Geschlechtertrennung und Zimmerzuordnung vorgenommen wurden, erfährt ihr später von eurem jeweiligen Hausmeister. Mr. Peter Jenkins ist für das Oberstufen-, Mrs. Martha Becker für das Unterstufengebäude verantwortlich. Allgemeine Fragen und Anregungen nehmen sie gerne entgegen. Es teilen sich jeweils zwei Schüler ein Zimmer, was sich in den letzten Jahren als bewährtes Prinzip herausgestellt hat. Die Namen der Zimmerpartner können an einem Schriftzug an der Tür des betreffenden Zimmers erfahren werden. Soweit zu den allgemeinen Angaben, nun weiter zu den Regeln. In jedem Schlafzimmer sind jeweils zwei Exemplare dieses Regelblattes“, der Direktor hob ein leuchtendgelbes, A4 grosses Blatt, „vorhanden und ich bin erpicht darauf, dass diese Regeln eingehalten werden. Bei jedweder Regelwidrigkeit kann es zu Strafaufgaben und schlimmstenfalls zur Dispensierung kommen.“ Der Direktor hob forschend den Blick. „Ich werde nun kurz die Regeln vorlesen und bitte um volle Aufmerksamkeit.“
Ironischerweise geschah es in diesem Moment, da Haileys Verstand erneut auf Durchzug stellte. Schwach seufzte sie, während sie hörte, wie der Mann über ihr angeekelt zusammenzuckte, als er die Worte ‚Drogen, Zigaretten und Alkohol’ fallen liess. Hailey lächelte. Sie musste nicht einmal zuhören, um zu erahnen, dass diese drei Dinge als verboten galten. Eigentlich hätte es bereits genügt, die Mimik des Direktors zu betrachten, und man wäre bereits Herr über alle wichtigen Informationen gewesen.
Nun war er zum Liebesleben der Internatsschüler übergegangen, das, daran liess Eddings Miene keinen Zweifel, am besten nichtexistent war und auch blieb. Hailey gähnte schwach – deshalb also auch die Geschlechtertrennung. „Liebt das Lernen und lernt aus der Liebe“, sagte Hailey nun der Blick des Direktors. Sie lächelte erneut, konnte sich jedoch ein breiteres Grinsen nicht verkneifen, als er das Thema der Funktionsweise der Beleuchtung auf dem Internatsareal in den Mund nahm. Ungläubig hob Hailey die Brauen, als auch er davon sprach, dass die Strassenlampe mit der Nachtruhe um elf Uhr ausgeschaltet werden würden. Chris hatte Recht gehabt, wurde ihr unweigerlich bewusst.
So konnte Hailey nicht umhin, Chris ein weiteres Mal anzustarren. Doch er schien offensichtlich zu beschäftigt damit, die Worte des Direktors zu ignorieren, als dass er Haileys irritierten Blick bemerkt hätte.
Unterdessen hatte der runde Mann auf der Tribüne munter weitergesprochen. „Das wären die drei wesentlichen Punkte gewesen. Zum Thema Wochenende und Ferien gilt es zu erwähnen, dass dieses Internat es vorschreibt, dass die Schülerinnen und Schüler während des Wochenendes im Internat bleiben. Ihnen ist es ermöglicht, Freitagabends die Internatsdisco am Nordende des Internatgeländes zu besuchen. Natürlich ist je nach Motto ebenfalls ein Mindestalter festgelegt. Die Öffnungszeit kann auf der Infotafel nachgelesen werden. Zudem ist es den Schülern natürlich erlaubt, das Internatgelände zu verlassen, um etwa wichtige Einkäufe zu tätigen. Nur wenige hundert Meter von hier entfernt finden die Naschkatzen unter uns ihren Zucker.“ Der Direktor grinste vielversprechend. „Allerdings solltet ihr euch am Morgen zuvor abmelden, so dass wir genau wissen, wo sich die jeweiligen Schüler befinden. Ansonsten tut unsere Mensa ihr Bestes, um euch Morgen-, Mittag- und Abendessen zu servieren. Es ist auch erlaubt, dass Mahl in den Zimmern einzunehmen, solange nur Ordnung gehalten wird. Soweit die wichtigsten Informationen. Hat jemand noch eine Frage?“ Der Direktor hob nervös lächelnd den Blick. Erstaunt stellte Hailey fest, dass er nicht ausser Atem war. Bedachte man die Menge des eben gesprochenen im Bezug auf die dazu benötigte Zeit… Hailey wäre schon nach zwei Minuten die Puste ausgegangen. Mühsam schluckend versuchte sie all die Informationen zu verdauen, die sie eben erhalten hatte.
Als der Mann auf der Tribüne sah, dass niemand es wagte, den Arm zu recken, setzte er ein Lächeln auf, das eine Reihe weisser Zähne offenbarte. Erleichtert grinste er in die Menge. „Dann wünsche ich euch alle herzlich willkommen auf dem Edward Steppfield Internat!“
Die Erwachsenen hatten sich in Grüppchen zusammengestellt und diskutierten rege über die Rede des Direktors der Oberstufe, während die meisten Schüler sich unentschlossen ob dem Fortgang des Abends im Raum verteilt hatten und mit nur gespieltem Interesse ihre Schuhspitzen betrachteten.
Hailey hatte sich gerade beschlossen, den Schlaftrakt der Oberstufenschüler aufzusuchen, als jemand sie mit einer sanften Berührung an der Schulter zurückhielt.
„Spannende Rede, nicht?“ Chris. Hailey schluckte.
„Oh ja, sicher.“ Hailey war Chris Berührung durch Mark und Bein gegangen. Sie kämpfte sich weiter an den Grüppchen vorbei, bedacht darauf, die verwirrenden Gefühlsregungen nicht offen zur Schau zu stellen. Aus den Augenwinkeln heraus nahm sie wahr, dass Chris ihr folgte.
„Gehst du zum Schlaftrakt?“ Er hatte zu ihr aufgeschlossen, als sie das Freie erreichten. Es war mittlerweile Nacht geworden und eine dünne Halbsichel bildete den Mond. Sterne funkelten noch dichter als zuvor über ihren Köpfen am blass graublauen Horizont.
„Ich sollte früh zu Bett gehen, damit ich morgen einigermassen beisammen bin. Und ausserdem -“, Hailey hob erklärend die Arme, „ich glaube, ich muss mich an das Ganze hier noch gewöhnen.“
„Das wird schon“, ermunterte sie Chris lächelnd.
Hailey orientierte sich an dem Internatsplan, den sie am Eingang noch ergattern konnte, und bog nach einem schnellen Blick auf die Karte in den rechts abführenden Kiesweg. Vor sich sah sie Sekunden später auch schon das grosse Gebäude, das in einem dunklen Braunton gestrichen war, emporragen. Das Licht in den Zimmern flutete bis nach draussen und umhüllte die wenigen Meter vor dem Eingang in einem gemütlichen Schein.
Hailey trat ein, dicht gefolgt von Chris. Ein Mann mit kurzem grauen Haar, das bereits kahle Stellen verriet, sass in verfleckten Jeans auf einem alten Sessel in der Nähe der Südwand des Raums. Als sie eintraten, hob er hastig den Kopf und sein müder Blick verriet, dass er eben aus einem frühabendlichen Nickerchen aufgeschreckt war.
„Ich bin Mr. Jenkins, euer Hausmeister“, brummte der Mann etwas verschlafen.
„Das haben wir schon gehört“, meinte Chris wie selbstverständlich. „Ich bin Christopher Graham und das ist Hailey…“ Er sah Hailey fragend an.
„Hailey Summer.“
„Wir würden gerne wissen, in welche Zimmer wir eingeschrieben wurden.“
Mr. Jenkins hob fragend den Kopf. „Graham?“, murmelte er verwirrt, seine Stimme noch immer etwas schlaftrunken. Doch sein Blick wurde augenblicklich klarer, seine Augenbrauen zogen sich misstrauisch zusammen.
Chris nickte.
„Oh. Graham wie…?“
„Ja, genau“, erwiderte Chris ungewohnt barsch.
„Ich… Ich sehe kurz nach.“ Jenkins lief zu einem Tisch, der am rechten Ende der kleinen Vorhalle, in der sie sich befanden, platziert worden war. Offensichtlich verwirrt blätterte er eine Weile in einem Papierbündel, bis er zu finden schien, was er gesucht hatte.
„Hailey Summer, Zimmer 34, im dritten Stock.“ Der alte Mann zögerte kurz, ehe er mit einem kritischen Blick auf Hailey anfügte: „Vierter und fünfter Stock sind für Mädchen bis 11 Uhr abends zugänglich - diese beiden Etagen gehören zum Jungenschlaftrakt. Der erste Stock bietet Annehmlichkeiten wie einen Computerraum.“
Seine Augen wanderten erneut zu Hailey und musterten sie einen Moment lang ausgiebig. Verlegen fuhr sich Hailey durchs Haar. Dieser Blick – er liess sie unwohl in ihrer eigenen Haut fühlen.
„Auf was wartest du?“, fragte Jenkins schliesslich bestimmt. „Geh und such dein Zimmer auf. Der junge Mann hier wird wohl noch eine Weile auf seine Akte warten müssen.“ Und dann, nur noch halblaut gemurmelt: „Ich muss noch was mit ihm besprechen.“ Jenkins schien aus welchem Grund auch immer auffällig mürrisch zu sein.
Hailey bedachte Chris eines verwirrten Blickes, doch dieser zuckte bloss die Achseln. „Geh ruhig, wir sehen uns sicher bald wieder.“ Seine Mimik verriet, dass sich dieses „bald“ notfalls auch erzwingen lassen würde.
Hailey wagte es nicht, nachzuhaken, was Jenkins unwirsches Verhalten zu bedeuten hatte. Unschlüssig hob sie die Hand zum Abschied und trat dann zögerlich einen Schritt zurück, ehe sie sich umdrehte und nun zügigeren Schrittes dem rechten Gang entlang zu ihrem Zimmer folgte. Hailey wusste wirklich nicht, was sie von der ganzen Angelegenheit halten sollte.
Juliane Piper hatte schon die gesamte Fahrt zum Internat über gesehen, dass die Sonne strahlend am blassblauen Himmel stand. Dennoch war sie überrascht, als sie aus dem Auto stieg und in die heisse, stickige Luft trat. Wie unsichtbarer Dunst spross die Hitze unmittelbar über dem Boden. Äusserst merkwürdig für Anfang August.
Julianes zwölfjährige Schwester Becky sprang nervös neben ihr auf und ab. Sie trat nun ihr letztes Jahr in der Unterstufe an und begegnete dieser Neuigkeit, indem sie hibbelige Bewegungen mit ihren Gliedern ausführte und ununterbrochen den langersehnten Umbruch kund tat.
Juliane selbst freute sich auf ein neues Semester und die Chance, auch in diesem Jahr Klassenbeste zu werden. Letztes Jahr hatte sie zwar mit herausragendem Abstand als Beste brilliert, doch ahnte sie, dass ein neues Jahr neue Herausforderungen bergen würde. Das wiederum hiess, dass das Lernen sie noch mehr Zeit kosten würde – sie war zwar klug, aber Intelligenz alleine reichte nun einmal nicht aus, um Bestnoten zu erreichen.
Sie wagte einen kurzen Blick auf ihre Uhr und bemerkte, dass die Zeiger bereits halb neun verläuten liessen. Bald schon würde sie wieder die Schulbank drücken. Juliane stöhnte schwach, nicht sicher, ob sie die Herausforderung schon an diesem Tag antreten wollte.
Überall um sie herum hatten sich andere Autos gesammelt; dessen Besitzer, - ältere Schüler und Eltern - umarmten sich soeben zum Abschied, während die kleineren Geschwister sich verzweifelt an ihre Eltern hängten und sie weinend anflehten, sie hier nicht alleine zu lassen.
Juliane fragte sich nicht zum ersten Mal, ob auch sie so gewesen wäre, wenn sie in diesem Alter ins Internat gekommen wäre. Für sie bedeutete dieses Jahr erst das achte Semester, das sie hier zubrachte, da ihre Eltern - beide gutverdienende Scheidungsanwälte - zu wenig Zeit für ihre Kinder hatten. Juliane sah ihre Eltern nicht oft; ab und zu nahm sie den Zug und besuchte sie während den Schulferien. Meist stand dann zur Debatte, dass Becky Juliane hinterherhinkte. Ihre Schwester hatte einige Probleme gehabt, im letzten Frühling überhaupt versetzt zu werden, während Juliane mit Traumnoten glänzte. Allerdings musste Juliane doch zugeben, dass sie einiges für diese Noten tat.
Julianes Mutter hob soeben das Gepäck aus dem Auto, das zumindest bis zu den Weihnachtsferien würde reichen müssen. Juliane half ihr wortlos und sah schliesslich aus einer leicht geöffneten Tasche einen Game Boy blitzen.
„Becky, wann bist du endlich alt genug, um bessere Leistungen zu erbringen, als in der Rolle imaginärer Charaktere in realitätsfremden Welten als Held zu glänzen?“ Juliane rollte genervt die Augen.
„Wann bist du endlich alt genug, damit nicht nur imaginäre Jungen Interesse an dir zeigen?“, konterte Becky geschickt und kniff die Augen verärgert zusammen.
„Schluss mit den ewigen Zankereien!“ Julianes Mutter trat seufzend zwischen die Schwestern und reichte Juliane ihre Tasche. „Sind Game Boys im Internat denn nicht verboten? Das hindert doch die Lernförderung“, meinte Mrs. Piper und nahm den Game Boy mit einem entschlossenen Griff an sich.
„Dann muss ich mir halt andere Spielzeuge suchen“; hörte Juliane Becky drohend murmeln. Sie liess keinen Zweifel daran, dass diese „Spielzeuge“ aus Fleisch und Blut bestehen würden.
Da war es ein Glück, dass ihre Mutter dazu übergegangen war, jegliche unüberlegte Äusserungen ihrer Töchter zu ignorieren. Zu Juliane gewandt meinte ihre Mutter gerade: „ Ihr solltet langsam eure Zimmer aufsuchen und eure Sachen auspacken. Sonst endet das alles in einem Chaos! Und ich hatte wirklich gehofft, dieses Jahr würde es besser laufen.“
Juliane nickte leicht, schloss ihre Mutter kurz in die Arme und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
„Ich melde mich bei euch“, meinte Mrs. Piper zuversichtlich und drückte im nächsten Augenblick Becky an sich, die stark mit den Tränen rang.
„Aber ich muss jetzt los. Mr. Colorado hat mich heute Morgen angerufen und gebeten, ihm bei einer besonders ausschweifenden Form des Rosenkriegs unter die Arme zu greifen.“ Mrs. Piper lächelte, schloss die schluchzende Becky noch einmal in die Arme und stieg schliesslich zurück in die kühlende Obhut des Opels. Sie winkte ihren Kindern zu, bis das Auto hinter einer Kurve aus ihrer Sicht verschwunden war und die Staubwolke sich in der stickigen Luft aufgelöst hatte.
„Das war er also: Der grosse Abschied!“ Juliane seufzte und schnappte sich ihr Gepäck.
„Wie kannst du nur so gefühlskalt sein?“, fragte Becky mühsam schluckend.
Juliane biss sich auf die Lippen. Sie spürte, wie es ihr einen Stich im Herz versetzte, diese Worte aus dem Mund ihrer Schwester zu hören. Schnell erinnerte sie sich jedoch daran, dass sie sich für den heutigen Tag geschworen hatte, keine Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Sie wollte stark für sich und ihre Eltern sein.
„Das nennt man nicht gefühlskalt“, sagte sie leise. „Das nennt man erwachsen.“
Lauren Newcole schaute sich kritisch in ihrem Zimmer um. Ein normales Bett, ein Eichenholzschreibtisch, ein schmaler Schrank zum Verstauen von Kleidern und ein Nachtischchen mit einer Schublade, die als Abstellfläche für persönliche Dinge wie Fotos oder Briefe fungieren sollte. Von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand verlief ein schmaler Streifen, an den der zweite Zimmerteil angrenzte - das Schlafgemach ihrer künftigen Zimmergenossin; gleich möbliert, nur spiegelverkehrt platziert. Das Zimmer war in Laurens Augen recht gross und ein Fenster an der gegenüberliegenden Wand der Tür ermöglichte ihr einen Blick auf das Internatsgelände und den blaugrün funkelnden See. Die Morgensonne warf das Zimmer in ein gemütliches Licht.
Eine Tür deutete das dahinter verborgene Badezimmer an, wegen dessen Einlass sie sich wohl künftig stets mit ihrer Zimmernachbarin in die Haare kommen würde.
Lauren spürte, dass ihr Nacken leicht feucht war, und beschloss nach einem kurzen Blick auf ihre Armbanduhr, sich vor Schulbeginn noch umzuziehen - keinesfalls wollte sie in verschwitzten Kleidern das zehnte Schuljahr antreten. So öffnete sie den ersten von drei Koffern und entleerte den Inhalt mit einem gezielten Tritt auf den Verschluss auf ihr Bett. Zumindest glaubte sie, dass es sich hierbei um ihr Bett handelte. An der Zimmertür hatte ein Zettel gehaftet mit ihrem eigenen Namen und dem ihrer Mitbewohnerin. Da diese sich aber noch nicht hier eingefunden hatte, hatte Lauren kurzerhand selbst entschieden, welche Seite des Zimmers ihr zuteil wurde.
Juliane Piper, fiel Lauren der Name ihrer Mitbewohnerin wieder ein, als sie gerade nach einem passenden Top suchte - es durfte nicht zu eng sein, musste aber gleichzeitig gut aussehen und keinen zu tiefen Blick in ihren Ausschnitt gewähren; Lauren hatte nicht sonderlich das Verlangen, dass ihr alle Jungen hinterher pfiffen und sie anstarrten, als fielen ihnen die Augen aus dem Kopf, wie sie es bereits letztes Jahr zur Genüge getan hatten. Ihr Bruder Dominic hatte ihr einmal erklärt, dass sie für ihr perfektes Äusseres nichts könne; die einen hätten einfach mehr Glück in der Genlotterie gehabt als die anderen. Das müsse sie akzeptieren. Diesen Worten konnte Lauren zumindest ansatzweise zustimmen. Es war schliesslich nicht so, als ob ihr Bruder schlechter aussah als sie. Nein, er war ebenfalls ein Mädchenschwarm. Nur, dass er diesen Titel mehr genoss und auslebte als es Lauren mit dem männlichen Geschlecht tat und je tun würde. Ob es daran lag, dass er ein Jahr älter war? Sie zweifelte arg an dieser Theorie.
Sie erspähte gerade ein perfekt geschnittenes schwarzes T-Shirt, als die Tür zögernd geöffnet wurde. Ein Mädchen, dessen langes, braunes Haar hinter ihr herpeitschte, betrat den Raum. Es besass die Sorte Augen, die den grossen, treuen von Hunden glichen, die es aber gleichzeitig hinter einer riesigen Brille versteckte. Insgesamt sah es nicht schlecht aus. Nicht so gut wie Lauren, dachte sie zufrieden.
Erst auf den zweiten Blick erkannte Lauren das Mädchen, das das letzte Jahr als Klassenbeste abgeschlossen hatte und wohl die grösste Streberin des Internates darstellte. Dumm von ihr, dass sie Juliane Piper nicht schon an ihrem Namen erkannt hatte. Spöttisch lächelnd musste stellte Lauren fest, dass sich Juliane verändert hatte. Einige Körperstellen waren gewachsen und ausserdem - so musste Lauren zugeben –war dies das erste Mal gewesen, da sie Juliane mit offenen Haaren gesehen hatte; zu Schulzeiten band sie sie sonst immer streng zurück. Die offenen Haare gefielen Lauren, was ihr sofort aufgefallen war.
„Hi!“ Juliane strich sich ihr Haar zurück und trat beladen mit zwei Koffern und einer prall gefüllten Tasche ein.
„Du bist ganz schön spät dran“, bemerkte Lauren nur im Gegenzug.
„Für was?“, entgegnete das andere Mädchen, vor Anstrengung keuchend, während es die Taschen auf sein Bett hob.
„Na, um dich noch ein wenig frisch zu machen und dich umzuziehen.“ Konnte ein Mädchen wirklich so begriffsstutzig sein?, fügte Lauren in Gedanken hinzu.
Lauren sah, wie Juliane verlegen ihren knöchellangen, karierten Rock und ihre weisse Bluse musterte. „Oh, ich glaube, ich bleibe so.“, gab sie schliesslich mit dem Anflug von Unsicherheit zu.
„Na dann.“ Lauren sah das Gespräch als beendet. Sie wandte sich von ihrer Zimmergenossin ab und kramte auf ihrem Bett nach einer passenden Hose. Schliesslich fand sie eine etwas ausgewaschene, aber gut sitzende Jeans. Lauren betrachtete sich ein letztes Mal im Spiegel, der über ihrem Nachttischchen hing, und warf ihr dunkles, seidiges Haar zurück. Dann schnappte sie sich ihre Schultasche, die sie bereits am gestrigen Abend zuhause gepackt hatte und murmelte ein „tschüss“ in Richtung Juliane. Sie öffnete die Tür und trat in den Flur.
Merkwürdige Zimmerpartner und lüsterne Jungs - der erste Schultag konnte beginnen.
Kaitlin Hundsman setzte sich in die hinterste Reihe, ganz in die Ecke. Sie wollte nicht zur Schau stellen, dass sie über die Ferien schon wieder an Gewicht gewonnen hatte. Einige wenige Schüler waren schon da und besprachen in den vorderen Reihen die Ferien – gerade meinte Kaitlin vernommen zu haben, wie ein blondes Mädchen von ihrem Ferienflirt schwärmte.
Niemand schien von Kaitlin Notiz zu nehmen. Warum auch? Kaitlin hatte schon immer zu den Aussenseitern der Schule gehört und konnte sich nicht erinnern, hier jemals eine Schulter zum Anlehnen gefunden zu haben. Und das, obwohl sie das Edward Steppfield Internat schon seit ihrem siebten Lebensjahr besuchte, dem Eintrittsalter für die jüngsten Schüler.
Nervös kramte Kaitlin in ihrer Tasche nach einer Tüte M&Ms, die sie sich am frühen Morgen noch heimlich eingesteckt hatte. Kaitlin hatte es längst aufgegeben, sich durch eine Diät zu quälen. Seit ihrem siebten Lebensjahr gehörte sie zu der nur kleinen Gruppe der Molligen an dieser Schule und sie hatte mittlerweile davon abgelassen, krampfhaft zu versuchen abzunehmen - das hatte nirgends hingeführt.
Als Kind hatte sie sich oft Sprüche wie „Das ist bloss Babyspeck!“ oder „Mit dem Wachstum kommt die Wende!“ anhören müssen, doch mittlerweile prangerten sie ihre Mitmenschen meist nur noch mit mitleidsvollen Blicken an. So konnte Kaitlin nicht gerade mit einem ordentlichen Selbstbewusstsein angeben. Es wäre einfacher gewesen, wenn sie nur mollig gewesen wäre. Stattdessen plagte sie sich mit strähnigem Haar und einem mit Sommersprossen übersäten Gesicht ab. Mit einem leisen Murren griff Kaitlin in die M&Ms Tüte und schob sich mehrere Schokonüsse auf einmal in den Mund. So kam zumindest etwas Farbe in ihr Leben, dachte sie bitter lächelnd.
Ihre Gedankengänge wurden ihrem neuen Deutschlehrer unterbrochen, der soeben in das Klassenzimmer getreten war; die letztjährige Deutschlehrerin war in Rente gegangen, wie ein Flyer hatte verlauten lassen.
Kaitlin hatte von ihrer Mutter gehört, dass der Andrang neuer Schüler an diesem Internat immer mehr zunahm und es mittlerweile zu viele Schüler in ihrem Jahrgang für eine einzige Klasse gab. So hatte sie eine Broschüre zugeschickt bekommen, in der sie sich in einigen Fächern für den Schwierigkeitsgrad entscheiden und ausserdem zwischen einigen Kursen hatte wählen müssen. Deutsch war ein Einheitsfach, in dem der Jahrgang durch Zufall in zwei Hälften geteilt worden war.
Immer mehr Schüler strömten nun in das verhältnisgemäss grosse Klassenzimmer. Alle Räume im Internat stachen durch einen weissen Anstrich heraus, stets ausgestattet mit Stühlen und Tischen aus reinstem Ahornholz. Die meisten dieser teuren Stühle waren mittlerweile bereits besetzt, wie Kaitlin bemerkte - von vielen ihr bekannten Gesichtern. Weitere Schüler begaben sich in den Raum, rannten lachend zu ihren Freunden. Sie verzog leicht gequält das Gesicht bei diesem Gedanken. Niemand würde zu ihr kommen, sie überschwänglich begrüssen und sie nach ihren Ferienerlebnissen ausfragen. Aber damit musste Kaitlin leben. Sie war jetzt in der zehnten Klasse - genügend Zeit blieb also, um Freunde zu finden, bis sie studieren gehen würde.
Ehe sie sich versah, ertönte die Schulglocke und ihr Deutschlehrer brachte die Schüler mit einem lauten Räuspern zur Ruhe. Er war gross gewachsen und schlank und sein silbernes Haar zeigte keine kahle Stelle. Die grosse Adlernase gab seinem Gesicht ein markantes Äusseres.
„Willkommen zurück in der Schule“, begrüsste sie der neue Lehrer mit lauter Stimme. „Ich bin Mr. Parker und somit der neue Deutschlehrer an diesem Internat. Bereits seit zwanzig Jahren arbeite ich als Literaturprofessor und habe mir während dieser Zeitspanne einen Namen dafür gemacht, jede Minute meiner Lektion gut zu nützen. Wenn niemand Fragen hat, möchte ich deshalb sogleich den eigentlichen Unterricht einläuten.“ Mr. Parker sah fragend in die Runde und als niemand die Anstalten machte, sich zu melden – eingeschüchtert von der schnellen Wendung, die der Unterricht durch seine wenigen Worte genommen hatte -, fuhr er ohne Unterbruch fort: „Auf meiner mir zugesendeten Klassenliste steht, dass mir 20 Schülerinnen und Schüler zugeteilt worden sind. Ich werde jeden dieser Namen aufrufen und bitte euch, eure Hand bei Nennung eures Namens zu heben.“ Wie schaffte es dieser Mann bloss, ohne nach Luft zu schnappen so schnell zu sprechen? Kaitlin schluckte beeindruckt. Wie automatisch hob Kaitlin die Hand, als er ihren Namen von der Liste aufrief.
So ging er die Klassenliste durch, und als er beim letzten Namen angelangt war, erschien ein zufriedenes Lächeln. Das Tempo, das er dabei vorlegte, blieb weiterhin überragend. „Nun gut, nach dieser Runde schliesse ich, dass alle Schülerinnen und Schüler anwesend sind. Gehen wir über zum eigentlichen Unterricht. Gleich zu Beginn möchte ich euch mitteilen, dass es mir wichtig ist, euch und eure Leistungen kennenzulernen.“
Kaitlin gähnte. Sie musste einen regelrechten Kampf ausfechten, um ihren Verstand zum Zuhören zu überreden. Merkwürdigerweise hatte die Schokolade der M&Ms bei ihr so gar keine Glückshormone ausschütten lassen.
„…deshalb möchte ich zu Beginn des Semesters mit einer Gruppenarbeit beginnen, die die Hälfte eurer gesamten Zeugnisnote ausmachen wird.“
Kaitlin schreckte auf. Ihre Aufmerksamkeit war augenblicklich zurück auf den Lehrer gefallen. Sie vernahm, wie einige in der Klasse es ihr gleichtaten und aufseufzten, nachdem sie den Sinn dieses Wortschwalls verstanden hatten. Sie selbst ärgerte sich weniger darüber, welchen Wert die Arbeit einnahm, als über die Tatsache, dass niemand mit ihr in einer Gruppe würde arbeiten wollen.
„Ruhe bitte.“ Mr. Parkers Stimme klang auffordernd. „Die Arbeit hat das Thema ‚idealistische Begriffe’. Jeder Gruppe ordne ich alltägliche, für jedes Individuum wichtige Themen wie ‚Freundschaft’ oder ‚Mut’ zu. Die Aufgabe der Gruppe besteht dann darin, zum zugeordneten Thema Definitionen zu finden, aber auch eigene Spekulationen in die Arbeit einzubringen und den Begriff möglichst gut zu erläutern. Beispiele sind natürlich willkommene Kost. Ich möchte den Rahmen und den Inhalt des Begriffes erfahren. Das ist selbstverständlich keine einfache Arbeit, doch ich hoffe, dass es im Bereich des Möglichen liegt.“
Seine Worte gingen in allgemeiner Empörung unter.
„Ruhe“, fuhr sogleich seine Stimme unheilbringend durch den Raum.
Als Antwort bekam Mr. Parker weitere Seufzer geschenkt. Noch immer meinte Kaitlin verwirrte Gesichter zu erkennen, die sich ob der Geschwindigkeit des Unterrichts an der Nase kratzten, sich der Bedeutung seiner Worte noch immer nicht bewusst. Doch ihr Lehrer fuhr unbeirrt fort. „Ich möchte nicht, dass es einen Andrang auf die verschiedenen Themen gibt und ebenso möchte ich vermeiden, dass irgendwelche Kabbelei wegen der Gruppenzusammenstellung entsteht. Schliesslich wollen wir das Beste mit unserer Zeit anfangen.“ Der Lehrer zwinkerte ihnen mit falschem Lächeln zu, das unerwidert blieb. „Deshalb habe ich die Gruppen und Themen schon während den Ferien eingeteilt. Ich lese nacheinander die Gruppen und das jeweilige Thema vor.“
Einige schreiten empört auf und Kaitlin zog sich tiefer in ihren Stuhl zurück. Sicher wollte niemand mit ihr in einer Gruppe sein. Warum bloss hatte dieser Mann seine Ferien mit solch unnützen Dingen verbringen müssen? Hatte er sich nicht stattdessen eine Packung Schokonüsse genehmigen können?
Gerade noch rechtzeitig erhaschte Kaitlin, dass Mr. Parker ihren Namen herunterlas.
„Hundsman Kaitlin, Mayer Nicole, Newcole Lauren, Piper Juliane, Summer Hailey. Diese Personen bilden die erste Gruppe. Sie bekommen das Thema ‚Freundschaft’ zugeteilt.“
„Es heisst ‚Nicki‘ und nicht ‚Nicole‘“, warf ein Mädchen mit rötlichem Haar ein. „Wissen sie, ‚Nicole‘ klingt einfach zu übl…“-
„Danke für diesen hilfreichen Beitrag, Miss NICOLE Mayer.“, unterbrach ihr Deutschlehrer das Mädchen. Nur kurz liess er sich in seinem Tun beirren. Er war bereits zur nächsten Gruppe auf seiner Liste gesprungen.
Unnütze und fragwürdige Dinge, fügte Kaitlin hinzu. Sie blickte sich nervös um, ihr Fuss unentwegt über den Boden scharrend. Zuerst sah sie Lauren, die in der Mitte der Bankreihen sass und sich durch ihr perfektes sitzendes schwarzes Haar fuhr. Eine Reihe weiter vorne spielte Nicki nun demonstrativ gelangweilt mit ihrem Augenbrauenpiercing; selbst Kaitlin war schon zu Ohren gekommen, dass Nicki als leicht verrückt galt. Neben Nicki befand Juliane, die ihr Haar streng zurückgekämmt hatte und interessiert jedem Wort des Lehrers lauschte. Gerade eben notierte sie mit gezücktem Stift etwas in einem kleinen Notizheft. Sie sass so kerzengerade auf ihrem Stuhl, dass es Kaitlin für einen Augenblick Angst und Bange war, dass sie samt Stuhl vornüberkippte. Juliane war Jahrgangsbeste und galt als die wohl grösste Streberin des Internates. Wer Hailey Summer war, wusste Kaitlin nicht. Sie schlussfolgerte daraus, dass Hailey neu war. Vielleicht bedeutete das ja, dass sie sich gegenüber Kaitlin nett verhalten würde? Jedoch konnte Kaitlin nicht leugnen, dass ihr bei solchen Überlegungen immer wieder ein Bild ihres eigenen Aussehens vor dem inneren Augen erschien. Ihres abscheulichen Aussehens. Kaitlin schluckte. „Freundschaft“. Das konnte ja heiter werden!
Lauren konnte nicht gerade behaupten, glücklich über die Gruppenzuteilung gewesen zu sein. Kaitlin war ja wohl die grösste Aussenseiterin, die es gab und Nicki war einfach nur ein Freak. Zu Juliane brauchte sie nichts zu sagen. Schon alleine die Tatsache, dass sie sich ein Zimmer mit ihr teilen musste, sprach für sich. Hailey gehörte wahrscheinlich ebenso wie die anderen drei zu der Gruppe der Leute, die frau einfach nicht kennen wollte. So konnte Lauren nicht gerade behaupten, dass sie zuversichtlich dem neuen Jahr entgegenblickte, als die Pausenglocke schrillte und sie vom Deutschunterricht befreite. Ausnahmsweise verliess sie das Klassenzimmer als eine der ersten und trat in den bereits von Schülern in Beschlag genommenen Flur. Ihr Blick glitt suchend durch die Menge. Erst, als sie sich nach links wandte, erspähte sie ihren Bruder, der an die Wand gelehnt mit einem blondhaarigen, flachbusigen Mädchen aus der Achten flirtete. Genervt schüttelte Lauren den Kopf. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als „ein weibliches Anhängsel“ – er selbst es nannte - für ihren Bruder, das auch etwas taugte und ihm einmal gehörig den Kopf wusch. Das nicht seine weiblichen Reize im Übermass einsetzte, selbst, wenn es gar keine besass, und zudem nicht nur sinnlose Äusserungen von sich gab.
Der Entschluss, ihrem Bruder gehörig den Kopf zu waschen, war schnell gefasst. Ausserdem musste Lauren zugeben, dass sie sich nicht gerne alleine im Flur wiederfand, während alle Jungs sie mit unverhohlenem Interesse und Speichel in den Mundwinkeln musterten.
Ihr Bruder sah ihr mit spitzbübischem Lächeln entgegen, als sie schliesslich auf ihn zu trat. Sie hob die Hand und setzte ein Lächeln auf. „Hi Dominic.“
Das Mädchen in seinen Armen beäugte sie misstrauisch, ehe ihre Wangen in einer heftigen Rotnuance erglühten. „Oh, Lauren.“
„Ja, Lauren.“ Lauren hätte ahnen müssen, dass es so kommen würde. Und gleich…
„Weißt du, ich würde alles geben, um so wie du zu sein.“ Das junge Mädchen wandte sich von Dominic ab, der seiner Schwester schadenfreudig zugrinste.
…würde sie ihre Sympathie und Bewunderung für Lauren bekunden. Genervt verdrehte sie die Augen. Ehe sie zu einer Erwiderung ansetzen konnte, hielt ihr Bruder sie bereits von unbedachten Bemerkungen ab.
„Hey Schwesterherz, gut angefangen?“ Dominic strich sich durch sein blondes Haar und legte den Arm um seine Schwester. Gemeinsam liessen sie das Mädchen stehen, das ihnen verwirrt nachblickte.
„Eine Achtklässlerin?“, fragte Lauren nur herablassend.
„Sie hatte schöne Augen.“
„Ach, auf so was achtest du?“ Lauren konnte sich ein kaltes Lächeln nicht verkneifen.
„Ja, sicher. Nachdem ich einen kurzen Blick auf ihre Kehrseite gewagt hatte…“
Lauren schüttelte mit einer Mischung aus Belustigung und Ekel den Kopf. „Du bist schlimm.“, stellte sie bestimmt nicht zum ersten Mal in den letzten Monaten fest. Dieser Junge konnte einfach nicht ihr Bruder sein -
„Na, ich habe zumindest das gleiche Blut wie du. Das heisst, wir sind gar nicht so verschieden.“ Dominic grinste sie spöttisch an.
- Und trotzdem konnte er ihre Gedanken lesen. Lauren stöhnte. „Und das soll bedeuten, dass ich ebenfalls ein lüsternes, unschuldigen Mädchen auflauerndes Geschöpf bin?“
„Du sagst es. Abgesehen davon, dass du wohl eher die unschuldigen Jungen um den Verstand bringst. Und leider nicht nur diese Sorte der männlichen Spezies… Wenn du es bloss mehr nutzen würdest und mit diesen unschuldigen oder von mir aus auch nicht ganz unschuldigen Geschöpfen ausgehen würdest. Es macht Spass, du solltest es mal versuchen.“
Lauren schnippte mit den Fingern. „Du rätst mir dazu, mir einen drogenabhängigen Badboy zu schnappen?“
„Ein bisschen unschuldiger sollte er wohl schon sein.“ Dominic zuckte lachend die Achseln.
Typisch für ihren Bruder. „Zu solchen Dingen werde ich in den nächsten Wochen keine Zeit haben. Ich muss an einem unsinnigen Projekt arbeiten. ‚Freundschaft‘ - dass ich nicht lache.“
„Aha. Dann warte erst mal das nächste Jahr ab. Ich musste heute Morgen meine erste Arbeit schreiben. Repetition. Man sollte den Lehrern sagen, dass Ferien nicht zum Lernen genutzt werden.“
„Du musst zumindest nicht Stunden deiner kostbaren Freizeit mit Kaitlin Hundsman und Nicole Mayer verbringen.“
„Ach, komm. Vielleicht sind die beiden ja gar nicht so schlimm.“ Dominic versuchte augenscheinlich, einen aufkommenden Lachkrampf zu unterdrücken. „Obwohl - viel schlimmer könnte es wohl nicht mehr werden.“
„Juliane Piper“, meinte Lauren bloss.
„Oha. Die volle Fraktion.“
Lauren nickte und nahm im gleichen Moment aus den Augenwinkeln wahr, dass Juliane sich den Weg zu ihr bahnte.
„Mir schwant Böses“, murmelte Lauren kopfschüttelnd.
Dominic grinste schelmisch. „Schicksal. Anstatt des drogenabhängigen Rockers erhältst du ein Mauerblümchen. Ich glaube, ich sollte jetzt gehen. Ich hab eben ein hübsches Mädchen…“
Lauren unterbrach ihn. „Hübsche Mädchen gibt es viele. Wie sieht es mit Intelligenz oder Charisma aus?“ Sie konnte wirklich nicht fassen, dass ihr Bruder so hatte werden können. Besass er vielleicht ein Gen, von dem sie glücklicherweise verschont geblieben war?
„Ach, komm schon. In unserem Alter hält das sowieso nicht lange. Das heisst, auf diese Eigenarten muss man keinen Wert legen.“
„Eigenarten?!“ Lauren schüttelte fassungslos den Kopf und starrte Dominic mürrisch hinterher, der bald schon in der Schülermasse verschwand. „Idiot“, murmelte sie und stellte sich innerlich auf das bevorstehende Gespräch mit Juliane ein.
Hailey sah ein kleingewachsenes, zierliches Mädchen auf sich zukommen. Es hatte hüftlanges, wirres rotes Haar und Hailey meinte, nur bereits an einem Ohr schätzungsweise zehn Ohrstecker abzählen zu können.
Das Mädchen hielt ihr gegenüber inne und meinte locker. „Was machst du hier?“
Erstaunt neigte Hailey den Kopf. Dass jemand hier freiwillig mit ihr sprach… Eine Premiere an diesem noch jungen Morgen. „Was meinst du?“
„Na, wir haben Pause“, führte das Mädchen aus, als liesse sich dies von selbst erklären und Haileys Verhalten daher so sonderbar, dass es zu Tuscheleien einlud.
„Das ist mir auch klar“, stotterte Hailey. Zumindest etwas, was sie gewusst hatte. Ansonsten hatte sich diese Schule ihr bisher eher als verwirrend dargestellt.
„Du bist neu, nicht?“ Das andere Mädchen liess ihr keine Zeit zu antworten. Stattdessen fuhr es unbekümmert mit seiner Erklärung fort. „Dann kannst du es nicht wissen. Nur Langweiler bleiben während der Pause im Klassenzimmer. Die interessanten Leute gehen nach draussen. Und da wir beide nun mal augenscheinlich typische ‚ich-will-interessant-sein’-Personen sind, gehen wir ebenfalls nach draussen.“
Hailey zögerte, erhob sich dann aber willig. Vorsichtig lächelnd folgte sie dem Mädchen aus dem Raum und auf den weitaus lauteren und volleren Schulgang. Sie bezweifelte, dass sich tatsächlich alle Schüler draussen versammelten. Doch Hailey beschloss, das Spiel des anderen Mädchens mitzuspielen.
„Und was macht ihr im Winter?“, fragte sie also unschuldig.
„Da frieren wir uns den Allerwertesten ab.“ Das Mädchen zuckte die Schultern, als sei dies die verständlichste Schlussfolgerung. „Ich bin übrigens Nicole Mayer. Aber nenn mich Nicki. Nicole klingt zu üblich. Zu uninteressant halt. Und uninteressant zieht in dieser Welt leider nicht.“
Hailey grinste amüsiert. „Na dann – hi Nicki.“
Nicki öffnete mit einem einfachen Tritt die Tür des Schulgebäudes und trat ins Freie. Eine ungewöhnliche Vormittagshitze schlug Hailey entgegen, als sie über die Türschwelle auf den abgehenden Kiesweg trat. Sie folgte Nicki unschlüssig zu einer Wiese, auf der sich etliche Holztische der Marke Eigenbau wiederfanden. Entschlossen trat Nicki an einen freien Tisch und bedeutete Hailey, sich zu setzen.
„Ich habe mich wahrscheinlich gleich gefühlt wie du. Einsam und Grau.“, meinte sie nun seufzend und legte das Kinn in die Hände.
„Grau?“, erwiderte Hailey kritisch.
„Grau. Ein grau der ganz grauen Sorte. Als ich neu war, hatte ich auch keine Freunde. Die habe ich bis heute nicht. Ausser vielleicht Adam. Aber den ausgenommen, habe ich mich bisher von den meisten Leuten ferngehalten. Aus gutem Grund, wenn du mich fragst.“ Nicki musterte sie grinsend.
„Oh.“ Hailey hob verwirrt die Augenbrauen. Sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen.
„Du hast traurig ausgesehen, wie du alleine da gesessen hast. Darum habe ich dich mitgenommen. So hab ich meine gute Tat für diesen Tag auch bereits erledigt. Und natürlich auch, weil du mit mir in einer Gruppe bist und ich in naher Zukunft mit dir an einem Projekt arbeiten werde. Nicht das mir Schulprojekte was bedeuten, aber na ja… Irgendwie muss man ja durchs Jahr kommen.“ Nicki beendete ihren Wortschwall mit einem neckischen Grinsen und schnappte keuchend nach Luft.
„Na dann, danke für deine Fürsorge.“
„Höre ich da etwa Spott heraus?“
„Nein, nein, es ist nur, dass ich nicht erwartet hätte, dass sich jemand darum kümmert.“, beschwichtigte Hailey. Tatsächlich empfand sie Sympathie für das andere Mädchen, das aus welchem Grund auch immer den Mut aufgebracht hatte, sie mit nach draussen zu zerren. Um Haileys Lippen legte sich ein ehrliches Lächeln.
„Ich weiss, es gibt nicht viele gesellschaftsorientierte Menschen in der grossen, weiten Welt.“ Nicki seufzte theatralisch. „Hab ich’s doch geahnt: Da kommt Juliane.“
(3) - Definitionen von Freundschaft -
Während Hailey über ihren Mathehausaufgaben brütete, dachte sie darüber nach, wie schnell die ersten drei Tage doch vergangen waren. Sie war von Unterricht zu Unterricht geeilt, hatte ab und an ein Wort mit Juliane gewechselt, die sie dazu drängte, bald einen Termin für die erste Gruppensitzung festzulegen, und nebenbei versucht, ihr Leben zurück in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken. Doch nichts war hier wie zuhause. Alles schien grösser und weitläufiger, und immer mehr fand sie an der Vorstellung Gefallen, dass sie das arme Mädchen darstellte und sich um sie herum die geliebhätschelten (warum musste sie bei diesem Wort augenblicklich an Chris denken?) Leute scharten; fast schon wie in einem Märchen. Nicht, dass Hailey an Alltagsmärchen glaubte oder zumindest nicht allzu fest. Es war nur… Sie seufzte schwach. Fakt war auf alle Fälle, dass sich hier in zigfacher Kopie das Abbild des perfekten Schülers tummelte, der allein schon durch seine Haltung und natürlich durch seine Kleidung Aufmerksamkeit erheischte. Die Schüler, die durch Stipendien einen Platz am Internat ergattert hatten und sich versuchten, den Reichen anzupassen, bildeten dagegen die Ausnahme. Hailey hatte bereits geahnt, dass es nicht einfach sein würde, Freunde zu finden, und tatsächlich schien hier schon alles organisiert, die Gruppen bereits gebildet. Bei den wenigen Personen, die alleine herumsassen, handelte es sich entweder Lehrer oder Aussenseiter, wie sie im Buche standen. Hailey befürchtete zwar einerseits bald ebenfalls zu letzteren zu gehören, andererseits zog sie eine schlichte und einfache Lebensweise einer luxuriösen und beinahe unverschämt eitlen vor. Die einzige Bezugsperson, die sie in den ersten Tagen gefunden hatte war Nicki. Doch an ihre verrückten Ideen und ihren Sarkasmus, glaubte Hailey, würde sie sich erst noch gewöhnen müssen.
Im gleichen Augenblick klopfte es an ihrer Zimmertür. Ihre Raumnachbarin, eine platinblonde Bikinischönheit, schaute entnervt von der Zeitschrift „Glamour Girl“ auf und bedeutete Hailey mit einem abfälligen Blick, die Tür zu öffnen.
Hailey seufzte leise und rang sich dazu durch, sich zu erheben. Nur wenig motiviert drehte sie am Türknauf.
„Hi auch.“ Juliane stand ihr gegenüber, das Haar wie in den vergangenen drei Tagen streng zurückgekämmt und mit seitlich verschränkten Armen. „Mitkommen. Erste Sitzung. Jetzt.“
Das waren die einzigen Worte, die Hailey zwischen dem dröhnenden Rhythmus der Musik, die aus dem Nachbarszimmer schallte, vernahm.
„Oh.“ Hailey wollte eben die Zimmertür schliessen, doch da zog Juliane sich auch schon beim Arm zur Treppe.
„Wir versammeln uns in dem Zimmer, das ich mit Lauren teile. Kennst du sie schon?“
Hailey war froh, ausser Hörweite der lauten Musik gekommen zu sein und Juliane zumindest ansatzweise zu verstehen. Zudem erzitterten nun auch ihre Beine weniger stark, kaum, dass sie ausser Reichweite des Basses gelangt waren.
„Ich glaube nicht.“, gab Hailey zu.
„Sie würde dir sicher auffallen. Sie ist das Mädchen, dem alle Jungs nachstarren.“, meinte Juliane zuversichtlich.
„Oh.“ Tatsächlich erinnerte sich Hailey an so manche auffälligen Mädchen, die sie hier im Internat bereits gesehen hatte. „Blond oder schwarzhaarig?“, versuchte sie es dennoch.
„Schwarzhaarig. Die blonde ist Mandy. Glaub mir; sie willst du gar nicht kennen.“ Juliane grinste schief. „Aber mal ehrlich - als ob es wichtig wäre, wie gut man mit den Wimpern klimpern kann. Man ist schliesslich hier, um sich weiterzubilden. Andere Dinge können warten.“
„Sicher.“ Hailey wagte es nicht zu widersprechen. Wie frau schon auf den ersten Blick erkennen konnte, war Juliane klug und gleichzeitig gewillt, sehr viel dafür herzugeben.
Juliane öffnete schliesslich eine Tür auf der rechten Flurseite und stiess Hailey regelrecht in den angrenzenden Raum. Im Zimmer verteilt sassen bereits drei Mädchen. Bei einem davon handelte es sich um Nicki, die auf einem der Betten lungerte und aus dem Fenster starrte. Sie grinste Hailey müde entgegen. Ein schwarzhaariges Mädchen, das Hailey für Lauren hielt, sass steif auf seinem Stuhl und sah ihnen finster entgegen. Das dritte Mädchen strich sich eben das strähnige braune Haar aus dem Gesicht und schaute beschämt zu Boden. Es sah nicht so aus, als ob hier frohe Laune und gute Kommunikation vorausgegangen seien, ehe Hailey und Juliane eingetreten waren. Hailey ahnte, dass es auch in gleicher Richtung weiterverlaufen würde.
Tatsächlich hob Lauren sofort den Blick und funkelte Juliane giftig an. „Wir haben alle Zeit der Welt. Warum also schon heute?“
„Wenn alle Zeit der Welt für dich ein Semester heisst, dann bitte. Aber wir haben viel zu tun, müssen Definitionen und gute Sachverhalte erläutern und das braucht nun mal seine Zeit.“ Juliane zuckte die Achseln, während sie die Tür hinter Hailey schloss.
„Ach, kommt Leute, lacht doch mal.“, warf Nicki ein und hob erwartungsvoll den Blick. Sie erntete frostige Mienen von Lauren und Juliane.
„Jeder auf diesem Internat weiss, dass diese Gruppenkonstellation nichts als Ärger birgt.“ Lauren hob genervt die Arme.
Die Stimme des fünften Mädchens war leise und piepsig. „Machen wir doch irgendwie das Beste draus.“
„Hundsman, Klappe.“ Lauren warf sich auf das zweite Bett und griff genervt nach einem Kissen.
„Sollen wir nun beginnen oder gleich wieder gehen?“ Nicki verdrehte gelangweilt die Augen.
„Du bist Hailey, oder?“ unterbrach Lauren Nicki und musterte sie. „Freak oder nicht Freak?“
„Gibt es etwas dazwischen?“, entgegnete Hailey leicht unsicher.
„Also Freak. Echt Leute, ich bin hier von lauter Verrückten umgeben!“
„Also ich bin mir nicht so ganz sicher, wer hier wirklich die Verrückte ist…“, murmelte Nicki betont beiläufig und setzte sich auf den Boden, auf dem vereinzelt Mappen und Blätter verstreut lagen.
„Oh, darauf gebe ich dir dann eine Antwort, wenn ich meine zwanzig neuen Piercings an beiden Ohren gestochen habe und als lebender Totenkopf durch die Welt wandle“, zischte Lauren zurück. Sie blieb stur sitzen, während Juliane und das fünfte Mädchen Nickis Beispiel Folge leisteten und den Kreis begannen zu vervollständigen. Hailey zögerte kurz, setzte sich dann ebenfalls dazu.
„Kurze Vorstellungsrunde“, schlug Juliane vor. „Für Hailey. Also ich bin Juliane, das ist Nicki, Lauren sitzt auf ihrem Bett, und Kaitlin kennst du wohl noch nicht.“
Hailey lächelte unsicher. Diese Vorstellungsrunde war wirklich mehr als kurz gewesen. Aber Hailey beschloss, die Kürze der Vorstellungsrunde zu akzeptieren - Juliane hatte bereits mit ihren Worten fortgefahren.
„Lauren, kommst du?“ Juliane griff ungeduldig nach einem Stapel Papier.
„Warum sollte ich?“
„Weil du sonst eine 6 bekommst. Und ich glaube nicht, dass das deinen Eltern gefällt.“
Laurens Stimme wurde frostiger. „Ich wüsste nicht, was dich das anginge. Notfalls kann ich immer noch die Schule wechseln.“
„Mach du das, dann sind wir dich ja endlich los“, warf Nicki dazwischen und lehnte sich zurück.
„Das kann ja irgendwie nur heiter werden“, murmelte Kaitlin betrübt.
Arbeit zu „Freundschaft“
DEFINITIONEN (laut eigener Meinung), zu Beginn der Arbeit verfasst
Juliane: Freundschaft ist ein Band zwischen Personen, das aus den erbrachten Leistungen der betroffenen Personen geknüpft ist. Um einen gewissen Leistungsgrad zu erreichen, gilt es, gemeinsame Interessen zu finden.
Hailey: Freundschaft ist wie eine Blume, zuerst eine Knospe, die durch viel Pflege und Sorgfalt erblüht, doch schnell durch Kleinigkeiten verwelken kann und nach strengen Wintern manchmal nicht mehr fähig ist, wieder zu erblühen.
Nicki: Freundschaft kann man nicht definieren. Dazu müsste man seine Meinung ständig revidieren. Selbst die grössten Philosophen geraten bei solchen Themen ins Stocken (was meiner Meinung auch damit zusammenhängt, dass die sehr geehrten Herren so klug gar nicht sind). Doch es ist etwas, dass es überall gibt, unter Menschen verschiedener Abstammung und Rasse, verschiedenen Temperaments, bei grossen und kleinen, jungen und alten, dicken und doofen oder so ähnlich. Und nicht zu vergessen – auch bei Freaks (Ob du es glaubst oder nicht, Lauren!). Interessant zu beobachten, auf alle Fälle. Blabla und so weiter.
Lauren: So etwas wie Freundschaft gibt es nicht. So sehr sich Menschen auch dazu bemühen, Bände zu knüpfen, so sehr sind sie auch in der Lage, mit ihrem egoistischen und kühlen Verhalten zu verletzen. Mensch und Freundschaft stehen im Widerspruch.
Kaitlin: Freundschaft ist etwas, was irgendwie nur für die perfekten Leute gemacht ist, alle anderen ausgeschlossen. Ein Gefühl, das manche stärkt, andere durch Nichtbeachtung verletzt.
„Denkst du, die zweite Sitzung bringt mehr?“ Ein weiterer Tag war verstrichen und Hailey gähnte laut, während sie die letzten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut genoss. Es war früher Abend und wie Juliane heute Mittag beschlossen hatte, Zeit für eine zweite Sitzung. Nachdem die erste nicht sonderlich viel gebracht hatte, war Hailey nicht gerade frohen Mutes. Ihre Gruppe war ein zu wild zusammengewürfelter Haufen, der es nicht schaffte, eine Minute ohne Spott durchzustehen. Nun fand sich Hailey auf dem Weg zurück ins Wohngebäude, um an der zweiten Sitzung teilzunehmen.
Nicki, die neben ihr ging, spielte gedankenverloren mit einem ihrer Ohrstecker. „Vergiss es. Das ist eine genauso absurde Vorstellung, wie die Möglichkeit, dass ich und Lauren eines Tages Freunde werden. Und du musst zugeben: Diese Chance ist ziemlich gering.“
Hailey grinste verschmitzt. „Nichts ist unmöglich.“
„Ich glaube, da bringt nicht mal positives Denken etwas. Hast du übrigens bemerkt, wie Lauren gestern aus der Wäsche geschaut hat? Das Mädchen hat was von Hanniball. Du solltest dir den Film anschauen. Horrorschocker. Ich liebe diese blutrünstigen Dinger.“ Hailey sah, dass es Nicki offenkundig schauderte.
„Du meinst Lauren ist eine Bestie aus einem Horrorstreifen?“ Ein erstaunlicher Vergleich, empfand Hailey.
Nicki seufzte. „Nein, sie besitzt lediglich den Blick der Bestie. Deshalb wirkt sie auf unsere schüchternen Jungs wohl auch so anziehend. Sie spritzt Gift, gegen das wohl nur wir sogenannten Freaks immun sind. Passt doch zu Lauren, oder? Ein einfacher giftiger Blick und die Männer sind ihr ergeben. Und dann…“
„Keine Details bitte.“ Hailey lächelte breit. „Ich glaube ich sollte nicht über sie urteilen. Ich hab sie gestern zum ersten Mal gesehen.“
„Ach komm, das macht Spass.“ Nicki wollte eben weiter ausschweifen, als sich ihnen ein Junge in den Weg stellte. Chris, wie Hailey augenblicklich erkannte. Genauso augenblicklich erstarrte sie.
„Hi.“ Er lächelte das Lachen, das Hailey bereits von ihm kennen und mögen gelernt hatte. Verlegen gebot Hailey ihren Gedanken Einhalt.
„Oh, hallo.“ Hailey rügte sich sofort dafür, dass ihr Herz einen Hüpfer gemacht hatte, als sie Chris erblickt hatte. Sie spürte instinktiv, dass schon bald der Zeitpunkt gekommen sein würde, da sie ihr letztes bisschen Verstand ganz verlor, sollte es so mit ihr weitergehen. Unruhig knabberte Hailey an ihrer Unterlippe.
„Hi.“ Nicki hob leicht misstrauisch die Brauen. „Kommst du im Auftrag Gottes, um uns für unsere Lästerei zu bestrafen?“
„Dann soll ich also in etwa ein Engel sein? Nein, ich glaube, diese Aufgabe überlasse ich besser euch.“ Chris grinste neckisch und meinte achselzuckend zu Hailey gewandt: „Ich dachte, du brauchst vielleicht jemanden, bei dem du dich über die ersten Tage hier auslassen kannst.“
„Dann lasse ich euch wohl lieber allein. Alleine lassen, auslassen und zudem bin ich selbst vollkommen gelassen. Das passt doch. Und wenn ich noch einmal das Wort ‚Schule’ höre, werde ich selbst zu Haniball.“ Nicki murmelte ein „Ciao“ und verschwand dann seufzend im Schlaftraktgebäude.
„Was...?“ Offenkundig verwirrt blickte Chris ihr nach.
„Glaub mir, das willst du nicht verstehen.“ Hailey lächelte. Dann fügte sie an: „Es ist merkwürdig hier.“ Sie versuchte mit aller Kraft gegen die Vorstellung zu kämpfen, wie es wohl wäre, in Chris Armen den Tumult der letzten Tage zu vergessen. Hailey konnte nicht sagen, was genau es war, das sie zu ihm hingezogen fühlen liess. Doch unverleugbar fühlte sie so.
„Beruhigt es dich, wenn ich dir versichere, dass es nicht an dir liegt?“ Chris hatte sich abgewandt und näherte sich nun einer Parkbank, die sich nur wenige Meter vom Eingang des Wohngebäudes entfernt wiederfand. Wie in Trance folgte Hailey dem Jungen.
„An wem soll es sonst liegen?“ Irritiert knabberte Hailey an ihrer Oberlippe, ehe sie es Chris erneut gleichtat und sich auf den harten Sitz der Bank fallen liess. Was war der Durchschnittsabstand, den man normalerweise zu einem Menschen auf einer Parkbank wahrte? Hailey entschloss vorsichtig zu bleiben und setzte sich in einigen Zentimetern Entfernung auf das alte Holz.
„An ihnen. Den Geliebhätschelten. Den Reichen. Ich passe hier wohl einfach nicht rein.“ Chris schnaubte leise, lächelte aber unvermindert weiter.
„Dann bin ich also sozusagen das arme Mädchen, das mit dem Bus kommen musste, an das du dich nun im Sinne eines letzten Hoffnungsschimmers klammerst? Der Notfallgroschen?“ Hailey gluckste.
„Notfallgroschen?“ Irrte sich Hailey, oder war Chris soeben etwas näher gerückt? Sie hörte ihr Herz laut gegen ihren Brustkorb poltern und hoffte innig, dass er es nicht bemerken würde.
„Einen Groschen, den man sich für den Notfall aufhebt. Für Momente, da es keinen anderen Ausweg mehr gibt.“, erklärte sie mit schwacher Stimme.
„Oh.“ Chris hielt kurz inne, zögerte augenscheinlich. „Also, dann würde ich sagen, dass das mit dem Notfallgroschen so nicht stimmt.“ Er musste um einiges erfahrener in all diesen Liebesdingen sein als sie es war, hörte Hailey ihre innere Stimme von Kritik erfüllt raunen, während sie gewahrte, dass er unverblümt weiter näherrutschte.
„Was bin ich denn dann?“ War er noch einmal näher gerückt? Hailey schluckte lautlos.
„Eine gute Frage. Lässt du mir etwas Zeit, mir eine Antwort zu überlegen? Ich glaube, deine Freundinnen warten auf dich.“ Chris nickte mit schelmischem Grinsen in Richtung des Eingangbereiches: Da stand Juliane; die Arme verschränkt, der linke Fuss ungeduldig über des Kies scharrend.
„Kommst du?“ Auch Julianes Stimme verriet ihre Ungeduld. „Wir müssen weitermachen. Die anderen sind alle schon da.“
„Sicher.“ Hailey erhob sich schwerfällig, wagte jedoch einen letzten Blick auf Chris - seine Aufmerksamkeit galt noch immer ihr. Es machte ihr nicht einmal etwas aus, dass sie nicht mehr dazu gekommen war, sich umzuziehen. Mit zittrigen Beinen flüsterte sie Chris leise zu: „Freundinnen. Ja, sicher.“
(4) - Darf ich vorstellen? –
Die letzten Sommertage schienen vorüber. Immer häufiger legte sich morgens eine dicke Schicht Nebel über die Gebäude des Internats, der kein Platz mehr für die wärmende Sonne liess. Die Kleider wurden dennoch nicht züchtiger - Nicki glaubte sich wie jedes Jahr, seit sie sich an dieser Schule wiederfand, in einem wirren Schauspiel mit schrägen Charakteren gefangen. Dieses Jahr galt es die Sommerbräune mit allen Mitteln zu behalten. Genervt blickte Nicki an sich herunter – ihre Haut war weiss, wirkte fast schon kränklich, so, wie sie es immer tat. Die schwarze Kleidung, die sie trug, bot dazu einen ausserordentlich guten Kontrast. Dass niemand diesem Modetrend folgte - daran hatte sie schon längst nicht mehr zu knabbern.
Misstrauisch beäugte Nicki das Sandwich, das sie in der Schulküche gekauft hatte. Für ein Eliteinternat schienen das Salatblatt unappetitlich braun und die einzelne Scheibe Tomate ungewohnt säuerlich riechend.
„Wollen sie uns jetzt alle auf Diät setzen?“ Mürrisch legte sie das Brötchen zurück auf ihr Tablett.
Der Junge ihr gegenüber – ebenfalls in schwarz gekleidet, jedoch mit olivfarbener Haut und langen Rastas – grinste sie über den Rand seines Buches hinweg an. Adam, der einzige Freund, der ihre Neurosen halbwegs verstand und zumindest ansatzweise ebenso verrückt wie sie selbst war.
„Vielleicht wollen sie bloss neue Esstrends setzen?“
„Vergammelte Tomaten? Und seit wann liest du?“ Mit knurrendem Magen starrte Nicki auf den Teller Pasta, der sich auf dem Adams Tablett auf der anderen Tischseite befand.
„Du klingst überrascht“, erwiderte Adam gespielt beleidigt.
„Seit wann liest du?“ So leicht konnte er sie nicht aus der Fassung bringen. Sie kannte Adam viel zu gut – gemeinsam waren sie durch die verschiedensten Lebensabschnitte gerauscht: Von der „Der erste saftig-rote Pickel“-Phase bis hin zur „Wir sind nun zu alt für Barbies und Game Boys“-Phase. Daher konnte Nicki mit felsenfester Inbrunst behaupten, dass Adam einfach nicht der Typ Mensch war, der das Lesen eines Buches als Vergnügen betrachtete.
„Seit mir meine Englischlehrerin Hausaufgaben für die nächste Stunde aufgegeben hat.“
„Du erledigst die Hausaufgaben?“ Nicki sagte dies mit ungewollt schriller Stimme. Erschüttert schüttelte sie den Kopf. „So tief bist du also schon gesunken.“ Wie hatte die Zeit sie doch alle verändert?, fügte Nicki in Gedanken hinzu. Als sie noch naiv, stolze Barbiebesitzerin und Piercing-los gewesen war, dachte Nicki weiter, war alles eindeutig einfacher gewesen. Mürrisch wagte sie einen weiteren begierigen Blick auf den Pastateller ihr gegenüber.
„Ich bin letztes Jahr fast durchgefallen, vergessen? Meine Mutter reisst mir den Kopf ab, wenn ich so weiter mache.“ Adam lachte schallend, doch Nicki beachtete ihn nicht gross.
„Ein Buch. Kein einzelnes Blatt Papier, kein Comic. Ein Buch.“ Noch immer ungläubig schüttelte Nicki den Kopf.
„Richtig festgestellt. Willst du etwas Pasta?“ Der Junge seufzte theatralisch. „Sonst fallen dir ja noch die Augen aus dem Kopf.“
„Pasta?“
„Nimm ruhig.“
Erst allmählich verstand Nicki die plötzliche Wendung ihres Gesprächs. Es lag ihr auf der Zunge, Adam erneut wegen seines plötzlich aufgetauchten Pflichtgefühls aufzuziehen, doch da ihr Magen ihr mit Boykott drohte, begnügte sie sich schliesslich mit einer Gabel Pasta.
Die Spaghetti hatten eindeutig besser ausgesehen, als dass sie tatsächlich auch mundeten, schloss Nicki resigniert. Dennoch stibitzte sie eine weitere Gabel. Ja, entschied sie schliesslich, das Kantineessen war wie gewöhnlich äusserst gewöhnungsbedürftig. Adam hingegen verhielt sich an diesem Tag so gar nicht gewöhnlich.
Ehe Nicki jedoch ihren Gedanken Ausdruck geben konnte, wurde sie von einem fremden Jungen unterbrochen, der von ihr unbemerkt an den Tisch getreten war und empörender Weise sofort Adams ungeteilte Aufmerksamkeit zugesprochen bekam.
„Joonas, da bist du ja.“, kam es prompt aus Adams Mund. Es folgte ein vergnügtes Lächeln, dass Nicki Kopfschmerzen bereitete. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die ganze Situation wirkte irgendwie verkehrt. Und – natürlich - verstand Nicki nur Bahnhof. Was machte dieser Junge an ihrem Tisch? Und warum hatte Adam ihn bereits erwartet?
Missmutig hob sie den Kopf, um dem Neuankömmling genauer unter die Lupe zu nehmen. Der Junge hatte blondes, kurzes Haar und eisblaue Augen. Sein Mund war zu einem schmalen Strich verzogen, was ihn insgesamt ernst erscheinen liess. Er trug einfache Jeans und ein locker sitzendes Hemd.
„Danke, dass du gekommen bist.“ Adam nickte, offenbar immer noch erfreut.
Hätte Nicki Gedanken lesen können, hätte sie diese Trumpfkarte nun gezogen. Zu gerne hätte sie denn Sinn hinter Adams Worten verstanden. Warum sollte er plötzlich neue Kontakte schliessen wollen? Das passte so überhaupt nicht zu seinen Prinzipien, die da besagten, dass alle Internatsschüler hoffnungslose Dummköpfe waren. Ausgenommen Nicki, natürlich. Nicki, so lauteten Adams Erklärungen des Öfteren, war vielleicht hoffnungslos verwirrt, aber garantiert nicht dumm. So kniff Nicki irritiert die Augen zusammen und starrte Adam fragend an.
„Ähm, setz dich doch.“ Mit einer einfachen Geste deutete Adam auf den dritten Stuhl, der sich zwischen Nicki und ihm befand, Nicki bestimmt ingorierend. Der blonde Junge erwiderte nichts darauf. Wortlos rückte er den Stuhl zurecht und liess sich darauf nieder.
Nicki spürte instinktiv, dass sie eingreifen musste: Die völlig ungewohnte Situation drohte ihr über kurz oder lang die Sprache zu verschlagen. Und Nicki verschlug es unter normalen Umständen nicht so leicht die Sprache.
„Hallo auch.“, murmelte sie schliesslich. Joonas nickte ihr als Antwort lediglich zu.
„Was machst du hier?“ Nicki ahnte, dass ihre Frage leicht als unverschämt aufgefasst werden konnte. Deshalb fügte sie zögernd hinzu: „Nicht, dass mich deine Gesellschaft stören würde, sie ist nur etwas irritierend…“ Verdattert hielt Nicki inne und starrte auf das Buch, das der Junge soeben aus seiner Tasche gekramt hatte; es war dasselbe, in dem auch schon Adam geblättert hatte (dass er tatsächlich darin gelesen hatte, mochte Nicki nicht wirklich glauben).
„Er hilft mir.“ Adam grinste amüsiert.
„Was…?“
„Damit ich besser mit der Literatur klar komme. Du weißt schon… Ich und Bücher – wir pflegen nicht gerade eine freundschaftliche Beziehung.“
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“ Nur langsam begriff Nicki Adams Erklärung und doch fühlte sie sich keineswegs weniger verwirrt.
„Wenn du mich doch mal zu Wort lassen würdest. Aber du lachst dich ja schon kaputt, wenn ich ein einfaches Buch in der Hand halte.“
„Ein einfaches Buch? Dir ist der Schwierigkeitsgrad doch immer egal gewesen. Normalerweise hat es schon genügt, wenn du alleine das Wort ‚Buch’ gehört hast!“ Nicki schüttelte den Kopf. Sie wollte lachen, doch tatsächlich brachte sie es nicht fertig.
„Das hat sich jetzt nicht auf den Schwierigkeitsgrad bezogen.“ Adam nickte noch immer spitzbübisch grinsend.
Verwirrt betrachtete sie Joonas ein weiteres Mal - der Junge machte keine Anstalten, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Stattdessen starrte er das Buch an, als wäre es ein heiliges Relikt, den Mund noch immer zu einem dünnen Strich verzogen.
Sollte sie sich dieses Szenario wirklich noch länger antun? Nein, das würde sie nicht. „Ich sollte wohl gehen.“ Nicki warf die Gabel, die sie eben noch in der Hand gehalten hatte, auf das Tablett. Ein dumpfes Scheppern ertönte. „Ich glaube, ich habe Hailey gesehen. Wir wollten noch über Shakespeares ‚Herbstnachtstraum‘ und so reden. Ihr wisst schon – höchst intelligente und obendrein intellektuelle Frauengespräche und so.“
„Sommernachtstraum.“ Hatte sich Nicki das nur eingebildet, oder hatte der blonde Junge soeben zu ihr gesprochen? Erneut schüttelte sie den Kopf und wandte sich ab, ihre Augen zusammengekniffen. Da spielte ihr ihre Paranoia wohl wieder einmal Streiche. Denn wer war schon so unverschämt…? Nicki wagte es nicht, ihre Frage fertig zu denken.
„Bis dann“, rief sie noch über ihre Schulter.
„Ja, bis später.“ Adam Antwort kam nur keuchend, da er vor Lachen mittlerweile prustete.
Joonas erwiderte nichts.
Juliane wusste nicht, was sie als Nächstes erledigen sollte. Nie hatte jemand sie davor gewarnt, wie Kräfte raubend dieses Schuljahr sein würde. So hatte sie die plötzliche Hektik unerwartet getroffen und die Abende, die sie mit Lernen zubrachte, gewannen immer mehr an Länge und Intensität. Tatsächlich war es so weit geraten, dass sie ihr Zeitgefühl langsam aber sicher verliess. Es musste Freitag in der 10-Uhr-Pause sein, die dritte Schulwoche somit fast beendet. Zumindest sprachen alle Mädchen in ihrer Klasse von der abendlichen Disco. Oder irrte sie sich?
Mit Büchern beladen eilte sie durch den überfüllten Schulflur. Sie hatte vorgehabt, mit ihrem Deutschlehrer vor Beginn der Stunde noch einmal über die grosse Semesterarbeit zu reden und da half es nicht, dass die Zeit auch in diesem Fall drängte. Juliane musste ihm unbedingt eine Änderung in der Gruppenkonstellation vorschlagen. So konnte es einfach nicht weitergehen. Ihre Gruppe… Sie war eine einzige Katastrophe: Lauren, die sich unentwegt mit Nicki stritt und sich auch bei ihr nicht sträubte, unerschrocken in den verbalen Krieg zu ziehen. Kaitlin, die sich nur einmal in der Woche wagte, etwas zu sagen. Und schliesslich Hailey, die sich schon in ihrem ersten Jahr von den schlimmsten Jungs einwickeln liess. Kopfschüttelnd drängte sich Juliane weiter durch die Schülermassen. Nur noch wenige Meter, dann würde sie vor der Tür des Gemeinschaftsraums der Lehrer stehen…
Im nächsten Moment bereits spürte sie, wie sie angerempelt wurde und das Gleichgewicht verlor. Sie sah in Zeitlupenaufnahme, wie ihr die Bücher aus den Händen glitten und sie sich im letzten Augenblick an jemanden festkrallte, um einen Sturz zu vermeiden. Erschrocken presste sie die Augen zusammen.
Es dauerte einige Sekunden, ehe sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie es wagte die Augen zu öffnen und ihren Griff um die Person zu lösen. Keuchend schob sie ihre Brille zurecht. Um sie herum war der typischen Hektik während der 10-Uhr-Pause kein Abbruch getan worden, niemand hatte ihrem Beinahesturz Beachtung geschenkt. Erleichtert seufzte sie, als eine Stimme ihre Gedanken unterbrach.
„Du hast es wohl tatsächlich raus, im richtigen Augenblick deine Krallen auszufahren, nicht?“
Ein Junge mit perfekt sitzendem blondem Haar und tiefbraunen Augen betrachtete sie kopfschüttelnd. Eine einzelne Strähne war ihm ins Gesicht gefallen, die er nun mit einer einfachen Bewegung zurückstrich. Als schien er sich seiner Wirkung auf andere Menschen bewusst, musterte er sie selbstbewusst.
„Juliane Piper, richtig?“
Juliane nickte schwach. Sie spürte, wie Ärger über den Jungen in ihr aufkeimte - er verkörperte all das, was sie in einem Menschen nicht ausstehen konnte: Das makellose Aussehen, Markenkleidung und schliesslich – was Juliane keineswegs wunderte – hatte er eine Frau im Arm. Sie musste nicht nachfragen, um zu erahnen, bei welcher Tätigkeit sie die beiden unterbrochen hatte.
„Woher kennst du meinen Namen?“
„Ein ‚richtig’ hätte mir auch genügt.“ Der Junge zuckte gelangweilt die Schultern. Das Mädchen neben ihm schlang besitzergreifend die Arme um seine Hüften. Es war keine wirkliche Schönheit, doch hatte es Kurven an den richtigen Stellen, so, wie es anziehend auf die Männer wirkte.
„Wohl eher richtig kratzbürstig.“ Klug war es auch nicht, schloss Juliane aus den wenigen Worten, die das Mädchen nun gesprochen hatte.
Juliane entschloss sich, den schlechten Scherzen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Stattdessen kniete sie nun auf den Boden und griff nach ihren Büchern. Sie hatte Glück gehabt: Sie waren nicht weit geflogen. Bestimmt richtete Juliane sich auf und begann sich weiter in Richtung Lehrerzimmer vorzudrängen. Vielleicht würde sie Glück haben und ihr Deutschlehrer sich noch nicht ins Klassenzimmer zurückgezogen haben?
„Dann mach’s mal gut!“, rief der Junge ihr hinterher – seine Stimme triefte vor Selbstbewusstsein. Juliane hörte das Mädchen schrill lachen.
Angewidert schüttelte sie den Kopf. Niemals, so schwor sie sich in Gedanken erneut, würde sie zu einem dieser Mädchen mutieren.
Als der Dienstag langsam dem Mittwoch wich, spielte Lauren gedankenverloren mit einem kleinen Papierstück in ihrer Hand. Endlich war wieder einmal etwas Leben in das Internat gekommen. Schon seit zwei, drei Tagen wurde hier heftig über diesen kleinen Flyer diskutiert. Was nur wenige Sätze bei Durchschnittsjugendlichen anrichten konnten, war immer wieder amüsant zu beobachten. Drogen. Wäre hätte gedacht, dass sich ein Eliteinternat je mit solchen Sorgen würde herumplagen müssen? Kopfschüttelnd betrachtete sie zum wiederholten Mal die wenigen Zeilen, über die die wildesten Gerüchte verbreitet worden waren.
Liebe Schülerinnen und Schüler.
Wir von der Schulleitung möchten euch mit dieser Mitteilung davor warnen, mit jeglichen unerlaubten Substanzen zu experimentieren oder gar zu handeln. Wie eigentlich bereits bekannt sein sollte, ist dies illegal und wird auch am Edward Steppfield Internat mit Rauswurf und Strafanzeige geahndet.
Mit freundlichen Grüssen,
Martin Eddings,
Direktor der Oberstufe des Edward Steppfield Internats.
Lauren hatte bereits in den letzten Jahren gehört, dass es im wiederholten Falle zu Drogenexzessen gekommen war und nur selten jemand dafür verantwortlich gemacht werden konnte. Ein solches Schreiben hatte sie jedoch während ihrer gesamten Zeit an diesem Internat noch nie erhalten. Das musste unweigerlich bedeuten, dass etwas geschehen war. Normalerweise interessierte sich Lauren nicht für solche kindischen Belange wie der Konsum von verbotenen Substanzen. Doch etwas Abwechslung hätte dem gesamten Internat gut getan.
Nur mühsam konnte Lauren ein Gähnen unterdrücken. Es war bereits kurz vor 22 Uhr und sie musste noch einige Dinge erledigen. Mit einer schnellen Bewegung setzte sie sich in ihrem Bett auf und schüttelte die heftig protestierenden Glieder; viel zu lange hatte sie an diesem Abend untätig auf ihrem Bett gelegen. Neben sich hatte sie Juliane ungefähr im Zehnminutentakt Seufzen gehört und gesehen, wie sie eifrig Notizen schrieb. Wie konnte ein Mensch bloss so viel lernen? Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens starrte sie auf ihr unberührtes Schulmaterial. Sie musste noch einige Seiten eines Buches lesen und sich Gedanken zu ihrer Semesterarbeit machen. Wie sich herausgestellt hatte, stellte es sich als ungemein schwierig heraus, nichts dafür zu tun, wenn man mit einer übereifrigen Gruppenpartnerin das Zimmer teilte. Freundschaft… Lauren gähnte schwach. Sie hatte von Dominic gehört, dass Juliane in der vergangenen Pause mit ihrem Lehrer über einen Gruppenwechsel gesprochen hatte und hatte sich deshalb gezwungen, erstmals freiwillig mit ihrer Zimmergenossin zu reden und ihr zu versprechen, mehr Einsatz zu zeigen. Doch obwohl sie sich zwang, weniger schlecht von Juliane zu denken, konnte sie ein breites Grinsen nicht unterdrücken, wenn sie an Dominics Schilderung von dem Zusammenstoss mit Juliane zurückdachte. Dass er mit einem Mädchen zusammen gewesen war, als es passierte, machte Lauren zugleich jedoch nur noch einmal mehr bewusst, wie wenig ihr Bruder seine Prinzipien doch verändert hatte. Erneut gähnte Lauren und liess den Flyer schliesslich zu Boden gleiten. Sie würde schlafen gehen. Es blieb ihr noch genug Zeit, sich an anderen Tagen Gedanken über ein solch klischeehaftes Thema wie Freundschaft zu machen.
„Ms. Hundsman, haben Sie vielleicht noch fünf Minuten für mich?“
Kaitlin zuckte erschrocken zusammen. Es war ein typischer Mittwochmorgen und ihre Strategie hatte wie immer gelautet, nach Stundenende als eine der ersten aus dem Klassenzimmer zu stürmen, um den mitleidigen Blicken der anderen Schüler zu entgehen. Doch dieses Mal war sie einmal mehr nicht aufgegangen. Ihr Mathelehrer, Mr. Brightoner, betrachtete das Mädchen mit beschwichtigender Geste. Kaitlin ahnte sofort, dass dies kein gutes Zeichen sein konnte.
„Ich… Also… Fünf Minuten werden schon irgendwie gehen.“ Unsicher trat Kaitlin von einem Fuss auf den anderen, ehe ihr Lehrer sie mit einer einfachen Handbewegung anwies, zu ihm zu treten.
„Möchtest du dich setzen?“
„Nein, stehen wird schon irgendwie gehen.“, stotterte Kaitlin.
„Also geht es dir auch irgendwie gut?“ Die braunen Augen hinter der Nickelbrille musterten sie besorgt. Kaitlin schluckte leise. Was sie noch mehr hasste als ihr kümmerliches Auftreten vor anderen Personen, waren die vor Mitleid triefenden Fragen, mit denen sie sich immer wieder konfrontiert sah.
„Ja, mir geht es gut.“ Warum hatte sie dies bloss nicht selbstbewusster sagen können? Um ihre Antwort zu unterstreichen, nickte Kaitlin vorsichtig mit dem Kopf. „Alles ist… irgendwie… in Ordnung.“
„Irgendwie?“ Ihr Lehrer seufzte leise. „Hör mal, Kaitlin, ich weiss, dass du es schwierig hast. So, wie es mir scheint, fällt es dir nicht leicht, dich zu integrieren.“
„Doch. Es ist alles… irgendwie…“ Kaitlin stockte. Nervös fuhr sie sich durch das strähnige Haar. „Es ist alles in Ordnung. Dürfte ich nun gehen?“ Mit einem schnellen Blick schaute sie auf die Zeiger ihrer Uhr. Es waren erst drei Minuten verstrichen.
„Sicher. Du darfst gehen. Ich will dich nicht aufhalten.“
Kaitlin hörte sich selbst erleichtert seufzen. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten. „Also dann…“ Und so schnell sie ihre Beine tragen konnten, war sie aus dem Raum geglitten.
(5) - Vom Reden und Lernen -
Der Vollmond war soeben hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden. Einzeln funkelten Sterne durch den grauen Dunst, doch zumeist waren es die Strassenlaternen, die das Gelände beleuchteten.
Hailey tappte ungeduldig von einem Fuss auf den anderen. Sie meinte sogar zu spüren, wie ihre Ungeduld sekündlich wuchs. Hatte Chris Nicki nicht am Vormittag noch als Boten missbraucht, um ihr mitteilen zu lassen, dass er sie heute Abend sehen wollte? Gerade, als sie begann, am Wahrheitsgehalt von Nickis Worten zu zweifeln, hörte sie das leise Knacken eines morschen Zweiges, der entzwei gebrochen war; jemand musste darauf getreten sein.
„Wenn ich mich jetzt umdrehe, stehst du dann tatsächlich hinter mir und bist nicht nur Teil eines Traums, den ich träume, nachdem ich hier draussen auf grausamste Weise erfroren bin?“ Hailey vernahm, dass ihre Stimme zitterte. Der Spätseptember hatte sich mit Pauken und Trompeten und zudem äusserst kalten Temperaturen angemeldet - so schnell der Sommer gekommen war, so schnell war er auch entschwunden.
„Was wäre dir denn lieber?“ Es war eindeutig Chris, der ihr geantwortet hatte.
„Vielleicht sollte ich mich einfach mal umdrehen und nachschauen?“
„Das wäre wohl wirklich nicht schlecht.“ Sie hörte ein leises Lachen.
Nur langsam wagte es Hailey, sich auch tatsächlich umzudrehen. Mit dem Anflug eines Lächelns betrachtete sie die Gestalt, die ihr gegenüberstand.
„Deine Idee war nicht gerade ausgereift. Es ist bereits halb Elf.“ Hailey trat vorsichtig ein paar Schritte näher, um nicht selbst auf einen der morschen Äste zu treten und sich so zu Tode zu erschrecken.
„Wer musste denn heute Abend noch arbeiten? Da musste ich mich wohl oder übel mit den wenigen Minuten begnügen, die mir noch bleiben. Also ist es eigentlich eine gute Idee. Aber ich fasse es einfach mal als Kompliment auf, dass du mehr als ein paar Minuten mit mir zusammen sein willst.“ Trotz des vorherrschenden Halbdunkels glaubte Hailey Chris typisches Lächeln zu erkennen. Sie erwiderte es zaghaft.
„Mach das.“
Es entstand ein Schweigen, das sich über mehrere Minuten hinweg erstreckte. Hailey vermochte sich nicht zu erinnern, wann sie diese Stille zum letzten Mal als so wohltuend wahrgenommen hatte. Sie überbrückte die Minuten, indem sie unsicher an den Horizont starrte; der Himmel begann sich aufzuklären, bald würde sich der Mond von dem Dunst befreit haben.
Schliesslich war es Chris, der den Blick hob und zu einer Erwiderung ansetzte: „Wegen dem Notfallgroschen…“ Chris erstarrte in seiner Erklärung. Hailey erkannte, wie seine Mimik augenblicklich kühler geworden war, als sich sein Blick auf einen Punkt hinter Hailey fixierte.
„Was…?“ Verwirrt betrachtete sie ihren Gegenüber, der ihr nun noch näher trat, dann wortlos an ihr vorüber schritt.
Noch immer irritiert über den plötzlichen Stimmungswechsel dauerte es einige Sekunden, ehe Hailey es wagte, sich umzudrehen; da stand eine weitere Gestalt, nur wenige Meter von ihr entfernt, von den Schatten der Nacht ins Dunkel getaucht.
„Was willst du hier?“ Chris Stimme war erfüllt von Abneigung. Ungläubig schüttelte Hailey den Kopf. Was passierte hier gerade? Hatte er nicht eben noch über ihren Notfallgroschen gesprochen?
Erst mit Verzögerung registrierte sie, dass Chris sich erneut ihr zugewandt hatte und allem Anschein nach mit ihr sprach: „Wir sollten uns ein anderes Mal wiedersehen. Es tut mir Leid, aber wie es aussieht, lässt es sich nicht verschieben.“
Es lag Hailey auf der Zunge, genauer nachzuhaken, doch ihr Körper widersetzte sich ungefragt ihrem Verstand. Ein kurzes Kopfnicken und dann hatte sie sich bereits umgedreht. Sie wagte keinen Blick zurück, lief stattdessen stur geradeaus. Nur im Stillen fragte sie sich, wer die Gestalt war, die sich ihnen angeschlichen hatte.
Wenig später liess sich der dunkle Schemen des Wohngebäudes vernehmen. Mit starrem Blick begab sich das Mädchen zurück in sein Zimmer.
Die Wochen zogen sich eindeutig dahin, seit Lauren ihre Zeit damit zubringen musste, sich zu einer Gruppe Menschen zu gesellen, zu der sie normalerweise wohlbegründet Abstand hielt. Zum wiederholten Mal schüttelte Lauren nun den Kopf, seit sie sich hier zu einer weiteren Sitzung für ihre Semesterarbeit eingefunden hatten.
„Merkt ihr eigentlich nicht, wie klischeehaft das alles doch ist? Füreinander da sein, gute Zeiten, schlechte Zeiten, Streit, Versöhnung. Wollen wir nicht gleich eine eigene Seifenoper auf die Beine stellen?“ Sie konnte es noch immer nicht fassen, welch geringen Sinn die Sitzungen immer mehr annahmen und in welche Richtung ihr Projekt zunehmend verlief. Sie waren zwar mittlerweile von den überflüssigen Definitionen verschiedener Schriftsteller, Philosophen und sonstiger Seelenwracks weggekommen, doch stattdessen sammelten sie nun all die Klischees, vor denen sich selbst die berühmten Zitateverfasser stets gehütet hatten. Und das mochte einiges bedeuten. Juliane nannte es „Begriffesammlung“. Lauren hingegen nur „der nackte Wahnsinn.“
„Das ist alles verdammt abgegriffen.“, meinte sie schliesslich aufgebracht. Sie beobachtete, wie Julianes Hand, die einen Stift umklammerte, erzitterte.
„Nostalgie. Warum nicht? Das ist doch gerade in Mode.“ Nicki, die Lauren geradewegs gegenüber sass, kam Juliane zuvor. Sie schloss ihre Worte, indem sie ausgiebig gähnte.
Lauren musterte gedankenverloren Nickis Augenbrauenpiercing. „Piercings sind 21.Jahrhundert. Also von wegen ‚Nostalgie’“, merkte sie noch immer verstört an.
„Sonst noch irgendwelche Einwände?“ Juliane, die ihren Blick zwischenzeitlich wieder gesenkt hatte, blickte nur kurz auf. Wie bei jedem ihrer bisherigen Treffen schrieb sie in einem fast schon halsbrecherischen Tempo Seite um Seite ihres Notizbuches mit allen möglichen unwichtigen Dingen voll, wie Lauren empfand.
„Ich will keine Nostalgie“, protestierte Lauren deshalb.
„Gut. Wo das jetzt gesagt ist, fahren wir dann fort?“, erwiderte Juliane achselzuckend.
Lauren war aufgesprungen, ehe sie sich Zeit genommen hatte, einen klaren Gedanken zu fassen oder die Bedeutung von Julianes Worten genauer zu analysieren. Unschlüssig blickte sie nun auf die vier Mädchen hinunter, die ihre Gruppe vervollständigten.
„Müssen wir uns als Gruppe nicht einig sein, ehe wir weitermachen können?“
„Nichts geht doch über die gute, alte Demokratie.“ Nicki nickte, allem Anschein nach von ihren eigenen Worten überzeugt.
„Und was macht dich so sicher, dass die anderen ebenfalls eine Seifenoper schreiben wollen?“ Zu spät nahm Lauren wahr, dass sie angriffslustiger klang, als sie dies vorgehabt hatte.
„Dann meldet euch, wenn ihr gegen eine Seifenoper seid.“ Gelangweilt spielte Nicki mit einem stumpfen Bleistift.
Juliane hob erneut den Blick von ihren Unterlagen auf. „Was hat unsere Begriffesammlung mit einer Seifenoper gemein?“
„Stell dir mal laut und deutlich die Frage, wie wir nach dieser wunderbaren Klischeesammlung mit unserem Projekt fortfahren wollen. Und irgendwie steht das Wort ‚Seifenoper’ bereits breit und leuchtend auf deiner Stirn, wenn du die guten Zeiten und die schlechten Zeiten irgendwie miteinander verknüpfen willst. Jetzt musst du es nur noch in deinem Roman, den du gerade in dein Notizheft schreibst, erwähnen.“ Nur kurz hielt Lauren inne, um Luft zu holen. „Oh, pardon. Da wird das Wort ‚Seifenoper’ dann neben all den ‚gute Zeiten’ und dem sonstigen Kitsch, die du zu Dutzenden da rein geschrieben hast, untergehen, also funktioniert mein Plan doch nicht richtig.“
„So weit sind wir noch nicht, um bereits über einen genaueren Fortlauf nach unserer Begriffesammlung diskutieren zu können. Lasst uns später über solche Dinge sprechen. Sammeln wir besser erst weiter Begriffe.“ Juliane schüttelte schwach den Kopf, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Notizbuch zuwandte. Anscheinend hatte Juliane ihr überhaupt nicht zugehört, schloss Lauren verärgert.
„Davon haben wir doch bereits fünf Seiten. Was willst du mehr?“ Ungläubig starrte Lauren zu Juliane herunter.
„‘Banane‘ und ‚Schale‘. Schreib das noch auf. Aber bitte getrennt; es soll schliesslich nicht ‚Bananenschale‘ heissen.“, warf Nicki ein.
Tatsächlich blickte Juliane erneut von ihren Notizen hoch. „‘Banane‘ und ‚Schale‘?“
„Würde denn die Banane ohne ihre Schale überleben? Würde irgendjemand noch Bananen essen? Das nenne ich wahre Freundschaft.“
„Oh, gut.“ Lauren sah, wie sofort der Stift in Julianes Hand zuckte.
„Das sollte wohl Sarkasmus gewesen sein.“, murmelte das Mädchen mit den blonden Engelslocken. Hailey, wie sich Lauren erinnerte. Nur selten warf sie etwas ein, was Lauren ihr nicht verübeln konnte.
Das Mädchen mit den strähnigen Haaren, das Lauren als Kaitlin zu benennen wusste, keuchte erschrocken auf.
„Alles in Ordnung?“ Nicki hatte von ihrem stumpfen Bleistift abgelassen und den Blick gehoben.
„Hailey hat sich plötzlich gemeldet und ich war gerade etwas abgelenkt…“, murmelte Kaitlin mit unsicherem Blick.
„Pass auf, sonst erstickst du noch an den M&Ms, die du ständig in den Pausen in dich hineinstopfst.“ Lauren verdrehte genervt die Augen. Das, was sie nun am wenigsten gebrauchen konnte, war Ablenkung. Sie sassen nun bereits seit über zwei Stunden an ihrem Projekt, ohne wirklich weiter gekommen zu sein. Dominic wartete beim Fussballfeld auf sie, und würde sie zu spät kommen, müsste sie sich seine ganze Trainingsstunde über gedulden, ehe sie mit ihm sprechen konnte. Zudem bedeutete es die letzte Trainingsstunde bevor eine grössere Pause anstand – das heisst, sein Coach Old Bernie würde die eigentliche Trainingszeit mit Sicherheit stark strapazieren.
Kaitlins Wangen glühten rosarot, wie Lauren nun bemerken musste. Nicki sah sie kühl an.
„Lass deine Aggressionen an anderen Menschen aus.“
„Ich wüsste nicht…“ Ehe Lauren zu Ende sprechen konnte, wurde sie bereits unterbrochen.
„Wir schreiben Tagebuch.“ Es war Hailey, die gesprochen hatte.
„Tagebuch?“ Juliane, die der drohende Streit zwischen Nicki und Lauren kalt gelassen hatte, schaute verwirrt auf.
„Wir berichten von den Fortschritten in unserer Gruppe, was nicht unbedingt schwierig sein dürfte, weil wir alle so verschieden sind.“ Hailey nickte zuversichtlich.
„Nennst du die Entwicklung unseres heutigen Gespräches fortschrittlich?“ Lauren schüttelte herablassend lachend den Kopf.
„Uns bleibt noch genügend Zeit. Keine Eile also, uns irgendwann zu einer Gruppe zu entwickeln, deren Mitglieder sich nicht ununterbrochen bekriegen.“, entgegnete Hailey.
„Vielleicht sollten wir eigene bisherige Erlebnisse einbinden? Pro Sitzung spricht jeder über einschneidende Erlebnisse aus seiner Vergangenheit? So lernen wir uns besser kennen und können Erinnerungen teilen.“ Juliane schloss sich Hailey an und nickte ebenfalls, die Augen vor Begeisterung wild funkelnd.
„Dann entpuppt sich das alles tatsächlich immer mehr zu einer Stunde beim Seelendoktor; zuerst die Analyse der eigenen Vergangenheit, dann eine Diskussion zu den guten Zeiten.“ Lauren schüttelte ungläubig den Kopf.
„Und du glaubst tatsächlich, dass wir eine solche Stunde nicht schon längst nötig hätten?“ Nicki nickte ebenfalls. „Machen wir’s so.“
Dominic befand sich bereits vor dem zwei Meter hohen Gitter, das das Fussballfeld von der frei zugänglichen Wiese abgrenzte, als Lauren heftig schnaufend bei ihm ankam. Ihr Unmut, der während des Gesprächs mit den anderen Mädchen gekeimt war, war noch immer nicht vollständig abgeklungen. Sie hörte ihren Magen protestierend rumoren.
„Du bist jetzt den ganzen Weg gerannt und trotzdem sitzt dein Haar perfekt.“, stellte Dominic spitzbübisch lachend fest.
„Es ist ein Fussweg von fünf Minuten.“, warf Lauren mürrisch ein.
„Immerhin. Für jemanden, der normalerweise jede Art von Sport verabscheut, ist das keine schlechte Leistung.“
„Ich verabscheue Sport nicht. Ich kann nur Besseres mit meiner Freizeit anfangen.“ Noch immer keuchend strich sich Lauren eine einzelne Strähne aus der Stirn. „Aber jetzt genug mit den Komplimenten. Du wolltest mit mir sprechen. Ich nimm an, dass es nichts Gutes bedeutet, wenn du schon beginnst, meine Frisur zu preisen?“ Sie unterliess es, anzufügen, dass sie jegliche Diskussionen über ihr Haar hasste, vor allem nachdem sie sich die vorangegangenen Stunden gelangweilt hatte.
„Ich schätze, ich brauche deine Hilfe. Und glaub ja nicht, dass dies auf meinem Mist gewachsen ist.“ Dominic zuckte die Achseln.
Erleichtert stellt Lauren fest, dass sich ihr Atem normalisiert hatte. „Was ist nicht auf deinem Mist gewachsen?“
„Vielleicht muss ich das Jahr wiederholen.“
„Und dann mit mir im selben Jahrgang sein? Niemals.“ Ungläubig schüttelte Lauren den Kopf. Seit wann sollte ich ach so perfekter Bruder Schwierigkeiten in der Schule haben?
„Eigentlich habe ich eher erwartet, dass du lachst. Schliesslich ist es meine Schuld, wenn ich meine Zeit für… andere Dinge… verwende.“
Irritiert nickte Lauren. Ihr Bruder machte Eingeständnisse. Dass sie dies eines Tages erleben würde – darauf hätte sie normalerweise keinen Cent gewettet.
„Du kennst doch dieses Fach, das nur aus unnötigen Gleichungen und unverständlichen Formeln besteht?“ Tatsächlich schien es Lauren, als wirkte ihr Bruder unruhig. So begann sie zu begreifen, was ihr Bruder ihr eben mitteilen wollte.
„Mathematik?“ Nur kurz hielt sie inne. „Du kannst doch nicht… ich meine…“
Sie wurde von ihrem Bruder unterbrochen. „Dann könntest du mir also Nachhilfe geben?“
„Ich dir? Aber…“ von der Frage überrumpelt hob Lauren abwehrend die Arme. „Ich bin ein Jahrgang unter dir!“
Dominic verzog gespielt gekränkt das Gesicht. „Und das spricht dagegen, dass du mir helfen kannst?“
„Nein. Oder ja. Immerhin hinke ich dir ein Jahr nach. Wie soll ich da deinen Stoff verstehen? Ich denke nicht, dass sich ein Mädchen aus deinem Jahrgang weigern wird, dir zu helfen.“ Erneut fuhr sich Lauren durchs Haar. Ihre Finger zitterten. Alles hätte sie erwartet, nur nicht ein älterer Bruder, der sie um Hilfe bat.
„Wenn ich mit anderen Mädchen lerne, läuft dies zwangsläufig auf ungewollte Dinge heraus.“ Hätte Dominic nicht seinen Hundeblick aufgesetzt gehabt, hätte Lauren lauthals gelacht.
„Du willst mir also sagen, dass kein Rock vor dir sicher ist? Das dürfte dann wohl aber eher dein Problem sein.“
„Das wollte ich nicht sagen, nein. Nur… ich will mich nicht ablenken lassen. Und vor allem soll nicht jeder aus meinem Jahrgang erfahren, dass ich sitzen bleiben könnte. Ich will ihnen keine unnötige Angriffsfläche schenken.“ Dominic schien es ernst zu meinen. So zumindest glaubte es Lauren aus seinem Blick herauslesen zu können.
„Warum müssen du und dein immenses Ego bloss immer so furchtbar kompliziert sein?“
„Weil ich dein grosser Bruder bin. Und weil ich zum anderen Geschlecht gehöre.“
„Ich werde mich nach einem geeigneten Nachhilfelehrer umhören“, gab Lauren schliesslich nach. Sie seufzte leise.
„Kannst du meinem Bruder helfen?“ Unschlüssig stand Lauren an der Grenze ihrer Zimmerhälfte.
Juliane, die eben noch in einen Aufsatz über Hemingway vertieft gewesen war, schaute zögerlich auf. „Bruder?“
„Gross, blond, gutaussehend. Du weißt schon.“
Allem Anschein nach meinte es Lauren ernst. Wann sonst hatte sie das letzte Mal freiwillig mit Juliane gesprochen? „Warum?“
„Warum ihm geholfen werden muss oder warum ausgerechnet du dafür auserkoren worden bist?“
Juliane entschloss, ihren Aufsatz endgültig wegzulegen. Was immer auch gerade geschah, es erforderte ihre gesammelte Konzentration. „Könntest du vielleicht etwas ausführlicher sein?“ Sie seufzte genervt. Ein Gespräch mit Lauren bedeutete nie ein grosses Vergnügen.
„Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte.“ Offensichtlich hin und hergerissen zuckte Lauren die Achseln.
„Ein Versuch wäre es doch wert, nicht?“ Noch immer fiel es Juliane schwer, die Worte ihrer Zimmergenossin richtig zusammenzufassen. Laurens Bruder brauchte also Hilfe. Doch warum sollte ausgerechnet sie selbst diesen Helfer in Not darstellen?
Ein Schweigen entstand, das Juliane für einen Moment glauben liess, dass Lauren sich hilflos fühlte. Doch nur Sekunden später hatte sich ihr Gegenüber bereits wieder gefasst.
„Mein Bruder hat Probleme in der Schule. Mathematik. Das Fach mit den unnötigen Gleichungen und den unverständlichen Formeln.“
„Ja, ich weiss durchaus, was Mathematik ist. Obwohl sich darüber streiten lässt, wie unnötig diese Gleichungen tatsächlich sind.“ Lauren liess Juliane kaum aussprechen.
„Auf alle Fälle sollst du ihm helfen. Wäre das irgendwie möglich oder wird dir dann zu viel deiner kostbaren Zeit gestohlen? Nicht, dass du sie unnötigerweise bereits nur mit Lernen verbringst. Etwas Abwechslung könnte also nicht schaden und diese Abwechslung ähnelt obendrein beängstigend deinem unnötigen Lieblingshobby.“ Lauren räusperte sich kurz. „Schau mich nicht so an. Ja, das nenne ich unnötig.“
„Unnötig heisst doch, dass keine Not besteht? In deinem Fall tut sie es jedoch. Also, was soll ich genau tun?“ Juliane verdrehte genervt die Augen. Warum sich Lauren stets so kratzbürstig geben musste, war ihr noch immer ein Rätsel geblieben. Mit einer flüchtigen Handbewegung rückte sie ihre Brille zurecht.
„Dominic braucht drei Mal die Woche Nachhilfe. Ich denke, dass sollte reichen.“ Für einen Moment glaubt Juliane, dass sich ein diebisches Grinsen über Laurens Gesicht gestohlen hatte. Im nächsten Augenblick blickte sie jedoch bereits wieder kampflustig in Julianes Zimmerhälfte.
„Hast du nicht einmal erwähnt, dass er ein Jahr über uns ist?“
„Das sollte für dich doch kein Problem sein.“
Irritiert zögerte Juliane mit einer Antwort. „Aber warum sucht er sich nicht…?“
„Hilfst du ihm nun oder nicht?“, unterbrach sie Lauren ungeduldig. Es schien, als ob Lauren ihrem Gespräch überdrüssig geworden wäre.
„Ich will kein Unmensch sein“, stotterte Juliane verstört und ehe sie genau über ihre eigenen Worte nachdenken konnte.
„Danke.“ Und mit diesem Wort verschwand Lauren bereits durch die Tür.
Juliane seufzte, von dem Gespräch überwältigt. Auf was hatte sie sich da bloss in grösster Hektik wieder eingelassen?
Die kühlen Abendtemperaturen liessen keinen Ausweg zu: Bibbernd zog Nicki ihren Parka enger um sich. Warum es anfangs Oktober bereits so kühl sein musste, hatte sie noch nicht verstanden. Verstand der Wettergott da oben denn den Unterschied zwischen Herbst und Winter nicht?
Verärgert musste sie feststellen, dass es zu dunkel war, um einen Blick auf die Uhr zu erhaschen, die an der Frontseite des Schulgebäudes angebracht worden war, um die motivierten Schüler daran zu erinnern, pünktlich im Unterricht zu erscheinen. Nicki schätzte jedoch, dass sich die Zeiger bald der Elf nähern würden – eigentlich ein Zeichen für sie, dass sie sich sputen musste, um ohne mahnende Blicke des alten Aufsehers in ihr Zimmer zu gelangen.
Warum war sie überhaupt nach draussen gegangen? Vielleicht hätte sie ihre Zeit besser mit sinnvolleren Dingen zugebracht. Schulaufgaben zum Beispiel. Oder sie hätte sich Gedanken darüber machen können, welche Erinnerung sie ihren neuen Freundinnen Preis gab. Über sich selbst lachend ging Nicki weiter ihres Weges.
In Gedanken versunken hatte sie sich dem Haupttor, das sie armen Schüler von der Freiheit, der wirklichen Welt trennte, verdächtig nahe geschlichen. Genauso wenig gerne wie Nickis viele Totenkopfohrstecker sahen die Rektoren Schüler, die sich aus Verzweiflung durch die dünnen Gitterstäbe drängten. Kopfschüttelnd beschloss Nicki kehrt zu machen, als sie ein leises Geräusch wahrnahm – oder zumindest meinte, wahrgenommen zu haben. Nachdem sie die Lautstärkenregelung ihrer Musikanlage normalerweise in ohrenbetäubende Dimensionen aufdrehte, traute sie ihren Hörorganen nicht mehr sonderlich. Doch ein weiteres Geräusch liess sie erneut inne halten. Vorsichtig wagte sie ein paar Schritte vorwärts. Wurden in den Horrorschockern nicht immer die naiven Mädchen für ihre Neugierde bestraft? Dieser Gedanke war ihr reichlich spät gekommen, wie Nicki nun bewusst wurde. So zuckte sie erschrocken zusammen, als vor ihrem Blickfeld unerwartet ein Schemen auftauchte. Im selben Augenblick erweckte eine Strassenlampe nur wenige Meter entfernt mit einem Klicken flackernd wieder zum Leben. Nicki wagte nicht sich zu bewegen – die ganze Atmosphäre war wirklich Horrorfilm-tauglich. Ja, sie verehrte jede Art von Horrorfilm. Solange nur sie darin nicht mitspielen musste. Insbesondere die Rolle des Opfers sagte Nicki so überhaupt nicht zu.
„Oh.“ Ehe sie nachdenken konnte, entfuhr ihr ein Ausruf der Überraschung (manche hätten es auch Enttäuschung ob des plötzlichen Endes ihrer Horrorfilmgedanken nennen können). Es dauerte einige Sekunden, bis Nicki in der Gestalt vor sich Joonas erkannte; das kurze, blonde Haar in dem grellen Licht fast silbern, die Augen wie kleine, funkelnde Diamanten. Er wirkte kleiner und stämmiger, als Nicki es in Erinnerung hatte, doch da sie selbst von zierlicher Statur war, überragte er sie immer noch um schätzungsweise einen Kopf.
„Hallo.“ Ein Versuch, ihren schrillen Ausruf vergessen zu machen.
Sie erhielt keine Antwort.
„Hallo.“ Ohne zu überlegen hatte sie die Begrüssungsfloskel noch einmal wiederholt, nicht sicher, ob er sie nicht erkannt oder nicht gehört oder gar beides nicht getan hatte. Erneut blieb ihr Gegenüber ihr eine Antwort schuldig. Stattdessen starrten sie die merkwürdig funkelnden Augen nun teilnahmslos an – so zumindest meinte es Nicki erkennen zu können. Dieser Junge schien wirklich nicht viel von seinem Sprechorgan zu halten.
„Hallo.“ Sie begann sich blöd vorzukommen. Ungeduldig trat sie von einem Fuss auf den anderen. Gleichzeitig jedoch spürte sie, dass sie nicht einfach umkehren konnte; irgendeine Region in ihrem Verstand hielt sie davon ab, ohne eine Antwort erhalten zu haben, wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Vielleicht war das Aufflackern der Strassenlampe sogar ein göttliches Zeichen dafür gewesen, dass Nicki hier bleiben sollte? Oder lag es bloss daran, dass sogar ihr ein gewisses Mass an Manieren eingetrichtert worden war? Kopfschüttelnd wagte sich Nicki einen Schritt vor; sie hatte ebenfalls nicht vor, Begrüssungsfloskeln über das ganze Schulgelände hinweg zu brüllen, nur um dann keine Antwort zu erhalten.
„Weisst du, mir gefällt es durchaus, Selbstgespräche zu führen…“ Und insgeheim führte sie fort: Wehe, du verstehst den Wink mit dem Zaunpfahl nicht. Ich weiss nämlich nicht, wie lange ich warte, ehe ich ihn nicht mehr nur noch zum Winken benutze… Denn immerhin galt Nicki allgemein als eine gnädige Person: Ein einfaches „Hallo“ als Antwort hätte ihr bereits genügt.
„Sorry, ich bin gerade nicht wirklich in der Laune zu reden.“
Tatsächlich zuckte Nicki erschrocken zusammen. Hatte Joonas soeben wirklich mit ihr gesprochen? Seine ersten Worte, wie Nicki bewusst wurde, abgesehen von dem rüden „Sommernachtstraum“, das er ihr damals womöglich zugeraunt hatte.
„Du bist nicht in der Laune, ein einfaches ‚Hallo’ in meine Richtung zu schleudern, egal wie schlechtlaunig es auch klingen mag?“ So leicht gab sich Nicki dann jedoch doch nicht geschlagen - in jeder harten Schale steckte bekanntlicherweise irgendwo ein weicher Kern. Ein gesprächiger Kern.
„Mir geht’s nicht so gut.“, erklärte Joonas und gab sich erneut kurzangebunden.
Schon zwei ganze Sätze. Nicki nickte – wie sie empfand – verständnisvoll.
„Da hast du Glück. Ich hab wirklich Talent, Leute aufzumuntern. Zumindest meistens.“
„Nein, schon gut.“
Nicki zuckte lächelnd die Achseln. „Dann hast du doppelt Glück. Es passiert sowieso immer gegen ihren Willen.“
„Na, dann…“ Joonas tat es ihr gleich und zuckte die Achseln. Wie bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte er den Mund zu einem dünnen Strich verzogen, nur, dass es seine Mimik dieses Mal noch griesgrämiger wirken liess.
„Was tust du hier draussen?“ Nicki beschloss, zumindest einen letzten Versuch zu wagen, ein Gespräch mit ihm aufzubauen.
„Schlechtlaunige ‚Hallo’ verteilen.“
„Oh.“ Nicki konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Dann sollte ich jetzt wohl beleidigt sein, weil du mir ein solches ‚Hallo’ vorenthalten hast?“
„Nein, eigentlich solltest du dich geschmeichelt fühlen, dass ich bei dir eine Ausnahme gemacht habe.“ Mit gleichsam ausdruckslosem Gesicht schritt Joonas an ihr vorüber. Nicki folgte ihm stur. So leicht liess sie sich nicht abwimmeln.
„Ansichtssache.“
„Was?“
„Na, die Sache mit dem ‚Hallo’. Und was machst du wirklich so spät noch hier draussen?“ Nicki ertappte sich dabei, wie sie ungeduldig auf ihrer Unterlippe herum biss – dieser Junge trieb sie in den Wahnsinn.
„Ich bin zwei Jahre älter als du. Ich bin in meinem letzten Jahr.“
„Mit dieser Masche kommst du nicht durch. Oder willst du etwa damit sagen, dass die Schulregeln deshalb für dich weniger gelten als für andere?“ Nicki schüttelte heftig grinsend den Kopf. Sie wusste nicht, was es war, das sie so amüsierte. Wahrscheinlich, so dachte sie zumindest, handelte es sich um sein ablehnendes Verhalten, das bezwecken sollte sie loszuwerden. Nicht mit mir, Freundchen, dachte sie nur bei sich. Hatte Nicki erst einmal Feuer gefangen, mussten ihre Gesprächspartner selbst eine Möglichkeit finden, es wieder zu löschen.
„Ich habe jemanden getroffen. Jetzt zufrieden?“ Joonas seufzte, allem Anschein nach aufgebracht. „Adam hatte mich schon vor dir gewarnt.“
„Dankeschön.“
„Du bedankst dich?“
Nicki konnte es sich nicht verkneifen schallend zu lachen. „Na, dass ihr über mich redet, heisst doch in anderen Worten, dass ich wichtig bin.“ Sie nickte grinsend. „Wen hast du getroffen?“ Ihre Neugier warf mittlerweile tänzelnde Flammen, Taktgefühl hin oder her.
„Er hat damit wirklich nicht untertrieben.“ Erneut entfuhr Joonas ein Seufzer.
„Du sprichst also mit ihm, schenkst mir aber kein einfaches, schlechtlauniges ‚Hallo’? Irgendwie hab ich so das Gefühl, dass die Sache mit der Ausnahme wirklich nicht als Kompliment zu verstehen ist.“ Gespielt enttäuscht verschränkte Nicki die Arme und blieb stehen. Tatsächlich machte auch Joonas Halt und wandte sich ihr zu.
„Wie sollte ich ihm sonst in der Schule helfen?“
„Zeichensprache.“ Eine einfache Erklärung, wie Nicki empfand.
„Zeichensprache?“ Ihr Gegenüber schien verblüfft.
„Da du ja allem Anschein nach nicht gerne sprichst…“
„Ist dir noch nicht die Idee gekommen, dass das vielleicht an dir liegen könnte?“ Erneut ein Seufzer.
„Ha!“ Triumphierend ballte Nicki die Hände zu Fäusten. „Hab ich’s mir doch gedacht. Deshalb auch die Sache mit dem vorenthaltenen schlechtlaunigen ‚Hallo’.“
Joonas durchbrach die sich auflockernde Atmosphäre mit einem einzigen Satz: „Ich habe heute Abend meine Ex-Freundin getroffen – sie ist… war nicht auf dem Internat. Deshalb das Treffen bei den Gitterstäben.“
Nicki senkte verdattert die Arme. „Was?!“ Wann hatte er entschlossen, ihr doch auf ihre Frage nach dem Grund für seinen nächtlichen Spaziergang zu antworten?
Joonas zuckte die Schultern. „Das wolltest du doch wissen, nicht?“ Nicki glaubte zu erkennen, dass seine Gesichtszüge sich verhärtet hatten.
„Also eigentlich…“ Tatsächlich war Nicki sprachlos. Welche Erwiderung mochte er von ihr erwarten?
„Genauer gesagt hat sie heute Nacht Schluss gemacht.“ Sie spürte instinktiv, dass Joonas nicht so gleichgültig war, wie er sich gab.
„Das erklärt wohl auch die Sache mit dem schlechtlaunigen ‚Hallo’.“, folgerte Nicki vorsichtig. Sie fühlte sich zunehmend unwohl in ihrer Haut. Warum schaffte sie es bloss nicht, sensibler zu sein? Irgendwie machte es den Anschein, dass sie in jedes Fettnäpfchen tappte, das sich ihr bot, nie um den Gebrauch von spitzen Krallen verlegen, die den Napf zum Platzen brachten und Nickis Peinlichkeiten so für jeden ersichtlich werden liessen.
„Ja, das tut es wohl.“ Nicki hatte aufgehört, die Joonas Seufzer zu zählen.
„Dann hatte sie dich wohl einfach nicht verdient.“ Nicki stotterte dies mehr, als dass sie es klar aussprach; sie hatte keine Ahnung, was sie da gerade tat.
„Wie war das noch gleich mit deinem Talent für Aufmunterungen?“, fragte Joonas. Es folgte ein weiterer Seufzer.
„Vielleicht sollte ich die Nummer mit dem Talent streichen?“ Ungewollt entfuhr auch Nicki ein Seufzer. Unsicher fuhr sie sich mit den Fingerspitzen über die Lippen.
„Nein, ist schon in Ordnung.“ Joonas Augen, die, nachdem sie nicht mehr von dem Licht der Strassenlaterne beleuchtet wurden, stark an ihrem Funkeln eingebüsst hatten, starrten Nicki geradewegs ins Gesicht. „Danke.“, fügte Joonas nun an. „Danke für deinen… gutgemeinten Aufmunterungsversuch.“
Unsicher trat Nicki einige Schritte vor. Erstaunt hatte sie feststellen müssen, dass sie dieses Kompliment verwirrt hatte. Ihr Mund formte eine Antwort in für Nicki typisch rasantem Tempo. „Wir… wir sollten uns wohl langsam auf machen. Wie mir mein Zeitgefühl sagt, ist es schon weit nach Elf.“, versuchte Nicki abzulenken.
„Dein Zeitgefühl?“, hackte Joonas nach.
Mit dem Anflug eines Lächelns zuckte Nicki die Schultern und deutete auf die Uhr des Schulgebäudes, die aus der Nähe nun klarer sichtbar war.
„Dein Zeitgefühl, also.“ Joonas nickte. Trotz der Dunkelheit meinte Nicki, dass sich ein schwaches Lächeln um seine Lippen gekräuselt hatte.
Zufrieden erwiderte sie das Nicken. „Also los, gehen wir.“
(6) - nächtliche Aktivitäten-
„Halloween. Ich dachte eigentlich, dass wir aus diesem Alter raus sind.“ Theatralisch seufzend schob Nicki ihr Tablett auf einen der leeren Tische.
„Was spricht gegen Halloween? Die Süssigkeiten oder die Verkleidungen?“ Hailey folgte ihr lächelnd und setzte sich gegenüber dem anderen Mädchen. Doch, so musste sie zugeben, hatte Nicki in gewissem Sinne Recht; Halloween war beängstigend schnell gekommen, ein weiteres Indiz dafür, wie schnell die Zeit entschwand, seit sie sich an diesem Internat befand. Ein Indiz dafür, wie lange ihre erste Begegnung mit Chris in dem halbleeren Bus bereits her war, und gleichzeitig auch ein Indiz dafür, wie lange ihr letztes Treffen bereits her war. Die Minuten sickerten eindeutig zu schnell durch das Stundenglas. Hailey hätte schwören können, dass auch die heutige Mittagspause ihr im Nachhinein lediglich wie eine fünf minütige Rast vorkommen würde. Umso argwöhnischer betrachtete sie deshalb ihr Mittagessen, das einer überreifen, roten Karotte glich, nachdem diese Opfer einer Messerattacke geworden war.
„Beides. Als Süssigkeiten gehen an einer Schule wie dieser sowieso nur Diätschokolade und Diätgummibärchen durch und unter Verkleidung verstehen die meisten Mädchen hier lediglich, dass sie ihre Röcke noch weiter kürzen müssen.“ Nicki nickte, wie um die Aussage ihrer Worte zu unterstreichen.
„Aber die Kürbisse sind doch süss. Schau dir nur den da drüben an!“ Mit einer flüchtigen Handbewegung deutete Hailey auf einen Kürbis, der mit einer ungewöhnlich fröhlichen Fratze geziert worden war.
„Der Kürbis lacht!“, protestierte Nicki prompt.
„Eben.“
„Kürbisse lachen nicht.“
Nun war es an Hailey zu seufzen. „Was tun sie denn dann?“
„Sie wachsen schön artig, damit man sie später essen kann. Und ich esse nichts, was ein Gesicht hat.“, stellte Nicki kopfschüttelnd klar.
„Diese Kürbisse sind ja auch nicht zum Essen da. Sie sollen lediglich als Dekoration dienen.“ Vorsichtig genehmigte sich Hailey eine Gabel des roten Pürees, das ihren Teller füllte. Immerhin schmeckte man die Karotte noch vage heraus.
„Dann wart‘s nur ab. In ein paar Tagen wird dein Püree kürbisorange sein. Und was ist das überhaupt?“ Angeekelt deutete Nicki auf Haileys Teller.
„Bitte lassen wir das.“ Hailey verdrehte die Augen, konnte sich ein Grinsen jedoch nicht verkneifen. Sie hatte bereits schon zur Genüge erfahren, dass Nicki es liebte, nach Erklärungen für die Konsistenz oder die Farbe des Essens zu suchen. Meist hatte dies darin geendet, dass Hailey knurrenden Magens in den Nachmittagsunterricht entschwunden war. Denn tatsächlich war das von der Kantine angebotene Essen ausserordentlich… durchschnittlich.
„Gut. Dann schlag mir ein anderes Thema vor, über das wir heiss diskutieren können.“
„Heiss diskutieren?“ Hailey runzelte die Stirn.
„Zumindest können wir so tun als ob, dann wirken wir auf die anderen Leute interessanter.“, erklärte Nicki mit verschwörerischer Stimme, ihre Begeisterung ins Gesicht geschrieben.
„Seit wann interessiert dich dafür, was andere von dir denken?“
„Oh Hailey, wie kannst du nur behaupten, dass Pink Floyd eine Popband ist?“ Nickis Stimme schallte durch den gesamten Speiseraum.
Vorsichtig rutschte Hailey etwas tiefer in ihren Stuhl. „Das hat jetzt so ziemlich jeder gehört.“
„Das war gewollt.“ Nicki nickte eifrig. „Jetzt sind wir interessant.“
„Und ich habe nie behauptet, dass…“ Hailey seufzte. In dem Augenblick, da sie Nickis schelmisches Grinsen erspäht hatte, hatte sie es mit ihren Erklärungsversuchen aufgegeben. „Wer ist das eigentlich dort, neben Adam?“ Entschlossen, das Thema zu wechseln, nickte Hailey in die Richtung, in der Adam mit einem anderen Jungen bei Tisch sass; sein blondes Haar war kurz geschnitten, der Mund zu einem dünnen Strich verzogen.
„Das ist… er.“ Tatsächlich stockte Nicki.
„Er?“
„Ein Schüler“, stellte Nicki seufzend richtig. „Und versuch am besten gleich gar nicht erst, mit ihm ins Gespräch zu kommen.“
„Ich werd’s mir merken.“ Irritiert starrte Hailey an den gegenüberliegenden Tisch. Für einen kurzen Moment, so war sie sich sicher gewesen, hatte der blonde Junge zu ihnen herübergestarrt. Nun aber schien er so vertieft wie eh und je in das Buch, das er aufgeschlagen in den Händen hielt. Ein Schüler, also. Hailey schüttelte lächelnd den Kopf.
„Was ist eigentlich mit dir und ihm?“ Nicki zwinkerte vielsagend.
Hailey runzelte kritisch die Stirn. „Ihm? Ich kenne ihn doch gar nicht. Und ausserdem hast du mir doch gerade gesagt, dass ich gar nicht erst versuchen sollte, mit ihm zu sprechen.“
„Nicht Joonas. Er.“ Nicki seufzte.
„Du kennst also seinen Namen?“ Hailey konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Lenk nicht vom Thema ab. Erzähl schon!“
„Lenk du nicht vom Thema ab.“
Für einen Moment herrschte Stille. Dann gluckste Hailey und Nicki stimmte mit ein.
„Du sprichst wahrscheinlich von Chris?“, gab Hailey schliesslich nach einigen Minuten zu.
„Du kennst also seinen Namen?“ Nicki grinste spitzbübisch.
„Ja, das tu ich.“ Hailey schüttelte ungläubig den Kopf. „Du spinnst.“, fügte sie schliesslich als einzig logische Schlussfolgerung an.
„Erzähl mir von ihm.“ Erstaunlicherweise liess sich Nicki nicht aus der Fassung bringen.
„Du hast ihn doch bereits kennengelernt.“ Hailey zögerte. „Da ist nichts.“
„Und das musstest du extra noch einmal erwähnen?“ Nicki schnippte mit den Fingern, sich des nahenden Triumphes offensichtlich bewusst.
„Ich… ich wollte es bloss klarstellen.“ Hailey spürte, wie ihre Wangen glühten und senkte verärgert den Blick. „Bei unserem letzten Treffen… da war ein Junge. Es schien, als versuchte Chris mir etwas zu verheimlichen.“ Es hatte Hailey einige Überwindung gekostet, dies auszusprechen.
„Oh, endlich wird es interessanter. Popcorn. Ich brauche Popcorn!“ Hailey hob vorsichtig den Blick. Sie spürte, dass Nicki immer noch schelmisch grinste und behielt auch tatsächlich Recht, wie sie nun feststellen konnte. „Ein anderer Junge, also?“
„Ja, ein anderer Junge.“ Möglichst unauffällig wischte sich Hailey über die Wangen, um die aufgestaute Hitze etwas zu lindern. Es nützte nichts.
„Glaub mir - Chris steht nicht auf andere Jungs. Er ist nicht Brokeback Mountain… Er ist viel eher etwas zwischen James Bond Pretty Woman - du solltest mal sehen, wie er dich ständig anschaut. Mit den Augen verschlingt.“
Nur mühsam konnte sich Hailey ein Lachen verkneifen. „So hatte ich mir das eigentlich auch nicht gedacht.“ Und dann: „Ständig?“ Sie spürte, wie ihr Herz begann, in einem unregelmässigen Rhythmus zu klopfen.
Nicki verdrehte die Augen. „Zumindest dann, wenn ich hinsehe. Normalerweise ist mir das zu… schnulzig.“
Obwohl Hailey sich wie paralysiert fühlte, setzte sie zu einem Konter an. „Ach, komm. Insgeheim gefällt dir doch all der Kitsch, nicht?“ So leicht wollte Hailey nicht aufgeben.
„Vielleicht. Aber nur ein bisschen.“ Nicki zuckte die Achseln.
„Ein kleines Bisschen?“, hackte Hailey nach.
„Ein ganz kleines Bisschen.“
„Und was ist mit Joonas?“
„Nichts da.“ Irgendwo an der Decke ertönte ein schrilles Klingeln. „Der Unterricht beginnt. Lass uns gehen.“
Diese eine Stunde hatte sich tatsächlich nur zu fünf Minuten verflüchtigt. Hailey folgte Nicki wehmütig lächelnd. Und als sie einen letzten Blick zurück in den Speisesaal wagte, entdeckte sie ihn schliesslich. Alleine an einem Tisch in der Ecke sitzend, in ein Buch vertieft, schien Chris das Klingeln nicht wahrgenommen zu haben. Und dann – nur für den Bruchteil einer Sekunde – schaute er hoch und Hailey geradewegs in die Augen. Bereits im nächsten Augenblick spürte sie, wie jemand nach ihrem Arm griff und so den Blickkontakt zerstörte.
„Willst du wirklich zu spät kommen? Mir macht es ja nichts aus.“ Nicki zog unbarmherzig an Haileys Arm. Gehorsam folgte ihr Hailey, das Herz wild klopfend.
Wie aus weiter Ferne nahm Kaitlin wahr, dass irgendetwas klingelte. Es dauerte einige Sekunden, ehe sie begriffen hatte, dass es sich dabei um ihr Telefon handelte; die Bettdecke über ihrem Kopf hatte das Geräusch abgedämpft.
Unterdessen klingelte ihr Mobilgerät munter weiter. Mürrisch schob Kaitlin die Decke zurück und setzte sich träge auf. Würde der Anrufer denn nie aufgeben? Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es 7 Uhr abends und zudem Halloween war – ein unverschämt später und sowieso fragwürdiger Zeitpunkt, um sie anzurufen, wie Kaitlin empfand. Erst, als Kaitlin resigniert festgestellt hatte, dass der Anrufer sich nicht so einfach mit einer Nichtbeantwortung des Anrufes abwürgen lassen liesse, griff sie nach dem Hörer.
„Hallo?“, flüsterte sie mehr, als dass sie es auch tatsächlich sprach.
„Kaitlin Hundsman.“ Auf der Stelle war Kaitlin aufgesprungen und merkte, wie sich selbst die dünnsten Härchen in ihrem Nacken gereckt hatten und Gänsehaut auf ihrem Körper bereiteten. Sie wusste sofort, dass sie sich auf etwas gefasst machen musste.
„Mutter.“ Fast wäre ihr ein Gähnen entwichen. Sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben, und atmete tief durch. „Was willst du?“
„Ich habe einen Anruf von deinem Direktor erhalten. Er macht sich Sorgen. Wie um Himmels Willen lässt du dir das erklären?“, dröhnte schrill eine weibliche Stimme aus dem Hörer. Augenblicklich hatte Kaitlin den Entschluss gefasst, den Hörer einige Zentimeter von ihrem Ohr entfernt zu lagern, um keinen Schaden ihres Hörorgans zu provozieren.
„Er ist wohl einfach eifersüchtig auf meinen aussergewöhnlichen Lebensstandard.“ Kaitlin zuckte die Achseln, doch zu spät wurde ihr bewusst, dass ihre Mutter das nicht sehen konnte.
„Du findest das auch noch lustig?“
„Das tue ich nicht, nein“, erklärte Kaitlin und gab sich Mühe, aufgebracht zu klingen. Wieso schaffte es ihre Mutter, ihr immer gleich ein schlechtes Gewissen in den Kopf zu pflanzen, egal wie viele Kilometer sie trennten? Unabhängig davon, ob es um ihr Gewicht, ihre Noten oder ihre nicht vorhandenen Freunde ging – stets versuchte ihre Mutter sie zu beeinflussen, aus ihr einen anderen Menschen zu machen. Ob es daran lag, dass sie von Beruf aus Modeberaterin war und es ihre Arbeit somit verlangte, leise Zweifel an sich selbst in jedem Kunden zu streuen, damit diese noch mehr auf ihre Dienste pochten?
„Du weißt hoffentlich, dass ich zu beschäftigt bin, um mich solch unbedeutenden Problemen meiner pubertierenden Tochter zuzuwenden?“ Die Stimme ihrer Mutter wurde immer schriller – kein gutes Zeichen.
„Das weiss ich, ja, Mama.“
„Nenn mich nicht ‚Mama’. Das tun lediglich Kleinkinder.“
Dann bin ich halt eines – es interessiert dich ja sowieso nicht, zischte Kaitlin in Gedanken, sprach dann aber: „Ist gut.“
„Also dann. Ich vertraue darauf, dass du dir Mühe gibst.“, erwiderte ihre Mutter.
Kaitlin nickte - es kümmerte sie wirklich nicht, dass ihre Mutter sie nicht sehen konnte. Sie hatte sich schon immer versucht, sich Mühe zu geben – nur war ihre Mutter nie da gewesen, um dies zu erkennen. „Fröhliches Halloween“, flüsterte Kaitlin. Doch ihre Mutter hatte bereits aufgelegt.
Von Wut betäubt liess sie sich auf ihr Bett fallen und zog sich ihre Decke zurück über den Kopf. Alles, was Kaitlin jetzt brauchte, war ihre Ruhe.
Der Halloweenabend. Es gab wirklich keinen besseren Moment für die erste Nachhilfestunde. Seufzend griff Juliane nach ihren Büchern und wagte einen Blick auf die Uhr, die um ihr Handgelenk geschnallt war. Halb acht - zu allem Übel also auch noch der perfekte Zeitpunkt. Alle anderen Schüler würden irgendwo die Süssigkeiten mit Alkohol austauschen oder auf eines dieser unnötigen Dates gehen, um Beziehungen zu starten, die sowieso nur wenige Wochen hielten. Erneut seufzte Juliane. Sie hatte nie zu der breiten Masse gehören wollen, und doch schien der ganze Ablauf dieses Abends präzise in diese Richtung zuzuschlittern. An solchen Anlässen war es normalerweise immer ihr Wunsch gewesen, sich in ihrem Bett zu verkriechen und sich möglichst schnell in das Land der Träume zu verirren. Selbst dort ging es nicht so chaotisch her wie zu diesen Zeiten in der Realität. Nun aber sollte sie mit einem Mädchenschwarm – Laurens Bruder – das Zimmer teilen. Juliane schauderte es beim blossen Gedanken daran.
Nur zu gut erinnerte sich Juliane daran, was letztes Jahr zu Halloween geschehen war: Irgendwo hatten Kürbisse – natürlich durch Zauberhand – Feuer gefangen und somit die Feuerwehr zu einem Einsatz gezwungen. Anschliessend war die Schulleitung für die folgenden Wochen strikter gewesen als es selbst Juliane je sich vorzustellen gewagt hatte. Sie konnte also nicht behaupten, dass sie zuversichtlich auf die Geschehnisse dieses Abends blickte. Konnte es nicht nur schlimmer kommen?
Viertes Stockwerk, Zimmer 12. Juliane liess sich Zeit, ehe sie ihre Finger auf das kühle Holz legte und klopfte. Und auch ihr neuer Nachhilfeschüler schien nichts von Pünktlichkeit zu halten. Geschlagene zwei Minuten dauerte es – wie sich Juliane mit einem Blick auf die Uhr versicherte – ehe die Tür mit einem Ruck geöffnet wurde.
„Juliane Piper. Nett, dich kennenzulernen.“
Ungläubig starrte Juliane den Jungen an, der nun im Türspalt stand. Wie Lauren beschrieben hatte, war er gross, sein Haar blond, er insgesamt gutaussehend. Zu gutaussehend.
„Du!“ Juliane spürte, wie Trotz in ihr aufkeimte.
„Ich? Ich bin Dominic. Nett, dich kennenzulernen.“ Ihr Gegenüber hatte seinen Hundeblick aufgesetzt, doch sie verspürte keinerlei Erbarmen. Zu allem Übel bot er ihr nun auch noch die Hand an.
„Keine Angst, mittlerweile sollte auch die dümmste Blondine verstanden haben, dass du dich freust, mich kennenzulernen.“ Mit starrem Blick wich Juliane der Hand aus und drängte sich an Dominic vorbei ins Zimmer. Zu allem Erstaunen war es nicht so unordentlich, wie sie es erwartet hatte; nur ein paar Magazine und eine leere Packung Chips lagen am Boden verstreut.
„Du stehst nicht so auf blondes Haar?“ Dominic mimte den Beleidigten perfekt. Er hatte sich ihr erneut zugedreht, während er mit einer Hand die Tür hinter sich schloss. Juliane schüttelte entnervt den Kopf. „Ich stehe nicht so auf blondhaarige Jungs, deren Freundinnen mich als kratzbürstig bezeichnen.“ Nur zu gut erinnerte sich Juliane an den Zusammenstoss mit dem blonden Jungen und dem Mädchen in der 10-Uhr-Pause. Dass es sich dabei um Laurens Bruder gehandelt hatte… ungläubig hielt sie in ihrer Bewegung inne.
„Sie ist nicht meine Freundin.“ Dominic zuckte gelangweilt mit den Schultern. „Feste Beziehungen bringen normalerweise über kurz oder lang nur Ärger.“
Immer weiter fühlte Juliane Groll in sich anwachsen. Entschlossen, sich zu beruhigen, zwang sie sich einige Male tief durchzuatmen. „Du weißt wohl, von was du sprichst?“
„Können wird das mit dem Austausch von Erlebnissen aus der Vergangenheit nicht auf die zweite Nachhilfestunde verschieben? Ich schreibe morgen einen Test.“
„Oh.“, entfuhr es ihr. Juliane hätte nach dieser ruppigen Begrüssung nicht damit gerechnet, dass Dominic diese Stunde tatsächlich durchziehen wollte. Überrascht drückte sie ihre Bücher noch enger an sich. „Dann sollten wir wohl beginnen?“
„Setz dich.“ Dominic zuckte teilnahmslos die Achseln.
Unentschlossen schaute sich Juliane im Zimmer um.
„Auf den Stuhl dort. Links.“ Nur kurz hielt Dominic inne. „Sorry. Normalerweise sind die Mädchen, die dieses Zimmer betreten, entschlossener in ihren Zielen.“
Dies wiederum überraschte Juliane nicht. Angeekelt starrte sie auf das Bett, das sich in der linken Raumhälfte befand.
Dominic, der ihrem Blick allem Anschein nach gefolgt war, nickte zögerlich. „Genau.“ War er tatsächlich soeben rot geworden, oder lag es am Licht? „Also setz dich doch… auf den Stuhl.“
„Dieses Mal gibt es keine Unterbrüche, vertrau mir.“ Chris war lautlos auf Hailey zugetreten. Erschrocken zuckte sie zusammen. Die Notiz an ihrer Zimmertür mit den Worten „um acht Uhr beim Brunnen“, die Hailey an diesem Nachmittag entdeckt hatte, entstammte also tatsächlich Chris‘ Feder. Erleichterung machte sich in ihr breit, dass sie nicht Opfer ihrer eigenen Naivität geworden war.
„Das fängt ja schon mal gut an.“ Hailey drehte sich lächelnd auf dem Absatz und starrte ihrem Gegenüber unvermittelt ins Gesicht. Das typische Lächeln hatte sich um Chris Lippen gelegt.
Wortlos reichte Chris ihr einen faustgrossen Gegenstand. „Damit du mir auch wirklich glaubst.“
Neugierig betrachtete Hailey das kleine Geschenk. Sie spürte, wie der Wind durch ihr Haar fuhr und konnte es nur mühsam verhindern zu bibbern. In nicht allzu ferner Zukunft schon würde der Winter endgültig einbrechen, mit allem, was dazu gehörte. Für dieses Jahr zwar früh, doch die Wolken liessen keinen Zweifel. Selbst nun, im Dunkel der Nacht, glichen sie einem Wattebausch mehr denn je - Tag für Tag wirkten sie überquellender.
„Ein Kürbis!“ Ungläubig starrte Hailey auf den Kürbis – ihr kleines Geschenk - der geradewegs zurückstarrte. „Er lächelt“, fügte sie stotternd an.
„Ich wollte nicht, dass du das Geschenk falsch deutest“, erklärte Chris.
„Deshalb das Lächeln?“
„Deshalb das Lächeln, ja.“
Kopfschüttelnd sah Hailey auf. Chris Augenmerk lag auf ihr.
„Ist das jetzt ein schlechtes Zeichen, wenn du den Kopf schüttelst?“ Verwirrt zog ihr Gegenüber die Stirn kraus.
„Kürbisse lachen nicht“, flüsterte Hailey, immer noch kopfschüttelnd.
„Was tun sie denn dann?“
Nur mühsam konnte Hailey den Wunsch unterdrücken, Chris um den Hals zu fallen. Stattdessen warf sie den Kopf in den Nacken und lachte schallend.
„Dann ist das also so eine Sache, bei der ich gar nicht erst versuchen sollte, sie zu verstehen?“ Chris nickte irritiert.
„Das wäre wohl besser“, prustete Hailey und hielt sich den Bauch. Chris liess ihr die Zeit, sich zu fassen. „Danke.“
„Bitte.“ Chris zögerte. „Ich bin normalerweise nicht gut in solchen Dingen.“
„In solchen Dingen?“ Nun war es an Hailey, die Stirn in Falten zu legen. Sie schluckte mühsam den herzförmigen Knoten hinunter, der sich in ihrem Hals gebildet hatte.
„Du erwartest jetzt doch hoffentlich keine Definition?“
„Ich erschrecke dich, nicht?“, stellte Hailey lächelnd fest.
Chris hatte erneut sein typisches Lächeln aufgelegt. „Mag schon sein, aber das gefällt mir. Mal schauen, ob dir das bei unserem nächsten Date immer noch gelingt.“
Hailey spürte, wie sie augenblicklich erstarrte. Ihr Lächeln fror ebenso ein. Dass es sich bei ihrem Treffen um ein Date handeln würde, hatte er auf seiner nachmittäglicher Notiz in keiner Weise erwähnt. „Date…?“, hauchte Hailey deshalb mit von Überwältigung gezeichneter Stimme.
„Wenn du nichts gegen diese Bezeichnung hast?“
„Ich wüsste nicht, was ich dagegen haben könnte.“ Hailey lächelte unsicher. Die Erinnerung ihres ersten Dates überhaupt stahl sich in ihre Gedanken: Sie hatte es zu Kindertagen gehabt, als ihr Nachbar sie gebeten hatte, mit ihr Eis essen zu gehen. Natürlich hatte sie damals aus eigenen Taschen bezahlt, aber wie selbstverständlich waren sie ab diesem Moment ein Pärchen gewesen. Nach zwei Wochen hatte er sie für Molly Roberts verlassen, die für ihre sechs Jahre schon erstaunlich viele weibliche Reize besessen hatte. So kam es, dass Hailey sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Und du schenkst mir zu diesem ersten Date einen lachenden Kürbis?“
„Die Silberkette kommt dann hinzu, wenn ich die örtliche Bank ausgeraubt habe.“, versprach Chris lachend.
„Ein lachender Kürbis?!“ Hailey hätte ihre Gefühle nicht in Worte fassen können.
Wie in Trance war sie einen Schritt näher getreten und mit einem Schaudern erkannte sie, dass Chris es ihr gleichtat. Er befand sich nun unmittelbar vor ihr; sie konnte seinen Atem auf ihrer Haut fühlen, der ein wohliges Kribbeln zurückliess. Sie fühlte die Schmetterlinge in ihrer Magengrube leise singen. Beinahe glich es dem Zwitschern eines Jungvogels.
„Können Schmetterlinge zwitschern?“ Sie hatte die Frage ausgesprochen, ehe ihr Verstand es ihrem Mundwerk hätte verbieten können. Verlegen strich sie sich durchs Haar.
„Schmetterlinge, die zwitschern?“ Wenn Chris erstaunt über ihre Frage war, so liess er es sich nicht anmerken. „Warum nicht? Wir können ihnen schliesslich nicht vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben.“
„Das stimmt wohl.“ Hailey konnte nicht aufhören zu lächeln. Dann zwitscherten die Schmetterlinge in ihrer Magengrube also tatsächlich, stellte sie vergnügt fest.
Ehe sie sich selbst hätte davon abhalten können, hatte sie ihre Arme bereits um Chris Hals gelegt, spürte ein wohliges Kribbeln ob der ungewohnten Berührung. Und dann, im Bruchteil einer Sekunde, hatte er sein Gesicht noch weiter genähert. Sie blickte geradewegs in seine Augen, die – schwarz lodernd – nichts an ihrer geheimnisvollen Wirkung eingebüsst hatten. Und Hailey sehnte sich danach, seine Lippen auf ihren zu spüren, sie sehnte sich nach der Wärme des ersten Kusses. Endlich - sanft, aber gekonnt – spürte sie, wie sich seine Lippen auf ihre legten. Sie nahm kaum merklich wahr, wie die Leidenschaft in ihr aufkeimte –
Das Geräusch einer Polizeisirene. So schnell, wie er begonnen hatte, war der Kuss auch wieder beendet. Fast gleichzeitig schreckten Hailey und Chris zurück, als ihre Schatten in rotblaues Licht getaucht wurden. Stimmen ertönten, ein wildes Gewirr entwickelte sich daraus. Irgendwo bat ein Mann in Uniform um Ruhe. Schreie erklangen, als ein Warnschuss in den Himmel abgegeben wurde.
Dann sprach die Stimme eines Mannes klar und deutlich durch das Halbdunkel der Nacht.
„Bitte begeben sich nun alle Schüler sofort in ihre Zimmer. Bitte begeben sich nun alle Schüler sofort in ihre Zimmer.“
„Was…?“ Hailey erstarrte. Sie spürte, wie jemand nach ihrer Hand griff – Chris.
„Bitte begeben sich nun alle Schüler sofort in ihre Zimmer. Bitte begeben sich nun alle Schüler sofort in ihre Zimmer.“, wiederholte der Polizist.
„Du solltest gehen. Ich muss noch kurz…“, flüsterte Chris Hailey nun zu.
„Du kommst nicht mit?“ Sie zwang Chris mit geballter Kraft zum Stillstand.
„Ich werde es dir später erklären.“ Seine Stimme klang beschwichtigend und dennoch konnte dies Hailey nicht beruhigen. „Geh schon!“
Es ging alles furchtbar schnell vonstatten.
Haileys Verstand widersetzte sich der Anweisung nicht. Sie spürte, wie ihre Füsse in regelmässigen Rhythmus auf der trockenen Erde aufkamen, als sie zurück in Richtung des Wohngebäudes rannte. Hailey verstand nicht, was gerade eben um sie herum passiert war.
„Du bist ganz schön streng.“
Juliane verdrehte genervt die Augen. Das war bereits das dritte „du bist ganz schön streng“ innerhalb einer Stunde.
„Streich das ‚streng’ und dann hast du deine Gleichung.“ Juliane seufzte frustriert. Einer anderen Person etwas beizubringen, die zudem auch noch völlig andere Massstäbe setzte als sie selbst es tat, hatte sich als unerwartet schwierig erwiesen.
Dominic grinste sie unheilverkündend an. „Eigentlich solltest du mir etwas beibringen, aber tatsächlich passiert es anders herum.“
„Hmm?“ Juliane rückte ihre Brille zurecht und beschloss, nur mit halbem Ohr zuzuhören. Gleichzeitig blätterte sie in Dominics Mathebuch, um sich einen Überblick über die folgenden Kapitel zu verschaffen.
„Du flirtest.“
„Ich flirte?“ Mittels einer Aussage hatte es Dominic geschafft, Julianes Aufmerksamkeit zurückzuerobern. Argwöhnisch hob sie den Blick.
„’Du bist ganz schön’. Wie würdest du das auffassen?“ Dominic fuhr sich selbstbewusst durch das blonde Haar. Dies bewies, dass er tatsächlich nur Laurens Bruder sein konnte; kein Normalsterblicher hatte Haar, das so perfekt sass. Mürrisch strich sie sich eine Strähne ihres eigenen vollkommen durchschnittlichen Haars zurück.
„Fass es so auf, wie du willst, aber könntest du dich bitte vielleicht wieder etwas mehr konzentrieren?“
„Sicher.“ Dominic zuckte die Achseln und erhob sich. Juliane wartete einige Minuten, während er in seinem Zimmer auf und ab lief, ehe sie ihn unterbrach.
„Wahrscheinlichkeitsrechnung. Was weißt du darüber?“
„Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich an Halloween in meinem Zimmer sitze und lerne?“ Dominic seufzte und beantwortete sich die Frage gleich selbst: „Gleich null.“
„Wenn du doch bloss lernen würdest…“ Auch Juliane seufzte. „Ich nenne das eher ziellos durch den Raum irren.“
„Zumindest bringt es mir mehr als irgendwelche unnötigen Formeln.“, erklärte Dominic und lief unbeirrt weiter durch seine Zimmerhälfte.
„Unnötig?“ Juliane stockte, musste dann aber Lächeln. Sie hatte es hier eindeutig mit Laurens Bruder zu tun.
Ehe Dominic zu Wort kommen konnte, schnippte Juliane um Aufmerksamkeit heischend mit den Fingern und fügte an: „Zurück zu der Wahrscheinlichkeitsrechung. In welchem Raum kann sich die Wahrscheinlichkeit für das Eintreffen eines bestimmten Ergebnisses bewegen?“
„Zwischen null und eins. Eins sind 100%.“ Dominic wandte sich ab und schritt gewohnten Ganges zum Fenster.
„Das ist richtig. Siehst du, wenn du so weiter machst, dann…“
„Da unten ist etwas los!“ Juliane zuckte unwillkürlich zusammen.
„Was?“, stotterte sie, völlig aus dem Konzept gebracht.
„Polizeiautos stehen am Tor und die Schüler bewegen sich zurück ins Wohngebäude.“ Dominics Stimme klang erregt.
Die Stirn in Falten gelegt erhob sich Juliane und schloss zu Dominic ans Fenster auf.
„Was soll denn schon los sein? Es ist schliesslich Halloween. Da war es zu erwarten, dass…“
„Scht!“ Dominic bedeutete ihr ruhig zu bleiben. „Ich kann nicht hören, was sie sagen. Aber es muss irgendetwas vorgefallen sein.“
„Irgendetwas? Zum Beispiel Kürbisse, die in Brand gesteckt wurden?“ Juliane gähnte. Es überraschte sie nicht sonderlich, dass der Abend kein ruhiges Ende genommen hatte.
Im selben Augenblick knallte die Zimmertür mit einem ohrenbetäubenden Quietschen gegen die Wand und ein schlaksiger Junge mit kurzgeschorenem Haar hastete in den Raum. Nun konnte auch Juliane das Stimmengewirr hören, das aus allen Teilen des Gebäudes strömte.
„Merkwürdig“, flüsterte sie kaum hörbar. Selbst im Jahr zuvor war kein solcher Tumult um die Brandstiftung gemacht worden.
„Die Polizei spricht von einer Überdosis.“ Der Junge hatte eine ungewohnt heisere Stimme. „Ein Schüler ist bewusstlos aufgefunden worden.“
Juliane erkannte aus dem Augenwinkel, dass sich Dominic vom Fenster abgewandt hatte.
„Aber da war doch dieser Flyer…“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu jemand anderem, wie Juliane erschien.
Es entstand ein Schweigen, das von dem neu erschienenen Jungen – Dominics Zimmergenossen – durchbrochen wurde. „Du“, er deutete auf Juliane, „solltest jetzt besser gehen. Die Aufseher werden über nächtliche Romanzen nicht erfreut sein, und wie tiefgründig sie auch sein mögen.“
„Romanze?“, rief Juliane im gleichen Moment, da Dominic fragenden Blickes „tiefgründig?“ sagte.
„Sprich deutlicher und hör auf mit deinen nur scheinbar poetischen Ausdrücken“, forderte nun Dominic, ehe der Junge zu Wort kommen konnte.
Der Junge zuckte lediglich die Achseln. „War nur ein Vorschlag.“ Dann warf er sich auf das Bett auf seiner Seite des Raums. „Und sorry, sollte ich euch bei etwas unterbrochen haben.“
„Ich sollte wohl wirklich besser gehen.“ Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden spürte Juliane, wie nur wenige gezielt eingesetzte Worte Groll in ihr geschürt hatten. Sie war bereits zur Tür gestürmt, als sie Dominic rufen hörte: „Samstagmorgen?“
Juliane seufzte. „Ist gut. Und sorg dafür, dass die Wahrscheinlichkeit bei 1 liegt, dass du pünktlich erscheinst.“ Mit diesen Worten rauschte sie aus dem Zimmer.
Liebe Schülerinnen und Schüler,
Mit diesem Schreiben will die Schulleitung der Schülerschaft versichern, dass der Vorfall vom 31.10 Konsequenzen mit sich ziehen wird. Leider muss die Schule darauf hinweisen, dass - trotz allgemein gültigem Verbot - mit illegalen Substanzen gehandelt worden ist. Wir bitten euch um Benachrichtigung, solltet ihr Informationen zu dem Fall besitzen. Es kann jedoch beruhigt werden, dass es keine ernsthaften und zurückbleibenden Schäden bei betroffenem Schüler gegeben hat.
Martin Eddings,
Direktor der Oberstufe des Edward Steppfield Internats.
(7) - Vergangenheit und Lüge-
Erstmals seit einigen Tagen hatte sich die Sonne erbarmt und zeigte strahlend golden ihren Antlitz. Nur vereinzelt unterbrachen Schäfchenwolken das Azurblau des Himmels. Sogar die dicken, bauschigen Wolken der letzten Tage waren der Sonne gewichen und trotzten somit jedem Wettergesetz.
Juliane ahnte nichts Gutes, als sie ins Freie trat. Jetzt, nachdem Halloween und somit auch der Polizeibesuch einige Tage vorüber waren, drängte sich der nächste grosse Anlass in den Vordergrund: Der grosse Weihnachtsball. Wie man an einem sonnigen Novembermorgen an Weihnachten denken konnte, war Juliane schleierhaft, und doch meinte sie immer wieder Mädchen über den bevorstehenden Ball tuscheln zu hören, als sie an einigen Grüppchen von Schülern vorbei schritt.
Genervt von all der Weihnachtsvorfreude lief Juliane gesenkten Blickes an den Grüppchen vorbei. Sie erwartete nicht, dass jemand sie daran hindern würde, möglichst schnell an ihr Ziel – die wenigen Tische, die vor dem Schulgebäude noch stehen gelassen worden waren – zu gelangen. Umso heftiger reagierte sie, als jemand sie von der Seite her anrempelte. Leise fluchend suchte Juliane ihre Bücher zusammen, die bei dem Zusammenprall zu Boden geglitten waren. War sie etwa soeben in ein Déja-vu Erlebnis verbannt worden?
„Juliane Piper?“
Missmutig hob Juliane den Blick. Sie starrte geradewegs in das Gesicht eines dieser Mädchen, die zwischen Sommer und Winter in ihrer Kleiderwahl nicht zu unterscheiden wussten und Stunden damit zubrachten, jeden Flecken ihres Körpers zu hegen und zu pflegen. Neben ihm kicherten zwei seiner Freundinnen.
„Was ist?“ Juliane ahnte, dass an den Mädchen kein Vorbeikommen war, solange sie ihnen nicht Rede und Antwort stünde.
„Du bist also wirklich Juliane Piper.“
„Richtig festgestellt.“ Juliane verdrehte entnervt die Augen. Warum bloss mussten diese Mädchen alle gängigen Klischees immer vereinen?
„Du bist nicht gerade hübsch. Vielleicht, wenn du deine Brille ablegen und dein Haar offen tragen würdest…“ Das Mädchen ihr gegenüber runzelte angestrengt die Stirn, als würde sie gerade versuchen, sich ein neues Bild von Juliane zu erschaffen.
„Wär’s das dann gewesen? Darf ich weiter?“ Gab es eine Steigerung von entnervtem Augen-verdrehen? Julianes Repertoire an eindeutigen Gesten, dass sie sich soeben nicht mit diesen Mädchen unterhalten wollte, war jedenfalls bereits aufgebraucht.
„Warte.“ Das andere Mädchen näherte sich einen weiteren Schritt, sodass Juliane sich zu fragen begann, ob das Mädchen ihr tatsächlich an die Gurgel springen würde.
„Du kennst Dominic, nicht?“
„Dominic? Welcher Dominic?“ Juliane war sich durchaus bewusst, von welchem ach so beliebten Jungen das Mädchen gerade sprach, doch hatte sie das plötzliche Bedürfnis verspürt, es ein bisschen zappeln zu lassen.
„Tu nicht so. Schliesslich bist du ja nicht gerade die Person, die oft mit Jungs gesichtet wird…“ Die Freundinnen des anderen Mädchens begannen bei dieser Feststellung wild zu kichern.
Juliane schüttelte lediglich den Kopf. „Nehmen wir an, ich kenne ihn. Was dann?“
„Bist du mit ihm zusammen?“
Nur mühsam konnte sich Juliane verkneifen, ebenfalls wild loszulachen. Wie konnten diese Mädchen wissen, dass sie Zeit mit Dominic verbrachte? Ein Bild des schlaksigen Jungen, der sich als Dominics Zimmergenosse vorgestellt hatte, erschien ihr augenblicklich in Gedanken. Während sie ihn innerlich verfluchte, antwortete sie seelenruhig: „Nein, bin ich nicht.“ Juliane seufzte. Dann, ohne die Mädchen noch einmal anzublicken, drehte sie sich auf dem Absatz und eilte weiter denn Kiesweg entlang. Sie hatte das dumme Gefühl, dass dieses Gespräch noch lange fortgedauert hätte, wäre sie geblieben.
Ein Blick auf ihre Uhr verriet ihr, dass sie zu spät kommen würde. Bei diesem Gedanken spürte sie Genugtuung in sich aufwallen. Erneut schüttelte Juliane den Kopf – dieses Mal über sich selbst.
Schon von weit her erkannte Juliane, dass Dominic sich bereits an ihrem Treffpunkt eingefunden hatte. Als sie näher kam, entdeckte sie, dass er in ein Buch vertieft war.
Ungläubig lächelnd setzte sie sich ihm gegenüber. „Du liest?“
„Ist das jetzt eine Fangfrage?“ Dominic hatte den Blick gehoben. Er zögerte, ehe er ausführlicher antwortete. „Ich denke, du weißt, was Fussball ist?“
„Das hingegen muss eine Fangfrage gewesen sein.“ Juliane verschränkte kopfschüttelnd die Arme.
„Auf alle Fälle ist das ein Fussballbuch. Die Geschichte des Fussballs oder so.“ Dominic nickte, offensichtlich begeistert.
Juliane verzog keine Miene, obwohl sie sich innerlich schüttelte vor Lachen. Was mochte bloss so spannend daran sein, schweissnasse Männer bei ihrer Jagd nach einem Ball zu beobachten? „Interessant.“
„Und fast hätte ich es dir geglaubt. Du musst noch an deinem Blick arbeiten. Deine Augen verraten dich.“
Juliane hob erstaunt die Brauen. „Das willst du wissen, nachdem du schätzungsweise zwei Stunden deines Lebens in meiner Anwesenheit verbracht hast?“
Dominic zuckte die Achseln. „In solchen Situationen sind doch alle Frauen gleich.“
Juliane wusste nicht, was es war, dass diese Worte ihren Groll schüren liessen. Sie schätzte, dass es mit der Selbstverständlichkeit zusammenhing, mit der er seine Erfahrung mit Frauen kund tat. Missmutig schob sie ihre Bücher zu ihm hinüber. „Ein Buch über Wahrscheinlichkeitsrechnung. Du könntest jetzt mit Lösen anfangen.“
Dominic betrachtete sie argwöhnisch. „Du willst mir aber nicht sagen, dass du das extra gekauft hast?“
„Das hatte ich mir schon letzten Sommer für das elfte Schuljahr besorgt.“, erklärte Juliane, immer noch mit starrer Miene. Sie kannte kein Verbot, das das vorzeitige Besorgen von Büchern beschrieb. Umso grimmiger stimmte sie Dominics Fassungslosigkeit, die er in die Frage eingebracht hatte.
„Gut.“ Dominic betrachtete das Buch einige Sekunden, ehe er erneut den Blick hob. „Und warum bist du jetzt wütend?“
„Ich bin nicht wütend.“ Juliane gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. „Du solltest jetzt die Aufgaben lösen. Es ist deine Zeit, die sonst baden geht.“
„Du willst also gar nicht wissen, wie das Ergebnis meines letzten Mathetests ausgefallen ist?“ Dominic betrachtete mittlerweile abwechslungsweise das Buch und Juliane.
„Wie ist es denn ausgefallen?“ Sie seufzte leise. Warum bloss liess sie sich von diesem Jungen stets provozieren lassen?
„Nicht gut.“ Dominic zuckte die Achseln.
„Hatte ich mir schon fast gedacht.“
Dominic runzelte die Stirn. „Und diese Worte kommen von dem Menschen, der mir eigentlich aus dem Tal der Tränen helfen sollte.“
Obwohl Juliane sich Mühe gab, es nicht zu tun, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Ihre Wut war wie Butter dahingeschmolzen. „Sag bloss, du hast wegen der schlechten Note getrauert?“
„Zumindest bin ich gestern bereits um Mitternacht ins Wohngebäude zurückgekehrt.“ Es schien, als wäre Dominic wahrhaft stolz über dieses Ergebnis.
So zwang sich Juliane dazu, keine boshafte Erwiderung aus ihrem Mund entgleiten zu lassen. „Aha.“ Schnell merkte Juliane, dass auch diese Erwiderung nicht gerade sehr hilfreich gewesen war. Doch Dominic wartete bereits mit einer Antwort.
„Es war Freitagabend. Nicht Wochentags, nein. Es war der Beginn des Wochenendes“, merkte Dominic an. „Was hast du denn gemacht?“
Juliane zuckte die Achseln. „Über den Weltfrieden nachgedacht. Mir Gedanken über die wirtschaftliche Situation Amerikas gemacht. Ein bisschen gelesen.“
Dominic betrachtete sie ungläubig. Mit grossen, dunklen Augen fuhr er sich durch das blonde Haar.
„Was hast du denn gelesen?“
„Das interessiert dich jetzt nicht wirklich, oder?“ Juliane grinste verstohlen über die Reaktion ihres Gegenübers.
„Und was, wenn es mich doch interessiert?“
„Irgendein Wissenschaftsmagazin.“
Der Blick, mit dem Dominic sie nun bedachte, liess Juliane in schallendes Gelächter ausbrechen.
„Du willst mir aber nicht wirklich sagen, dass ich mit dieser Antwort dein Weltbild verändert habe?“ Juliane keuchte vor Lachen. War es denn so unwahrscheinlich, dass man das Wochenende mit einem Artikel zur globalen Erwärmung einläutete?
Es dauerte einige Sekunden, ehe Dominic reagierte. Auch er hatte mittlerweile ein Grinsen aufgesetzt und schüttelte schwach den Kopf. „Ich glaube, ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der mich so masslos verwirrt hat.“
Juliane erwiderte sein Kopfschütteln. „Eigentlich sollte ich als deine Nachhilfelehrerin genau Gegenteiliges erreichen; dir einen klaren Kopf schaffen.“
Dominic nickte wortlos, noch immer ein Grinsen auf den Lippen. Warum musste er dabei bloss so unmenschlich selbstbewusst gucken?
Ein Blick auf die Uhr liess Juliane aufschrecken. „Du hast soeben eine halbe Stunde für Smalltalk hingegeben.“
„Zumindest bin ich pünktlich erschienen. Was hast du eigentlich so lange getrieben?“ Ehrlich interessiert neigte Dominic den Kopf.
„Wenn du wüsstest…“ Juliane grinste verschmitzt. „Und jetzt - lass uns beginnen.“
Ungeduldig schaute Lauren auf die Uhr; Juliane verspätete sich bereits um 15 Minuten. Eine ungewöhnliche Situation, wie Lauren irritiert dachte.
„Vielleicht sollten wir einfach mal beginnen?“, schlug Hailey vor, die ihr unmittelbar gegenüber sass.
„Ohne Juliane? Sie wird uns umbringen“, stellte Nicki kopfschüttelnd fest.
„Und das macht dir etwas aus?“ Lauren seufzte. Sie spürte instinktiv, dass dies eine anstrengende Sitzung werden würde. Obwohl sie Juliane nicht viel ab konnte, war sie es zumindest, die ihre Ideen in eine mehr oder weniger logische Ordnung brachte. Sollte sie nun fehlen… Lauren erwiderte Nickis Kopfschütteln. „Warten wir noch ein wenig.“
„Wo steckt sie denn überhaupt?“ Kaitlins piepsige Stimme drang durch den Raum.
Lauren zuckte die Achseln. Sie wusste zwar sehr wohl, was Juliane gerade tat, doch scheute sie sich davor, ihren Bruder zu verraten.
„Wahrscheinlich ist sie in der Schulbibliothek“, meinte Lauren so bloss.
„Mit einer bestimmten Person?“ Nicki grinste schelmisch, was Lauren gar nicht gefiel. Argwöhnisch hob sie den Blick.
„Was willst du damit sagen?“
„Nun…“ Nicki zögerte. „Es gibt da so ein paar Gerüchte, die davon sprechen, dass sie mit jemandem ausgeht.“
Lauren seufzte. Juliane sollte einen Freund haben? Nie und nimmer. „Und wer soll dieser Wunderknabe sein?“
Nicki räusperte sich, doch Lauren hörte daraus klar ein unterdrücktes Lachen heraus. „Er heisst Dominic, wenn ich mich richtig erinnere.“
Lauren hob abwehrend die Hände. Ungläubig musste sie feststellen, dass diese Schule tatsächlich ein ideales Sprungbrett für ungewollte Gerüchte darstellte. „Seit wann glaubst du Gerüchten?“
„Ich hab sie vorhin draussen gesehen… an einem der Tische.“ Erneut ertönte Kaitlins Stimme, aus der die Unsicherheit deutlich herauszuhören war.
„Klappe, Hundsman.“ Unruhig erhob sich Lauren. So war das alles nicht gedacht gewesen. Eigentlich sollte Juliane ihrem Bruder ein paar Wochen helfen, ohne dass unnötige Gerüchte die Runde machten. Fast schon spürte sie ein Gefühl in sich aufwallen, das Mitleid sehr stark glich. Juliane und Dominic? Nur mühsam schaffte es Lauren, nicht laut loszuprusten. Sie würde ihren Bruder darauf ansprechen. Es war einfach nicht fair für Juliane, das sie zum Gespött der Schule wurde, nur weil sie Lauren einen Gefallen tat. Irgendwann würde sich Lauren dafür revanchieren. Und ausserdem; war Juliane nicht bereits zuvor ein Opfer von Lästerattacken gewesen, nachdem sie an dieser Schule als Streberin auffiel? Erleichtert seufzte Lauren. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Blicke der anderen Mädchen auf ihr lagen.
„Da ist nichts. Und nachdem das jetzt geklärt ist, können wir mit dem eigentlichen Grund für unser Treffen beginnen.“
„Wolltest du nicht eben noch auf Juliane warten?“ Nickis Stimme war erfüllt von Sarkasmus.
Nur mit geballten Fäusten schaffte es Lauren, den Wunsch zu unterdrücken, ihr mit ebenso vor Sarkasmus triefenden Worten zu entgegnen.
„Wer spricht heute über seine Erinnerungen?“, meinte Lauren bloss.
„Wenn du dich schon so offenherzig anbietest, können wir natürlich nicht nein sagen.“ Nicki hob vielsagend die Brauen.
„Vergiss es!“, fauchte Lauren ungewollt heftig. Der Drang, Sarkasmus anzuwenden, war weiterhin angeschwollen. Doch – so versicherte sie sich selbst – hatte sie dazu durchaus Grund, nachdem sie gezwungen war, Stunden mit überdurchschnittlich merkwürdigen Mädchen zu verbringen. Stille hatte eingesetzt.
Schliesslich seufzte Hailey leise. „Was wollt ihr wissen?“
Achselzuckend liess sich Lauren zurück auf den Boden fallen. Sie musste tatsächlich zugeben, dass sie nicht viel von Hailey wusste. Sie war neu hier an der Schule und hing des Öfteren mit einem der Jungen herum, die die Ausstrahlung besassen, denen Stiefmütter mit Skepsis entgegen traten, ja, aber ansonsten wusste Lauren nicht sehr viel.
„Warum bist du hier, an dieser Schule?“, fragte Kaitlins piepsige Stimme auch sogleich.
„Meine Eltern sind Archäologen. Sie mussten für einige Zeit nach Kenia gehen und wollten mich wohlbehütet wissen.“, antwortete der Blondschopf ebenfalls prompt.
„Kenia? Und da bist du nicht mit?“ Lauren meinte aus der Art, wie Nicki das sagte, herauszuhören, dass sie bereits mit Hailey darüber gesprochen hatte.
„Es wäre zu kompliziert geworden.“, erwiderte Hailey lächelnd. Lauren erkannte jedoch, dass das Mädchen unruhig mit seinen Fingern spielte.
„Bist du Einzelkind?“ Lauren unterdrückte geschickt ein Gähnen und hob gespielt interessiert den Blick.
„Ich habe eine Schwester, Sara. Sie wird wahrscheinlich auch irgendwann an diese Schule kommen.“, erwiderte Hailey, noch immer ein Lächeln auf den Lippen.
„Spannend.“ Dieses Mal schaffte es Lauren nicht, das Gähnen zu verhindern. Achselzuckend schaute Lauren in Nickis verärgertes Gesicht.
„Wenn du unsere Vergangenheiten so langweilig findest. Warum erzählst du dann nichts von dir?“ Nicki schüttelte herablassend den Kopf.
Von der Frage überrumpelt zögerte Lauren mit einer Antwort. „Ich wüsste nicht, was dich das anginge.“ Ihr blieb kaum Zeit, fertig zu sprechen, als bereits die Zimmertür aufgerissen wurde und Juliane verlegenen Blickes hereinstürmte.
„Tut mir Leid für die Verspätung.“ Keuchend nahm Juliane ebenfalls am Boden Platz. Ein Schweigen hatte sich im Raum ausgebreitet und das Mädchen hob – offenbar von der Situation, die sich ihm bot – irritiert die Stimme. „Habe ich euch bei irgendetwas unterbrochen?“
Nicki lächelte, allem Anschein nach ihrem Sieg über Lauren gewiss. „Nein, keinesfalls. Lauren wollte uns bloss gerade von ihrer glorreichen Vergangenheit erzählen.“ Nicki schüttelte lachend den Kopf. „Ich könnte schwören, dass du schon im Sandkasten das Mädchen gewesen bist, das den Jungs den Kopf verdreht und gleichzeitig zickig alle Annäherungsversuche verhindert hat.“
„Was du nicht alles angeblich wissen willst“, keifte Lauren erregt zurück. Sie spürte ein unangenehmes Gefühl in ihrem Magen, das sich langsam zu einem schmerzhaften Stechen entwickelte. Sie entschloss, den einzigen Ausweg zu nutzen, der ihr blieb. „Apropos. Juliane. Wenn du den Herrschaften doch bitte Bericht davon erstatten würdest, wo du so lange gewesen bist.“ Sie spürte das Gefühl von Verrat erbarmungslos auf ihre Schläfen drücken; Dominic hatte auf ihre Verschwiegenheit gebaut. Doch ihre Worte konnte sie nicht mehr zurücknehmen.
„Lenk nicht ab.“ Erzürnt blitzten Nickis Augen auf. „Das ist doch wieder einmal typisch für dich.“
„Stimmt es, dass du mit Dominic ausgehst?“ Ein unangenehmes Schweigen trat ein, als Kaitlin mit piepsiger Stimme und hochrotem Kopf diese Frage laut aussprach, allem Anschein nach, um die Gemüter zu besänftigen. Doch damit erreichte sie das genaue Gegenteil.
„Wie kommt ihr nur alle auf solch idiotischen Ideen?!“ Julianes Stimme donnerte ungewohnt laut durch den Raum. Ihrem wütenden Ausruf wurde mit Schweigen gezollt, ehe Nicki das Wort erhob.
„Du hast soeben geflucht.“ Nickis Augen waren gross.
Juliane hielt im letzten Moment inne, ehe sich ihre Gedanken und ihre Wut überrollten. „Ich hab so was von die Nase voll davon.“
„Und du sprichst in der Jugendsprache“, erwiderte Nicki ungläubig.
Juliane betrachtete sie verwirrt.
„Und wo ist überhaupt dein Notizbuch abgeblieben?“ Wie es schien, war Nicki sprachlos.
„Ich…“ Juliane zögerte und ihre Wangen erglühten in einem sanften Rosa. „Ich wollte es soeben aus meiner Tasche holen.“ Sie stotterte.
„Meine Mutter und mein Vater verdienen viel Geld, wir sind ihnen überdrüssig geworden und so hier gelandet. Ausserdem sparen sie sich dadurch die Kosten für ein privates Kindermädchen.“ Von ihrem schlechten Gewissen übermannt, Juliane erbarmungslos sich selbst ausgeliefert zu haben, hatte Lauren leise die Stimme erhoben. Sie hatte sich gezwungen, das Atmen zu unterbrechen, um ihre Stimme ruhiger klingen zu lassen. Ein Fehler, wie sich jetzt herausgestellt hatte; gierig sog sie nun Luft ein. „Sonst noch Fragen?“, japste sie.
Erneut trat Schweigen ein. Einerseits galt der Blick der anderen Mädchen Juliane, die sich verwirrten Blickes durch das Haar strich, das sich in all der Aufregung aus seinem Knoten gelöst hatte. Andererseits lag das Augenmerk auf Lauren, die nun möglichst gelangweilt die Achseln zuckte.
„Wie es aussieht, habt ihr das nicht.“
Niemand erwiderte etwas. Es waren einige Minuten vergangen, als Nicki schliesslich skeptisch den Kopf schüttelte. „Irgendwie klingt diese Geschichte ziemlich schräg“, stellte sie fest.
Verstört wich Lauren zurück, so gut es im Sitzen eben ging. „Was willst du damit sagen? Dass ich gelogen habe? Schwachsinn!“ Sie schluckte, von Nickis plötzlichem Misstrauen wie betäubt.
„Sicher.“, pflichtete Nicki spöttisch lachend bei. „Lasst uns die Sitzung für heute auflösen. Sonst fangen wir alle noch an, Schauermärchen zu erzählen.“
Lauren erwiderte nichts.
Juliane spürte noch immer, wie Unsicherheit jede ihrer Bewegungen leitete. Hastig fuhr sie sich durchs Haar. Erst jetzt fiel ihr auf, dass es ihr in losen Strähnen ins Gesicht hing. Sie hatte sich abgewandt und war zu ihrem Schreibtisch getreten, während die anderen Mädchen soeben ihr Zimmer verliessen. Von dem plötzlichen Gewicht auf ihrem Nasenrücken erdrückt, griff sie nach ihrer Brille und legte sie samt ihrer Tasche auf ihren Schreibtisch. Würde sie im Laufe der Jahre tatsächlich wie alle anderen Mädchen werden und das Chaos ihr Leben regieren lassen?
Sie konnte es noch immer nicht glauben, wie all die neugierigen Schüler ihr Leben binnen eines halben Tages aus den gewohnten Fugen gerissen hatten. Wie in Trance versunken griff sie nach der Bürste, die auf dem kleinen Nachttisch lag, und fuhr sich durch das kastanienbraune Haar. Es war längst nicht so störrisch, wie sie es von anderen Leuten kannte, und doch fühlte sie sich unwohl dabei, ihr Haar frei auf den Rücken fallen zu lassen. Dennoch beliess sie es bei dieser Frisur und setzte sich gedankenverloren auf ihr Bett. Sie hätte jetzt gerne geschlafen und den ganzen bisherigen Tag vergessen, obwohl es erst Spätnachmittag war.
Warum hatte sie Laurens Angebot überhaupt angenommen und half ihrem Bruder, wo sie selbst doch so gar keinen Profit daraus zog?
„Ruhig Blut“, mahnte sie sich selbst und zwang sich, tief Luft zu holen. Tatsächlich hatte sie geflucht. Sie hatte ihr Notizbuch vergessen und gleichzeitig die Jugendsprache benutzt. Konnte es sein, dass Dominics chaotischer Lebensstil auch auf ihr eigenes Leben übergriff, obwohl sie es doch eigentlich sein sollte, die ihm ihre Ansichten lehrte? Und was bedeutete das für sie selbst?
Sie war zu spät zu der Sitzung für ihr Deutschprojekt gekommen, fuhr es Juliane im nächsten Augenblick durch den Kopf. Fast eine ganze Stunde. Wie konnte das alles bloss passieren? Immer ungläubiger schüttelte sie den Kopf.
„Alles in Ordnung?“
Widerwillig hob Juliane den Blick. Lauren hatte sich unbemerkt genähert, was bei ihren sanftmütigen Bewegungen keine Überraschung darstellte.
„Nein, ist es nicht.“ Ihre Stimme klang heftiger, als sie es geplant hatte.
„Die Sache mit Dominic… das war nicht fair.“ Tatsächlich schien als, als würde Lauren diese Äusserung belasten. „Ich war einfach in Bedrängnis, und da ist es mir so rausgerutscht.“, gab Lauren zu.
„Solche Dinge rutschen mir normalerweise nicht einfach so raus“, erwiderte Juliane trotzig. „Und ausserdem tue ich das ja alles nicht für mich.“
„Ich weiss.“ Unentschlossen zuckte Lauren die Achseln. „Darum tut es mir ja auch Leid.“ Diesen Satz hatte das andere Mädchen nur geflüstert, und doch hatte Juliane ihn deutlich wahrgenommen.
„Warte mal.“ Überrascht hatte sich Juliane aufgesetzt. „Könntest du das vielleicht wiederholen?“ Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. Hatte sich Lauren Newcole soeben bei ihr entschuldigt?
„Damit du es in dein Notizbuch schreiben kannst, oder wie?“ Lauren jedoch hatte bereits wieder zu ihrer alten Gehässigkeit gefunden, wie es nun den Anschein erweckte. „Nimm’s so hin oder vergiss es.“ Und mit diesen Worten drehte sich Lauren auf dem Absatz – und prallte dabei beinahe mit Dominic zusammen, der wohl unbemerkt (es lag mit Sicherheit an den Gen „leiser, graziler Gang“) durch die halboffene Tür getreten sein musste.
Juliane wusste nicht wieso, und doch gab sie insgeheim Dominic die Schuld für ihr chaotisches Empfinden. So beschloss sie, ihm keine Aufmerksamkeit zu schenken, und griff nach dem Buch, das neben ihr auf dem Bett lag. Sie erkannte lediglich schwarze, verschnörkelte Tinte auf papierweissem Grund. So fühlte es sich also an, wenn man sich vollkommen zum Idioten machte.
„Du solltest deine Brille dazu benutzen. Oder willst du immer so lange brauchen, bis du die Gegenstände findest, die du benötigst?“ In Dominics Stimme klang Befriedigung mit.
„Die schöne, alte Eitelkeit.“ Lauren hatte inne gehalten. „Und klopf das nächste Mal gefälligst an!“ Ihre Stimme hatte wieder an Lautstärke gewonnen.
Dominic nickte spöttisch, wie Juliane aus den Augenwinkeln heraus erkannte. Lauren entgegnete ihrem Bruder mit einem aufgebrachten Kopfschütteln.
„Gehen wir.“ An der Tür warf Lauren einen letzten Blick zurück. „Wir sehen uns später, Juliane.“
„Das werden wir wohl oder übel tun.“ Seit wann verabschiedete sich Lauren von ihr? Juliane grinste verstohlen.
Dominic folgte seiner Schwester, hielt dann jedoch inne. „Das solltest du öfter tun.“
„Was?“, bellte Juliane ungewollt aufbrausend.
„Dein Haar offen tragen und deine Brille ablegen und so.“ Dominic zuckte die Achseln, schenkte ihr dann aber noch ein kurzes Grinsen. Anschliessend verschwand er ebenfalls durch die Tür, die quietschend in ihre Angeln sprang.
Juliane seufzte leise. Warum hatte sie die Glückshormone in ihrem Körper aufwallen gespürt, als er dies gesagt hatte? Verkehrte Welt, schloss sie leise.
(8) - Mit und trotz Aufforderung –
Nicki blickte verstohlen zu dem Jungen mit den Rastas, der ihr gegenüber sass und dessen Gesicht hinter einem Buch verschwunden war. Auch in ihren Händen befand sich ein Buch – sie hatte spontan eines aus dem Regal gezogen – doch die Sätze, die irgendein Poet verfasst hatte, blieben vorerst ungelesen.
Bereits seit 15 Minuten hatte sie geschwiegen, was für Nicki eine durchaus grosse Zeitspanne bedeutete. Sie war Adam bereitwillig in die Schulbibliothek gefolgt, hatte nicht gemeckert, als er wortlos von dannen gezogen war und ihn schliesslich widerstandslos zu einem der schweren Eichenholztische in der Mitte der Galerie begleitet. Und das an einem Sonntagmorgen, in aller Herrgottsfrühe – um 9 Uhr.
Da Nicki keine sehr grosse Literaturkennerin war, hatte sie auf ihrem Irrweg durch die Bibliothek ziellos nach einem Buch gegriffen. Erstmals musterte sie nun das Buch, das ihre Hände gewählt hatten. Goethe. Nicki musste zugeben, dass sie bereits von dem guten, alten Mann gehört hatte, dessen Namen der Buchrücken zierte. Allerdings beschränkte sich ihr Wissen auf diese einzelne leise Ahnung.
Gespielt interessiert schlug sie schliesslich das Buch auf.
„Bleibe, bleibe bei mir, Holder Fremdling, süße Liebe, Holde süße Liebe, Und verlasse die Seele nicht!“, raunte Nicki theatralisch.
„Scht!“ Adam winkte mit einer schnellen Handbewegung ab. „Ich bin gerade an der Stelle, an der Fabian seine Arbeitsstelle verliert.“
„Fabian?“ Nicki gähnte herzhaft.
„Von Erich Kästner.“
Nicki bedachte Adam eines ungläubigen Blickes. „Ich gestehe dir grad in Form eines merkwürdigen Gedichtes meine Liebe und du wimmelst mich ab, weil du dich lieber am Unglück irgendeines Kästners erfreust?“
„Du meinst Fabian. Kästner ist der Autor“, stellte Adam richtig und verschwand dann wieder hinter seinem Buch.
„Ach, wie sehn ich mich nach dir, Kleiner Engel! Nur im Traum, Nur im Traum erscheine mir!“, seufzte Nicki kopfschüttelnd.
„Kannst du mir deine Liebe nicht ein anderes Mal gestehen?“, erwiderte Adam gelangweilt.
„Wenn Julia das zu Romeo gesagt hätte, hätten vielleicht beide überlebt.“, überlegte Nicki laut. „Von daher sollte ich wohl mit einem Ja antworten, wenn mir mein Leben lieb ist.“
Adam nickte desinteressiert, immer noch hinter dem Buch versteckt.
„Andererseits hätten sie dadurch wahrscheinlich nie zueinander gefunden.“, fügte Nicki triumphierend an.
Adam liess das Buch sinken, die Stirn in tiefe Falten gezogen.
„Du alterst schneller, wenn du dir zu viele Sorgen machst, Liebling“, sülzte Nicki schelmisch grinsend. Goethe wäre allemal stolz auf sie gewesen.
„Hast du dich nicht gestern dazu bereit erklärt, mit mir in die Bibliothek zu kommen?“, stellte Adam klar.
„Ja, aber…“
„Und hast du nicht gesagt, es sei dir egal, um welche Herrgottsfrühe du dafür aufstehen müsstest?“, sprach Adam weiter.
„Ja, aber…“
„Und hast du mir nicht versprochen, ruhig zu bleiben und mir treu ergeben zu folgen?“, ergänzte Adam.
„Ja, aber…“
„Und ist es unbedingt notwendig, dass du all deine freundschaftlichen Worte innerhalb weniger Minuten über den Haufen wirfst und eifersüchtig auf eine Romanfigur bist?“
Nicki schluckte, der Blick von Kritik erfüllt. „Ich soll eifersüchtig auf Fabian sein?“
„Jawohl, mein ‚kleiner Engel’.“ Adam stöhnte.
„Ich bin nichts arbeitslos“, protestierte Nicki.
„Das ist mir durchaus bewusst.“ Ihr Gegenüber nickte. „Aber wenn du so weiter machst, bist du bald gesellschafts-los.“
„Gesellschafts-los?“ Nicki zog die Stirn kraus.
„Ohne Gesellschaft, alleine, verlassen. Nenn es, wie du willst. Darf ich mich jetzt weiter an Fabians Misere ergötzen?“
Nicki nickte artig. In Gedanken schüttelte sie jedoch ungläubig den Kopf. Sich ergötzen? Das hörte sich verdächtig nach „rotzen“ oder „kotzen“ an. Mit unterdrücktem Lachen erhob sie sich.
„Ich werde mich dann mal völlig gesellschafts-los in die unteren Stockwerke begeben und nach weiteren Fabians suchen. Ruf mich, wenn du mich von meinem Elend zu befreien gedenkst.
„Mach ich.“, murmelte Adam kurzbündig.
Ihr Gefühl sagte Nicki, dass sie lange darauf würde warten müssen. Missmutig stampfte sie die Treppe herunter, so, dass alle sie hören mussten und die Bibliothekarin sie mit einem bösen Blick abmahnte, und wandte sich nach links; irgendwie würde sie ihr Buch loswerden müssen. Da die Bibliothekarin – eine alte Frau in den Wechseljahren – einen Röntgenblick besass, ahnte Nicki, dass ihr nur die Möglichkeit blieb, das Buch zurück an seinen standartgemässen Platz zu legen.
Unentschlossen verschwand sie in einem der vielen Durchgänge, die durch die Regale gebildet wurden. „Alte griechische Literatur“ liess ein kleines, quadratisches Schild verlauten, das am Regal angebracht worden war.
Zweifelnd betrachtete Nicki ihr Buch, um sicher zu gehen, dass es nicht hierhin gehörte. Doch sie ahnte, dass sie sich unter normalen Umständen – nicht gesellschafts-los – nie in diesen Bereich der Bibliothek gewagt hätte. Welcher schrullige Schüler widmete seine kostbare Freizeit schon der Bearbeitung alter, furchtbar langweiliger griechischer Literatur?
Nicki erhielt sogleich eine Antwort.
„Oh.“, murmelte eine ihr bekannte Stimme.
Nicki erstarrte. Von der anderen Seite des Durchgangs hatte sich soeben Joonas genähert.
„Bist du gekommen, um mich dafür zu bestrafen, dass ich mich in Gedanken unehrsam über die alte griechische Literatur ausgelassen habe?“, stotterte sie überrascht.
Joonas betrachtete sie fragend. „Unehrsam?“
„Goethe sei Dank.“ Nicki zuckte die Achseln. „Goethe war kein Grieche, oder?“, fragte sie dann, um sich in ihrer Vermutung bestätigen zu lassen.
„Das wäre mir neu“, antwortete Joonas mit skeptischem Blick.
„Zumindest sprichst du jetzt mit mir. Auch wenn es für ein ‚Hallo’ immer noch nicht ausgereicht hat“, bemerkte Nicki lächelnd. Sie spürte, wie ihr Selbstbewusstsein bröckelte. Für wie ungebildet musste Joonas sie nun halten?
„Hallo.“ Joonas lächelte leicht.
Erleichtert nickte Nicki. Sie hatte es also geschafft, ihm ein zweites Mal ein Lächeln abzuringen. Sie spürte, wie jede Faser ihres Körpers zu einem Siegestanz ansetzte, der ihr Blut in Wallung brachte.
„War das jetzt zu schlechtlaunig?“, fragte ihr Gegenüber leicht neckisch und unterband somit gleichzeitig die merkwürdigen Triebe, mit denen Nickis Körper angebandelt hatte.
Auch Nicki konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Du machst zumindest Fortschritte“, erkannte sie an.
„Schlechtlaunig, unehrsam… was folgt wohl als Nächstes?“
Nicki zog eine Schnute und setzte ihren Dackelblick auf. Zumindest hoffte sie, dass er einem Dackel als einem glich. „He. Du erwartest also schon von mir, dass ich mich schlecht ausdrücke? Dann lässt du mir ja gar keinen Raum für Fortschritte. “
„Ich würde deine Ausdrucksweise nicht als schlecht bezeichnen“, gestand Joonas ein und sein Lächeln gewann an Stärke.
„Sondern?“ So leicht wollte Nicki nicht locker lassen.
„Speziell.“, erwiderte ihr Gegenüber.
„Positiv oder negativ speziell?“, fragte Nicki weiter.
Joonas stöhnte. „Du stellst Fragen…“
„Ich nimm diese Antwort jetzt einfach mal als Feststellung und nicht als Ausdruck der negativen Ungläubigkeit. Ich stelle also Fragen. Punkt.“ Erstaunt stellte Nicki fest, dass sie nervös war; ihre Hände spielten unentwegt mit dem Einband des Buches.
„Negative Ungläubigkeit? Das wäre dann wohl der dritte Begriff, den ich in die Kategorie ‚Nicki’ stecke.“ Joonas war vom Stöhnen ins Seufzen übergegangen.
Nicki konnte nicht sagen, was genau es war, doch irgendetwas erfreute sie an der Art und Weise, wie er dies gesagt hatte. „Dann sind wir also bereits so weit, dass ich eine eigene Kategorie erhalten habe?“ Ihr Lächeln war noch immer nicht abgeklungen. „Apropos Kategorie. In welche Kategorie ist denn Goethe einzuordnen?“ Vielleicht konnte Nicki ja Joonas Wissen nutzen und ihn als Retter in der mittelmässigen Not missbrauchen?
„Deutsche Lyrik. Regal 3.“ Joonas hatte keine paar Sekunden gebraucht, um ihr diese Zahl zu nennen. Beeindruckt riss Nicki die Augen auf.
„Regal 3, also?“
„Genau.“ Joonas zögerte, als würde er abwarten, wie Nicki reagierte. Schliesslich bot er ihr mit dem Anflug eines Lächelns an: „Komm mit, ich zeig es dir.“
Dankbar folgte ihm Nicki. Er führte sie den Durchgang zurück, überquerte die Halle und wählte schliesslich ein Regal auf der rechten Seite des Raums. Ihre Fassungslosigkeit über die Selbstverständlichkeit, mit der Joonas sich in der Bibliothek bewegte, legte sich, als sie schliesslich dem Regal gegenüber stand. Mit gesammelter Ungläubigkeit musterte Nicki das Möbelstück, das an der Flügelseite mit der Zahl ‚3’ beschriftet worden war (was ihr zuvor wohl irgendwie entgangen war). „Wie viel Fassungsvermögen hat so ein einzelnes Regal überhaupt?“ In Gedanken fügte sie hinzu: Alleine auf diesem Regal müssen sich ja ungefähr hundert Bücher befinden! Wie kannst du dich dann bei diesem Berg Bücher hier zurechtfinden?
Joonas schien ihre Verzweiflung gespürt zu haben. „Zweitunterste Reihe, dritter Abschnitt.“
Wortlos befolgte Nicki die Anweisungen und fand schliesslich eine nur schwer leserliche Beschriftung: Goethes Gedichtbände. „Aha“, entfuhr es Nicki, als sie die Einbände betrachtete. „Der Mann muss viel unerwiderte Liebe erlebt haben.“
Joonas bedachte sie eines kritischen Blickes. „Und wie kommst du auf diese Idee?“
Nicki dachte nur kurz nach. „Einerseits sind es seine Gedichte. Wie würdest du denn ‚kleiner Engel’ deuten? Eindeutig total liebestrunken. Total übertrieben. Total unerwidert.“ Joonas machte Anzeichen zu antworten, doch Nicki liess ihn gar nicht erst zu Wort kommen. „Und andererseits ist es dieser Name. Seine Eltern müssen ihn gehasst haben, dass sie gewagt haben, ihm einen solchen Namen zu geben. Diesen Hass musste er dann in den späteren Jahren irgendwie kompensieren. Also schrieb er Liebesgedichte.“ Nicki nickte, von ihren eigenen Worten durchweg überzeugt.
„Du sprichst von seinem Nachnamen.“, merkte Joonas an.
„Nachname?“ Nicki kratzte sich irritiert an der Stirn.
„Goethe – er hiess mit Vornamen Johann.“, fügte Joonas erklärend hinzu.
„Eben. Johann. Hab ich doch gesagt.“
Nun war es um Joonas geschehen. Tatsächlich lachte er schallend.
„Habe ich je behauptet, dass Goethe sein Vorname ist?“, protestierte Nicki händeringend.
Es dauerte einige Sekunden, ehe Joonas sich gefasst hatte. „Sicher, Mayer.“
„Und woher kennst du meinen Nachnamen?“ Nicki hob erstaunt die Brauen. Dieser Junge verwirrte sie. Erst sagte er gar nichts und jetzt schien er sogar ihren Nachnamen irgendwie in Erfahrung gebracht zu haben.
„Woher kenne ich deinen Vornamen?“ Joonas schüttelte lächelnd den Kopf. „Und ausserdem hat Goethe längst nicht nur Liebesgedichte geschrieben.“
„Was?!“ Egal, wie sehr Nicki auch versuchte, ihn zu verstehen; sie tat es nicht.
„Du hast mir weder deinen Nachnamen noch deinen Vornamen verraten. Und Goethe hat längst nicht nur Liebesgedichte geschrieben.“, erklärte Joonas.
„Oh.“ Nicki neigte verlegen den Kopf. „Dann habe ich unseren Johann eindeutig falsch eingeschätzt.“
„Ja, das hast du wohl.“ Joonas lächelte noch immer.
Doch Nickis Neugier war noch immer nicht gestillt. „Woher kennst du dann überhaupt meinen Nachnamen? Und meinen Vornamen?“
„Habe ich je behauptet, dass ich deinen Vornamen kenne?“ Joonas zuckte vielsagend die Schultern.
Nicki stöhnte. Dieser Junge würde sie noch frühzeitig unter die Erde bringen. „Kennst du ihn denn?“
„Nicki. Nicole Mayer. Aber ‚Nicole‘ klingt dir zu üblich.“
„Mhm-hmm.“ Unsicher trat Nicki von einem Fuss auf den anderen. Es hatte sie vollkommen aus dem Konzept gebracht, dass er so viel wusste. Er hatte es tatsächlich geschafft, sie sprachlos zu machen.
„Zufälligerweise kenne ich Adam. Und zufälligerweise bist du ebenfalls mit ihm befreundet.“, klärte sie Joonas auf.
„Was für Zufälle es doch gibt.“ Erleichtert atmete Nicki aus. Dann war ihr Gegenüber zumindest kein Hellseher, sondern lediglich ein aufmerksamer Zuhörer, der regelmässig Adams Gerede ertragen musste. Nicki seufzte theatralisch. „Ihr habt euch also gegen mich verbündet?“
„So ähnlich, ja.“ Joonas machte Anstalten, dieses Gespräch beenden zu wollen.
„Du musst gehen?“, fragte Nicki vorsichtshalber, die Stirn in Falten gelegt.
„Ich sollte. Da oben sitzt dein Freund und wartet ungeduldig. Ausserdem hat er soeben zu uns herabgeblickt. Und da hilft es nicht, da ich gerade eben seinen Namen fallen gelassen habe.“
„Mein Freund…“, setzte Nicki überrascht an, beendete ihre Gedanken jedoch nicht. Stattdessen setzte sie ein schwaches Lächeln auf. „Dann solltest du wohl besser gehen.“
Reglos schaute Nicki Joonas nach, als er sich mit einem Kopfnicken von ihr abwandte und durch die Halle auf die Treppe zutrat. Nur Sekunden später war er aus ihrem Blickfeld verschwunden.
Verwirrt starrte Nicki auf die Galerie und entdeckte, dass Adam von der Ferne ein Winken andeutete. Sie meinte, dass sich ein neckisches Lächeln um seine Lippen gelegt hatte. Mein Freund.
„Idiot“, murmelte Nicki leise. Darum also hatte er sie vorhin loswerden wollen; er war bereits verabredet gewesen.
Bedächtigen Schrittes näherte sich Nicki dem Ausgang. Fast schon fühlte sie Eifersucht gegenüber Goethe in sich aufkeimen. „Tschüss Johann“, flüsterte Nicki, als sie durch die Flügeltür trat. Er hatte es zumindest geschafft, dieser wahnwitzigen Welt früh genug zu entfliehen.
„Das Leben ist trostlos.“, flüsterte Nicki und verdrehte die Augen.
Hailey nickte gedankenverloren. Es war Montag und somit bereits vier Tage her, seit sich ihre und Chris‘ Wege in dem Tumult um den Drogenskandal getrennt hatten.
„Das Wort verrät’s schon. Trost-los.“, fügte Nicki nun an.
Erneut nickte Hailey und sah sich dabei verstohlen um. Die 10-Uhr-Pause war eben angebrochen und das Wetter zwang sie, im Schulgebäude zu bleiben. Selbst in den Schulgängen meinte Hailey durch das Stimmengewirr wahrnehmen zu können, wie dicke Regentrocken heftig gegen die Fensterscheiben der Schulzimmer klatschten. Chris würde sich in solch strömendem Regen doch bestimmt auch im Trockenen aufhalten oder hatte seine Abneigung gegen die Schönen und Reichen der Schule überwogen und er war nach draussen geflüchtet?
„Ohne Trost.“
Hailey zuckte zusammen. Ertappt wandte sie sich Nicki zu, der Blick entschuldigend. „Was hast du gesagt?“
„Oh nein, dein Leben ist nicht trostlos. Du hast schliesslich deinen Freund.“, stellte Nicki resigniert fest.
„Meinen Freund?“ Irritiert schüttelte Hailey den Kopf.
„Wie hiess er noch gleich? Der, mit den ausgewaschenen Jeans und dem süssen Lächeln?“, versuchte es Nicki erneut.
„Wir sind nicht zusammen.“, murmelte Hailey nur und zwang sich, nicht erneut in Gedanken zu versinken.
„Chris, genau, Chris. Entschuldige, was hast du gerade gesagt?“, erwiderte Nicki neckisch.
Hailey zwang sich zu einem Lächeln. „Du bestrafst mich jetzt also für meine fehlende Aufmerksamkeit?“
„Wie war das noch gleich?“ Nicki tat ahnungslos.
„Wie war was noch gleich?“ Unbemerkt war Juliane auf sie zugetreten.
Nicki hob sogleich abwehrend die Arme. „Du willst mir doch jetzt bitte nicht sagen, dass du sogar in den Pausen über unser Projekt diskutieren willst?“
„Eigentlich dachte ich…“, begann Juliane beschwichtigend, doch Nicki trat bereits händeringend einen Schritt zurück.
„Bitte nicht. Was muss ich tun, damit du ruhig bleibst? Willst du meine Englischaufgaben abschreiben?“, bot Nicki an, der Blick flehend.
„Ich wollte nicht darüber…“
„Tatütata. Ist das Leben nicht schön?“, sang Nicki, anscheinend in der Hoffnung, Juliane zu vertreiben.
„Jetzt halt doch mal deine Klappe.“ Ein triumphierendes Grinsen breitete sich auf Julianes Gesicht aus, als es Nicki, von der plötzlichen Bestimmtheit in der Stimme des anderen Mädchens überwältigt, die Sprache verschlug. „Endlich“, seufzte Juliane. „Ich bin nicht wegen unserem Projekt hier. Ich wollte einfach ein bisschen reden.“
„Reden?“, warf Hailey kritisch ein.
„Bitte nicht auch noch du“, seufzte Juliane und fügte dann sichtlich überrascht hinzu: „Aber Nicki, du willst mir doch nicht ernsthaft mitteilen, dass du die Englischaufgaben gelöst hast?“
„Nicht direkt“, murmelte Nicki, noch immer erstaunt. „Aber ich habe zumindest das Buch mit.“
Juliane nickte zögerlich, offenbar unsicher, was sie erwidern sollte.
„Du willst also reden“, stellte Hailey fest und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie das überraschte. Sie hatte noch nie ausserhalb ihrer Sitzung mit Juliane gesprochen, abgesehen von dem einen Mal, da sie regelrecht auf sie zugestürmt war und sie mit der ersten Sitzung gedrängt hatte. „Habt ihr etwas von der Entwicklung im Fall des Halloweentäters gehört?“, versuchte Hailey, ein Gespräch aufzubauen.
„Halloweentäter? So heisst er also bei euch?“ Juliane schien ehrlich überrascht.
„Das ist ja wohl am naheliegendsten.“, erklärte Nicki bestimmt. „Drogentäter und Drogendealer sind zu allgemein, der-Täter-der-an-Halloween-Drogen-vertickt-hat zu lang. Also ist er der Halloweentäter.“
„Sicher.“ Juliane klang jedoch alles andere als überzeugt. Stattdessen kratzte sie sich – noch immer sichtlich überrascht – an der Stirn.
„Darum hatte ich am Vormittag des verhängnisvollen Halloweenabends ja auch erklärt, dass Kürbisse nicht lachen können. Das wäre vollkommen verkehrt. Gegenstände, die ein böses Omen versinnbildlichen, dürfen nicht lachen. Das ist gegen das Gesetz der Abergläubigkeit. Und sieht nur her, was passiert ist“, fügte Nicki an.
„Warum versinnbildlichen Kürbisse ein böses Omen?“ Juliane hatte mit der Frage gezögert, als wäre sie nicht sicher gewesen, dass sie sie auch tatsächlich stellen durfte, ohne mitleidige Blicke zu ernten.
„Seit es den Halloweentäter gibt“, erwiderte Hailey achselzuckend. „Aber versuch am besten erst gar nicht, Nicki zu verstehen.“ Ein schelmisches Lächeln kräuselte ihre Lippen.
„Das sagen alle und trotzdem langweilt ihr euch ohne mich“, stellte Nicki vergnügt fest. Sie hielt einen Moment inne, ehe sie an Juliane gewandt dazusagte: „Seit wann trägst du eigentlich dein Haar offen?“
Es passierte in diesem Augenblick, dass Hailey ihn sah: Nur wenige Meter von ihr entfernt diskutierte Chris heftig mit einem Jungen, der weite Jeans trug und dessen Hals ein Tattoo verriet, das sich bis zum Bauch ziehen musste – das Gesamtbild des anderen Jungen verriet etwas Bedrohliches. Tatsächlich wirkte Chris erzürnt. Hailey war unsicher, ob sie wirklich mit ihm sprechen sollte, da er allem Anschein nach beschäftigt war. Gleichzeitig jedoch verspürte sie das heftige Verlangen, seine Stimme zu hören, nun, da ihre letzte Begegnung bereits fünf Tage zurück lag. Doch ihre Unsicherheit, ob sie auf ihn zutreten sollte, erübrigte sich sogleich; mit einem einfachen Kopfschütteln beendete Chris das Gespräch, wandte sich ab – und starrte geradewegs in Haileys Richtung. Erstaunt stellte sie fest, dass er im Begriff war, wortlos an ihr vorüberzugehen, obwohl er sie gesehen hatte.
Hailey wusste nicht, was es war, doch irgendein Winkel ihres Herzens flüsterte ihr zu, dass sie mit ihm reden sollte. So trat sie vorsichtig ein paar Schritte vor und rief Chris, der sich bereits wieder etwas entfernt hatte, nach: „Chris?“ Ihre Stimme klang merkwürdig hohl. Wie benommen trat sie ein paar Schritte vor.
Endlich blieb er stehen. Nachdem er einige Sekunden nur reglos gewartet hatte, dass sie zu ganz ihm aufschloss, wandte er sich ihr schliesslich widerwillig zu.
„Hallo.“ Auch seine Stimme klang anders als sonst, merkwürdig monoton, als würde er soeben eine Rede vor grossem Publikum halten, sich der Bedeutung seiner Worte nicht bewusst sein. Selbst sein Blick wirkte abweisend, der Mund offenbarte nicht das Lächeln, das Hailey sich von ihm gewohnt war.
„Ich dachte, wir sollten miteinander reden“, setzte Hailey an, ihr eigener Blick unsicher.
„Hör mal, das ist jetzt gerade sehr schlecht. Ich melde mich später bei dir, okay?“ Chris machte noch immer keinerlei Anstalten, näher zu treten. Auch verriet seine Mimik nichts von der Vertrautheit, die Hailey glaubte, in den vergangenen Wochen zu ihm aufgebaut zu haben.
„Oh.“ Sie wusste nicht, was sie sonst hätte sagen sollen. Ihr Mund schien ihr wie mit Watte gefüllt. „Ist gut“, krächzte sie schliesslich mehr, als dass sie es deutlich aussprach.
Chris nickte leicht. Und mit dieser Geste machte er kehrt und lief davon.
Hailey hingegen spürte, dass sich nichts von der Anspannung gelöst hatte, die sie seit der Nacht fühlte, in der sie sich beinahe geküsst hätten. Kopfschüttelnd trat sie zurück zu Nicki und Juliane, die sie beide besorgt musterten. Doch keine der beiden erwiderte etwas.
„Gehen wir ins Schulzimmer?“ Hailey brauchte keinen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen, um festzustellen, dass sie fünf Minuten zu früh sein würden.
Juliane nickte schwach, während Nicki sich räusperte und mit sarkastischer Stimme meinte: „Nun, zumindest hat er dir ohne Aufforderung ‚Hallo’ gesagt.“
Sehr geehrte Ms. Hundsman,
Mir läge ein grosses Bedürfnis daran, mit Ihnen über Ihre schulischen Probleme sprechen zu können. Deshalb bitte ich Sie für den 5.Dezember, 12.00 Uhr Mittags, zu mir ins Büro. Erhalte ich keine Antwort, gehe ich davon aus, dass Sie pünktlich erscheinen werden.
Mit freundlichen Grüssen,
Martin Eddings,
Direktor der Oberstufe des Edward Steppfield Internats
(9) - Missverständnisse –
Bald schon würde der erste Schnee fallen. Und dieses Mal würden Sonne und Wind die Wetterberichte nicht überlisten können. Dies wurde Juliane in dem Augenblick bewusst, da sie gedankenverloren den Himmel betrachtete; schwere, weissgraue Wolken bedeckten den Horizont und drohten in Kürze ihr gesamtes Gewicht zu entladen. Ausserdem war da der typische Geruch nach Schnee, der die Landschaft umhüllte und sich mit dem Duft von Zimtkrapfen, die die Schulküche herstellte, vermischt hatte.
Donnerstag. War der Donnerstag geeignet für den ersten Schneefall? Irritiert kratzte sich Juliane an der Stirn – normalerweise hasste sie Donnerstage. Sie bewegten die meisten Schüler dazu, bereits ans Wochenende zu denken, was ein Durchkommen in den Schulgängen zwischen den wild diskutierenden Grüppchen deutlich erschwierigte.
Nun, da sie es dennoch geschafft hatte dem Stimmengewirr zu entfliehen, lehnte sich Juliane erleichtert gegen die Aussenmauer des Schulgebäudes. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass ihre kleine Schwester schon bald auftauchen würde; ihr Weg vom Gebäude des Untergymnasiums war weiter und dementsprechend brauchte sie länger. Tatsächlich dauerte es nicht lange, da mischte sich eine dunkle Gestalt in das Bild der ausgeblichenen grünen Landschaft auf weissgrauem Grund; Becky musste den schwarzen Mantel tragen, den ihre Mutter eigentlich Juliane geschickt hatte, dann aber doch zur eher kleineren Statur von Becky gepasst hatte.
„Das Untergymnasium spielt verrückt“, liess Becky bereits von einiger Entfernung verlauten. Als sie Juliane schliesslich erreicht hatte, stöhnte sie laut auf. „Alle suchen momentan nach Lösungen, sich doch irgendwie auf den Weihnachtsball zu schleichen. Du kannst gar nicht glauben, wie ich mich auf das nächste Jahr freue. Und du gehst wieder mal nicht hin?“ Es war eher eine Feststellung, als eine Frage.
Juliane zuckte gelangweilt die Schultern. Sie war es sich mittlerweile gewohnt, dass ihre Schwester sie gerne dafür aufzog, abends nicht oft auszugehen. Wenn ich älter bin, tönte sie des Öfteren, werde ich jedes Wochenende haufenweise Verabredungen haben.
„Ich denke nicht“, meinte Juliane bloss, dachte aber in Gedanken: Warum sollte ich?
„Du bist langweilig, weißt du das?“ Becky schüttelte den Kopf.
Juliane verdrehte die Augen. „Da es das ungefähr hundertste Mal ist, dass du mir das mitteilst, sollte ich es allmählich wissen.“
„Und seit wann trägst du dein Haar offen?“ Becky zeigte sich überrascht.
„Willst du mich nicht eher fragen, seit wann ich Kontaktlinsen benutze?“ Juliane seufzte.
Juliane zuckte zusammen, als Becky ihr mit einem erstaunten Kreischen antwortete. „Stimmt.“ Neugierig wurde Juliane von ihrer Schwester gemustert. „Seit wann?“
„Seit heute morgen. Und ich kann dir sagen; diese Dinger brennen höllisch.“
Becky lächelte vergnügt. „Wer schön sein will, muss leiden, Schwesterherz.“ Und dann: „Jetzt fehlt nur noch etwas Schminke.“
„Danke auch, dass du meine Veränderung gutheisst.“ Juliane schüttelte lächelnd den Kopf. Niemals würde sie Farbe auf ihr Gesicht auftragen – dies erinnerte sie viel zu sehr an die Faschingskostüme, die sie als junges Mädchen stets getragen hatte. Zu solchen Zwecken hatte sie sich anmalen lassen und sie bereute es bis heute, schaute sie sich bloss die Photos an.
„Für deine Veränderung gibt es doch sicher einen Grund?“ Becky hob vielsagend die Brauen.
„Es wäre mir neu, wenn ich dazu einen Grund haben müsste.“ Kaum hatte Juliane ausgesprochen, wurde sie von ihrer Schwester am Arm gepackt.
„Oh.“
„Was?“ Juliane ärgerte sich, dass sie erschrocken zusammengezuckt war. Normalerweise war sie stets versucht, allfällige Bewegungen zuerst mit ihrem Verstand abzusprechen.
„Oh.“
„Du meine Güte, was ist los?“ Mit geballter Kraft entriss sie sich aus dem Griff ihrer Schwester und rieb sich den schmerzenden Arm.
„Oh.“
„Sag mir jetzt bitte sofort…“ Juliane hatte sich umgewandt und entdeckte sogleich den Grund für das seltsame Verhalten ihrer Schwester; Dominic und zwei weitere gutaussehende Jungen hatten sich nach draussen begeben. Der dritte Junge zündete sich soeben eine Zigarette an.
„Dominic Newcole“, hauchte Becky schwärmerisch.
Verstört schüttelte Juliane den Kopf. „Du willst mir doch nicht sagen, dass du auf ihn stehst?“ Sie beschloss, besser nicht zu erwähnen, dass sie noch an diesem Abend eine weitere Stunde mit ihm lernen würde, als sie Beckys schwärmerischen Gesichtsausdruck näher betrachtete.
„Er ist so perfekt…“, keuchte Becky, die Augen fix auf Dominic gerichtet.
„Glaub mir, das ist er nicht“, murmelte Julian lediglich und schüttelte erneut den Kopf. „Hör auf so zu starren!“, zischte sie dann.
„Aber wenn mir doch gefällt, was ich sehe…“
Juliane stöhnte. „Ich bitte dich. Benimm dich gefälligst wie eine Schülerin, die nächstes Jahr in die Oberstufe kommt.“
„Tu ich doch, tu ich doch.“ Noch immer galt Beckys Augenmerk Dominic.
Juliane blieb keine Zeit für eine Antwort. Sie sah, wie die drei Jungen zurück zur Tür gingen, wie Dominic allem Anschein nach zögerte und schliesslich die beiden anderen Jungen im Schulgebäude verschwanden.
„Du siehst gequält aus.“ Selbstbewusst hatte sich Dominic genähert, die Hände in den Taschen seiner Jeans versteckt.
„Mag sein.“ Juliane hörte, wie Becky neben ihr leise fiepte. Wie konnte sie bloss mit dieser Person verwandt sein? Seufzend sagte Juliane: „Das ist meine Schwester, Becky.“
„Hi.“ Dominic nickte Becky freundlich zu, die neben Juliane laut schluckte.
„Ich fass es nicht“, hörte Juliane sie raunen. „Ich habe mit Dominic Newcole gesprochen“, flüsterte sie noch leiser.
„Du siehst gut aus.“ Dominic deutete auf ihr Haar. „Ich hätte nicht gedacht, dass du auf mich hören würdest.“
Hab ich auch nicht, hab ich auch nicht!, fauchte Juliane innerlich, doch sie meinte bloss kühl: „Es war Zeit für eine Veränderung. Das hat nichts mit dir zu tun.“
„Oh.“ Becky flüsterte noch immer. „Diesen Grund nehme ich dir nicht übel.“
Genervt verdrehte Juliane die Augen. Sie ahnte, dass ein Gespräch mit Becky und Dominic gleichzeitig nur schiefgehen konnte, wo sie es doch nicht einmal schaffte, einzeln mit ihnen zu kommunizieren.
„Du hast mir gar nicht gesagt, dass du ihn kennst.“ Juliane ahnte, dass Dominic dies ebenfalls gehört haben musste.
„Dann muss ich es wohl vergessen haben. Aber jetzt weißt du es ja“, sagte Juliane abweisend. Nach ihrem Gespräch mit Lauren war sie sich nicht sicher, wie viel sie anderen Leuten von den Gründen erzählen durfte, warum sie sich mit Dominic traf.
„Weißt du, Kontaktlinsen tun höllisch weh“, säuselte Becky nun an Dominic gerichtet, ehe ihre Stimme brach.
„Das kann ich mir vorstellen.“ Dominic nickte, sein Blick argwöhnisch.
„Das hat mir zumindest Juliane gesagt. Also musst du den Grund fast wert sein.“ Beckys Stimme war zu Julianes Entsetzen so laut geworden, dass Dominic sie klar und deutlich verstanden haben musste.
Nur mühsam konnte sie ein Stöhnen unterdrücken. Sie warf einen schnellen Blick auf die Uhr – sie würde wieder einmal fünf Minuten zu früh sein, aber das war ihr reichlich egal. „Also, ich gehe dann mal“, sagte sie mit einem falschen Lächeln auf den Lippen.
„Oh.“ Becky erwiderte nichts Weiteres, als Juliane ihr zum Abschied kurz winkte und schliesslich zielstrebig durch die Tür verschwand; offenbar stand ihre kleine Schwester vollkommen neben sich.
Oh Erdboden, tu dich auf, dachte Juliane still bei sich. Schnell hatte sie das Stimmengewirr wieder unter seine Fittiche genommen. Sie war jedoch nur wenige Meter weit gekommen, ehe sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Erstaunt zuckte sie zusammen und wandte sich um.
„Was?“
Es war Dominic, der sie zum Stillstand gezwungen hatte.
Für einen Moment glaubte Juliane, die Welt stünde still, als sie sah, wie neidische Blicke anderer Schülerinnen sie trafen. „Mach schnell, Erdboden“, raunte sie fast lautlos.
„Ich kann heute Abend nicht.“, erklärte Dominic achselzuckend.
„Auch gut.“ Juliane atmete tief durch. Warum gab es bloss die Gesetze der Trägheit? Warum konnte sie nicht wirklich durch den Erdboden treten?
„Auch gut?“ Dominic schien ehrlich überrascht. „Ich dachte, du nagelst mich an der Wand fest und schleuderst mir die übelsten Beschimpfungen entgegen.“ Er hatte erstaunt die Brauen gehoben.
„Dann sind wir uns ja fast einig. Da mir aber die Zeit dafür fehlt, akzeptiere ich es so, wie es ist.“
Dominic hatte sein Grinsen zurück gewonnen. „Dir bleiben noch drei Minuten.“
„Die ich gerne alleine verbringen würde.“ Juliane seufzte.
„Dann also am Sonntag?“
„Wie es aussieht, ja.“
Juliane sah, wie Dominic zögerte, allem Anschein nach mit sich haderte. „Also dann…“
„Also dann.“ Juliane blieb keine Zeit, sich umzudrehen, da hatte Dominic sie erneut an der Schulter gefasst. Verärgert kniff sie die Lippen aufeinander. Lag es an ihr, dass die Leute heute ununterbrochen das Bedürfnis verspürten, sie am Arm zu greifen?
„Was hältst du eigentlich von Bällen?“ Dominic gab sich gewohnt selbstbewusst.
Irritiert schüttelte Juliane den Kopf. „Fussbällen oder was?“
Dominic liess sich Zeit mit einer Antwort. Juliane spürte, dass sie noch immer von einigen Schülern merkwürdig angestarrt wurde.
„Eigentlich dachte ich eher an Schulbälle. Weihnachtsbälle, genauer gesagt.“ Noch immer zeigte Dominic sich selbstbewusst.
„Ich weiss nicht. Wahrscheinlich nicht sonderlich viel.“ Juliane seufzte. Auf was wollte Dominic hinaus?
„Wahrscheinlich?“
„Sehr wahrscheinlich.“
Dominics Grinsen war verschwunden. Stattdessen betrachtete er Juliane nun mit schiefem Kopf, die Mimik ausdruckslos. Juliane wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie spürte, wie ihr Herz laut und unregelmässig pochte und gab insgeheim Becky die Schuld, deren kindisches Verhalten sich anscheinend auf Juliane übertragen hatte.
„Na, dann. Bis Sonntag also.“ Dominic nickte leicht, dieses Mal mit ernstem Blick.
„Bis Sonntag.“ Juliane zögerte und erwiderte kurz Dominics Blick, ehe sie sich entschlossen umdrehte und davonlief. Irgendwo schrillte die Schulglocke, doch Juliane kümmerte sich nicht darum, dass sie zu spät in der nächsten Stunde erscheinen würde. Sie fühlte sich verwirrt und merkwürdig ausgelaugt.
Sie zwang sich tief durchzuatmen. Es lag eindeutig an diesem Tag, dachte sie bei sich, dass heute so viele merkwürdige Dinge passierten. Sie konnte Donnerstage eindeutig nicht ausstehen. Und heute war noch ein weiterer Grund für ihre Abneigung dazu gekommen.
Donnerstagnachmittag. Normalerweise verbrachte Nicki diese Nachmittage am liebsten damit, ihre Musik auf volle Lautstärke zu schalten und zu entspannen, während ihre Zimmergenossin sie in allen Sprachen, die sie beherrschte, verfluchte (was sich also auf knapp eine beschränkte). Nicki konnte sich nicht erinnern, sonst jemals auch nur ein Wort mit ihr gewechselt zu haben. Vielleicht war sich das arme Mädchen mittlerweile auch einfach nicht mehr sicher, ob Nicki denn nicht doch vielleicht aus Russland oder Spanien stammen könnte.
Unsicher betrat Nicki nun die Bibliothek. Früher hatte sie dies nie freiwillig getan und jetzt handelte es sich schon um das zweite Mal in zwei Tagen, dass sie dies tat. Es roch nach Büchern. Alten, vergilbten Büchern. „Wir befinden uns ja auch in einer Bücherei“, hätte Nicki erwidert, hätte eine andere Person diese Bemerkung fallen gelassen. So aber stöhnte sie nur leise. Zumindest wusste sie mittlerweile, wo sich die deutsche Lyrik und die alte griechische Literatur befanden – vollkommen verloren musste sie sich also nicht mehr fühlen. Dennoch verspürte Nicki ein flaues Gefühl in der Magengegend. Aber ihr Wille siegte – sie hatte etwas zu erledigen und sie war sich fast sicher, dass sie dies am ehesten in der Bibliothek tun konnte. Er würde ihr nicht entkommen.
Die Bibliothekarin bedachte sie eines grimmigen Blickes, die Augen hinter der Hornbrille schienen sie tatsächlich zu durchstrahlen. Röntgenblick. Nicki schauderte es.
Wo sollte sie mit ihrer Suche beginnen? Ein kurzer Blick auf die Galerie zeigte ihr, dass ihre Suche dort nicht im Erfolg münden würde.
Kurzerhand entschied sie sich für den Ort, der ihr am meisten sagte: Die dritte Reihe, deutsche Lyrik. Sie selbst empfand es als albern, zu glauben, dass sie dort das von ihr sehnlichst erwünschte Ergebnis erzielen würde, und doch ging sie eilig, so, dass sie erneut einen mahnenden Blick von der Bibliothekarin erntete. „Nicht rennen“, sagte ihr dieser Blick. Nicki beschloss kurzerhand, die Mahnung zu ignorieren.
Es dauerte nicht lange, da befand sie sich an ihrem Zielort, die Hände unentschlossen ineinander verschränkt. Hier war nichts. Von der kindischen Idee geleitet, noch nicht aufgeben zu wollen, zog Nicki entschlossen das Buch zu Tage, das ihr all das Chaos eingebrockt hatte. „Kleiner Engel“, sülzte Nicki, als sie das Buch in den Händen hielt, dessen Rücken wie am Vortag bereits verlauten liess: Goethe.
Fast hätte sie vor Überraschung laut aufgeschrien, als ihr beim Öffnen ein kleiner Zettel entgegen fiel. Konnte ein Mensch überhaupt so viel Glück haben? Hastig entfaltete sie das Stück Papier und entdeckte sogleich einen kurzen Text, der in fein säuberlicher Schrift niedergeschrieben worden war.
An Johann.
Richte Goethe einen Gruss von mir aus. Sag ihm, dass der kleine Engel sich unehrsam gezeigt hat und einfach nicht davon ablassen konnte, dies zu schreiben.
Dein schlechtlauniger Grieche.
Nicki schüttelte fassungslos den Kopf. Der kurze Text war gespickt mit Andeutungen, die ihren Bauch ungewohnt heftig rumoren liessen. Doch er verriet nichts darüber, wie sie die Person finden konnte, die das Urheberrecht zu diesen zwei Sätzen besass. Geknickt steckte Nicki das Buch zurück ins Regal, während sie den Zettel vorsichtig ein zweites Mal durchlas.
Süss, fuhr ihr durch den Kopf. Zugleich schüttelte - sie angewidert von sich selbst - erneut den Kopf. Seit wann kannte ihr Vokabular das Wort „süss“? Nicki vermied ein weiteres Kopfschütteln, da sie entdeckte, dass der Röntgenblick der Bibliothekarin auf ihr lag - diese Frau sollte sie neben unverschämt nicht auch noch für unheilbar verrückt halten, falls Nicki diese Bibliothek je wieder betreten wollte, ohne pausenlos gemustert zu werden.
Doch trotz ihrer missglückten Suche spürte sie, dass die Botschaft des Zettels ein wohliges Gefühl in ihrer Magengrube zurückgelassen hatte. Zufrieden entschied sie, dass es für heute genug war.
„Was ist eigentlich mit dir los?“ Lauren hatte argwöhnisch die Hände in die Seiten gestützt und betrachtete ihren Bruder dabei, wie er in der anderen Zimmerhälfte auf und ab lief.
„Juliane wird nicht erfreut sein, wenn du ihr den Boden mit deinen Schuhen verschmutzt.“, fügte Lauren an und spürte, wie ihre Skepsis weiter wuchs.
Dominic seufzte, lief achselzuckend an ihr vorbei und setzte sich wortlos auf ihr Bett.
„Du solltest immer so wortgewandt sein. Dann könnten wir den Leuten vielleicht glaubhafter machen, dass wir uns auch ohne Worte verstehen.“ Lauren hatte sich umgewandt, bestand aber immer noch darauf, stehen zu bleiben. Ihr Blick galt ihrem Bruder; mit zu einem Strich verzogenen Mund musterte sie ihn. Sie glaubte, sogar fühlen zu können, dass etwas nicht stimmte. Schwesterliche Intuition, eben.
„Sogar Collin findet sie jetzt hübsch.“ Dominic zuckte erneut die Achseln, der Blick weiterhin gesenkt.
„Wen findet Collin hübsch?“ Lauren hatte das dumme Gefühl, dass sie heute jedes Detail aus ihrem Bruder herausziehen musste; freiwillig würde er nichts sagen.
„Ist das wichtig?“
Ungläubig rümpfte Lauren die Nase. „Damit ich nachvollziehen kann, was du mit deinen Worten bezweckst – ja.“ Sie verstand noch immer nicht, was geschehen war. Kurz nach der Schule war er in ihr Zimmer gestürmt und einige Minuten wortlos in der fremden Zimmerhälfte auf und ab gelaufen. Dass sie ihn dazu hatte bewegen können, sich zu setzen, sah Lauren deshalb bereits als immensen Fortschritt an.
„Nein, es ist nicht wichtig“, beschloss Dominic und zuckte erneut die Achseln.
„Dann ist es nicht wichtig. Von mir aus.“ Lauren seufzte. „Aber erklär mir bitte trotzdem, was los ist.“
„Collin findet sie hübsch“, sagte Dominic, als erkläre er jemandem das einmaleins.
„So viel habe sogar ich bereits verstanden.“ Lauren bedachte ihren Bruder mit einem kritischen Blick. Er schien dies gespürt zu haben; auch er schaute nun hoch, jedoch geradewegs an Lauren vorbei, an irgendeinen Punkt der gegenüberliegenden Wand.
„Das ist ja gerade das verwirrende: Ich weiss nicht, was los ist.“
„Hmm.“ Lauren legte den Kopf schief. Irgendetwas musste hier tatsächlich mächtig verkehrt sein. Die ihr dargebotene Situation begann ihr unangenehm zu werden.
„Kannst du dich an Dana erinnern?“ Lauren ahnte, dass Dominic bereits wusste, dass sie diese Frage bejahen würde. Sie seufzte leise. Sie hätte gedacht, dass die Geschichte mit Dana eindeutig abgeschlossen sei: Ihr Bruder und Dana waren letztes Jahr für ein paar Monate zusammen gewesen. Da beide jedoch augenscheinlich nicht hatten treu sein können und Dana zudem als Abschlussschülerin viele Türen offen gestanden hatten, war es schliesslich zum Bruch gekommen. Für Lauren hatte diese Beziehung nichts mit Liebe zu tun gehabt, doch für Dominic galt sie als nennenswert, da er sich dadurch den Stempel ‚beziehungsunfähig’ hatte abkratzen können.
„Was ist mit ihr?“
„Eigentlich nichts.“ Dominic fuhr sich durch sein blondes Haar. Selbst nun, da er offenkundig verwirrt schien, sass es ähnlich wie Laurens Haar perfekt.
Lauren stöhnte händeringend. „Tu mir den Gefallen: Sperr dich in dein Zimmer ein und wag dich erst wieder in diesen Raum, wenn du bei klarem Verstand bist.“
„Ich glaube, ich bin… verliebt.“ Dominic zuckte erneut innerhalb weniger Minuten die Achseln. Tatsächlich erhob er sich jedoch.
„Das warst du doch schon oft, Brüderchen.“
Dominic erwiderte nichts darauf. Wortlos war er durch die Tür verschwunden.
Unentschlossen, was sie nun tun sollte, blieb Lauren stehen. Schliesslich entschied sie, etwas für ihr Äusseres zu unternehmen. Eine Hautmaske auflegen, ja, das wäre keine schlechte Idee. So könnte sich ihre durch merkwürdige Zimmerpartner, verwirrende Brüder und nervende Projekte in Mitleidenschaft gezogene Haut etwas beruhigen. Doch noch immer glitten ihre Gedanken unentwegt zu ihrem Bruder; irgendetwas belastete ihn zurzeit tatsächlich mehr als Lauren lieb war.
(10) - Wahrheit oder Lüge –
Hailey blickte ungeduldig auf die Uhr. Noch drei Minuten… Irgendwo in den vorderen Reihe meinte sie zu erlauschen, wie zwei Mädchen sich über den nahenden Weihnachtsball unterhielten, während direkt neben ihr ein Junge mit haselnussbraunen, kurzen Locken mit einem Baseball spielte.
„Schneller… schneller.“, flüsterte sie mit einem Blick auf die Uhr.
„Und damit nahm die Französische Revolution ihren Lauf.“
Nur von sehr weit weg nahm Hailey die Stimme des Lehrers, die ermüdend durch den Raum schallte, wahr.
„Vielleicht sollten wir auch einmal so eine Revolution versuchen? Wir kämpfen für unsere Freiheit. Für unsere Freizeit. Die Lehrer selbst sagen doch immer, dass wir Schüler versuchen sollen, uns in die aktuell besprochenen Themen hineinzufühlen.“ Es war Nicki, die ihr dies zugeflüstert hatte.
„Wir könnten es zumindest probieren“, gab Hailey ihr Recht. Warum nicht? Nachdem bereits über mehrere Monate hinweg ihr Wochenplan stets gleich voll ausgesehen hatte, sehnte sie nun Weihnachten herbei. Vielleicht würde sie ihre Grosseltern besuchen oder ihre Eltern sogar endlich wieder einmal zu Gesicht bekommen, dachte Hailey bei sich und konnte nur mühsam ein Gähnen unterdrücken.
Vorsichtig beugte sie sich zu Nicki vor. „Noch eine Minute“, zischte sie. „Dann haben wir den Unterricht für zwei volle Tage hinter uns.“
„Wunderbar.“ Nickis Versuch, Begeisterung zu heischen, scheiterte kläglich.
„Wie konnte es denn passieren, dass du dich nicht mehr auf Freizeit – freie Stunden – freust?“ Fassungslos sagte Hailey dies lauter, als sie es vorgehabt hatte. Ihr Lehrer redete unbekümmert weiter.
„Was würdest du sagen, wenn du ein Briefchen erhältst, dessen Inhalt mehr als verschleiert ist, und es gleichzeitig nicht schaffst, den Urheber trotz gründlichster Suche auszumachen?“ Nicki seufzte leise.
„Wer ist denn der ominöse Junge?“ Hailey lächelte. Ehe Nicki etwas sagen musste, kam ihr bereits eine Idee, wer sich hinter dem unbekannten Absender verbergen konnte. „Adam?“
Nickis Reaktion kam prompt: Sie hustete laut. Im selben Augenblick ertönte die Schulglocke und verschmolz mit Nickis erschrockenem Husten zu einem hohlen Summen in Haileys Ohr.
„Falsch?“
„Sehr falsch“, krächzte Nicki. „Adam ist nicht mein Freund.“ Sie sprach dies erstaunlich heftig und zugleich mit vom Husten heiserer Stimme.
Hailey neigte entschuldigend den Kopf, während sie nach ihren Geschichtsunterlagen griff.
„Ich weiss“, sagte Hailey beschwichtigend und glitt an Nickis Seite aus dem Schulzimmer. Das andere Mädchen sah erstaunlich bleich aus.
„Warum denkst du dann automatisch, dass er es gewesen sein muss, der mir das Briefchen… geschickt hat?“ Nicki fuhr sich allem Anschein nach besorgt über ihren Hals.
„Ich…“ Hailey zögerte. Warum hatte sie denn überhaupt sogleich an Adam gedacht? War es nicht einfach der logischste Schluss, den man ziehen konnte?
„Er war es nicht.“ Nicki schüttelte überschwänglich den Kopf, als wollte sie ihren Standpunkt so noch klarer machen.
„Aie aie. Hab verstanden.“ Hailey lächelte zaghaft, bemerkte aber zugleich, dass Nicki sich wieder einigermassen gefasst hatte. Dennoch wirkte sie unruhig.
„Ich muss wirklich unbedingt etwas klarstellen.“, erklärte Nicki.
„Das hast du bereits getan. Mir ist jetzt alles glasklar.“
Doch Nicki schüttelte lediglich den Kopf. „Ja, dir ist alles klar. Ihm nicht.“
„Dann geh und schau, dass du ihm die Sache ebenfalls glasklar machst.“ Hailey fühlte sich mit ihrem Latein am Ende, und dass, obwohl sie sich zwei Jahre mit diesem Fach abgequält hatte. Ora et labora, dachte sie seufzend. Bete und arbeite. Vielleicht würde sie als Nonne ein ruhigeres Dasein fristen?
„Ja…“ Nicki zögerte, ehe sie schwach lächelte. „Ich gehe dann mal.“
Seufzend blickte Hailey Nicki nach. Vielleicht war es die Schuld des Herbstes, der mit seinen Winden alle durcheinander brachte? Müde strich sie sich durch ihr Haar, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm; es war Chris, der mit einem kurzen Sprint zu ihr aufgeschlossen hatte und ihr nun die Tür zum Ausgang schuldbewusst lächelnd auf hielt.
„Du wirst sicher wütend sein“, sagte Chris.
Verstört stellte Hailey fest, dass er es alleine mit seinem Lächeln schaffte, ihren Ärger vergessen zu lassen. Doch war sie wirklich ärgerlich? Sie spürte, dass es eher Verwirrung war, die ihr Denkvermögen benebelte. Verwirrung, über den Beinahe-Kuss, Verwirrung über das schnelle Ende ihrer ersten Verabredung und über sein ablehnendes Verhalten während den letzten Tagen.
„Ich bin verwirrt“, gestand sie schliesslich auch ein.
„Es tut mir Leid“, murmelte Chris resigniert. „Irgendwie schaffe ich es andauernd, Mist zu bauen.“
„Was war denn überhaupt los?“ Vielleicht würde er ihr bei einer einfachen Frage am ehesten Antwort geben, dachte sie bei sich.
„Ein Freund von mir hat momentan Ärger. Das wirkt sich wahrscheinlich auch zugleich auf meinen Gemütszustand und somit auf mein eigenes Leben aus.“ Chris schüttelte traurig den Kopf.
„Vielleicht sollten wir uns einfach eine Weile nicht sehen?“, schlug Hailey vor. Sie hatte mit sich hadern müssen, ehe sie es geschafft hatte, sich selbst dies einzugestehen, sah aber zugleich keinen anderen Ausweg.
„Ich möchte dich doch sehen.“ Hailey spürte das vertraute Kribbeln in ihrem Magen, als Chris mit seiner Hand nach ihrer suchte und seine Finger in ihren verschränkte.
„Und wie soll es jetzt weitergehen?“, hauchte Hailey und hasste sich zeitgleich dafür, sich so schnell aus der Fassung bringen zu lassen.
„Hast du den Kürbis noch?“
„Mhm-hmm.“
„Dann könnten wir vielleicht einfach ab diesem Punkt weitermachen. Und es werden noch viele Kürbisse folgen, damit sie irgendwann den Mist abdecken, den ich gebaut habe.“ Chris lächelte sie an; das Lachen, das Hailey von ihm lieben gelernt hatte. Warum konnte es bloss nicht immer so sein?
Sanft entzog sie Chris ihre Hand – sie würde es langsam angehen lassen. Hailey spürte, dass sie keine neuen Enttäuschungen mehr brauchen konnte. „Punkt Kürbis, also“, erwiderte sie vorsichtig. Wie sehr sie sich auch danach sehnte, ihre Arme um Chris zu legen, sie bemühte sich, nichts Voreiliges zu unternehmen.
Und mit einem letzten Blick zurück in seine geheimnisvollen dunklen Augen verschwand Hailey im Gemenge der Schüler, die ebenfalls zum Wohngebäude strömten.
Es hatte vier Tage länger gedauert, als sie gedacht hatte. Mit mürrischem Blick betrachtete Juliane vom Fenster aus, wie erste Schneeflocken ihr Dasein der irdischen Welt offenbarten. Schnee. Kalt, mit einer verwirrenden Konsistenz, dachte Juliane sogleich. Weder fest noch feucht. Hätte der allmächtige Architekt die Welt denn nicht zumindest so aufbauen können, dass sie sich in ihrem Aufbau nicht selbst widersprach? Schneeflocken, die sich nicht entscheiden konnten, ob sie nun fest oder flüssig sein wollten, gehörten eindeutig zu der Unentschlossenheit des Architekten dazu, schloss Juliane und seufzte müde.
Es war Sonntagmorgen und Lauren befand sich allem Anschein nach noch in einer fernen Traumwelt. Juliane hingegen würde sich in wenigen Minuten bereits ein Stockwerk höher befinden, wo der Ausblick auf den Schnee noch besser war – was ihre Laune ungemein verschlechterte.
Verstohlen wagte sie einen Blick auf ihre Uhr – würde sie jetzt schon gehen, würde sie ein paar Minuten zu früh bei Dominic aufkreuzen. Sie wollte nicht als zu pünktlich gelten und gleichzeitig ahnte sie, dass er dieses Gefühl von ihr sowieso bereits hatte. Konnte es also schaden, verfrüht bei ihm zu erscheinen? Juliane überlegte nur kurz; ein Blick auf die wenigen Schneeflocken, die ihren Weg vom Himmel zu Boden suchten und bis zum Abend einen dünnen Flaum über den Wiesen gebildet haben mussten, liessen sie den Entschluss fassen, das Bild, das Dominic von ihr hatte, weiter zu verfestigen - unmöglich konnte sie weiterhin unnützig und griesgrämig aus dem Fenster starren. Doch warum kümmerte es sie überhaupt, was er von ihr dachte? So griff sie fast schon trotzig nach ihrer Jacke und knallte die Tür laut hinter ihr zu – ein böses Teufelchen hatte ihr zugeflüstert, die Gelegenheit zu nutzen und Lauren ein wenig zu ärgern. Es war immerhin bereits fünfzehn Minuten nach acht – ein idealer Zeitpunkt also, um aufzustehen und sich für den restlichen Tag über den Schneefall zu ärgern. Aber wie es schien, war Juliane die einzige, die so dachte. Die Stille, die im Haus lag, liess sie leicht schaudern. Es konnte doch unmöglich die gesamte Schülerschaft die Samstagnacht bis in die frühen Morgenstunden verlängert haben? Juliane seufzte leise – sie machte sich für einen Sonntagmorgen erstaunlich viele Gedanken.
Einigermassen beruhigt stellte sie fest, dass sie vor Dominics Zimmertür angelangt war. Es tat ihr gut, wieder unter Gesellschaft zu kommen, egal, um welche Gesellschaft es sich dabei handelte. Nicht, dass Dominic schlechte Gesellschaft bedeutete… erschrocken stellte Juliane fest, dass ihr Herz begonnen hatte, in ungewohnt schnellem Rhythmus zu schlagen. „Gedanken, verschwindet!“, fauchte sie leise und legte ihre Finger auf die Holzverkleidung der Tür. Auch hier war es erstaunlich still – würde ihr Nachhilfeschüler etwa verschlafen haben? „Klopf schon“, raunte sie sich selbst zu, doch ihre Hand befolgte die Anweisung nicht.
Es geschah im selben Augenblick, dass die Tür von innen geöffnet wurde. Überrascht sprang Juliane ein paar Schritte zurück. Wie konnte Dominic sie nur gehört haben?
Es war tatsächlich Dominic, der in der Tür stand. Jedoch hatte er Juliane allem Anschein nach noch nicht bemerkt. Und da war eine weitere Person – ein Mädchen. Eines dieser Sorte Mädchen, die Juliane bereits seit Kindesbeinen an verabscheute: Beine bis zum Hals, knappe Kleidung, viel zu viel Schminke im Gesicht. Doch das Haar des Mädchens erschien auffallend unordentlich – als ob jemand gefallen daran gefunden hätte, mit den grellblonden Locken zu spielen.
Endlich verstand Juliane, was es bedeutete, wenn jemandem das Herz in die Hosen rutschte. Da, wo es eben noch heftig schlagend von ihrer Nervosität gezeugt hatte, war jetzt ein schwarzer, leerer Fleck. Das Mädchen mit den Endlosbeinen hatte Dominic soeben einen Kuss auf den Mund gehaucht und sich dann abgewandt.
„Meldest du dich?“, rief es fröhlich. Oh, wie Juliane diese Quietschstimmen hasste!
Endlich hob Dominic seinen Kopf. „Sich…“ Tatsächlich wirkte er geschockt, als seine Augen Juliane - einige Meter entfernt - fanden. Seine Stimme war gebrochen.
„Was hast du gesagt?“ Das Mädchen erstarrte ebenfalls. „Oh.“
„Hallo.“ Julianes Stimme war erstaunlich ruhig und offenbarte nichts von dem Chaos, dem sich ihr Körper gerade ausgesetzt fühlte. Konnte es sein, dass sie soeben eine Grippe heimgesucht hatte? Vielleicht sollte sie sich besser zurück in ihr Bett legen und sich die Decke über den Kopf ziehen, bis das Gefühl von Krämpfen, die ihren gesamten Körper erschütterten, abgeklungen war… Schwach schüttelte Juliane den Kopf - es gab keinen Grund, zu fliehen. Sie hatte Dominic mit einem anderen Mädchen erwischt. Überraschte sie dies wirklich? Schliesslich war er für den ständigen Wechsel von Liebhaberinnen bekannt. Eine leise Stimme raunte ihr jedoch zu: „Ja.“ Erneut schüttelte Juliane den Kopf, dieses Mal heftiger. Nein!, dachte sie aufgebracht. Es durfte sie einfach nicht überraschen. „Tut mir Leid. Ich bin etwas früh dran.“ Stolz stellte Juliane fest, dass ihre Stimme die ihr vertraute Klangfarbe nicht verloren hatte.
„Ja.“ Ja? War das alles, was Dominic zu sagen hatte? Und warum betrachtete er sie zugleich beschämt und selbstbewusst? Wie konnte er bloss in jeder verdammten Situation von sich selbst überzeugt bleiben?
„Soll ich wieder gehen? Ich wollte euch nicht… bei etwas unterbrechen.“ Nicke, Juliane, nicke. Klinge überzeugt. Tatsächlich brachte sie ein schmales Lächeln zustande.
„Nein.“
Und warum durfte Dominic wortkarg bleiben, obwohl er es war, der ihre Verabredung vergessen hatte? Sicher, Juliane war zu früh gewesen, aber hatte sie sich nicht noch vor wenigen Minuten absolut davon überzeugt gefühlt, dass er sie gut genug kannte, um sich ihrer peniblen Pünktlichkeit bewusst zu sein?
Das Mädchen mit den Endlosbeinen nickte sachte den Kopf. „Dann gehe ich also.“ Es bedachte Juliane eines giftigen Blickes. Hätte es nicht umgekehrt sein sollen? Doch ihre eigene Miene blieb völlig ausdruckslos.
Dominic antwortete dem Mädchen nicht. Reglos beobachteten er und Juliane, wie es um die Ecke verschwand und wie schliesslich das leise Knarren von Treppenstufen ertönte, als es sich auf den Rückweg in sein Zimmer machte. War nicht sie selbst noch vor wenigen Minuten diese Treppe hochgekommen, in der irrwitzigen Vorstellung, Gesellschaft würde ihr gut tun, egal um welche Gesellschaft es sich dabei handelte? Nun verspürte Juliane nur noch den Drang, alleine zu sein.
„Willst du mit reinkommen?“ Immer noch strahlte Dominic das Selbstbewusstsein aus, das Juliane selbst dann fehlte, wenn sie eine 1 im Mathetest geschrieben hatte.
Wortlos betrachtete sie ihren Gegenüber. Sie würde sich nicht bewegen – sie konnte es einfach nicht.
„Bitte.“ Dominic hatte seinen Hundeblick aufgesetzt. „Hier draussen fühle ich mich so blamiert.“
Ach wirklich, tust du das? Und wie soll es mir dann erst gehen? Innerlich schrie Juliane diese Worte, doch noch immer sagte sie nichts. Sie zwang sich tief durchzuatmen. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, drängte sie sich an Dominic vorbei in sein Zimmer. Sein Bett war ungemacht, die Decke zerwühlt, als hätte er nur wenig geschlafen. Doch was hätte Juliane anderes erwarten sollen?
„Können wir reden?“ Dominic hatte die Tür hinter ihnen geschlossen.
Was gab es denn überhaupt noch zu besprechen, nun, da alles geklärt schien? Nichts, lag Juliane auf der Zunge. So zwang sie sich weiter zum Schweigen.
„Das war so nicht gedacht.“ Allem Anschein nach aufgewühlt kratzte sich Dominic an der Stirn, lief an Juliane vorbei und hantierte an der Bettdecke, die er schliesslich zu einer Rolle geformt zu Boden schmiss.
Ja, so hatte sich das Juliane auch nicht gedacht. Sie hatte nicht unangemeldet aufkreuzen und wie eine naive Sechzehnjährige dabei zuschauen wollen, wie ein anderes Mädchen ihn abschlabberte. Sie wollte nicht naiv sein! Ausserdem - hatte sie nicht geschworen, nie zu einem dieser Mädchen zu werden? Und nun war sie es gewesen, die Dominic und die Unbekannte mit den Endlosbeinen innerlich vor Wut schäumend gemustert hatte.
„Setz dich doch.“ Dominic deutete auf das Bett.
Oh nein. Niemals würde sie sich auf das Bett setzen, das diese Nacht wahrscheinlich viele schnulzige Worte hatte erdulden müssen – und zudem das Gewicht von zwei Personen.
„Es… es ist nichts passiert. Wir haben nicht…“, nach Worten ringend zeigte Dominic auf das Bett.
Juliane teilte seine Meinung nicht. Für sie bedeutete ein Kuss mehr als „es ist nichts passiert“.
„Wie könnte ich auch?“ Dominic war näher getreten.
Angewidert trat Juliane ein paar Schritte zurück. Ein Blick in die andere Zimmerhälfte zeigte ihr, dass das Bett seines Zimmergenossen gemacht war und von ihm jede Spur fehlte. Dominic und das fremde Mädchen waren also zu allem Übel auch noch ungestört gewesen.
„Du hast ja keine Ahnung.“ Dominics Blick war ernst, und doch konnte Juliane an nichts Anderes als an das Mädchen denken, das ihm einen Abschiedskuss aufgedrückt hatte – das Haar von der langen Nacht in Unordnung gebracht.
„Ich habe es versucht“, erklärte Dominic nun. Erneut war er näher gekommen und Juliane musste fassungslos feststellen, dass sie nicht weiter rückwärts gehen konnte – Hinter ihr versperrte die Wand ihr den Weg. „Aber irgendwie klappte es nicht. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Ständig musste ich an eine andere Person denken…“
Er hatte sich nicht konzentrieren können? Wenn es nach Juliane ging, so hatte er durchaus konzentriert aus der Wäsche geguckt, bis er durch Julianes verfrühtes Kommen aus dem Konzept gebracht worden war.
„Wir sollten Mathe lernen.“ Endlich hatte es Juliane geschafft, etwas zu sagen. Zudem klang ihre Stimme immer noch erstaunlich fest.
Ungläubig betrachtete Dominic sie. Und dann – innerhalb einer Sekunde – wechselte sein Gesichtsausdruck von Scham hinzu Unverständnis. „Du willst Mathe lernen?“
„Für was soll ich denn sonst gekommen sein?“, flüsterte Juliane, ebenfalls aufgebracht.
„Ich… ich verstehe gar nicht, warum ich mich vor dir erklären sollte. Aber zumindest habe ich es versucht. Und du hast nichts Weiteres zu sagen, als dass du Mathe lernen willst?“ Dominic schüttelte verstört den Kopf.
„Ich tue das für dich, vergiss das nicht.“ Juliane stöhnte. Sie verstand nicht, warum er Grund hatte, wütend zu sein.
Dominic nickte schwach den Kopf und schluckte. „Du tust das für mich, klar.“
„Ich kann auch wieder gehen“, schlug Juliane vor und versuchte, möglichst genervt zu blicken.
„Nein verdammt, das sollst du nicht!“ Nun war Dominics Stimme tatsächlich von Groll erfüllt. Doch selbst jetzt wirkte er noch unmenschlich selbstbewusst, das blonde Haar sass perfekt.
„Dann lass uns Mathe lernen!“, fauchte Juliane zurück. Entschlossen griff sie nach dem Mathebuch, das sie in ihrer Tasche verstaut hatte.
„Du verstehst wirklich nicht, was ich sagen will, oder?“ Es war mehr eine Feststellung, als eine Frage. „Wie kannst du nur so blind sein?“
„Meine Augen funktionieren sehr gut, danke der Nachfrage.“ Achselzuckend setzte sich Juliane zu Boden.
Dominic musterte sie einen Moment nachdenklich. „Wenn du doch so ruhig bist – warum setzt du dich dann nicht aufs Bett?“
Erneut zuckte Juliane die Achseln und stützte sich an der Wand ab, während sie sich erhob. Möglich lässigen Ganges schritt sie in die Zimmerhälfte seines Nachbarn und setzte sich wortlos auf das Bett.
„Nicht dieses Bett“, erklärte Dominic bloss. Mehr sagte er nicht – stattdessen musterte er sie immer noch eingehend.
„Meinst du wirklich, dass deine Eltern stolz auf dich wären, wenn sie dich so sehen würden?“ Juliane waren die Worte aus dem Mund geglitten, ehe sie sie hatte überdenken können. Nur unterbewusst hatte sie an Laurens Bericht gedacht; reiche Eltern, die keine Zeit hatten. Die typische Situation, die sich hier ergeben hatte – schliesslich war ihr eigenes Leben in ähnlichen Bahnen verlaufen. Doch sie wusste, dass ihre Mutter bestürzt gewesen wäre, hätte sie gehört, dass ihre Tochter äusserst flatterhaft war, wenn es um Jungs ging.
„Meine Eltern…?“ Dominic war verwirrt zurückgetreten und setzte sich nun selbst auf sein Bett. „Wie kommst du auf meine Eltern?“
Juliane zuckte die Achseln – sie wusste es selbst nicht so genau.
„Und erneut zeigt sich, dass du keine Ahnung hast.“ Irrte sie sich, oder war Dominic Stimme zum wiederholten Mal von Groll erfüllt? Zornesfunkelnd lag sein Blick auf ihr.
„Ja, ich bin vollkommen ahnungslos. Das ist auch der Grund, warum ich dir in Mathe helfe, und nicht umgekehrt. Es ist ja schliesslich nicht so, dass du in diesem Gebiet keine Ahnung hättest.“ Ungewollt aufbrausend hatte Juliane diese Worte gesprochen.
„Du sprichst von Schulfächern, Piper. Ich hingegen spreche vom wahren Leben. Von Gefühlen.“ Dominic schluckte. „Von total widersächlichen Gefühlen. Von Liebe.“
Erstaunt hob Juliane die Brauen. Wann an diesem jungen Vormittag hatte Dominic je das Wort „Liebe“ erwähnt? Es konnte doch unmöglich sein, dass er für das Mädchen mit den Endlosbeinen stärkere Gefühle entwickelt hatte? „Du sprichst von Elternliebe?“, versuchte es Juliane – ihre Stimme war gebrochen, besass nicht mehr die Ruhe, mit der Juliane zuvor noch auf Dominics Aussagen gekontert hatte.
„So ähnlich.“ Dominic zögerte. „Nicht nur.“
„Du magst das andere Mädchen also?“ Warum klang ihre Stimme so anklagend? Dominic durfte schliesslich tun und lassen, war er wollte. Immerhin war er ein freier Mensch. Juliane besass nicht das Recht, ihn für das zu verurteilen, was er tat – auch wenn ihr Verlangen danach noch immer ungestillt war.
„Ich hätte gedacht, du wärst ein kluges Mädchen. Aber wie es scheint…“ Dominic beendete den Satz nicht. Seine Fassungslosigkeit war fast schon zum Greifen nahe. „Ich weiss nicht, was ich noch tun soll, um dir das klar zu machen.“
Juliane stemmte argwöhnisch die Arme in die Seiten. Sie hatte sich wieder erhoben. Der Drang, alleine zu sein, war weiter angeschwollen. „Mir was klar zu machen?“
Dominic antwortete ihr nicht. Stattdessen betrachtete er sie müden Blickes – erstmals erkannte Juliane die Schatten unter Dominics Augen, die sein perfektes Äusseres nur kaum merklich abschwächten.
„Ich sollte wirklich gehen.“ Wie, um sich zu rechtfertigen, fügte Juliane an: „Mathelernen werden wir heute wohl nicht mehr.“ Fast schon schleichend ging sie zur Tür. „Sehen wir uns am Dienstag?“
„Ich weiss nicht“, erwiderte Dominic abweisend. Leise seufzte er: „Es wäre wahrscheinlich wirklich besser, wenn du gehst.“
Juliane nickte und öffnete die Tür. Mittels eines einfachen Schrittes war sie aus dem Zimmer getreten und wandte sich um. „Na dann.“ Sie hielt inne. „Bis irgendwann, also.“
Dominic öffnete den Mund, als würde er etwas erwidern wollen – doch die Worte blieben unausgesprochen. Sein Blick war Juliane gefolgt, seine Augen noch immer stark funkelnd. Der Groll darin war jedoch verschwunden.
„Ich mag dieses andere Mädchen nicht“, flüsterte er schliesslich. Selbst jetzt hatte er nichts von seinem Selbstbewusstsein eingebüsst.
Aha. Sicher. Juliane sprach ihre Gedanken nicht aus. Müde lächelte sie – ein falsches Lächeln. Ohne ihm etwas zu erwidern bog sie um die Ecke – nun war sie das Mädchen, das sich die Treppe hinunter in die Mädchenschlafräume schlich. Ihre Beine, dachte Juliane mürrisch, reichten jedoch lediglich bis zu einer Stelle an der gegenüberliegenden Wand, an der ein roter Fleck klaffte. Der Fleck befand sich nur unweit vom Boden entfernt.
Oh, wie sehr Juliane Schnee und Sonntage überhaupt doch hasste.
(11) - Schluss mit Schauermärchen -
Der Schneefall musste über Nacht tatsächlich zugenommen haben, dachte sich Nicki, als sie sich endlich aus ihrem Bett gequält hatte. Sie liebte den Schnee und das, was er anrichtete: Er setzte den Häusern und Bäumen Puderzuckerhüte auf, brachte das Treiben auf den Strassen durcheinander und bescherte ihr ab und zu einen freien Tag. Allerdings konnte Nicki Montagmorgen so überhaupt nicht ab - der Beginn der Woche und abends die trostlose Aussicht auf vier weitere Tage Schule. Vielleicht würde ihnen ja der Schnee einen Morgen Ausfall schenken?
„Weiterschneien!“, befahl Nicki deshalb flüsternd, musste aber augenblicklich erkennen, dass – wenn es so weitergehen würde – der Schnee das Duell mit dem erbarmungslosen Schulleiter verlor. Gab es vielleicht einen Wettergott, den Nicki anbeten konnte? Sie seufzte leise. Eigentlich hätte sie sich beeilen sollen, da sie für die erste Stunde bereits in zehn Minuten auf der Matte stehen musste.
Nur schwer gelang es Nicki, sich dem Anblick des munteren Treibens hinter der Fensterscheibe zu entreissen und sich dem zuzuwenden, was der Tag für sie bereithalten würde: Unterricht. Wie konnte man bloss auf die Idee gekommen sein, Physik als erstes Fach der neuen Woche lehren zu lassen? Diese ersten 45 Minuten reichten für Nicki meist schon aus, um sich die Hoffnungen, sich irgendwann engagierter für die Schule zeigen zu können, in Trübsal vergraben zu lassen.
Wie Nicki feststellen musste, hatte ihre Zimmernachbarin ihre Raumhälfte bereits verlassen; das Bett war gemacht, die Sachen weggeräumt. Nicki wagte es nicht, einen Blick auf ihr eigenes Chaos zu werfen – dies hätte die geringe Motivation, die sie ob des Schneefalls verspürte, nur zurück auf den Nullpunkt gesenkt. Mit einer fahrigen Bewegung griff sie nach ihrer Schultasche, die sie mit zig Buttons zu Bands, die sie mochte, beheftet hatte, und trat in den Flur. Heftig keuchend hielt sich Nicki die Nase zu; es roch verdächtig nach Montagmorgen.
Dann eilte sie, so gut es ihre müden Beine zuliessen, die Treppe hinunter in das Erdgeschoss. Ihr Hauswart hatte es sich bereits auf einem kleinen Stühlchen auf der gegenüberliegenden Seite der Wand bequem gemacht und schnarchte leise vor sich hin. Bald schon, so dachte Nicki zumindest, würden die zarten Stuhlbeinchen dem Gewicht nachgeben und der gute Mann zu Boden krachen – was vielleicht kein schlechter Start in den Morgen bedeutete. Immerhin war man dann wach und verspürte an den richtigen Körperstellen Schmerzen, um es anschliessend als unmöglich zu betiteln wieder einzunicken.
„Du siehst schrecklich aus.“
Überrascht war Nicki einen Schritt zurückgesprungen. Nahe an der Tür, mit einem abweisenden Blick und einem hämischen Lächeln bestückt, fristete Lauren anscheinend bereits seit längerer Zeit ihr Dasein – Nicki meinte zu sehen, wie ihr linker Fuss bereits ungeduldig über den Boden scharrte.
„Dankeschön.“ Wieder einmal hatte Lauren ihr Talent für nette Bemerkungen bewiesen. Unauffällig musterte Nicki die Kleider, die sie trug; eigentlich war alles völlig normal. Ein schwarzer Pullover, der ihr fast bis zu den Knien reichte, dazu einfache schwarze Strumpfhosen und schwarze Chucks – alles ganz in schwarz, so, wie Nicki sich darin wohl fühlte. „Warum?“, hackte sie deshalb nach. Gleichzeitig rügte sie sich innerlich für das Interesse, das in ihr durch Laurens Aussage gekeimt war. Warum um Himmels Willen liess sie sich von diesem Mädchen aus der Fassung bringen?
„Du hast dunkle Ringe unter den Augen.“ Lauren lachte selbstzufrieden.
Erstaunt hob Nicki die Brauen. „Dann harmonieren sie ja perfekt mit meinem Pullover.“, meinte sie bloss.
„Du hast aber grüne Augen. Da fällt das auf.“ Nur kaum merklich hatte sich Laurens Miene geändert – ein Hauch Unsicherheit schwebte nun darin mit, was durchaus ungewöhnlich war, wie Nicki dachte.
„Ausserdem steht dir das Haar von allen Seiten ab.“
„Aha.“ Nicki runzelte die Stirn. Mit einer schnellen Bewegung – sie hoffte inständig, dass Lauren es nicht bemerkt hatte – fuhr sie sich durch ihr Haar. Ebenfalls wie immer; chaotische, rotbraune Möchtegern-Locken. Damit hatte sie sich schon längst abgefunden. „Alle Seiten? Das wären rechts, links, vorne und hinten – ich zähle vier. Wäre es da nicht logischer, von ‚vier’ anstatt von ‚alle’ zu sprechen?“ Nicki stöhnte genervt.
„Das Haar steht dir von vier Seiten ab?!“, höhnte Lauren.
„Warum nicht?“ Nicki zuckte die Achseln.
„Es klingt merkwürdig, darum.“ Lauren seufzte, ihr Fuss rutschte weiterhin über den Boden, doch der immer gleich bleibende Bewegungsablauf wurde nun in schnellerer Abfolge ausgeführt.
„Was machst du eigentlich hier?“ Nicki hatte wortlos weitergehen wollen, doch Laurens Blick hatte das Bedürfnis in ihr geweckt, nach dem Grund für Laurens Unsicherheit zu suchen.
„Nichts.“, fauchte Lauren unerwartet heftig.
„Du stehst also freiwillig vor der Tür zum Ausgang und riskierst so, zu spät in die Schule zu kommen?“
„Ach komm, Nicki. Tu nicht so, als ob dich das allen Ernstes interessiert.“ Lauren bedachte sie eines zornigen Blickes.
„Vielleicht interessiert es mich nicht. Aber es amüsiert mich.“ Ehe Lauren etwas erwidern konnte, schrie Nicki begeistert auf: „Ich hab’s! Du stehst hier, um den Leuten den Tag zu vermiesen und sie mit falschen Komplimenten zu bezirzen.“
„Das widerspricht sich, Nicki. Ich kann ihnen nicht gleichzeitig den Tag vermiesen und sie bezirzen.“ Lauren stöhnte gelangweilt.
„Ein normaler Mensch würde das wahrscheinlich nicht schaffen. Bei dir könnte ich mir das jedoch durchaus vorstellen…“
„Verschwinde endlich!“, zischte Lauren.
Schadenfreudig lächelnd schüttelte Nicki den Kopf. „Ich war es ja schliesslich nicht, die dieses Gespräch begonnen hat.“
„Na schön, du hast gewonnen. Ich warte auf Dominic – meinen Bruder. Was ist so falsch daran?“ Lauren hatte sich von der Wand weggestossen und lief erhobenen Hauptes an Nicki vorbei. „Und jetzt entschuldige mich. Ich gehe ihn suchen.“
„Wenn du einen Rat von mir willst – begrüss ihn mit ähnlichen Worten, wie du sie bei mir benutzt hast. Ich kann dir versichern; sie versüssen einem jeden den Tag!“, rief Nicki lauthals hinterher. Der Hauswart auf dem Stuhl grunzte leise, regte sich aber sonst weiterhin nicht.
Lauren hob drohend die geballte Faust in die Luft – dann verschwand sie hinter einem Schüler, der sich eben an ihr vorbei in Richtung Ausgang zwängte. Nicki sah, wie er alarmiert den Kopf eingezogen hatte und nur knapp einer Kopfnuss entgangen war. Im ersten Moment lachte Nicky amüsiert – bis sie erkannte, um wen es sich bei diesem anderen Schüler handelte. Joonas.
Mühsam schluckte Nicki. Was wollte er denn jetzt noch hier? Hatte die Schule nicht bereits begonnen? Von Panik erfasst drückte sich Nicki gegen die Wand – doch Joonas hatte sie bereits erblickt und steuerte geradewegs auf sie zu.
„Nein, nein, und nochmals nein“, fluchte sie leise. Wie sollte sie ihm bloss gegenübertreten? Nicht umsonst hatte sie während den Nachmittagen in der Bibliothek nach ihm Ausschau gehalten – sie war dort regelrecht zu einem „Stammkunden“ mutiert. Selbst die Bibliothekarin hatte aufgehört, sie mit ihrem Röntgenblick zu durchfrosten und war mittlerweile dazu übergegangen, sie abwechselnd missmutig und warnend anzublicken. An diesen Nachmittagen hatte sie Joonas zu Gesicht bekommen wollen – nicht jetzt. Nicht jetzt, da sie vollkommen unvorbereitet war. Und – schoss Nicki weitere Zweifel streuend durch den Kopf – sie sah schrecklich aus. Sie trug die falschen Klamotten und hatte zudem dicke Ringe unter den Augen. Zu allem Übel konnte sie regelrecht spüren, dass ihr Haar gegen alle Seiten abstand.
Nicki zwang sich ruhig zu atmen. „Du bist spät dran?“, stellte sie fragend fest. Achtung, Achtung, Coolness verzweifelt gesucht. Spätestens jetzt musste er sie für vollkommen bescheuert halten – keine Frage hätte so überflüssig sein können.
Ja, das ist er, und das weiss er sicher auch selbst, raunte ihr ihre innere Stimme zu.
Joonas war mittlerweile bei ihr angelangt und musterte sie ernsten Blickes. „Nein. Vielmehr beginnt der Unterricht einfach zu früh.“
Nicki hätte ihn am liebsten umarmt und ihm ins Gesicht gesagt, wie toll er war, dass er nicht die Antwort gewählt hatte, die jedem anderen Menschen regelrecht auf der Zunge geklebt hätte. Und er war toll, weil er ihr verschlüsselte Briefchen schrieb – zumindest eines. Und gleichzeitig war er verwirrend, weil er das tat. Und er war sowieso merkwürdig – erneut hatte er sie nicht begrüsst. Oder lag die Schuld bei ihr, weil sie das Gespräch mit der idiotischsten Frage begonnen hatte, die frau überhaupt stellen konnte?
„Wohl wahr.“
Joonas betrachtete sie erstaunt. „Wohl wahr? Wow, ich hätte gedacht, du wartest mit einem merkwürdigen Vergleich auf oder gehst auf mich los, weil ich nicht ‚Hallo’ gesagt habe.“
Warum erwarteten von ihr bloss immer alle, dass sie sich verrückt verhielt? Denn abgesehen davon, dass sie es auch tatsächlich tat, war sie eigentlich ein ganz normaler Mensch. Oder zumindest so ähnlich. „Das hast du doch gerade getan.“, erwiderte Nicki schelmisch lächelnd – ob dieses Lächeln ihre Augenringe nicht noch mehr ins Rampenlicht warf? Vorsichtshalber entschloss sie sich, ihr Lächeln zu verringern.
„Was habe ich getan?“
„Na, du hast allemal ‚Hallo’ gesagt. Wenn auch eher unbeabsichtigt – aber zumindest freiwillig.“ Nicki grinste triumphierend, mahnte sich jedoch bereits im nächsten Moment, ihr Lächeln einzustellen. Endlich verstand sie, was es hiess, „für die Schönheit zu leiden“.
Du wolltest ihm doch etwas sagen, du wolltest ihm doch etwas sagen, rügte sie ihre innere Stimme ununterbrochen. Bald schon nahm Nicki die Aufforderung ihrer inneren Stimme lediglich noch als monotones Summen war. Hörten das nicht die Menschen, kurz bevor sie vollkommen durchdrehten? Und was hatte Nicki Joonas überhaupt sagen wollen? Obwohl sie tagtäglich nach ihm gesucht und sich sogar einen Plan zurechtgelegt hatte, was sie zu ihm sagen musste – ihr Hirn schien wie leergefegt. Da war nichts mehr ausser das Gefühl, Haare zu haben, die sich ohne Benutzung von Gel bereits zu einer unbändigenden Igelfrisur geformt hatten.
Während Nicki sich in ihren Gedanken verloren hatte, hatte sie ihre Aussenwelt nur halbpatzig wahrgenommen. Schuldbewusst hob sie nun den Blick und betrachtete Joonas, doch der starrte nur wortlos zurück; allem Anschein nach hatte er nichts gesagt. Um sicher zu gehen, brachte sich Nicki dazu, zu fragen: „Sorry, was hast du gesagt?“
Joonas betrachtete sie verwirrt. „Ich? Nichts.“
„Oh.“ Dann war diese Frage also eindeutig vollkommen überflüssig gewesen.
„Aber du.“ Er erwiderte besorgt ihren Blick.
„Aber ich?“
„Du hast ebenfalls nichts gesagt.“
Nicki hob die Brauen. Schlaues Kerlchen – tatsächlich hatte sie das nicht getan. Aber warum musste er das unbedingt noch einmal erwähnen? „Ich weiss“, stotterte sie deshalb.
„Warum hast du nichts gesagt?“ Joonas Blick war noch immer besorgt. „Fühlst du dich nicht gut?“
„Ich…“ Verstört musterte Nicki erneut ihr Haar. Lag es wirklich an ihrem etwas sonderbaren Aussehen, dass er gleich davon ausging, dass ihr etwas fehlte? „Mir geht es wunderbar.“ Was zumindest fast stimmte, abgesehen von dem Chaos in ihrem Gedankenhaushalt, das sie plagte. Aber das brauchte Joonas eindeutig nicht zu wissen.
„Liegt es am ‚Hallo’, das ich aus Versehen gebraucht habe? Hat dich das verwirrt?“, versuchte es Joonas.
„Warum sollte mich dein ‚Hallo’ verwirren?“ Verwirrend war höchstens dieser Junge und nicht eine läppische Begrüssungsfloskel, die er ausnahmsweise in irgendeinen Nebensatz integriert hatte, fügte Nicki in Gedanken hinzu.
„Weil das bedeutet, dass wir ein ernsthaftes Gespräch mit allem drum und dran führen“, meinte Joonas achselzuckend.
„Mit allem drum und dran?“ Höchst verwirrend.
„Mit Standardfragen und Standartantworten…“, begann Joonas.
„Dann gehört das ‚fühlst du dich nicht gut’ also lediglich zu dem Repertoire an Standardfragen und du warst gezwungen, es irgendwann in diesem völlig ernsthaften Gespräch zu gebrauchen?“, warf Nicki dazwischen.
Joonas ignorierte sie und fuhr stattdessen mit seiner Aufzählung fort. „…mit Begrüssungsfloskeln und ernsthaften Themen. Darum nennt man es auch ernsthaftes Gespräch.“, erklärte er weiter.
„Darin bin ich nicht gut. Ernsthafte Themen. Dazu fehlt mir wohl irgendwie die Allgemeinbildung. Bei Bush denke ich automatisch an stachlige, langweilige Dornengebüsche und bei Putein an Putenfleisch mit viel Protein.“, gestand Nicki. Sie fühlte, wie ihr Verstand langsam zu ihr zurückkehrte. Zumindest das, was davon übrig geblieben war. Für die Schule würde sie heute sicher nicht mehr zurechnungsfähig sein. War sie das überhaupt jemals gewesen? Vielleicht sollte sie sich ein Attest beim Arzt holen. Ein Mediziner mit einigermassen vorhandenem Fachwissen würde sicher nicht bestreiten, dass ihr irgendetwas fehlte. Das es ein Stück von ihrem Verstand war, das normalerweise für die Funktion „Schule“ als unabdingbar galt – das würde sie ihm als Diagnose schon irgendwie schmackhaft machen.
„Liegt es daran?“
„Woran?“ Nicki musste beschämt feststellen, dass sie vollkommen aus dem Konzept geraten war.
„An den ernsthaften Themen. Ich meine, dass du heute so wenig redest – dafür muss es doch irgendeinen Grund geben?“ Joonas wirkte ehrlich besorgt.
Oh ja, den gab es. Vielleicht müsste sie das Attest auch Joonas zeigen? Dann würde er sie sicher verstehen…
„Ich war bloss ein wenig abgelenkt. Hab ein wenig nachgedacht und so…“, gab Nicki zu. Gut gemacht, Nicki, lobte sie sich selbst. Abwechslungsweise war sie wieder einmal ehrlich gewesen.
„Und das tust du sonst nie?“ Joonas schien sie nicht beleidigen zu wollen, und doch weckte dieser Zweifel ein weiterer Fleck ihres Verstandes auf, der das abgespeichert hatte, was sie ihm bereits seit Tagen hatte mitteilen wollen – nur in etwas falscher Reihenfolge. Nicki war bewusst, dass ihr keine Zeit blieb, das Chaos zu lüften.
So stotterte sie mit belegter Stimme: „Ich glaube, der Grund für meinen momentanen Mangel an Worten liegt eher bei den Standartfragen als bei den völlig ernsthaften Themen.“
Joonas nickte, nicht minder verwirrt, als sie sich fühlte.
„Du… du kennst doch sicher diese Standardfrage, die etwa so lautet: ‚Hast du einen Jungen beziehungsweise ein Mädchen?’?“ Nicki atmete erleichtert aus. Endlich kam ihr Gespräch in die richtige Richtung – und blieb vollkommen ernsthaft, wie sie zumindest empfand.
„Du meinst wohl eher; ‚Bist du vergeben?’?“ Joonas lächelte amüsiert.
Innerlich triumphierte Nicki, dass sie ihm ein weiteres ein Lächeln abgerungen hatte – ehe ihr die Bedeutung dessen bewusst wurde, was er soeben gesagt hatte – sie redete wirklich gerade unverständlichen Mist zusammen.
„Du bist wohl wirklich nicht gut in der Sache mit den Standardfragen?“, fügte Joonas immer noch lächelnd an.
„Hab ich doch bereits gesagt“, erklärte Nicki, mürrisch über sich selbst.
Joonas nickte, erwiderte jedoch einige Sekunden nichts, ehe er den Kopf irritiert neigte. „Was ist eigentlich mit der Frage?“
„Ich bin single, also nicht vergeben.“ War es wirklich so einfach gewesen? Nicki spürte, wie ihr Bauch ein Fest feierte, während sie sich argwöhnisch den Magen rieb. Warum hatte sie so lange gebraucht – so viele Tage – bis sie endlich hatte aussprechen können, was sie so lang bedrückt hatte? Und nun, da dieser einzelne Satz aus ihr heraus war, fühlte sie regelrecht, dass sie wieder freier atmen konnte.
Joonas zögerte. „Das dachte ich mir bereits“, murmelte er schliesslich, durch Nickis plötzliche Ehrlichkeit sichtlich aus der Fassung gebracht.
Nicki jedoch betrachtete ihn verstört. „Das wusstest du bereits? Was soll das denn schon wieder heissen? Immerhin hast du mir noch vor ein paar Tagen… vorgeworfen, dass Adam mein Freund sei.“
„Vorgeworfen?“ Joonas hatte den Kopf nun fast im 90°-Winkel geneigt – seiner Verwirrung nicht mehr Herr.
„Vergiss es.“
Joonas nickte sachte, was sich allem Anschein nach als schwierig erwies, wenn er gleichzeitig den Kopf seitlich abgewinkelt halten wollte. „Das mit dem Freund… seid du und Adam denn keine Freunde? Ich dachte…“
„Sicher sind wir das“, fauchte Nicki. Sie widerstrebte der Versuchung, den Kopf ebenfalls zu neigen.
„Wenn du also gedacht hast, dass ich mir die Sache mit dem Freund nicht nur auf platonischer Ebene gedacht hatte – warum hat es dich dann so gekümmert, richtigzustellen, dass du nicht vergeben bist?“ Irrte sich Nicki, oder hatte sich eben ein diebisches Lächeln um Joonas Lippen gekräuselt? War dieser Junge schlussendlich gar nicht so ernst und hilfsbereit, wie er sich immer gab?
Nicki hielt inne, zu unsicher, um ihm zu antworten. Ja, warum war es ihr denn eigentlich so wichtig gewesen? Nicki spürte ihr Herz auf und ab wippen, doch sie wagte es nicht, etwas zu erwidern.
Joonas seufzte. „Dann muss ich das wohl einfach so hinnehmen?“ Er wartete eine Antwort gar nicht erst ab. „Wir sollten jetzt in den Unterricht. Ich will nicht Schuld sein, dass du dir Ärger einhandelst.“
„Aber ich habe doch das Attest“, stotterte Nicki und erinnerte sich erst im nächsten Moment, dass sie Joonas nichts davon gesagt hatte.
Ihr Gegenüber stöhnte. „Du bist merkwürdig. Erst redest du nicht mit mir und dann lässt du unverständliche Bemerkungen fallen. Du versaust mir noch meine Freude am ‚Hallo’.“
„Tja, unverständliche Bemerkungen sind halt auch Teil von völlig ernsthaften Gesprächen. Damit das völlig ernsthafte Gespräch aufrecht erhalten wird. “ Nicki konnte sich ein Lachen nicht mehr verkneifen – sie kümmerte es nicht, wie zombiehaft sie gerade aussah. Sie fühlte sich frei, schwebend und nur noch durchschnittlich verrückt – durchschnittlich zumindest in der Skala, die Nicki für sich selbst errichtet hatte.
Nicki hatte sich unbewusst in Bewegung gesetzt. Erst nach ein paar Schritten bemerkte sie, dass Joonas ihr nicht gefolgt war.
„Wolltest du nicht eben gerade noch, dass wir endlich in die Schule gehen? Dafür musst du dich aber auch bewegen.“ Nicki lächelte unbeschwert. „Schritt für Schritt, Ach, komm, so schwer kann es doch nicht sein.“
Joonas erwiderte ihr Lächeln vorsichtig. „Hast du eigentlich den Brief gekriegt?“
Ehe Nicki die Gelegenheit fand zu antworten, erwachte der Hauswart nur wenige Meter von ihr entfernt mit einem lauten Grunzen aus seinen Träumen.
„Was…?“, dröhnte seine tiefe Stimme durch den Raum, während er von Verwirrung gezeichnet blinzelte. „Kinder, was tut ihr hier? In den Unterricht, hopp, hopp.“ Es folgte ein herzzerreissendes Gähnen.
Widerstandslos folgte Nicki der Anweisung des alten Mannes – sie hatte keine Lust mehr, ein weiteres Mal in ihre Gedanken zu versinken, um abzuwägen, ob man auf einen leicht senilen Mann hören sollte. So hatte sie intuitiv seiner Aufforderung Folge geleistet und befand sich nun unmittelbar vor der Tür.
„Geh du schon mal vor“, rief ihr Joonas hinterher, der sich noch immer nicht bewegt hatte.
Überrascht hielt Nicki inne. Was war bloss plötzlich mit ihm los? Hatte sich ihr sonderbares Verhalten, dass sie vorhin zu Tage gelegt hatte, etwa auf ihn übertragen?
„Ich hab wohl mein Englischbuch oben liegen gelassen“, erklärte Joonas achselzuckend. Nicki hätte nicht sagen können, ob er die Wahrheit sprach – sein Gesichtsausdruck war unverändert geblieben.
„Dann mach aber schnell, Junge“, mahnte ihn der alte Mann.
„Sicher.“ Und ohne sich zu verabschieden, hatte sich Joonas abgewandt, und war zur Treppe zurück gestürmt.
Nicki seufzte leise, während sie sich nach draussen begab. Kaum hatte er gelernt, ihr „Hallo“ zu sagen, haperte es bereits mit den Abschiedsfloskeln. Und hatte er sie nicht gerade noch zu dem Briefchen ausgefragt? Nicki fühlte sich hart auf dem Boden der Realität aufprallen – ihr Schwebeflug war abrupt zu einem Ende gelangt.
Sie müsste sich dieses Attest wirklich besorgen, dachte sie, während sie sich ihren Weg durch die dünne Schneeschicht am Boden zum Schulgebäude bahnte. Vielleicht würde die Welt dann etwas normaler auf sie reagieren. Mürrischen Blickes betrachtete sie die Puderzuckerschicht. Erstmals in ihrem Leben hasste sie das unförmige Weiss, dessen Konsistenz man sich nie sicher sein konnte. Ja, ab und zu war der Schnee wirklich für nichts zu gebrauchen.
Drogenfund am Internat. Die ganze Schule sprach davon, seit gestern Abend Gerüchte dazu aufgetaucht waren.
Aufgewühlt betrachtete Kaitlin das Treiben hinter der Fensterscheibe; der Schnee hatte sich mittlerweile ungefähr meterdick über dem Boden ausgebreitet. Erstmals versanken die Füsse im Schnee, wenn man versuchte, einen Weg durch das Weiss in Richtung Schule zu finden – zwei Wochen hatte es also gedauert, ehe sich aus den ersten Schneeflocken ein Meer aus Weiss herausgebildet hatte.
Sonntag. Kaitlin bereiteten Sonntage ein mulmiges Gefühl im Magen – meist verbrachte sie die Stunden dann damit, aus dem Fenster zu starren und über das Leben nachzudenken, das sie gerne gehabt hätte. Warum konnte sie nicht ein wenig mehr wie Lauren oder Hailey sein? Sogar Juliane hatte es besser als sie selbst – zumindest hatte sie es in den letzten Monaten geschafft, sich ansatzweise zu integrieren. Und Nicki… nun, sie war halt Nicki. Damit fuhr sie meist auf der richtigen Schiene.
Kaitlin jedoch war immer noch so alleine, wie sie es bereits vor Jahren gewesen war. Verstohlen griff sie nach der Tüte M&Ms, die auf ihrem Bett lag, und riss sie frustgeladen auf. Sie sah, wie sich der Inhalt auf den Boden verteilte, als die Tüte dem plötzlichen Kräfteakt nicht standhielt. Frustriert liess sich Kaitlin zu Boden sinken und begann, nach den umliegenden M&Ms zu greifen. Sie spürte, wie ihre Frustration immer weiter anschwoll und sie wie im Wahn über den Boden kroch und jede der Schokonüsse in den Mund schob, die sie zwischen die Finger kriegen konnte.
Kaitlin brauchte nicht aufzusehen, um zu fühlen, dass ihre Zimmernachbarin – ein superschlankes Mädchen mit seidenem Haar – sie gerade eines angeekelten Blickes bedachte.
„Was?“, zischte Kaitlin lautlos. Niemals hätte sie es gewagt, diese Worte laut auszusprechen. Sie hatte keine Lust, ihren Ruf als Lästeropfer der Schule weiter zu festigen.
Drogen, rumorte es erneut in Kaitlins Kopf, als sie sich schliesslich erhob und feststellen musste, dass kein M&Ms ihre wahnhafte Suche überlebt hatte. Gaben normalerweise nicht die Menschen ihr Leben für illegale Substanzen auf, die nichts mehr mit ihrem Alltag anzufangen wussten? Kaitlin seufzte leise. An dieser Schule ging es doch allen gut – ausgenommen ihr selbst. Dass irgendjemand sich trotzdem daran gemacht hatte, Drogen zu verbreiten, erfüllte Kaitlin mit ungewöhnlicher Genugtuung – was sie selbst gleichzeitig schockierte. So weit sie wusste, hatte man die Drogen auf offenem Gelände gefunden – irgendjemand musste sie verloren haben. Da die Vertreiber selbst bisher noch nicht geschnappt worden waren, würden sie ihr Glück mit dem Drogenverkauf doch sicher weiterhin versuchen? Irritiert über ihr plötzliches Interesse an Gerüchten, die durch die Schule gingen, schüttelte Kaitlin den Kopf. Sie würde aufpassen müssen, dass sie nicht auf falsche Gedanken kam. Sicher, sie litt unter der Art und Weise, wie sie selbst ihr Leben zubrachte, aber gleichzeitig fühlte sie, dass sie sich trotz der Schamgefühle nie in die Zuflucht der Drogen begeben würde. Komme, was wolle, dachte Kaitlin weiter.
Juliane warf einen müden Blick auf ihre Armbanduhr – dieses Mal war sie statt zu spät viel zu früh dran. Die nächste Gruppensitzung würde erst in zehn Minuten beginnen – warum sie sich also bereits jetzt zurück in ihr Zimmer begeben hatte, anstatt in der Bücherei zu lernen, war ihr mehr als schleierhaft.
Zudem fühlte sie sich merkwürdig ausgelaugt. Lag es an der Herbstmüdigkeit, die Ende November bei ihr einsetzte? Ein Blick nach draussen genügte ihr, um sich zu versichern, dass es immer noch schneite. War heute Samstag? Mit dieser Müdigkeit hatte sich auch die Angewohnheit in ihr Leben geschlichen, ihrem Zeitgefühl aussergewöhnlich viele Pausen zu schenken. Ja, es musste Samstag sein… Warum würde es sonst um zehn Uhr morgens noch so still sein und sie keine Schule haben? Zumindest war sie sich bis vor wenigen Sekunden noch sicher gewesen, dass sie dies nicht hatte.
Juliane zuckte zusammen, als sich die Zimmertür mit einem leisen Quietschen öffnete; Lauren war eingetreten, das perfekt sitzende Haar ihr um die Schultern wirbelnd. Erst nachdem die Tür zurück ins Schloss gefallen war, registrierte Juliane, dass Lauren sie musterte, der Blick von Besorgnis erfüllt. Juliane hielt in ihren Gedanken inne. Hatte sie gerade an „Besorgnis“ im Zusammenhang mit Lauren gedacht? Ihr Mund vor Überraschung verzogen, setzte sie sich langsam von ihrem Bett auf – die Bettdecke wirkte von den vielen Stunden, die Juliane in den letzten Wochen darauf liegend verbracht hatte, arg mitgenommen. Besorgnis?, wiederholte sie in Gedanken erneut. Ein zweiter Blick versicherte ihr, dass sie sich nicht geirrt hatte: Lauren wirkte tatsächlich mitgenommen. Doch seit wann liessen sich solche Gefühlsregungen mit Laurens Wesen in Einklang bringen?
„Ich war bei Dominic“, erklärte das andere Mädchen soeben.
Juliane nickte schwach und stöhnte; daher rührte also Laurens plötzliche Gefühlsduselei. Sie hatte mit ihrem Bruder gesprochen – nur, was hatte das mit Juliane zu tun?
„Aha“, murmelte sie möglichst desinteressiert.
„Könntest du ihm nicht wieder helfen? Er gibt’s zwar nicht offen zu, aber ich glaube, er ist in der Schule ziemlich abgestürzt.“
Las Juliane tatsächlich Hoffnung in Laurens Blick? Verstört schüttelte Juliane den Kopf. Sollte es wirklich Hoffnung sein, so würde sie Lauren enttäuschen müssen. Immerhin lag die Schuld nicht bei ihr, dass Dominic sich in der Schule verschlechtert hatte. Denn wenn es nach Juliane ging, war es seine Aufgabe, sich bei ihr zu melden, wenn er Hilfe brauchte. Doch da er dies bereits seit drei Wochen nicht mehr getan hatte, hatte sich auch Julianes Helferinstinkt stark minimiert, wie sie zugeben musste. „Ich weiss nicht“, antworte Juliane so ohne Umschweife.
„Ihr habt euch doch nicht schlecht verstanden?“, hackte Lauren weiter. Mittlerweile hatte sie sich abgewandt und in ihre Zimmerhälfte begeben, wie um den üblichen Abstand zu wahren.
Juliane haderte mit einer Antwort. Was sollte sie sagen? Dass sie die Treffen mit Dominic in den ersten Tagen nach dem Bruch tatsächlich vermisst hatte? Dass er zwar erstaunlicherweise nicht der Idiot gewesen war, als den sie ihn eingeschätzt, sich schlussendlich jedoch trotzdem wie einer verhalten hatte? So beschloss Juliane zu schweigen.
„Ich verstehe einfach nicht, warum ihr plötzlich mit den Nachhilfestunden aufgehört habt. Ist etwas vorgefallen?“ Lauren war ein paar Schritte vor getreten, bis sie sich unmittelbar vor der Grenze zwischen den beiden Zimmerhälften befand.
„Es… es hat einfach nicht geklappt.“ Juliane verschwieg, dass es einen Grund gab, den nicht einmal sie vollständig verstand. Was genau war an diesem Sonntagmorgen überhaupt vorgefallen? Doch jedes Mal, wenn Juliane versuchte, diese Minuten zu rekapitulieren, tauchte unweigerlich das Mädchen mit den Endlosbeinen vor ihrem inneren Auge auf und machte jeden guten Vorsatz zunichte.
Lauren stöhnte. „Ihr spinnt doch beide.“ Ihren Worten wurde durch ein Klopfen an der Zimmertür Einhalt geboten.
Mit nur wenigen Schritten war Juliane an die Tür geeilt. „Danke für die Unterbrechung“, raunte sie leise. Es waren Hailey und Nicki, die, in einigen Metern Entfernung zu Kaitlin, vor der Türschwelle standen.
Nicki zuckte mürrisch die Achseln. „Warum müssen wir uns eigentlich immer bei euch treffen?“ Und ohne abzuwarten, trat sie ein. Hailey folgte ihr lächelnd, Kaitlin unsicheren Blickes.
„Tu nicht so, als ob das Bisschen Weg, das du zurücklegen musst, um hierhin zu gelangen, dir schaden würde.“ Ganz in alter Manier hatte Lauren die Arme verschränkt und die Lippen aufeinandergepresst. Auf Abruf eine Zicke zu sein – Juliane stellte sich dies als ziemlich kräftezehrend vor.
„Lasst uns beginnen“, warf sie ein, ehe Nicki weitere Zickereien provozieren konnte.
„An mir soll’s nicht liegen.“ Offensichtlich genervt verdrehte Nicki die Augen, ehe sie zu Hailey und Kaitlin aufschloss, die sich bereits am Boden niedergelassen hatten.
„Was steht heute überhaupt an? Ich dachte, wir hätten die Theorie irgendwie zusammen.“ Kaitlins piepsige Stimme durchbrach als erste das kalte Schweigen, das den Platz des Schlagaustauschs von Worten eingenommen hatte.
„Oh ja, lasst uns schnell machen, damit ich nicht zu lange mit unserer selbsternannten Königin in einem Raum bleiben muss.“ Nicki lächelte schelmisch.
Obwohl Juliane ihre Nase bis zur Spitze voll hatte von den ewigen Zankereien, beschloss sie, ein weiteres Mal schlichtend einzugreifen. „Wir sind mit den Erinnerungen noch längst nicht durch. Hailey hat ihre zwar schon erzählt, aber wir anderen sind noch fällig“, erklärte sie.
„Oh bitte, verschon uns mit Sätzen, die allzu sehr nach Schwangerschaft klingen.“ Lauren seufzte herzzerreissend.
„Du fühlst dich also angesprochen?“, hackte Nicki nach. „Dann gibt es vielleicht doch noch etwas, was du uns mitteilen möchtest?“ Ihr Grinsen hätte diabolischer nicht sein können.
Auf was hatte sich Juliane da bloss zum wiederholten Male eingelassen? „Dann möchtest du vielleicht gleich beginnen, Nicki?“ Sie konnte sich ein Stöhnen nicht verkneifen.
„Sicher.“ Sichtlich kalt gelassen fügte Nicki an: „Ich bin Scheidungskind. Mein Vater verschwand, da war ich noch keine vier Jahre alt. In den ersten Jahren ist meine Mutter ganz gut mit der neuen Situation klargekommen, ehe sie dann in meinen Jugendjahren begann, sich einsam zu fühlen. Die übliche Geschichte halt. Mittlerweile geht es ihr wieder gut, aber ihr war es lieber, mich in den wohlbehüteten Händen unseres sehr geehrten Herr Direktors zu wissen. Noch Fragen?“
Überrascht von der Gleichgültigkeit, die Nicki trotz des heiklen Themas zu Tag legte, schüttelte Juliane schwach den Kopf. „Das… das sollte wohl reichen.“
„Danke.“ Ein schmales Lächeln legte sich auf Nickis Lippen. „Ein Schauermärchen, ich weiss. Aber zumindest spreche ich die Wahrheit und grabe nicht irgendwo in der Prinz-Prinzessin-Märchenkiste nach einer Vergangenheit meiner Wahl.“ Nickis Blick galt Lauren – ihre Augen provozierend zusammengekniffen.
„Wie du meinst.“ Laurens Miene verkündete nahendes Unheil.
„Ich will nämlich nicht allen Leuten eine wunderbare Vergangenheit vorzuheucheln, die es in dieser Form nie gegeben hat.“, hackte Nicki weiter nach.
Juliane hätte schwören können, dass sie den Knall wahrgenommen hatte, als Laurens Geduldfaden schliesslich riss. Innerhalb des Bruchteils einer Sekunde war sie aufgesprungen. „Was willst du eigentlich von mir?“
„Das, was hier wohl alle wollen“, erwiderte Nicki gelassen. „Wir reden schon seit mehreren Wochen nur über Freundschaft. Wäre es da nicht logisch, sich etwas kooperativ zu zeigen und ausnahmsweise mal nicht irgendwelche Geschichten vorzugaukeln?“
„Hast du wirklich das Gefühl, ich sei deine Freundin?“ Lauren spuckte Nicki diese Worte regelrecht ins Gesicht. Juliane war versucht einzugreifen und sie meinte aus dem Blickwinkel erkennt zu haben, dass Hailey ebenfalls dazu ansetzte, den drohenden Streit zu schlichten, doch keinem der beiden Mädchen reichte die Zeit dazu aus. Prompt antwortete Nicki.
„Weißt du, diese Worte könnten ganz schön verletzend sein.“
„Könnten, Nicki. Könnten.“ Lauren schüttelte von Fassungslosigkeit erfüllt den Kopf.
„Vielleicht sollten wir einfach weitermachen?“ Juliane hatte die Sekunde genutzt, die sich ihr für eine klärende Frage geboten hatte. Sie spürte instinktiv, dass die Sitzung soeben in die falsche Richtung verlief. Da war nicht nur die Geschichte von Nickis Vergangenheit, die ihr zusetzte – auch die Situation, die zu eskalieren drohte, liess ihre Nackenhärchen aufstellen. „Meine Eltern sind Anwälte“, versuchte sie sogleich, die Gemüter zu beruhigen. Doch Nicki ignorierte sie.
„Wir können nicht einfach so weitermachen. Nicht, nachdem du uns munter weiter belügst. Du willst mir doch nicht sagen, dass die ach so tolle und perfekte Lauren in ihren frühen Jahren wahre Qualen ausstehen musste?“ Nicki deutete anschuldigend auf Lauren. „Obwohl das zumindest deinen Geisteszustand erklären würde.“
„Meinen Geisteszustand?“ Juliane meinte, Feuer in Laurens Augen glühen zu sehen. „Wenn jemand es hier mit Geistern hat, dann ja wohl du. Du bist die einzige, die Gespenster sieht.“
Juliane nahm aus den Blickwinkel wahr, dass Hailey beunruhigt die Stirn in Falten gelegt hatte. „Deine Eltern sind also Anwälte, Juliane?“
„Stimmt, tut mir Leid, das hatte ich vergessen. Du stehst nicht so auf Tote, richtig. Die lebendigen Toten sind dir da schon lieber. Da kannst du deine ungeheuerlich fürsorgliche Seite ausleben.“ Nicki schnaufte, die Augen zusammengekniffen.
„Ja, das sind sie.“ Überfordert von der Situation bemerkte Juliane, dass ihre Stimme zunehmend brach. Sie fühlte sich ratlos – es zeigte sich ihr einfach keine Möglichkeit, den aufkeimenden Streit vorzeitig zu beenden.
Lauren gab sich ebenfalls nicht so leicht in diesem verbalen Wortgefecht geschlagen. „Sicher. Diese Seite an mir sagt mir auch, dass du mir nicht ganz geheuer sein sollst. Denn meine Fürsorglichkeit für hoffnungslose Fälle hält sich in Grenzen.“
„Dann stehen sie auch bei schlimmen Dingen wie Mord vor Gericht?“ Dieses Mal war es Kaitlin, die nach einem Gesprächswechsel verlangte und deren piepsige Stimme durch die Unruhe noch weiter an Lautstärke verloren hatte. „Ich bin übrigens auch nur bei meiner Mutter aufgewachsen.“
Juliane setzte gerade noch rechtzeitig zu einer Antwort an, um Nickis Erwiderung zu unterbinden. „Unter Anderem. Sie versuchen, ein breitgefächertes Berufsfeld abzudecken.“ Und dann zu Kaitlin gewandt: „Das hört sich nicht gut an.“
Stille legte sich nun über die vom Wortgefecht stickige Luft. Julianes Lungen fühlten sich ausgepumpt an, ihr Mundraum trocken. Sie verspürte den wachsenden Drang, ins Freie zu gehen und sich von all den kritischen Kommentaren frei zu waschen.
„Ich kenne meine leiblichen Eltern nicht.“
Juliane zuckte zusammen. Lauren hatte die Worte nur geflüstert, und Juliane fühlte, wie sich Schauder über ihren ganzen Körper ausbreiteten. Seit wann flüsterte Lauren? Seit wann war ihre Stimme so zittrig?
„Was soll das heissen?“ Nicki betrachte Lauren kritisch, doch auch ihre Stimme war nicht weiter angeschwollen - sie sprach wieder normal.
Juliane erkannte, dass eine Ader über Laurens Stirn pulsierte, als verlangte es grosse Anstrengung von ihr, ruhig zu bleiben. „Ich wurde adoptiert.“
Juliane war so erstaunt, dass Lauren keinen Sarkasmus angewandt hatte, dass sie erst nach ein paar Sekunden die Zusammenhänge von Laurens Satz verstand. Wie betäubt senkte sie den Blick, nicht fähig, ihrer Zimmergenossin in die Augen zu schauen.
„Meine Adoptiveltern sind reich, ja. Und meine Adoptiveltern haben keine Zeit für uns. Für mich und meinen Bruder. Meine Adoptiveltern.“ Lauren schluckte. „Ihr könnt mir also nicht sagen, dass ich gelogen habe. Ich habe euch lediglich nicht alles erzählt.“
Juliane hielt es nicht länger aus. Wie in Trance war sie aufgesprungen, zum Fenster gestürmt und hatte das Schloss entriegelt – Kälte strömte ihr erfrischend entgegen, umhüllte auf betörende Weise ihren Körper. Sie fröstelte trotz der Kälte nicht. Draussen herrschte munteres Schneetreiben – die Flocken wirbelten sanft im schwachen Wind. „Für uns. Für mich und meinen Bruder“, wiederholte Juliane in Gedanken. Dominic, wurde ihr sogleich bewusst. Ihre Hände glitten zu dem dünnen Fensterbrett, ihre Finger krallten sich Halt suchend daran fest – Schmerz fühlte sie nicht. Endlich verstand sie, warum Dominic so heftig auf ihren Vorwurf reagiert hatte, seine Eltern wären nicht stolz auf ihn. Doch wie hätte sie davon wissen sollen? Niemals hätte sie ihm solche Dinge an den Kopf geworfen, hätte sie die Wahrheit gewusst.
„Es… es tut mir Leid.“ Nur schwach nahm Juliane wahr, dass Nicki dem anbahnenden Schweigen keinen Raum gelassen hatte. Sie brauchte sie nicht umzudrehen, um sich sicher zu sein, dass diese Worte Lauren galten.
Als Nächstes hörte sie Lauren leise seufzen. „Ihr wolltet doch, dass ich mich wie eine… Freundin verhalte.“ Juliane lächelte schwach – Lauren hatte den Satz eher herausgewürgt, als dass sie ihn tatsächlich ausgesprochen hatte. Aber immerhin hatte sie ihn überhaupt ausgesprochen.
„Vielleicht könnten wir jetzt einfach fortfahren? Juliane, wie war das noch gleich mit deinen Eltern?“
Juliane zuckte ertappt zusammen. Erst jetzt spürte sie, dass ihre Finger von Krämpfen erfüllt wurden. Verstört wandte sie sich vom Fenster ab und schüttelte die tauben Finger.
„Ich soll erzählen?“ Ihr Verstand schien ihr benebelt, noch mehr ausser Funktion gebracht, als es an dem Sonntag der Fall gewesen war, da sie Dominic das letzte Mal gesehen hatte. Sie fühlte sich nicht fähig, von ihrer eigenen Vergangenheit zu berichten, nachdem, was sie diesen Morgen bereits hatte hören müssen. Doch wie hätte sie das den anderen Mädchen sagen können, ohne Ungläubigkeit zu ernten? Sie verstand ja nicht einmal selbst, warum sie Laurens Worte so mitgenommen hatten. Und warum ging ihr Dominic einfach nicht aus dem Kopf?
„Sie… sie sind Anwälte.“, stotterte sie deshalb unsicher.
„Das wissen wir.“ Laurens Stimme hatte wieder an Selbstsicherheit gewonnen. Ein Blick auf ihre Zimmernachbarin zeigte Juliane, dass diese sogar Ansätze eines genervten Lächelns zustande gebracht hatte.
„Sie wollen ein breitgefächertes Berufsfeld…“
„Juliane!“ Nun war es Nicki, die leise stöhnte. „Auch das wissen wir“, fügte sie an.
„Oh.“ Juliane nickte schwach. „Wenn das so ist…“
Nicki hatte den Kopf leicht schief gelegt und betrachtete sie verwirrt. „Warum bist du hier?“
„Ich bin hier, ja.“, erwiderte Juliane. Trotz starken Bemühens schaffte sie es nicht, dass ihr Verstand ihr und ihrem Mundwerk gehorchte.
„Das hätte ich mir schon fast gedacht.“ Nicki gewann zunehmend an Stärke. „Und warum?“
„Meine Eltern sind Anwälte.“
Nicki verdrehte die Augen. „Sehr schön. Das wäre dann wohl alles.“ Leiser ergänzte sie: „Wie es aussieht, hat das hier keinen Zweck.“
„Ich fühle mich nicht so gut.“ Tatsächlich tat Juliane das nicht. Sie wollte sich zurückziehen, alleine sein und ihren Gedanken nachgehen. Unsicher knabberte sie an ihrer Oberlippe. „Können wir die Sitzung für heute auflösen?“
„Das sollten wir wohl.“ Lauren seufzte schwach. „Das hier macht wirklich keinen Sinn.
„Na dann.“ Juliane ahnte, dass sie misstrauische Blicke erntete, als sie sich aus ihrer Starre löste und zur Zimmertür eilte. Frische Luft, lechzte ihr Verstand. Sie konnte keine Sekunde länger hier bleiben. Eiligen Schrittes rannte sie den Gang entlang zur Treppe.
Dominic war adoptiert. Sie hatte ihn unwissend verletzt. Immer wieder spukten ihr diese Gedanken durch den Kopf. Sie müsste eindeutig erst zu klarem Verstand kommen, ehe sie den Entschluss fassen konnte, was es als nächstes zu tun galt. Erstmals in ihrem Leben freute sie sich auf die Schneeflocken, die feuchtkalt auf ihre Haut wehen würden. Sie fühlte sich verwirrter denn je.
(12) - Vom Verzeihen und Gedeihen -
Reglos sass Hailey auf ihrem Bett. Die Karte, die ihr heute von ihren Grosseltern zugestellt worden war, hatte sie erstmals seit vielen Wochen auf die Veränderungen aufmerksam gemacht, die sie durchlebt hatte, seit sie sich an dieser Schule befand und hatte gleichzeitig aufgezeigt, wie schnell die Zeit doch entschwunden war; der Dezember hatte bereits seine eisigen Finger nach diesem verrückten Fleck Erde ausgestreckt – hatte das Datum nicht eben noch Ende August gelautet? Hailey hatte nicht bemerkt, wie die Tage kürzer geworden waren und mit ihnen die Bäume ihr nacktes Antlitz offenbarten. Tatsächlich hatte sie anscheinend jede Sekunde dazu aufgewendet, sich täglich von Neuem dem Wahnsinn einer Eliteschule zu stellen. Doch was hatte sie bisher überhaupt in Anbetracht der aufgewendeten Mühe erreicht? Sie hatte beinahe einen Kuss erhalten, flüsterte ihr ihre innere Stimme vor Sarkasmus triefend zu. Sie hatte stundenlang über Freundschaft gesprochen und fühlte sich nicht schlauer als vorher. Und zu guter Letzt hatte sie die Erfahrung gemacht, dass – wie verkehrt die Welt auch war – es immer noch schlimmer kommen konnte. Das Ergebnis fiel also mehr als nur niederschmetternd aus.
Mit dem Anflug eines Lächelns setzte sie sich auf. Welche Zeilen hatte sie einst in einem Lied erlauscht? „Your mistakes they not define you now, they tell you who you’re not. You’ve got to live this life you’re given like it’s the only one you’ve got.”, summte sie leise vor sich hin. Das Singen von Worten hatte sie längst aufgegeben – sie wollte keinem irdischen Wesen einen bleibenden Ohrenschaden bereiten. Aber irgendein Kern Wahrheit lag schon in diesen zwei Sätzen. Eine Weisheit fürs Leben sozusagen: Mach Fehler und sei stolz drauf, immerhin lebst du nur einmal. Hailey lachte vergnügt. Sie durfte also nur halbe Küsse erhalten. Sie durfte über Freundschaft nachdenken und nicht schlauer werden. Ausserdem war es durchaus nicht verkehrt, Teil einer verkehrten Welt zu sein – das alles gehörte zu irgendeinem Teufelskreis – zusammengestickt aus Missgeschicken - der vielleicht eines Tages nach vielen, vielen Fehlern Hailey überdrüssig und Gnade walten lassen würde, indem er sie aus seiner Bahn warf. Immerhin gab es trotz all dem Kräftespiel im Weltall immer noch Meteoriten, die sich trotz strengstem Ordnungsprinzip befreit hatten. Hailey hatte es also durchaus verdient, vergnügt zu lachen – sie war auf dem besten Weg, einer dieser Meteoriten zu werden, betrachtete man nur die Anzahl ihrer Missgeschicke in Bezug auf den zurückgelegten Zeitraum. Reinste Physik, also.
Für diese kleine Unachtsamkeit – ihr Lächeln - erntete sie einen giftigen Blick ihrer platinblonden Zimmergenossin; ausnahmsweise las diese in einem Schulbuch und wollte offenbar in ihrer Leselust nicht gestört werden. Da sie die Lektüre jedoch verkehrt herum hielt, schloss Hailey, dass der Lerneffekt nicht gross sein würde. Vielleicht war auf diese Weise die Versuchung geringer, die Stirn voller Konzentration kraus zu ziehen und so unnötig Faltenbildung zu riskieren? Hailey schauderte es bei diesem Gedanken.
Hatte sie sich letztendlich ebenfalls verändert? Zielte sie unaufhaltsam in die Richtung, die sie unweigerlich zu den typischen Charaktereigenschaften reicher Jugendlicher führen würde? Würde sie ebenfalls bald nur noch Äpfel essen, als begehre sie, das gleiche Schicksal wie Eva zu erreichen? Ein Spiel mit dem Feuer, anders ausgedrückt? Gibt Äpfel her, auch wenn ich dafür ins Exil verbannt werde… Würde sie bald nie mehr Lachen dürfen, nur damit ihre Haut glatt blieb?
Trotzig griff Hailey nach einem Schokobon, das neben ihrem Kopfkissen lag; seit wohl mehr als nur geraumer Zeit, doch ein Verfallsdatum war nirgends auffindbar. Wo sie bereits in Lebensmitteln dachte - vielleicht sollte sie ihren lachenden Kürbis mit roter Farbe lackieren – dann wäre er nicht nur aussergewöhnlich, sondern auch modisch heiss begehrt. Und zu alledem würde sie nach erfolgreicher Durchführung ihres Plans wie die Faust aufs Auge in diese wirre Welt passen. Wenn er doch bereits gegen das allgemein gültige Regelwerk für das Aussehens eines Kürbisses verstiess – er lachte! – würde er gegen etwas rote Farbe sicher nichts einzuwenden haben.
Nachdenklich griff Hailey nach dem Kürbis auf ihrem Nachttischchen und drehte ihn zwischen Zeigfinger und Daumen. Auch dieses Geschenk war bereits ein Monat alt. Sie seufzte schwach. Damals hatte Chris sie noch küssen wollen – heute waren sie in ihrer Beziehung weit weniger intim als an diesem längst vergangenen Abend. Und nun stand bereits der Weihnachtsball vor der Tür, von Halloween waren lediglich ihre Erinnerungen und dieser kleine Kürbis geblieben. Erneut seufzte Hailey. Die Zeit verging wirklich viel zu schnell. Wie um sicherzugehen, dass sie nicht zu schnell voran schritt, griff Hailey nach einem Schulbuch und überprüfte gleich zwei Mal, dass sie es richtig herum hielt. Der Fehler, einem dieser reichen Jugendlichen zu ähnlich zu werden, stand auf der Liste der Dinge, die sie noch erledigen musste und wollte, um dem Teufelskreis zu entgehen, an unterster Stelle. Lieber erhielt sie noch weitere zwanzig Fastküsse – solange es nur mit dem Kuss beim einundzwanzigsten Mal klappte.
Wie hatte sie nur so doof, so blöd, so idiotisch, so hingerissen sein können? Wie hatte sie – sowieso schon die Verrücktheit in Person – es geschafft, noch verrückter zu handeln? Bis zu diesem Tag hatte Nicki geglaubt, dass ein gewisses Level an Verrücktheit existierte, das nur von ganz bestimmten Wesen überboten werden konnte. Forscher gehörten dazu, die den Sinn des Lebens dadurch erforschten, dass sie merkwürdige Laute von sich gaben. Erwachsene Männer vielleicht, die in einem Supermankostüm zu Sommerzeiten seelenruhig durch die Stadt schlenderten – als läge es an den anderen, dass die Blicke plötzlich auf ihnen hafteten. Oder Tierfreunde, die Tauben zur Mittagszeit mit ihrem Imbiss fütterten. Nicht, dass Nicki etwas gegen komische Laute, Superman oder Mittagessen hatte. Nur – hätte der Forscher nicht auf ein Vokabular zurückgreifen können, das auch normalsterbliche Leute verstanden – so hätten sie zumindest ihre Gedanken teilen können, ohne gleich als psychisch labil eingestuft worden zu sein. Und hätte der Super-Mann mit seinem Spaziergang nicht bis Frühling warten können – da wäre es zumindest kühler und angenehmer gewesen. Schliesslich der Taubenflüsterer; hätte er nicht zumindest ein Brötchen für die Tauben kaufen können anstatt sie mit Junkfood zu vergiften? Nicht, dass sie etwas gegen Fremdsprachen, Hitze oder fettige Spaghetti hatte. Nur… Nicki seufzte frustriert. Auf alle Fälle – worauf sie eigentlich hatte hinaus wollen – hatte Nicki stets gedacht, dass selbst ihr Verstand sich vor solch hoch angesetzten Levels, wie dem Verrücktheitslevel, ehrfürchtig zeigen würde und in Zweifelssituationen einen weiten Bogen um wirre Wissenschaftler, Kostümläden und Tauben machte. Doch stattdessen war vor wenigen Stunden das Unmögliche geschehen, tatsächlich wahr geworden. Sie, Nicki Mayer, hatte dieses Niveau mit einer einzigen – zugegebenermassen etwas unüberlegten – Handlung passiert. Bildlich stellte sie sich vor, wie sie sich in einem Zug befand, als plötzlich die schauderhaft frohlockende Stimme der immer gleichen Frau verkündete: „Unser Zugteam begrüsst sie im Schnellzug nach ‚Klapsmühle’. Ohne Halt bis Behandlungszimmer 5.“
Missmutig schüttelte Nicki den Kopf. Bereits zum wiederholten Mal schrie das letzte bisschen Leben in ihrem Körper, das die Zugfahrt überlebt hatte: „Wie um alles in der Welt hatte ich so blöd sein können? Warum habe ich ein paar skurrilen Gestalten so leichtsinnig von meiner Vergangenheit erzählt?“
Niemand brauchte es zu interessieren, dass ihre Mutter nicht gerade als elterliches Vorbild bekannt war. Vor allem nicht sie. Juliane durfte dies nicht wissen. Kaitlin erst recht nicht. Und Lauren? Nicki lachte höhnisch – ein gequältes Lachen.
Erst jetzt nahm sie war, dass sie fröstelte – ein kalter Wind strich ihr um die Beine. Ein Zittern unterdrückend schmiegte sich Nicki enger in ihren dicken Wollparka. Wann war sie nach draussen gegangen? Ganz willkürlich waren die Entscheidungen des bisherigen Tages gefällt worden. Willkürlich hatte sich nach einem Brötchen gegriffen als sie Hunger hatte – und hatte erst nach einem völlig willkürlichen Bissen gemerkt, dass das Brot hart wie Stein war. Total willkürlich hatte sie daraufhin nach einem Fläschchen gegriffen, das ihre Zahnschmerzen etwas lindern sollte – und ihr voreiliger Wille war mit einem Spritzer Waschmittel zum Sieger der Willkürlichkeit gekürt worden. Herausgekommen war ein Körpergefühl, das keinen Platz für Zahnschmerz gelassen hatte, jedoch nun auch jegliche andere Gefühlsregung unterdrückt hielt. Kurz: Sie war taub. Jedes Glied, jeder noch so kleiner Winkel ihres Körpers handelte nun vollkommen automatisch und ohne auch nur fein angedeutetes Empfinden. Wahrscheinlich hätte Nicki sogar einen Holzpflock in ihre Brust rammen können und hätte nichts Anderes als das willkürliche Schlagen ihres Herzens wahrgenommen, das zu taub war, um in dem Bewegungsablauf inne zu halten und das regelmässige Pumpen zu unterbrechen.
Mit einem willkürlichen Kopfnicken trieb sich Nicki ihre Gedanken aus dem Kopf. Sie musste mit dem Halluzinieren aufhören und dringlichst mit den Fakten spielen. Fakt 1 besagte also, dass ihr Körper taub war. Fakt 2 lautete, dass sie nun draussen war und ihre Beine völlig mechanisch zu einem Spaziergang um das Schulgelände angesetzt hatten. Fakt 3… Nicki zögerte. Fakt 3 sagte aus, dass sie ein Vollidiot war. Hatte sie irgendeine Wichtigkeit ausgelassen? Ach ja: Fakt 4 liess verkünden, dass der Winter Hand in Hand mit eisigen Temperaturen ging. Was suchte sie also hier draussen?
Nickis willkürlich handelnde Überreste ihres Verstandes erhielten keine Zeit, die vorangegangenen Informationen zu verarbeiten und nach einer Lösung für ihre Frage zu suchen. Denn in ihrem direkten Blickfeld – nur wenige Meter entfernt und sich auf sie zu bewegend – tauchten nun zwei Gestalten auf. Selbst sich in kritischstem Zustand wiederfindend, hätte Nicki sofort gewusst, dass es sich bei der einen Person nur um Lauren handeln konnte: Das dunkle, seidige Haar sass selbst von dieser beachtlichen Entfernung noch so perfekt, dass der Boden vor Neid sofort erblasst wäre, wäre er nicht bereits mit Schnee überzogen gewesen.
„Sieh einer an.“ Selbst ihre Stimme funktionierte vollkommen willkürlich – überraschend barsch und laut hatte sie diese Worte gesprochen. Leise schluckte Nicki. Nein, sie wollte nicht mit Lauren reden. Sie führte mit dickem Vorsprung die Rangliste derjenigen Schüler an, denen sie sich nie hatte anvertrauen wollen. Und ausgerechnet dieses Mädchen war es nun, das mehr wusste als die restlichen Läufer in ihrem Wettkampf um den Tagesgewinn: Der setzte sich aus einer vollumfänglichen Erklärung zusammen, die Fakten zu der glorreichen und überhaupt nicht intimen Vergangenheit der Nicole Meyer beinhaltete.
Der Abstand zwischen ihr und Lauren war in den letzten Sekunden beängstigend zusammengeschmolzen, wie Nicki fassungslos hatte feststellen müssen. Selbst der Boden unter ihren Füssen schien plötzlich weicher, flüssiger. Denn obwohl Nicki in ihren Bewegungen inne gehalten hatte und reglos geradeaus blickte, waren Lauren und ihr Begleiter unverfroren weiter ihres Weges gegangen. Mittlerweile konnte Nicki erkennen, dass es sich bei Laurens Weggenossen um einen Jungen handelte, dessen Haar sofort klarstellte, dass im Falle der beiden Verwandtschaft vorherrschte: Sein Haar war zwar blond und kurz, doch sass es so perfekt, wie es sonst nur Laurens Haar hätte tun können.
„Du schaffst es wirklich immer wieder, in den falschen Situationen meinen Weg zu kreuzen. Man sollte an dir mal einen Peilsender befestigen, damit unschuldige Passanten vor deiner Anwesenheit gewarnt werden können.“ Lauren und ihr Bruder waren nun bei Nicki angelangt - der Blick des anderen Mädchens hätte giftiger nicht sein können.
Erneut handelte Nickis Mundwerk willkürlich. „Du bist ja richtig gesprächig heute.“
„Ach, das liegt an dir, danke für das Kompliment. Irgendwie erreichst du es an diesem heutigen Tag andauernd, dass mir so manche spannende Geschichte rausrutscht.“ Laurens Blick war noch kühler geworden. Diese Entwicklung liess Nicki tatsächlich zusammenzucken. So, wie sie an den Verrücktheitslevel geglaubt hatte, war sie fest von der Existenz eines Böser-Blick-Levels überzeugt gewesen. Lauren hatte sie soeben eines besseren belehrt.
„Ich habe Talent. Vielleicht sollte ich zum Fernsehen gehen und Talkshowmaster werden. Dann könnte ich von der hübschen Zicke bis zum Mädchen mit dem seidigen dunklen Haar alle mit Fragen löchern. Dein Blick sagt mir, dass ich da richtig erfolgreich wäre.“
„Höchstens richtig erfolgreich darin, deine Gäste mit deiner Wortwahl aus Kamerareichweite zu vertreiben.“ Ein Vampir! Lauren hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit einem Vampir, der drauf und dran war, sein Opfer zu befallen, nachdem er es erst einmal gründlich gemustert hatte. Zufrieden über diese Feststellung wagte Nicki ein vorsichtiges Lächeln – ehe ihr plötzlich bewusst wurde, dass die Vorlieben eines Vampir darin bestanden, Normalsterbliche (bzw. Verrückte wie Nicki) zu beissen und leer zu trinken. Nickis Geistesblitz hatte also gerade einen klaren Dämpfer erfahren, ging man davon aus, dass sie nicht vor hatte, so schnell vom Planeten Erde zu weichen. Das hatte Nicki eindeutig nicht vor!
„Danke für den Tipp. Dann merke ich mir also, dass ich meine Gäste mit Hundeleinen festbinden muss. Vielleicht willst du mir helfen zu testen, wie wirksam solche Mittel sind?“ Provozierend hob Nicki die Brauen. Nur ein kleiner Teil ihres Verstandes fühlte noch Verlegenheit dafür, welche Neuigkeit sie dem anderen Mädchen am Morgen noch entlockt hatte. Warum auch sollte sie sich schuldig fühlen, wo Lauren doch offenbar zu ihrer üblichen mentalen Stärke zurückgefunden hatte?
„Ich… gehe dann mal.“ Aus den Augenwinkeln nahm Nicki wahr, wie sich Laurens Begleiter aus seiner Starre löste und sich das ungläubige Grinsen auf seinem Gesicht etwas abschwächte. „Das fechtet ihr besser unter euch aus.“
„Dominic!“ Lauren hatte ihren Begleiter – ihr Bruder, wie Nicki berichtigte, als sie erneut einen Blick auf das perfekt sitzende Haar und den wohlgeformten Körper warf – regelrecht angefaucht. Nun galt ihr giftiger Blick nicht mehr Nicki, sondern dem blonden Jungen.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich mir das noch stundenlang antue? Sicher ist es unterhaltsam euch bei irgendwelchen Wortgefechten zuzuschauen, aber…“ Dominic zögerte. „Ich sollte noch etwas klären. Wir sehen uns dann also später?“
Der Junge erhielt lediglich ein schwaches Grummeln als Antwort, doch das schien ihm zu genügen; mit einem letzten Blick auf Nicki wandte er sich ab und stolzierte zum Eingangsbereich der Schlafräume zurück. „Stolzieren“ war wirklich das richtige Wort, dachte Nicki kopfschüttelnd – wie schafften es manche Menschen nur, auf diese Weise zu gehen? Selbstbewusst und für Mädchenaugen normalerweise hinreissend; dies beschrieb Dominics Gang am ehesten. Dominic und Lauren mussten eindeutig Bruder und Schwester sein, schloss Nicki seufzend.
„Ich sollte dann wohl auch…“ Lauren hatte die Arme verschränkt und machte ebenfalls Anstalten, sich wieder in Bewegung zu setzen und ihrem Bruder zu folgen. Doch tatsächlich spürte Nicki, dass sie das nicht wirklich tun würde. So wartete sie mit hochgerissenen Augenbrauen auf einen weitere Erwiderung von Lauren.
Lauren hatte sich mittlerweile abgedreht und ihren Blick ebenfalls in Richtung des Schlaftraktes gleiten lassen. Aber anstatt wirklich einen ersten Schritt in die begutachtete Richtung zu machen, scharrte sie mit ihren Füssen unruhig über den Kiesboden.
„Lauren.“ Nicki stöhnte. Das andere Mädchen scharrte jedoch seelenruhig weiter mit den Füssen.
„Lauren!“ Der Blick blieb abgewandt, die Füsse weiterhin über den Boden zuckend.
„Verdammt noch mal, was willst du eigentlich?“ Erregt fuhr sich Nicki über den Mund. Sie hatte nicht vor gehabt, ihre Frage unter Einsetzung von Fluchwörtern zu stellen.
„Das hättest du heute nicht tun dürfen.“ Für einen Moment glaubte Nicki, tatsächlich Gift in Laurens Augen funkeln zu sehen, als ihr Blick schliesslich erneut auf Nicki zu ruhen kam.
Nicki seufzte theatralisch. „Ich hätte so Manches heute nicht tun dürfen. Die Sache mit dem alten Brot war zum Beispiel keine gute Idee. Und das Waschmittel hat mir auch nicht gerade gut geschmeckt; das kannst du mir glauben.“
Lauren hatte den Kopf fragend geneigt, doch ihren Augen drohte weiterhin, bald gänzlich von Gift durchschwemmt zu werden. „Du weißt genau, was ich meine.“
„Könnte sein, ja.“ Nicki zuckte vorsichtig die Achseln. Sie meinte, spüren zu können, wie sich die Willkürlichkeit ihres Körpers langsam legte. Das letzte, was sie jetzt also brauchen konnte, war ein ernstes Gespräch mit Lauren, während sich ihr Selbstbewusstsein gerade verflüchtigte. Im gleichen Moment hätte Nicki beinahe laut gelacht. Ein ernstes Gespräch mit Lauren führen? Nie hätte sie gedacht, dass das einmal mehr als ein Wunschtraum bleiben würde. Abgesehen davon, dass es sowieso nie ein sonderlich grosser Wunsch von Nicki gewesen war, mit dem anderen Mädchen mehr als ein paar Sekunden alleine zu verbringen.
„Dann sind wir also einig, dass du vollkommen idiotisch gehandelt hast und mir bis ans Ende deiner Tage normales Verhalten schuldig bist?“, hackte Lauren nach.
„Sicher.“ Nicki schüttelte den Kopf, ehe sie plötzlich in der Bewegung inne hielt. „Was soll das heissen, ‚ich sei dir normales Verhalten schuldig’? Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass ich das bisher nicht war?“
„Du und Normalität?“ Lauren lachte höhnisch, die Augen noch immer zornesfunkelnd.
Schaudernd stellte Nicki fest, dass sich das Gespräch immer mehr den Gedanken näherte, denen sie noch vor wenigen Minuten nachgegangen war. „Würdest du also sagen, dass ich zu Sommerzeiten in einem Supermankostüm durch die Strassen irren würde?“
„Ich hoffe doch nicht.“ Lauren hob kritisch die Augenbrauen. Nicki konnte nur mühsam ein Lachen unterdrücken – gleichzeitig giftig zu schauen und die Augenbrauen zu heben stellte sich selbst für ein Wunderkind wie Lauren als schwierig heraus, wie Nicki nun hatte feststellen dürfen.
„Und füttere ich Tauben normalerweise mit meinem Mittagessen?“, fügte Nicki an.
Lauren verzog keine Miene. „Ich habe es noch nie erlebt, dass du nett genug gewesen wärst, Teile deines Mittagessens für andere Personen übrig zu lassen. Geschweige denn für Tiere.“
„Aha. Sehr schön.“ Innerlich rieb sich Nicki die Hände. Zumindest zwei Punkte des Gefährlich-Verrückt-Levels erfüllte sie zumindest noch nicht.
„Du meine Güte, Nicki, von was sprichst…“-
Nicki liess Lauren keine Zeit, ihre Frage zu Ende zu sprechen. „Und gebe ich komische Laute von mir, wenn ich nach dem Sinn des Lebens forsche?“
Lauren haderte offensichtlich mit einer Antwort. Schliesslich meinte sich wahrheitsgetreu: „Du kümmerst dich um den Sinn des Lebens?“
„Dann bin ich also vollkommen normal“, folgerte Nicki. Vergnügt grinste sie. Dass sie es geschafft hatte, selbst Lauren soweit zu bringen, dies zuzugeben, liess sie triumphierend die Hände zu Fäusten ballen. Nun – zumindest indirekt hatte sie es zugegeben, stellte Nicki sogleich richtig. Besser gesagt – Lauren wusste nicht wirklich davon, dass sie dies getan hatte. Fakt war jedoch, dass zumindest Nicki selbst von ihrem selbstkreierten Verrücktheits-Level wusste. Das genügte in ihren Augen völlig, um sich mit der Antwort zufrieden zu geben.
„Normal?“ Lauren schüttelte fassungslos den Kopf.
„Normal. Du wolltest doch wissen, ob sich Normalität und ich verbinden lassen“, erklärte Nicki äusserst grosszügig, wie sie empfand.
„Was sagtest du noch gleich, das du heute gegessen hast? Waschmittel?“ Lauren lachte amüsiert.
„Ja. Und ich kann es nicht weiterempfehlen.“ Nicki nickte heftig den Kopf, um ihre Aussage zu unterstreichen. Dieses schwache Brennen auf der Zunge, gefolgt von dem sauren, beissenden Geschmack, der sich in ihrem Mundraum wie Feuer ausgebreitet hatte – Nicki wollte das Erlebnis von Waschmittelkonsum eindeutig nicht wiederholen. Gleichzeitig erklärte es ihr die Tatsache, warum manche Menschen an solchen Substanzen schnüffelten, bis sich dies zu einer Sucht entwickelte; dieses Mittelchen hatte Nicki ein ungewohntes Selbstbewusstsein verliehen. Oder lag es daran, dass sich ihr Zahn von dem harten Brot noch immer taub anfühlte?
„Auf alle Fälle“, Laurens Kopf hatte wieder seine natürliche Position eingenommen, „denke ich, dass du heute ganz schön Mist gebaut hast.“
„Ich hab dir doch bereits gesagt, dass ich dies getan habe…“-
Dieses Mal war es Lauren, die Nicki unterbrach. „Ich meine es ernst.“
„Ich auch. Oder denkst du, ich hätte mich sonst bei dir… entschuldigt?“ Nur mühsam hatte Nicki dieses Wort herauswürgen können. Innerlich fügte sie an: „Ausserdem habe ich mich zur Genüge selber blamiert. Du musst dich zumindest nicht für deine Mutter schämen, da du sie ja nicht kennst.“ Doch Nicki spürte vorzeitig, dass diese Worte ein Fehler gewesen wären. Immerhin konnte sie nur erahnen, wie schwierig es sein musste, seine Eltern nicht zu kennen.
„Dann unterlass solche Dinge das nächste Mal.“ Das giftige Glitzern in Laurens Augen war mit voller Stärke zurückgekehrt.
„Das nächste Mal? Das heisst, du willst dich ‚ein nächstes Mal’ mit mir unterhalten?“ Nicki grinste schwach.
„Vielleicht.“ Alles – wirklich alles – hätte Nicki erwartet, nur nicht ein „Vielleicht“. Lauren wollte vielleicht mit Nicki sprechen? Lauren Newcole wollte vielleicht mit Nicole Meyer Tee trinken? Nicki musste zugeben, dass ein Ja auf ihre Frage völlig irrealistisch gewesen wäre, doch hätte sie das ganze Bisschen Verstand, das ihr vom Vormittag noch geblieben war, darauf gewettet, dass Lauren Newcole ihr ein Nein regelrecht entgegenspucken würde. Ein „Vielleicht“ bedeutete fast schon, dass die Demokraten den Republikanern die Hand gereicht hatten. Dass Nicki plötzlich in eine Hose der Grösse 34 passte. Dass die Schneeflocken sich entschlossen, endgültig fest zu werden, anstatt unentschlossen in ihrer Konsistenz zu bleiben. Verstört schüttelte Nicki den Kopf.
„Vielleicht, also.“ Nickis Stimme bebte.
„Ich geh dann jetzt mal.“ Laurens Augen spuckten noch immer Gift. Doch um ihr Mund hatte sich der Anflug eines Lächelns gekräuselt.
„Dann gehst du jetzt mal.“
„Ja, das mach ich.“
„Ja, das machst du.“ Ungläubig lächelnd zwang sich Nicki zu schlucken. Sie benahm sich bereits wie ein Papagei. Das letzte Stückchen ihres Verstandes musste mittlerweile also ebenfalls entschwunden sein, schloss Nicki seufzend. Reglos schaute sie Lauren nach, die sich abgedreht hatte und dieses Mal tatsächlich davon schritt. Bald schon hatte sie einige Meter zu Nicki gewonnen – sie hatte sich kein weiteres Mal umgewandt.
Nicki konnte nicht begreifen, was da eben geschehen war. Sie hatte sich wie immer ein regelrechtes Wortgefecht mit Lauren geliefert, doch irgendwie war es in eine vollkommen verkehrte Richtung gelaufen. Oder wie hätte sie sich sonst erklären sollen, dass Lauren ein „nächstes Mal“ freiwillig mit ihr sprechen würde? Unwillkürlich fühlte sie sich an das Thema ihres Projektes erinnert. Freundschaft. Lautlos lachend fuhr sich Nicki durch ihr rotbraunes Haar. So weit war es sicher noch nicht gekommen. Noch nicht. Verwirrt über ihre Gedanken zwang sie ihren Körper, sich ebenfalls in Bewegung zu setzen. Sie brauchte jetzt dringlichst einen guten, äusserst starken und ernüchternden Kaffee.
Rot. Rot. Rot. Immer noch rot. Oder doch etwas gelblicher? Gedankenverloren betrachtete Juliane die Decke. Bereits seit Stunden – obwohl es sich für ihr momentanes Zeitgefühl eher wie ein paar wenige Augenblicke anfühlte – musste sie auf ihrem Bett gelegen sein und reglos an die Decke gestarrt haben.
Kurz hatte sie sich nach draussen gegeben, nur um feststellen zu müssen, dass Kälte ihren Verstand noch mehr benebelt hatte. Erst dann hatte sie Zuflucht im Lichtspiel gesucht; nun, da der Abend anbrach, wurde zugleich auch das Licht in den verschiedensten Farben gebrochen. Juliane hatte sich entschlossen, ihr Augenmerk einem Punkt zuzurichten und die Farbe des Lichtes an dieser Stelle zu betrachten. Schon seit Sekunden – in Wirklichkeit also Minuten – hatte es jedoch die Rotnuance beibehalten. Oder war es wirklich etwas gelblicher geworden, von Menschenauge jedoch nicht zu erkennen?
Verärgert setzte sich Juliane mit einem Ruck auf. Warum musste dem Menschenauge überhaupt so Vieles vorenthalten bleiben, egal, wie wichtig diese kleinen Veränderungen auch waren? Karotten zum Beispiel. Während Juliane sie als orange eingestuft hätte, waren sie in den Augen eines Ferkels grün. Oder Elternbeziehungen; Lauren hatte bereits vor geraumer Zeit davon berichtet, dass ihre Eltern das typische Klischee „reich und ohne Zeit“ erfüllten. Hätte Julianes inneres Auge nur das kleine Wörtchen „Adoptiv-“ davor erblicken können, wäre ihr nie dieses Missgeschick passiert. Dieses Missgeschick, in das auch Dominic involviert war. Warum ausgerechnet er? Warum hatte Juliane ihn mit der Enttäuschung seiner Eltern abmahnen müssen, an diesem verhängnisvollen Sonntagmorgen? Wenn sie doch bloss das kleine Wörtchen „Adoptiv-“ vor diesem Treffen erblickt gehabt hätte… Juliane seufzte resigniert.
Wahrscheinlich lag es jetzt an ihr, Dominic aufzusuchen und mit ihm über diesen Patzer zu sprechen. Aber wie sollte sie ihn finden? Sie konnte doch unmöglich erhobenen Hauptes zu seinem Zimmer spazieren und ihn womöglich mit einer neuen Affäre erwischen? Verstört nahm Juliane wahr, dass ihr Herz schmerzhaft gegen ihre Brust pochte.
Ein Klopfen an der Zimmertür durchbrach ihre Flucht in die wilde Welt der Gedanken. Ein Blick zu Laurens Bett zeigte Juliane, dass sie noch immer nicht zurückgekehrt war. Somit war sie also bereits seit der Sitzung oder zumindest seit Juliane zurückgekehrt war alleine draussen – oder irrte sie sich und hatte in ihrer mentalen Abwesenheit sogar verpasst wahrzunehmen, wie Lauren gekommen und wieder gegangen war?
Schwerfällig erhob sich Juliane schliesslich. Ihre Glieder protestierten in Form von unangenehmem Brennen gegen die ungewohnte Bewegung; zu lange schon war sie reglos liegen geblieben. So kämpfte sich Juliane Schritt für Schritt zur Tür vor. Erstaunt nahm sie wahr, dass dieser Kampf nur wenige Sekunden gedauert hatte und sich bereits vor der Tür befand. Nur leise flüsterte ihre innere Stimme, dass es womöglich vielmehr einige Minuten gewesen sein könnten, die sie von ihrem Bett hierhin gebraucht hatte. Ihrer inneren Stimme trotzend riss Juliane möglichst unbekümmert die Tür auf – und keuchte bereits im nächsten Augenblick erschrocken auf.
„Du bist es.“ Julianes Stimme war im Gegensatz zu ihrem letzten Treffen merklich schwächer, musste sie feststellen, als ihre Augen Dominic erblickten.
Unschuldigen Blickes und zugleich unglaublich selbstbewusst stand er vor der Türschwelle und betrachtete Juliane einige Sekunden wortlos. Oder waren es gar einige Minuten gewesen? Diese geringe Zeitspanne nutzte sie, um sich durch das Haar zu fahren. Juliane war sofort bewusst, dass sie unmöglich aussehen musste. Ihr Haar hing ihr strähnig ins Gesicht und verdeckten nur teilweise die Brille, auf die Juliane für diesen Sonntag zurückgegriffen hatte. Zudem trug sie lediglich ausgewaschene Jeans und einen weiten, unvorteilhaft geschnittenen Wollpulli. Wie hatte sie nur so ungestüm die Tür aufreissen können?
Endlich räusperte sich Dominic. Auch er fuhr sich nun durchs Haar – wenngleich mit einer weitaus grazileren Bewegung. Das Haar sass wie immer perfekt. „Darf ich reinkommen?“
„Sicher.“ Mühsam zwang sich Juliane dazu, Platz für Dominic zum Eintreten zu machen. Ihre Stimme fühlte sich noch immer belegt an. Mit einer schnellen Bewegung schloss sie die Tür hinter ihm. Knarrend fiel sie in die Angeln.
„Ich habe mit Lauren gesprochen…“ Mehr sagte Dominic nicht. Stattdessen hatte er sich unaufgefordert auf Julianes Bett fallen lassen – anscheinend vorurteilslos obgleich der zerwühlten Decke – und betrachtete Juliane nun mit schief gelegtem Kopf.
„Dann weißt du also, wo sie ist?“ Eine blöde Frage, wurde Juliane sogleich bewusst. Natürlich musste er wissen, wo sich seine Schwester befand, wo er doch soeben mit ihr gesprochen hatte.
„Ihr geht es wieder gut. Zumindest einigermassen. Also…“ Dominic schien mit sich zu hadern. Doch selbst jetzt wirkte er noch unvergleichlich selbstbewusst. „…weshalb ich eigentlich hier bin; sie hat mir auch erzählt, was sie euch – dir – heute alles über unsere Vergangenheit preisgegeben hat.“
„Oh.“ Mehr vermochte Juliane nicht zu sagen. Selbst dieses einzelne Wort hatte sie nur leise gemurmelt. Zugleich wurde ihr klar, dass es nicht mehr nötig sein würde, ein Spaziergang zu Dominics Zimmer zu unternehmen und ihn womöglich mit einem anderen Mädchen zu überraschen – stattdessen sass er soeben auf ihrem Bett. Aber gleichzeitig fühlte sich Juliane verwirrt. Was hatte sie ihm überhaupt sagen wollen? Dass es ihr für ihre Bemerkung Leid tat? Vielleicht wäre dies ein Anfang, beschloss sie zögernd. „Es tut mir Leid für meine Bemerkung… zu deinen Eltern“, sprach Juliane also, ihre Stimme noch immer unruhig. Fast klangen ihre Worte wie auswendig aufgesagt.
„Das muss es nicht. Du hast ja Recht. Meine Adoptiveltern würden ganz schön enttäuscht sein.“ Dominic betrachtete sie mit dem Anflug eines Lächelns. Eines furchtbar selbstbewussten Lächelns, verbesserte sich Juliane selbst.
Tatsächlich. Schon wieder dieses kleine, fast unsichtbare Wörtchen „Adoptiv-“, das die Bedeutung dieses Satzes gleichzeitig stark verändert hatte. Verärgert schüttelte Juliane den Kopf. Warum hatte sie es zuvor bloss nicht gesehen? Menschliche Blindheit, dachte sie verärgert.
„Trotzdem. Ich war wohl ziemlich taktlos.“ Juliane fuhr sich verlegen über die heissen Wangen.
„Dafür war ich ein unsensibler Idiot. Dann sind wir also gleichgezogen.“ Dominic lachte nun unbekümmerter.
Ungläubig über diese Aussage legte Juliane die Stirn in Falten. „Vielleicht ist die Bezeichnung ‚Idiot’ etwas übertrieben. Immerhin ist es deine Sache, was du in deinem Privatleben treibst. Da brauche ich mich nicht einzumischen.“ Obgleich Juliane noch immer das Gefühl hatte zu explodieren, wenn sie sich nur bereits schwach das Bild des Mädchens mit den Endlosbeinen vor ihrem inneren Auge in Erinnerung rief.
„Ich möchte aber, dass du dich einmischst.“ Bei diesen Worten war Juliane kaum merklich zusammengezuckt. Von was sprach Dominic da? So nahm sie erst verspätet wahr, dass dieser sich soeben erhoben hatte. Dominics Selbstbewusstsein war vollends zurückgekehrt, nun, da er in voller Grösse vor ihr stand.
„Ich glaube, schlussendlich ist es meine Schuld, dass es so weit gekommen ist. Immerhin habe ich nie ausgesprochen, was ich wirklich gedacht habe.“
Verwirrt betrachtete Juliane ihren Gegenüber. Der plötzliche Wechsel von Wut zu einem ihr bisher unbekannten Gefühl in ihrem Magen, der ihr Körper bei der Erwähnung von Dominics Namen genommen hatte, liess ihre Wangen zunehmend erglühen. „Hast du nicht?“
„Habe ich nicht.“ Schwach nickte Dominic.
„Was hast du denn nie ausgesprochen?“ Juliane nahm wahr, wie Neugier und Glück sie zugleich erfüllten. Sie spürte, wie ihre Augen grösser wurden.
„Ich habe es nie direkt ausgesprochen, dich nie direkt gefragt.“ Dominic erklärte dies, während er mit seinen Fingern spielte. War er nervös? Äusserlich lieferte er noch immer das perfekte Beispiel des selbstbewussten Jungen ab, dachte Juliane kopfschüttelnd.
„Was hast du nie direkt ausgesprochen und mich nie direkt gefragt?“ Ihre Neugier hatte eindeutig die Oberhand in ihrem Mechanismus gewonnen.
Dominic zögerte nicht mit einer Antwort. „Willst du mit mir zum Weihnachtsball gehen?“
Zu spät bemerkte Juliane, dass ihr Körper – erfüllt von Fassungslosigkeit – das tat, was er als einzigen Ausweg zum klaren Verständnis dieser Frage sah: Er aktivierte sämtliche Lachmuskeln. Schallend lachte sie also. Juliane fühlte sogar, wie sich ihr Magen vor Lachen krampfhaft zusammenzog. Verstört schüttelte sie schliesslich den Kopf und unterdrückte so eine weitere Lachattacke. „Mit dir? Warum nicht?“ Dominic konnte dies doch unmöglich ernst meinen, fügte sie in Gedanken an.
„Dann wäre das also geklärt.“ Dominic deutete ein Nicken an.
Juliane zwang sich tief durchzuatmen. Mit geballter mentaler Kraft gelang es ihr, ihn nicht zu fragen, ob er dieses Angebot ernst gemeint hatte. Eigentlich hätte sie nie gedacht, dass er dies tun würde. Aber warum…? Juliane seufzte. „Und wie geht es jetzt weiter?“ Ihr schien diese Frage weniger risikoreich als diejenige, die ihr brennend auf der Zunge gelegen hatte.
„Ich hole dich am 21.Dezember gegen acht Uhr abends hier ab. Und…“ Dominic zögerte, zeigte dann aber sein gewohntes Grinsen. „…es gehört zum Netiquette, ein Kleid zu tragen.“
„Ein Kleid also.“ Warum bloss schien es ihm so wirr, Juliane in einem Kleid zu sehen? Sie hatte durchaus öfter Kleider an. Zumindest dann, wenn es ihr danach war. Da sie nie erpicht darauf gewesen war, diese Anlässe zu zählen, besass sie über die genauere Anzahl keine näheren Angaben. Doch eine Erinnerung der Feier zu ihrem fünften Geburtstag sagte ihr, dass sie zumindest damals eine blaue, bodenlange Robe getragen hatte… Juliane schüttelte schwach den Kopf. Auf alle Fälle griff sie normalerweise nicht sehr oft auf die Variante „dicker, weisser, unvorteilhaft geschnittener Wollpullover“ zurück. Zumindest eher selten. Wirklich selten. Nur ab und zu.
„Dann gehe ich jetzt und lass dich erst mal verdauen, mit was ich dich eben konfrontiert habe?“ Dominic hatte vergnügt die Augenbrauen hochgezogen. Mittlerweile spürte Juliane wieder Ärger aufkeimen, bei dem Gedanken, wie selbstbewusst er sich ihr gegenüber immer zeigte. So grummelte sie:
„Die beste Kost ist noch immer die, die den Bauch füllt. Vielleicht wird es dich enttäuschen, aber mehr als halbpatzig meinen Hunger gestillt haben mich die Neuigkeiten nicht. Was ist schon dabei… mit dir zum Weihnachtsball zu gehen?“ Ja, was war schon dabei? Ausserdem wartete Juliane noch immer auf das spitzbübische Grinsen, gefolgt von einer lahmen Erklärung, dass es sich hierbei lediglich um einen Scherz handelte. Oder wie lange wollte Dominic noch weiter diesen Schwindel durchziehen? Doch zugleich – wie Juliane beschämt zugeben musste – fühlte sie ihr Herz Luftsprünge machen, bei dem Gedanken, dies alles entpuppte sich schlussendlich noch als die Wahrheit. Warum dies der Fall war – Juliane hätte es nicht sagen können, nicht sagen oder zugeben wollen.
„Na, dann.“ Dominic war ein paar Schritte auf Juliane zugetreten und blieb ihr direkt gegenüber stehen. Langsam – Juliane spürte ihr Herz schneller rasen – hatte sich sein Gesicht dem ihren genähert. Dominics dunkle Augen musterten sie unverfroren, strahlten eine greifbare Nähe aus. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut prickeln und – mit einem siegestrunkenen Lächeln war Dominic zurückgewichen. „Falls du es wissen wolltest – ich meine das mit dir ernst. Das ist nicht bloss ein Spiel. Irgendwie hast du tatsächlich geschafft, dass ich Spiele dieser Art satt habe.“
Juliane schluckte mühsam. „Ach so.“ Ihre Stimme klang wieder ungewohnt heiser. Was wollte er ihr damit bloss sagen? Sie fühlte sich merkwürdig schlapp. Ihr grösster Wunsch lautete nun, über das zu brüten, was er ihr mitgeteilt hatte. Vielleicht würde sie dann das alles besser verstehen?
„Ich sollte jetzt gehen. Irgendwo wird Lauren wohl auf mich warten.“ Dominic trat einen weiteren Schritt zurück, ehe er sich an Juliane vorbei zur Tür drängte. Kurz – zu kurz – hatte Juliane dabei gefühlt, wie Dominics Finger ihre sanft gestreift hatten. Verwirrt über die Elektrizität, die diese Bewegung geborgen hatte, fuhr sie sich durch ihr Haar.
„Bis dann.“ Erst als die Tür hinter Dominic zugefallen war, wagte es Juliane, nach Luft zu schnappen. Denk nach!, befahl sie sich bestimmt. Was war soeben geschehen?
„Du gehst mit Dominic Newcole zum Weihnachtsball“, flüsterte ihre innere Stimme neckisch.
Doch konnte dies wirklich sein? Konnte sie persönlich eine…Verabredung mit ihm haben? Nur mühsam wagte es Juliane, dieses Wort auch nur zu erdenken. Sie, die nie eines dieser Mädchen hatte werden wollen, würde nun mit ihm ausgehen? Mit Dominic? Und als ihr Verstand ihr seinen Namen zuflüsterte, spürte sie ihr Herz wieder schneller schlagen, in froher Erwartung gegen ihre Brust hämmern.
„Ja, es ist wahr“, raunte Julianes innere Stimme zufrieden.
(13) - Von fixen und zufälligen Treffen -
Der Donnerstag war schneller gekommen, als Kaitlin lieb gewesen war. Mit nervös pochendem Herzen legte sie ihre feuchten Finger auf die Holzverkleidung der Tür. Sollte sie wirklich klopfen? Immerhin blieben ihr noch drei Minuten, um sich zu sammeln. Doch Kaitlin spürte instinktiv, dass dieses „in sich einkehren“ ihr nicht mehr viel helfen würde. Schliesslich hatte sie den ganzen Mittwochabend damit verbracht, sich Selbstbewusstsein in Form von Schokonüssen einzuflössen – und es hatte sie in keiner Weise weiter gebracht. Nun fühlte sie sich lediglich erbärmlich. Erbärmlich, dass sie so viel gegessen hatte. Erbärmlich, dass sie zum Direktor vorgeladen worden war. Erbärmlich, dass ihr der Mut fehlte zu klopfen – eine eigentlich vollkommen einfache, längst programmierte Bewegung ihrer Hand.
Mit einem tiefen Seufzen überwand sie schliesslich ihre persönliche Hemmschwelle und drückte ihre Finger fester gegen das Holz. Der fünfte Dezember also. Himmel! Viel zu strikt war die Zeit vorwärts geglitten.
Eine Frau mittleren Alters öffnete ihr die Tür. Obwohl sie das Haar streng zurückgebunden und ihren Körper in einen dieser Kostüme gesteckt hatte, die jegliche Problemzone betonte, sah sie wunderbar aus, wie Kaitlin empfand.
„Kaitlin Hundsman?“
„Mhm-hmm.“ Kaitlins Antwort war nur grummelnd gekommen.
„Gut. Der Direktor hat sie bereits erwartet.“
Ach, hatte er das? Ein Blick auf die Uhr um ihr Handgelenk verriet Kaitlin, dass sie immer noch zwei Minuten zu früh war. Das musste als unweigerlich bedeuten, dass der sehr geehrte Herr Direktor der Oberstufe wirklich auf das Gespräch drängte. Dies konnte doch unmöglich ein gutes Zeichen sein?
Die andere Frau war einen Schritt auf die Seite getreten und hatte Kaitlin so Platz zum Eintreten gelassen. Wie Kaitlin schien, hatte die Assistentin dazu einen ausserordentlich grossen Schritt unternommen – vielleicht, weil ihr bewusst gewesen war, wie viel Raum Kaitlins Körper einnahm? Schwach stöhnte Kaitlin.
„Ist Ihnen nicht gut?“ Auch mit Sorgenfalten im Gesicht strahlte die andere Frau noch die Attraktivität aus, die Kaitlin selbst mit einem Lächeln auf den Lippen fehlte.
„Alles in Ordnung. Irgendwie.“ Kaitlin zuckte leicht zusammen. Warum konnte sie ihr Mundwerk bloss nicht besser unter Kontrolle haben? Sie beschloss, nicht weiter über ihr fehlendes Talent in Sachen Konversation nachzudenken und liess ihren Blick durch den einladenden Raum schweifen.
Strahlendweisse Wände, die jedem Zahnpastalächeln Konkurrenz machten, dazu ein gläserner Empfangstisch mit Telefon, irgendwelchen Broschüren und einem Computer auf der linken Raumhälfte. Über den Raum verteilt bildeten vier schwarze, lederne Stühle einen Kontrast zu dem grellen Weiss. Am Empfangstisch vorbei führte schliesslich ein schmaler Gang, der an seinem Ende drei weitere Türen andeutete.
„Sind Sie schon einmal hier gewesen?“ Die Frau war Kaitlins überraschtem Blick offensichtlich gefolgt.
Kaitlin liess sich Zeit mit einer Antwort. Sollte sie es positiv werten, dass die Assistentin zumindest gefragt hatte, ob sie schon einmal hier gewesen war, und nicht wie selbstverständlich annahm, dass sie sich schon des Öfteren hier eingefunden hatte? Oder sollte sie es als negativ bezeichnen, weil die Frau Zweifel ob Kaitlins Erstaunen zu der ungewohnten Umgebung hegte, wo sie doch anscheinend hier schon öfter anwesend gewesen war? Kaitlin seufzte. Ihre eigenen Gedanken begannen sie zu verwirren. „Nein, war ich nicht.“ Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren merkwürdig provozierend, als wollte sie der Frau klar machen, dass sie ein völlig normaler Jugendlicher war.
„Dann werde ich Ihnen kurz die Aufteilung der Räumlichkeiten erklären. Sie befinden sich soeben im Empfangsraum. Die Stühle bieten Sitzmöglichkeiten…“
Ach wirklich? Kaitlin unterdrückte mit aller Mühe den Wunsch, die andere Frau zu unterbrechen. Doch ihr Unterbewusstsein kämpfte sich gleichzeitig mit der Tatsache ab, dass die andere Frau Kaitlin offensichtlich als zurückgeblieben einstufte.
„…im Falle, dass der Direktor sich verspätet. Weiter hinten vervollständigen schliesslich der Sitzungsraum des Schulgremiums, das Büro des Direktors der Oberstufe und das Büro des Direktors der Unterstufe das Gesamtbild des Administrationsbereichs der Schule.“
Nur mühsam schluckte Kaitlin der Lachreiz, der ihren Körper empor gestiegen war, herunter. Diese Frau hatte allem Anschein nach jegliche Informationsbroschüren der Schule auswendig gelernt. Armes Ding. Ein Blick auf das sich auf dem Empfangstisch befindende Namensschild zeigte Kaitlin, dass sie es hier mit Mrs. Alana Browsburgh zu tun hatte.
Mit einer einfachen Geste wies Mrs.Browsburgh Kaitlin schliesslich dazu an, sich in Richtung der drei Türen zu bewegen. Missmutig folgte sie der indirekten Aufforderung. Je näher sie der Tür kam desto mehr verspürte Kaitlin das Verlangen nach Schokonüssen. Nervennahrung für das bevorstehende Gespräch, dachte Kaitlin weiter. Mittlerweile musste es bereits nach zwölf sein, was ihr erneut verdeutlichte, wie ausweglos ihre Situation doch war: Sie konnte weder durch den Raum zurück fliehen, wo ihr Mrs.Browsburgh im Rücken stand, und gleichzeitig konnte sie keine Verzögerung anfordern, nun, da sie bereits spät war. Einzig der Weg nach vorne und somit zum Direktor bot sich ihr an.
„Ich lasse Sie dann alleine eintreten. Es ist die Tür links. Der Direktor wird bereits wissen, dass Sie mittlerweile hier sind.“ Mit einem kurzen Nicken wandte sich die andere Frau von Kaitlin ab und verschwand hinter ihren Empfangstresen. Ja, sie durfte fliehen. Kaitlin hingegen sass hier fest.
Ein letztes Mal zwang sie sich tief durchzuatmen und öffnete nach einem schwachen Klopfen die Tür zu ihrer linken. Oder hätte Kaitlin besser warten sollen, bis sie zum Eintreten aufgefordert worden war? Sie wusste, dass diese Überlegung reichlich spät kam. So wagte sie sich über die Türschwelle und starrte geradewegs in das Gesicht des Direktors, das sie durchdringend musterte. Das Oberhaupt der Schule befand sich auf einem Chefsessel hinter einem hohen, schweren Eichholztisch. Dieser Raum war dunkler, die Wände in einem sanften Hellbraun gestrichen, die Rollladen der zwei niedrigen Fenster offenbarten nur noch in schmalen Schlitzen das Tageslicht. Hinter dem Pult türmten sich zwei vollgeladene Regale; Akten drückten die einzelnen Holzbretter verdächtig nach unten. Irgendwo, so spürte Kaitlin instinktiv, würde sich auch ihre eigene Akte befinden. Gehörte sie wohl zu den Schülern mit einer dicken, schweren oder mit einer dünnen, leeren Akte? Dick, flüsterte ihre innere Stimme augenblicklich. Denn war es nicht so, dass sich Akten dem Körperbild eines jeden Schülers liebend gern anpassten?
„Schliess doch bitte die Tür hinter dir.“ Direktor Eddings Stimme verriet mit keinerlei Aufmunterung gespickte Besorgnis. Passend dazu hatte er seine Stirn in tiefe Falten gelegt. Seine Hände ruhten ebenfalls gefaltet auf der säuberlich aufgeräumten Tischplatte.
Er duzte sie, bemerkte Kaitlin heftig schluckend. Ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Schlecht, schloss sie. Er sah in ihr wahrscheinlich lediglich ein naives Kind. Gehorsam schob sie die Tür zurück in die Angeln. Ein leises Klicken ertönte und durchbrach so die sich anbahnende unangenehme Stille.
„Sie wollten mit mir sprechen?“ Kaitlin beschloss in die Offensive zu gehen. Je früher sie zum wesentlichen Punkt des Gespräches kam desto früher durfte sie gehen. Und keine zehn Pferde hätten sie hier freiwillig festgehalten.
„Setz dich doch.“
Erneut zeigte sich Kaitlin gehorsam und liess sich auf den ledernen Sessel auf der anderen Seite des Tisches nieder, der aus einer ähnlichen Modellreihe wie die Stühle im Empfangsraum stammen musste.
„Schön, dass du dich bereit erklärt hast, dich mit mir zu treffen. Du wirst wahrscheinlich bereits ahnen, über was ich mit dir sprechen möchte.“
Kaitlin stutzte. Sie hatte gehofft, dass er sie nicht wegen ihrer sozialen Desintegration hierhin gezwungen hatte. Doch der Blick des Mannes zeigte ihr deutlich, dass sich ihre schlimmsten Verdächtigungen bewahrheitet hatten. „Ich habe keine schlechten Noten. Gut, ich gehöre nicht zum oberen Durchschnitt, aber zumindest schaffe ich ohne grössere Probleme das Halbjahr.“ Verärgert nahm Kaitlin wahr, dass ihre Stimme sich zu einem Piepsen gewandelt hatte.
„Da hast du wohl Recht.“ Ihr Direktor nickte zögerlich. „Allerdings sind es auch nicht in erster Linie deine Noten, die mir Sorgen bereiten.“
Sorgen? Mit aller Kraft kämpfte Kaitlin gegen das anschwellende Gefühl der Unsicherheit in ihrem Körper. Wenn schon dem Direktor auffiel, dass sie nicht sonderlich beliebt war… Ihr sowieso bereits karges Selbstbewusstsein war beim berühmt-berüchtigten Nullpunkt angelangt.
„Mir ist zu Ohren gekommen, dass du dich in manchen Bereichen schwer tust.“
In manchen Bereichen? Kaitlin schluckte ungläubig. Sie fühlte sich mächtig in einem der üblen Sorte der Alpträume gefangen. Sie wollte nicht, dass ihr Direktor schlecht über sie urteilte. Sie wollte nicht erneut hören, dass ihre einzigen wirklichen Bezugspersonen ihre Schokonüsse waren…
„Geht es dir eigentlich gut hier, an unserer Schule?“ Der Blick des Direktors war erfüllt von Mitleid. Kaitlin hasste Mitleid.
Sicher ging es ihr gut. Warum sollte es ihr auch nicht gut gehen? Sie hatte alles, was sie zum Leben brauchte: Ein Bett, Nahrung und Schokonüsse. „Ja, mir geht es gut. Irgendwie.“ Warum hatte sie dann diese Erwiderung bloss mit schwacher Stimme geflüstert? Kaitlins Kampf, ihre Fassung zu bewahren, verschärfte sich, wie sie instinktiv spürte. Sie fühlte ihren Körper mit Wut und Trauer ringen.
Seelenruhig sprach Mr.Eddings weiter, sein Blick weiterhin niederschmetternd. „Du musst wissen, dass es mir wichtig ist, den Schülern am Edward Steppfield Internat ein gesundes Wohlbefinden zu gewähren.“
Ein gesundes Wohlbefinden? Innerlich lachte Kaitlin verzweifelt. Hier war sie endlich - die Erklärung, warum alle anderen Mädchen vollkommen abgemagert waren. Es handelte sich hierbei also um ein gesundes Wohlbefinden! Ein spöttisches Lachen hatte unbewusst ihre Lippen gekräuselt.
„Ich habe mir gedacht, dass es dir vielleicht gut tun würde, in eine der schulinternen Schülerschaftsgruppen einzutreten.“, erklärte Mr.Eddings weiter.
„Um ein gesundes Wohlbefinden zu erlangen?“ Schwach war auch ihr Spott in dieser Frage durchgeschienen, wie Kaitlin sofort bewusst wurde. Verlegen kratzte sie sich am Kinn. Auch ihr Direktor hatte indirekt soeben zugegeben, dass sie zu dick war. Eigentlich hätte dies Kaitlin nicht überraschen dürfen, aber tatsächlich tat es das.
„Es wäre auf alle Fälle nicht schlecht, ja. Damit es dir leichter fällt, anderen Menschen offener gegenüber zu treten.“ Ihr Direktor hatte beschwichtigend die Arme gehoben. „Aber wie ich sehe, bist du von dieser Idee nicht sonderlich begeistert. Dürfte ich vielleicht den Grund dafür wissen?“
„Lieber nicht.“ Wenn ihr Direktor schon so freundlich war, Kaitlin zu fragen, ob sie ihm ihre Überlegungen mitteilen wollte, dankte sie ihm liebend gerne mit einem Nein für diese freundliche Geste.
„Ich fasse also zusammen, dass du hier glücklich bist, ohne dich sozial besser zu integrieren. Du willst mir also wirklich sagen, dass ich damit richtig liege?“ Mr.Eddings schüttelte offensichtlich ungläubig den Kopf.
Kaitlin zögerte nicht mit einer Antwort – endlich sah sie eine Chance, dieses Gespräch zu beenden. „Wenn sie es so ausdrücken wollen – ja. Ausserdem bin ich nicht dazu verpflichtet, irgendwelchen Sekten beizutreten.“
„Ich spreche von Schülerschaftsgruppen, nicht von Sekten.“ Der Mann ihr gegenüber seufzte. Sein Blick hatte sich verschärft und gleichzeitig wirkte er in dem fahlen Licht plötzlich um Jahre gealtert. Kaitlin spürte, dass sie einem Triumph nahe war; bald würde sie von hier verschwinden können, ohne sich auf irgendwelche Dinge eingelassen zu haben, denen sie sich freiwillig nie zuwenden würde.
„Wie ich sehe, scheinst du dir laut deinen eigenen Ansichten sicher, jegliche Aspekte dieses Themas beleuchtet zu haben. Es bleibt also bei einem Nein?“ Für einen Augenblick meinte Kaitlin, Hoffnung in den Augen ihres Direktors gelesen zu haben. Beschämt senkte sie ihren eigenen Blick – sie wollte ihm ihre Empfindungen nicht auf dem Servierteller darbieten.
„Es bleibt bei einem Nein“, antwortete Kaitlin wie in Trance. Raus, ich will hier raus, schrie jeder Nerv ihres Körpers. Sie fühlte sich angespannt und zugleich merkwürdig schlapp, als wäre sie eben einen Marathon gerannt – in ihrer konditionellen Verfassung keine gute Idee.
„Dann tut es mir Leid, dass ich dich aufgehalten habe. Vielleicht könnten wir nach Weihnachten noch einmal miteinander sprechen? Während dieser Spanne bleibt dir sicher genügend Zeit, noch einmal gründlich über meinen Vorschlag nachzudenken.“ So leicht schien sich ihr Direktor nicht abwimmeln zu lassen. Doch was waren schon zwei Wochen? Kaitlin war sich sicher, dass sie ihr Leben nicht in vierzehn Tagen einfach so umkrempeln würde.
„Von mir aus“, grummelte sie so leise. Sie brauchte Schokonüsse, wie ihr sofort bewusst wurde, als sich Mr.Eddings schwerfällig erhob und ihr die Hand reichte. Kaitlin liess sich Zeit, auf die Beine zu kommen und erwiderte nur zögerlich den Händedruck ihres Direktors.
„Am besten sprichst du gleich noch mit Alana. Sie wird dir einen geeigneten Termin geben können.“ Mr.Eddings zeigte den Anflug eines Lächelns. „Wer weiss. Es würde mich freuen, dich in guten Händen zu wissen.“
„Dankeschön.“ Kaitlin wusste nicht, inwiefern dieses Dankeschön geeignet war, doch zu mehr Worten war sie nicht fähig gewesen. Was hätte sie ihm auch sagen sollen? Und mit einem schwachen Kopfnicken wandte sie sich ab und stürmte zur Tür. Endlich – endlich war sie von diesem Gespräch befreit. Sekten, dachte sie zugleich spöttisch. Kaitlin sah wirklich keinen Grund, warum sie einer hätte beitreten sollen.
„Wie schaffe ich es bloss immer, mich hierhin zu verirren?“ Nicki hatte ihre Gedanken nur halblaut ausgesprochen. Ihre Antwort behielt sie ganz für sich: Weil er es immer schaffte, vom Erdboden zu verschwinden, kaum, dass er sich Nicki wieder einmal kurz gezeigt hatte. Joonas. Und jetzt stand sie hier, als hätte sie nichts Besseres zu tun als verloren in die Weite zu starren. Nicki hasste Bibliotheken. Und auch die Tatsache, dass sie nun mehrmals wöchentlich hier hinein schlich, änderte nichts daran. Sie hasste Bibliotheken noch immer. Punkt. Aus.
Wie immer bedachte sie die Bibliothekarin mit einem kritischen Blick. Die scharfen Augen hinter der Brille musterten sie mit unverhohlener Neugier. Nicki konnte es ihr nicht übel nehmen – immerhin hatte sie bei ihren Besuchen in der Bibliothek noch nie freiwillig ein Buch in die Hand genommen, sah man einmal von der Ausnahme mit dem versteckten Zettelchen ab.
Wie Nicki zugeben musste, fühlte sie sich ziemlich kindisch. Oder wie drückten es normale, erwachsene Menschen aus, wenn sie verzweifelte Jugendliche sahen, die regelmässig vergeblich nach einem Jungen suchten? Eigentlich hätte Nicki ja einen Vorteil daraus ziehen können, dachte sie nun mit einem spöttischen Lächeln. Wenn sie bei ihren Besuchen hier nur tatsächlich einmal etwas für ihre Bildung getan hätte, wäre sie jetzt ziemlich viel weiter als zuvor. Doch so war sie ahnungslos, litt unter Musikmangel – da dieser Genuss hier verboten war – und fühlte sich mit jedem Tag nur noch näher an die Grenze des Wahnsinns verfrachtet. Aber irgendwie hielt dies alles Nicki nicht davon ab, hier zu erscheinen.
„Kleine, kann ich dir vielleicht helfen?“
Nicki zuckte erschrocken zusammen. Hatte dieses scharfäugige Geschöpf – die Bibliothekarin – tatsächlich soeben mit ihr gesprochen? Ja, das hatte sie, flüsterte ihre innere Stimme ebenso überrascht. Und sie – Nicole Meyer – hätte diese Premiere sogar fast verpasst.
Nicki beschloss, dass eine Antwort in der Richtung „ich suche Joonas“ etwas unbeholfen klang. Gerade noch rechtzeitig, denn ihr Mund hatte bereits zu einer Antwort angesetzt. So jedoch grunzte sie lediglich. Ebenfalls eine Premiere, dachte Nicki triumphierend; erstmals hatte sie ihr Mundwerk halbwegs unter Kontrolle gehabt – einmal abgesehen von der Tatsache, dass die Bibliothekarin sie nun endgültig für absolut dämlich halten musste. „Ich… ich suche nach…“ Nicki hielt stotternd inne. Ja, was suchte sie denn eigentlich? Was würde die Bibliothekarin als relativ plausible Erklärung hinnehmen in Anbetracht Nickis ungewöhnlicher Kleidung und ihrer offensichtlich ausgesprochen geringen Leselust? „… Johann. Goethe.“ Nicki schwitzte. Das Gespräch mit der Bücherfrau hatte sie sich anders vorgestellt. Dass sie, Nicki, vollkommen gelassen und ungemein selbstbewusst auftreten würde, vielleicht. Dass sie dieser Frau endlich einmal Gründe liefern könnte, dass ihr kritischer Blick bei Nicki falsch platziert war. Auf alle Fälle hatte sie nie vorgehabt, stotternd und schwitzend vor ihr zu stehen und ihr nur noch mehr Anlass zu geben, sie nun auch noch mitleidig zu mustern.
„Deutsche Lyrik, Regal 3.“ Die Stimme der Bibliothekarin war im Gegensatz zu ihren scharfäugigen Augen ungemein lahm und monoton. Ausserdem kratzte sie in Nickis Ohren.
„Ach wirklich?“ Nicki tat überrascht.
„Wirklich.“ Erneut traf Nicki ein kritischer Blick von Seiten der anderen Frau. Diese hatte ihre Brille zurecht gerückt, um Nicki besser in Augenschein nehmen zu können.
„Das hätte ich nicht gedacht.“, erwiderte Nicki unsicher grinsend. Warum musste diese Frau auch bloss so schrullig wirken? Und warum hatte sie sich ausgerechnet diesen Tag ausgesucht, um Nicki mit ihrer kratzigen Stimme zu quälen?
„Ich auch nicht, das kannst du mir glauben.“ Die Stimme der Frau war freundlich geblieben, doch ihr Blick war weiterhin kritisch über Nickis Gestalt geglitten. „Wenn du mich fragst – du willst eher zu Barock. Reihe 12, ja, das wäre ideal für dich.“
Erstaunt legte Nicki den Kopf schief. War das hier soeben eine Fangfrage und sie verstand den Kontext nicht? „Ich glaube nicht, dass…“
„Nun geh schon!“ Die Freundlichkeit in der Stimme der Bibliothekarin war gewichen. Stattdessen klang nun Bestimmtheit darin mit. „Husch, husch.“
„Ich bin doch kein Fuchs…“ – so leicht wollte Nicki nicht klein beigeben. Viel zu sehr sass das Bild ihres ersten Gespräches mit der Bücherfrau in ihrem Kopf – das Gespräch, das eigentlich aus dem Gestotterte hätte werden sollen. Sie, Nicki, ungemein gelassen und selbstbewusst, die Bibliothekarin ob ihres Auftretens erstaunt… Doch ihr Gegenüber liess ihr keine Zeit, diese Gedanken zu beenden. Stattdessen:
„Auch wenn du kein Fuchs bist - Deine Rute oder beziehungsweise deine Route schlägt eindeutig in die Richtung des Barock. Und jetzt geh schon oder ich will dich hier nicht mehr sehen. Glaub mir, du wirst mir noch lange dankbar dafür sein.“, zischte die Bibliothekarin, behielt gleichzeitig jedoch ihren kritischen Blick bei. Nicki hätte wetten können, dass sie diesen Blick tagelang vor dem Spiegel geübt hatte, ehe sie ihn auf diese Weise beherrscht hatte.
Dieser Fakt kombiniert mit der Tatsache, dass Nicki nichts von dem verstanden, was ihr die Bücherfrau soeben zu erklären versucht hatte, liessen sie gehorsam nicken. Dann ging sie halt zum Barock – eigentlich machte das ja keinen Unterschied. Immerhin hatte sie so zumindest eine Richtung, die sie einschlagen konnte. Eine Richtung…, wiederholte Nicki in Gedanken. „Wo ist ‚Reihe 12‘?“, nuschelte Nicki schliesslich verlegen.
„Geradeaus, drittes Regal rechts.“ Die Bibliothekarin nickte zufrieden, ihres Triumphes offensichtlich bewusst.
Grummelnd setzte sich Nicki in Bewegung. Die ersten drei Schritte nahm sie behände (jeder Fuchs wäre mächtig stolz auf sie gewesen) – doch ein Blick zurück auf die Bücherfrau liess sie inne halten und normalen Ganges weiterlaufen. Wie es aussah, hielt die Bibliothekfrau nicht sonderlich viel von Nickis Humor. Oder sie war nicht sonderlich in Füchse vernarrt. Was auch immer es war – Nicki wagte es nicht zu fragen. Einzig war ihr bewusst, dass dieses Gespräch so ziemlich die übelste Wendung gegangen war, die es hätte nehmen können.
Es dauerte nicht lange, und da hatte Nicki bereits die Zahl „12“ erspäht. Tatsächlich hatte sich die Bibliothekarin mit ihr keine Scherze erlaubt. Da stand klar und deutlich auf einem Schild an der Frontseite des Regals: „Regal 12, Barock“. Und nicht nur das – wie Nicki mit einem überraschten Keuchen klar wurde, hatte die Bücherfrau in noch so manchen anderen Dingen ebenfalls Recht behalten. Weg mit Goethe, sie wollte Barock! Denn da kauerte er vor ihr auf dem Boden, offenbar tief in ein Buch irgendeines Barockaners vertieft (Nicki nahm einfach mal an, dass man diese Leute so nannte. Irgendwie mussten diese Leute ja heissen): Joonas.
Ihr Keuchen schien ihm nicht aufgefallen zu sein – sein Blick ruhte noch immer auf dem Buch, das er in den Händen hielt. Verschlissen und alt wirkte es, so, wie Nickis Schulbücher bereits seit ihrem ersten Jahr hier aussahen, nachdem sie sie selbst an die bücherfeindlichsten Orte mitgeschleppt hatte, ohne jedoch auch nur einmal freiwillig einen Blick hinein geworfen zu haben.
„Hallo.“ Joonas reagierte nicht. Noch immer galt seine ungeteilte Aufmerksamkeit dem alten Ding in seinen Händen.
Büchersucht, schoss es Nicki durch den Kopf. Lächelnd trat sie ein paar Schritte auf Joonas zu. Zumindest erhielt sie so einmal die Möglichkeit, ihn genauer zu mustern, ohne dafür einen schrägen Blick zu ernten. Während sie sich mit dem Rücken am Regal abstützte, schickte sie ein kurzes Dankeschön an die Bücherfrau – sie schien tatsächlich gut ausgebildet worden zu sein. Wie hätte sie sonst ihren Kunden jegliche Wünsche von den Lippen lesen können? Nicki ahnte, dass es bei ihr weniger die Lippen als der verklärte Blick gewesen war, der die Frau stutzig gemacht hatte. Doch sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken – sie hatte sich an diesem Tag bereits zur Genüge blamiert.
Nun, da Nicki bequem stand, gehörte Nickis Aufmerksamkeit ganz der Situation, die sich ihr darlegte. Fast fühlte sie sich wie im Kino; der Protagonist am Boden kauernd, und sie, die Zuschauerin, wartete auf eine actiongeladene Szene. Doch irgendwie wollte diese nicht so recht kommen – unvermindert interessiert galt Joonas Blick dem vergilbten Ledereinband. Aber – wie Nicki schwach lächelnd zugeben musste – sie hätte an den Film trotzdem fünf Sterne vergeben. Alleine der Schauspieler verdiente Lorbeeren. Wie Nicki in aller Ruhe feststellen konnte, sah Joonas aussergewöhnlich gut aus. Das Haar - kurz und weissblond – liess seine klarblauen Augen noch stärker aufblitzen. Nicht so wie es bei Nickis Augen der Fall war – obwohl ihre auch eisblau waren, wirkten sie neben dem rotbraunen Haar vollkommen fehlplatziert.
Zudem wies Joonas Nase eine leichte Krümmung aus, die sein Gesicht insgesamt kantiger, männlicher und – wie Nicki verlegen zugeben musste – attraktiver erscheinen liess. Sein Mund war schmal, verriet seine ernste Seite, die Nicki nervte und zugleich als anziehend empfand. Heftig klopfenden Herzens schüttelte sie den Kopf – es konnte doch nicht sein, dass sie Gefühle für einen Jungen entwickelte, bei dem sie es nicht einmal schaffte, ein einfaches „Hallo“ zu entlocken?
Nicki seufzte betrübt. Was sie hier tat, war wirklich erbärmlich. Joonas so unverhohlen zu mustern, hätten manche Menschen wahrscheinlich bereits als aufdringlich bezeichnet. So wagte sie von Neuem ein diesmal etwas vorsichtigeres „Hallo“. Joonas antwortete erneut nicht. Wie konnte ein irdisches Geschöpf bloss so fixiert auf ein paar Zeilen sein, die irgendein unwissender, längst toter Barockaner einst verfasst hatte?
„Du magst diese Barockaner, wie?“, grummelte Nicki mürrisch. Sie zuckte überrascht zusammen, als Joonas tatsächlich reagierte – amüsiert blickte er hoch. Dieser Junge hatte es wirklich mit den „Hallos“, dachte Nicki weiter, wagte es jedoch nicht, ihre Gedanken laut auszusprechen.
„Was machst denn du hier?“ Joonas schien überrascht.
Nick beschloss, ihn nicht darauf hinzuweisen, dass er wieder einmal das „Hallo“’ ausser Acht gelassen hatte. „Die Bücherfrau hat gemeint, ich würde mich wahrscheinlich für den Barock interessieren.“ In Gedanken klopfte sie sich zufrieden auf die Schulter – sie hatte ohne grosse Mühe die Wahrheit gesprochen.
Joonas antwortete ihr mit einem ungläubigen Lächeln. „Du und der Barock? Da kennt sie dich aber wirklich nicht gut.“
Nicki zog eine Schnute. „Für mich und die Barockaner stehen die Chancen nicht schlecht, dass wir eines Tages Freunde werden. Ich mag diese alten Bücher.“ Da laufe ich zumindest nicht in Gefahr, sie noch zerfallener, als sie bereits sind, zurückzugeben, sollte ich einmal eines ausleihen, dachte Nicki weiter. Was natürlich nie und nimmer geschehen würde. Oder zumindest nur dann, wenn sie einmal vorhaben würde, Joonas durch ihr Interesse für Barockaner zu imponieren. Sie grinste vorsichtig.
„Barockaner?“ Joonas schüttelte noch immer lächelnd den Kopf. Wie Nicki zufrieden feststellte, hatte er offensichtlich sein Interesse für das Buch verloren – denn nun richtete er sich auf und streckte die wahrscheinlich tauben Glieder. Erst dann sprach er weiter. „Nicki, du solltest wirklich einen eigenen Duden herausgeben.“
„Du traust mir also zu, ein Buch zu schreiben?“ Sogar Nicki selbst überraschte diese Tatsache. Unruhig trat sie von einem Bein auf das andere. Nun, da Joonas aufrecht stand, bot sich ihr auch die Möglichkeit, seinen Körper unter Augenschein zu nehmen. Nicki gefiel, was sie sah. Verlegen senkte sie den Blick.
Joonas schien ihren Blick nicht gemerkt zu haben. Stattdessen lachte schallend. „Ein Duden und kein Buch.“
Nicki hob erstaunt die Augebrauen. Joonas laut lachen zu hören, war für sie ebenfalls eine Premiere gewesen. Wie es schien, steckte dieser Tag voller Premieren.
„Also, wenn du mich fragst, ist der Duden ein Buch. Immerhin ist er viereckig und gebunden. Das reicht für mich zumindest bereits aus, um einen Sicherheitsabstand von zehn Metern zu wahren, um ihn ja nicht lesen zu müssen.“ Nicki nickte überzeugt. Sie schauderte bei dem Gedanken, dieses gelbe Ding eines Tages tatsächlich aufschlagen zu müssen. Vielleicht wären ihre Aufsätze im Französisch dann besser geworden, aber – so hatte Nicki längst beschlossen – war es keine Schulnote ihr wert, gegen ihre altbewährten Prinzipien zu verstossen.
„Normalerweise liest man einen Duden ja auch nicht.“ Joonas schien aus seinem Erstaunen nicht mehr herauszukommen. „Und wie es scheint, beträgt dein Abstand zu einem buchähnlichen Gegenstand momentan höchsten einen halben Zentimeter. Du liegst ja praktisch auf dem Regal.“ Immer noch lachte er schallend.
„Was soll ich denn machen, wenn mir eine schrullige Frau sagt, ich soll zum Barock gehen?“, gab sich Nicki trotzig.
Joonas Körper erzitterte mittlerweile vor Lachen. „Ich hätte nicht gedacht, dass du auf unsere Bibliothekarin hörst.“
Nicki legte den Kopf schief. In allen Punkten hätte sie Joonas unter normalen Umständen Recht gegeben – aber so sah sie sich gezwungen, das Gegenteil zu behaupten. Oder hätte sie ihm geradeheraus erklären sollen, dass sie in Wirklichkeit lediglich nach ihm gesucht hatte? „Sie hat diesen merkwürdigen Blick. Wenn sie dich mit dem in Beschlag nimmt, gibt es kein Entrinnen mehr.“
„Das werde ich mir merken.“ Joonas nickte lächelnd. Er schien sich wieder etwas besser unter Kontrolle zu haben. „Ich wollte gerade gehen. Ich habe bald eine Nachhilfestunde. Kommst du auch oder willst du die Zeit nutzen, um Freundschaft mit dem Barock zu schliessen?“
Nickis Entschluss war schnell gefasst. Nur hastig hatte sie einen Blick auf das Regal geworfen und war dann einen Schritt in die Halle zurück gesprungen; ihr blieb noch reichlich Zeit, um „Freundschaft mit dem Barock zu schliessen“, wie es Joonas ausgedrückt hatte. Jetzt gab es Wichtigeres zu tun. „Wie vielen Leuten gibst du eigentlich Nachhilfe?“ Vielleicht war dies mit ein Grund, dass sie ihn so wenig zu Gesicht bekam – er war einfach immer zu beschäftigt. Diese Tatsache hätte zumindest Nickis Gemüt beruhigt, das immer mehr dem Glauben verfiel, dieser Junge wäre nur zeitweise am Internat und verbrächte seine Freizeit wo auch immer.
„So vielen, dass ich viel zu selten in die Bibliothek kann.“ Joonas zuckte leicht die Achseln.
„Und so vielen, dass du mir viel zu selten über den Weg läufst“, fügte Nicki in Gedanken an. Stattdessen sagte sie: „Wirklich schade für dich.“
„Das meinst du jetzt nicht ernst, oder?“ Joonas grinste neckisch.
Nicki beschloss ihn zu ignorieren. „Aber dir bleiben ja noch die Schulferien. Dann ist die Bibliothek ja auch offen, nicht?“
Joonas nickte. „Theoretisch, ja. Aber ich werde an Weihnachten nicht hier sein, um meine verlorene Freizeit aufzuholen.“
„Traurig.“ Nicki hingegen würde hier festsitzen und trotzdem keine einzige Minute in dieser Bibliothek verbringen. Zumindest sah sie jetzt keinen Grund mehr, dies in den Ferien zu tun.
„Du solltest in deine Zukunftsträume die Schauspielerei einbinden. Vielleicht könntest du sogar in barocken Filmen mitspielen, sollten diese eines Tages wieder an Popularität gewinnen.“ Joonas grinste sie weiter neckisch an.
Nicki stöhnte theatralisch. „Bis die mein Talent zu würdigen wissen, bin ich alt und grau. Sind barocke Filme in schwarz-weiss gedreht? Wenn ja, dann würde das ja mit dem ‚grau’ ja noch passen. Aber wohin bloss mit dem ‚alt’?“
Während sie an die frische Luft stiessen, spürte Nicki, dass Joonas Blick auf ihrem Rücken lag – sie fühlte ihr Herz heftig pochen. Stirnrunzelnd drehte sie sich um und starrte zurück. Tatsächlich musterte sie Joonas lächelnd.
„Und was machst du an Weihnachten?“
Nicki zögerte. Eine völlig normale Frage – und gleichzeitig eine dieser Sorte, die sie sich normalerweise nicht von Joonas gewöhnt war. Hatte er bisher überhaupt einmal nur ansatzweise Interesse für ihr Privatleben gezeigt? Vielleicht bedeutete das ja… Nicki wagte es nicht, ihre Gedanken weiter schweifen zu lassen. „Ich bleibe wohl hier. Oder besuche meine Mutter.“ Sie hatte sich im Gegenzug für eine vollkommen normale Antwort entschieden.
„Aha.“ Joonas nickte schwach.
„Das klang jetzt ebenfalls furchtbar ehrlich.“ Nicki lachte kopfschüttelnd. Sie hielt jedoch inne, als sie sah, dass er sie noch immer interessiert musterte.
„Und vor Weihnachten – gehst du da an diesen Ball?“, fügte er an.
Nicki blieb das restliche Stück Lachen wahrhaft im Hals stecken. Er – Joonas – fragte sie, ob sie auf den Ball ging? Nicki wagte es nicht, dass jegliche Gedanken dazu ihren Verstand benebelten: Sie wollte nicht nach falschen Gründen suchen. So antwortete sie hastig: „Du meinst wohl den Weihnachtsball?“
Joonas nickte erneut. „Der Weihnachtsball. Richtig.“
Nicki liess sich dieses Mal Zeit mit einer Antwort. Schliesslich erwiderte sie vorsichtig: „Vielleicht. Wahrscheinlich schaue ich dort mal kurz vorbei. Und du?“
Joonas lächelte leicht. „Da geht es uns wohl gleich. Es könnte durchaus auch sein, dass ich dort… mal kurz vorbei schaue.“
Nicki nickte abwartend. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, doch ihr Körper war eine einzige unförmige Masse. Immer wieder fragte ihr Verstand: Konnte dies wirklich alles der Realität entsprechen? Sie sprach ihre Frage nicht aus. Stattdessen erwiderte sie Joonas Schweigen.
Es war er, der die Stille durchbrach. „Wenn wir beide dem Schulball wahrscheinlich kurz einmal einen Besuch abstatten…“ Er zögerte. „Vielleicht sehen wir uns ja dann dort zufälligerweise?“
Nicki konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wenn es der Zufall so will. Vielleicht.“ Schliesslich rang sie sich dazu durch, anzufügen: „Wahrscheinlich.“ Sie räusperte sich kurz. Ihre Stimme war leise geworden. „Ich hätte nichts dagegen.“
„Ein zufälliges Treffen also.“ Joonas lächelte ebenfalls. „So gegen neun Uhr? Das ist doch dieser fixe Zeitpunkt für zufällige Treffen, nicht?“
Nervös fuhren Nickis Füsse über den Kies. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sprach Joonas da soeben tatsächlich von einer zufälligen Verabredung? Betonung auf Verabredung, fügte ihre innere Stimme neckisch an. „Neun Uhr. Klingt ideal… für ein zufälliges Treffen.“
„Gut.“ Joonas war wieder ernster geworden. „Mein Nachhilfeschüler wartet.“
„Richtig.“ Mehr vermochte Nicki nicht zu sagen. Stumm folgte sie Joonas zum Schlaftrakt der Oberstufe. Sie spürte ihr Herz bei jedem Schritt, den sie gemeinsam gingen, heftig pochen.
(14) - Wie die Zeit vergeht -
Schwarz oder grau? Eng anliegend oder kurz geschnitten? Kaschmir oder qualitativ hochwertige, aber abgetragene Wolle? Lauren seufzte. Wo war Juliane bloss, nun, da sie sie einmal brauchte? Ihre Zimmernachbarin hatte sich bereits seit geraumer Zeit verflüchtigt. Samt Büchern musste sie in Richtung Bibliothek verschwunden sein – um 9 Uhr morgens an einem Samstag. Dass sie damit auch Lauren verfrüht geweckt hatte, hatte sie offensichtlich in keiner Weise gekümmert. Und dass sich Lauren jetzt alleine mit dem Problem plagen musste, welcher Pullover eher zu ihrer grauen Jeans passte, war ihr höchstwahrscheinlich ebenso egal gewesen.
Nicht, dass Lauren sich normalerweise grossartig darum kümmerte, was sie trug. Ausserdem machte sie sich eigentlich sowieso nicht viel aus Julianes Meinung – aber da all ihre Kleider in der Wäsche waren, weil sie wieder einmal viel zu spät bemerkt hatte, dass ihr die Hosen ausgingen, und so die Auswahl an Pullovern nur arg begrenzt war, hätte sie nun gerne eine zweite Meinung gehört, auf die sie hätte bauen können. Lauren hatte eigentlich nicht das Bedürfnis, in Kleidern aus dem letzten Jahrhundert aus dem Zimmer zu gehen, aber nun, da ihr kein anderer Ausweg blieb, war Entscheidungsfreudigkeit gefragt. Schwarz oder grau? Erneut seufzte Lauren.
Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass Dominic in wenigen Minuten hier erscheinen würde. Keinesfalls wollte sie sich ihm von der Seite „modebewusste, zickige Schwester“ zeigen. Aber wie Lauren nun immer deutlicher bewusst wurde, wäre hier brüderlicher Rat dringendst gefragt: Ein männliches Wesen konnte immer noch am besten beurteilen, welcher Pullover weniger aufreizend war. Nur mühsam unterdrückte Lauren ein Seufzen. Gleichzeitig vernahm sie ein Poltern an der Tür. Dominic. Erstaunt riss Lauren die Brauen hoch – drei Minuten zu früh. Seit wann war ihr Bruder unter die pünktlichen Menschen gegangen? Überpünktlich, berichtigte sie sich selbst sogleich.
Schnell wickelte sich Lauren in ihre Decke – ein wenig Schamgefühl kannte sie sogar ihrem Brüder gegenüber, zumindest so viel, dass sie sich ihm gegenüber nicht nur im BH bekleidet zeigen würde – und stolperte zur Tür; Bettdecken stellten eine recht risikoreiche Kleidung dar, wie Lauren nun am eigenen Leib hatte erfahren müssen.
„Schnell“, zischte sie, als sie die Tür nur einen Spalt breit aufriss, darauf bedacht, sich keinem Schüler auf dem Flur in diesem Kostüm zu zeigen.
Dass ihr Bruder sich Lauren gegenüber nicht einfach so gehorsam benahm, hätte sie eigentlich bereits zuvor ahnen sollen. Doch tatsächlich überraschte es sie, als er lässigen Schrittes eintrat – dabei die Tür ganz aufreissend – und sie erst nervenaufreibend langsam hinter sich schloss. „Was ist denn los?“ Ein spitzbübisches Grinsen hatte sich um seine Lippen gelegt, als er sich unaufgefordert auf Laurens Bett setzt. „Irgendetwas fehlt hier“, murmelte er gespielt erstaunt. „Sag mal, Schwesterherz, wo ist denn deine Bettdecke hin verschwunden?“
„Idiot!“, fauchte Lauren aufgebracht. Wie hatte sie nur denken können, ihr Bruder würde ihr mit Rat und Tat bezüglich ihrer Kleiderwahl zur Seite stehen?
„Ach, da ist sie ja!“ Amüsiert musterte Dominic Lauren. „Sogar in diesem merkwürdigen Sack bist du nicht zu verachten.“
„Klappe!“ Missmutig war Lauren an ihrem Bruder vorbeigestürmt und riss nun ihre Pullover von ihrem Bett empor – rein zufälligerweise natürlich hatte Dominic es sich wie selbstverständlich auf ihnen gemütlich gemacht. Wie Lauren genervt feststellen musste, waren sie zu allem Übel nun auch noch zerknittert.
„Was ist hier eigentlich los?“ Dominic legte den Kopf schief, sein Blick immer noch auf Lauren, die sich die Decke murrend enger um ihren Körper zog.
„Waschtag.“
Ihr Bruder nickte verständnisvoll – so zumindest wirkte es auf Lauren. Wie schaffte er es nur, so schnell seine Masken zu wechseln? Abgesehen davon, dass er sein Selbstbewusstsein nicht zu verstecken mochte, war er auch noch ein ausgezeichneter Grimassenzieher.
„Und du brauchst jetzt meinen Rat, welchen der zwei Knäuel du dir eher umlegen kannst…“
Lauren liess Dominic nicht aussprechen. Stattdessen ergänzte sie: „…damit mir die Leute nicht hinterher starren.“
„Du meinst wohl eher die lüsternen Unterstufenschüler unseres Internats?“ Dominic grinste neckisch.
Verärgert zog Lauren ihre beiden Pullover zu Recht. „Du willst mir jetzt also tatsächlich einbläuen, dass du besser bist als diese lüsternen Jungen?“ Ungläubig schüttelte Lauren den Kopf. Ein spöttisches Lächeln konnte sie nicht unterdrücken.
Dominic betrachtete sie mit schief gelegtem Kopf. „Ich bin auf dem Weg der Besserung. Nimm den grauen!“
„Aber der reicht mir gerade mal bis zum Nabel“, protestierte Lauren.
Dominic zuckte die Achseln. „Glaub mir, es fällt mehr auf, wenn du Pullover trägst, die jede deiner Kurven betonen. Oder sagen wir besser: Zwei deiner Kurven.“
Lauren stöhnte. Sie bedachte ihren Bruder eines giftigen Blickes, ehe sie sich aus der Decke rollte und diese ihm geradewegs entgegen warf. Während er sich daraus freikämpfte, war sie schnell in den grauen Pullover geschlüpft – und musste entsetzt feststellen, dass er noch kürzer war, als sie ihn in Erinnerung hatte. Lauren ahnte, dass es damit zusammenhing, dass diese Erinnerung fünf Jahre zurückreichte. Fünf Jahre, in denen sie so manche körperliche Entwicklung über sich hatte ergehen lassen müssen. „Was verstehst du darunter, ‚auf dem Weg der Besserung zu sein’?“, keuchte sie schliesslich, als sie sich an das ungewohnte Körpergefühl einigermassen gewöhnt hatte.
Dominics Haar sass noch immer so perfekt wie vor der Bettdeckenattacke, als er schliesslich den Blick hob. Sein Grinsen war verschwunden, seine Augen strahlten mehr Ernst aus. „Du würdest es mir wahrscheinlich sowieso nicht glauben, wenn ich dir sagen würde, dass ich mich bemühe, mich zu verändern. Richtig?“
Lauren verschränkte die Arme. „Ich weiss nicht.“
Dominic nickte schwach. „Siehst du. Dann ist es besser, wenn du es so hinnimmst, wie ich es bereits erklärt habe. Ich gebe mir Mühe ein… weniger lüsterner Junge zu sein.“ Er grinste verschmitzt.
Dominics Lächeln liess keinen Platz für sarkastische Kommentare, wurde Lauren stirnrunzelnd bewusst. Vorsichtig sagte sie: „Das klingt nicht schlecht.“
„Das hoffe ich doch. Gehen wir?“ Mit einer einfachen Bewegung hatte er sich erhoben und hatte bereits die Hand um den Türgriff gelegt, als er noch einmal inne hielt.
„Du warst es, der an das Freundschaftsspiel unseres Baseball-Teams wollte“, erinnerte ihn Lauren, als er noch immer keine Anstalten machte, sich zu bewegen. „Wenn du also zu spät kommen willst…“
Dominic hatte sich erneut seiner Schwester zugewandt. Mit unruhiger Hand fuhr er sich durch das Haar. „Juliane ist in der Bibliothek, nicht?“
„Wahrscheinlich.“ Lauren nickte, erstaunt über den plötzlichen Themawechsel. „Zumindest hat sie mich in aller Herrgottsfrühe geweckt.“ Dies klang weniger anklagend, als sie es vorgehabt hatte auszudrücken, stellte Lauren missmutig fest.
Um Dominics Lippen hatte sich ein vorsichtiges Lächeln gelegt. Konnte es sein, dass sein Blick leicht verklärt wirkte? Ungläubig begann Lauren, mit ihrem Haar zu spielen.
„Mit wem gehst du eigentlich zum Weihnachtsball?“ Dominic hatte zögernd den Blick gehoben, musterte seine Schwester nun aber unverblümt, offensichtlich ehrlich interessiert.
Lauren liess sich Zeit mit einer Antwort. Ihr war bewusst, dass die Schule von ihr richtiggehend erwartete, dass sie auf den Ball ging. Dass sie selbst vielleicht gar nicht wollte, liessen sie ausser acht. Ignoranten, dachte Lauren genervt. „So, wie es aussieht, werde ich wohl das Angebot irgendeines Trottels annehmen.“, gab sie schliesslich zu.
„Collin wäre noch frei“, erklärte Dominic achselzuckend.
Dass Collin als einer von Dominics besten Freunden ebenfalls recht lüstern war, schien ihr Bruder dabei grosszügig ausser Acht zu lassen. Lauren lächelte zaghaft. „Vielleicht wäre das keine schlechte Idee.“
Dominic nickte schwach. „Ich red mal mit ihm.“ Und mit einem neckisches Grinsen fügte er an: „Er wird sicher nichts dagegen haben.“
Lauren erwiderte das Kopfnicken. Doch ehe ihr Bruder erneut dazu ansetzen konnte, die Tür zu öffnen, unterbrach ihn Lauren: „Mit wem gehst du eigentlich?“ Tatsächlich war sie neugierig auf seine Antwort, stellte Lauren fest.
Augenblicklich war der Ernst in Dominics Augen zurückgekehrt. Lauren neigte verwirrt den Kopf. „Du willst mir doch nicht sagen, dass du noch keine Verabredung hast?“
„Ich habe eine Verabredung“, gab Dominic zögernd zu. „Darüber hätte ich wahrscheinlich schon früher mit dir sprechen sollen.“
Laurens Lächeln war erstickt. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie ihren Bruder. Sie ahnte, dass er ihr gleich etwas mitteilte, was ihre gesamte Weltanschauung auf den Kopf stellen würde. Und sie mochte ihre Weltanschauung eigentlich so, wie sie war.
„Ich gehe mit Juliane.“ Mehr sagte Dominic nicht. Doch dies reichte aus, um Lauren heftig zusammenzucken zu lassen.
„Darüber macht man keine Scherze“, murmelte sie schliesslich kopfschüttelnd.
Dominic wartete nicht mit einer Antwort. „Es ist mein Ernst. Das mit mir und Juliane ist mein voller Ernst.“
Lauren war sprachlos. Sie spürte, dass ihre Kehle ausgetrocknet war. Schwach räusperte sich. „Es ist dir Ernst?“, krächzte sie nach einer Weile. Die Mimik ihres Bruders verriet puren Ernst, dachte Lauren zugleich schaudernd. Aber es konnte doch unmöglich sein, dass ihr Bruder… dass ihr Bruder Gefühle für Laurens Zimmernachbarin hegte? Die beiden waren doch wie Wasser und Feuer – Juliane das Wasser, die stärkste Naturgewalt, die einfach allwissend war. An manchen Tagen ein ruhiges Wässerchen, an manchen eine Sturmflut - je nach Laune beziehungsweise Gezeit. Dominic hingegen war das Feuer, die unbegrenzte Leidenschaft. Konnte es wirklich sein, dass…?
„Das ist es mir, ja.“ Dominic nickte überzeugt. Überhaupt zeigte er keine Anzeichen von Unsicherheit. Er schien sich seiner Gefühle vollkommen bewusst.
„Wenn das so ist…“ Weiter konnte Lauren nicht sprechen – ihre Stimme brach. Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Juliane und ihr Bruder, lautete also das Pärchen, das irgendwie jeder Regel der Logik getrotzt hatte. Empfand Lauren das nun als gut oder schlecht? Sie war sich nicht sicher. Hatte sie sich nicht immer eine treue Freundin für ihren Bruder gewünscht? Nie hätte sie gedacht, dass es sich dabei um Juliane handeln würde, als sie sie als Nachhilfelehrerin für ihn engagiert hatte.
„Deshalb also auch die Sache mit Dana?“ Stirnrunzelnd erinnerte sich Lauren an den Tag, als ihr Bruder ihr gesagt hatte, er wäre verliebt und mit komischen Vergleichen zu seiner alten Freundin aufgewartet hatte. Das war bereits einen Monat her… Lauren schauderte es. Sie war wirklich gänzlich ignorant gegenüber dessen gewesen, was sich da vor ihren eigenen Augen angebahnt und abgespielt hatte.
„Dana war wohl ein schlechter Vergleich.“ Dominic lächelte schwach.
Lauren nickte heftig. Sie würde es ihrem Bruder nie verzeihen, würde er mit Juliane dasselbe Spielchen durchkauen und sie am laufenden Band betrügen. Im Gegensatz zu Dana war sie nicht jemand, der dies auch noch begrüsste. So zumindest hatte Lauren Juliane bisher kennengelernt.
„Lass es langsam angehen“, bat Lauren deshalb. Sie wusste nicht, warum sie solch grosse Sympathie für ihre Zimmernachbarin empfand. Vielleicht, weil sie im vergangenen Semester – unfreiwillig natürlich - so viel Zeit mit ihr verbracht hatte? Lauren seufzte leise. Ihre Stimme hatte sich wieder einigermassen beruhigt.
„Das mach ich.“ Und mit einem letzten vorsichtigen Lächeln drückte Dominic die Klinke hinunter und verschwand in der Schülermasse, die ebenfalls zu Baseballfeld drängte.
Verwirrt betrachtete Lauren ihren Pullover. Sie sah schrecklich aus, doch plötzlich fühlte sich dies nicht mehr wichtig an. Viel zu sehr drängten sich verschiedene Empfindungen in ihren Verstand; Ärger über ihre Naivität, Ungläubigkeit über ihren plötzlich beziehungswilligen Bruder, Frustration über ihr eigenes Schicksal. Mit einem letzten Blick zurück eilte auch Lauren aus dem Zimmer. Wenn Juliane sie nicht in aller Herrgottsfrühe geweckt hätte – vielleicht hätte sie sich dann an diesem Samstag besser gefühlt.
Nur noch sieben Tage, dann wäre Weihnachten. Nur noch neun Tage, und dann war der ganze Spuk für ein ganzes Jahr wieder vorbei. Oder zumindest für zehn Monate – dann würden die Supermärkte wieder verrückt spielen und versuchen, selbst den Kindern allen möglichen Weihnachtskram unterzujubeln. Hailey fuhr sich mit zittrigen Fingern durchs Haar. Eigentlich hätte sie sich glücklich fühlen sollen – immerhin hatte sie einen weiteren sich schier endlos dahin ziehenden Schultag mehr oder minder erfolgreich gemeistert. Stattdessen spürte sie lediglich ein schwaches Ziehen in ihrem Magen, das ihr verriet, dass es ihr nicht sonderlich gut ging. Bis zu diesem Tag hatte sie gedacht, Weihnachten – das Fest der Liebe – mit ihrer Familie verbringen zu können. Dass ihre Eltern kurzfristig neue wichtige Funde in Kenia gemacht hatten und ihnen so zugleich eine Heimreise verunmöglicht wurde – das hätte Hailey bisher nicht für möglich gehalten. Nun, da es Realität war, wollte sie diesen Feiertag möglichst schnell hinter sich bringen.
Ihre innere Stimme murmelte ihr beschwichtigend zu, dass es sich dabei vielleicht um einen Wink des Schicksals handeln könnte. Zwar kam er unerwartet, was aber nicht gleich mit Wut gehandhabt werden sollte. Solch ein Wink brachte immer etwas Gutes mit sich.
Hailey seufzte erneut. Sie beschloss sich in solchen Dingen nicht auf ihre innere Stimme zu verlassen. Für sie glich dieser Wink vielmehr einer saftigen Ohrfeige als einer sanften Streicheleinheit.
Fröstelnd zog sie ihren Mantel enger um sich. Nicht mehr weit, dann hatte sie den Schlaftrakt erreicht. Vielleicht sollte sie mit Nicki sprechen? Sie schaffte es irgendwie immer, ihr ein Lächeln zu entlocken. Unschlüssig hielt Hailey in ihrer Bewegung inne. Oder sollte sie vielleicht doch lieber draussen bleiben und die frische Luft ihren Verstand klären lassen?
Eine Stimme durchbrach Hailey wenig entscheidungsfreudigen Gedanken.
„Hailey?“
Unweigerlich zuckte sie zusammen. Wollte ihr dieser Tag zusätzlich zu den sowieso bereits schlechten Neuigkeiten auch noch Halluzinationen bescheren? Vorsichtig drehte sich Hailey um – und zuckte erneut zusammen. Soweit sie ihre Augen nicht auch noch trogen, waren es nicht bloss Halluzinationen, die sie heimgesucht hatten. „Chris.“ Ein Kribbeln im Bauch verriet ihre Freude, die sich nur schwach von Haileys schlechter Laune hatte dämpfen lassen.
„Du siehst gut aus.“
Hailey lächelte verlegen. Dass sie momentan nicht gerade das Abbild der Göttin Venus versinnbildlichte – darauf hätte sie selbst sogar kommen können. Doch Chris‘ Versuch, ihr zu schmeicheln, war es, was zählte, wie Hailey empfand. „Danke.“ Kopfschüttelnd lächelte sie in sich hinein.
„Warst du auf dem Weg in den Schlaftrakt oder hattest du vor, hier noch weiter Wurzeln zu schlagen?“ Chris musterte sie und Hailey meinte, Besorgnis daraus lesen zu können.
„Ich weiss nicht.“, gab Hailey achselzuckend zu. „Wurzeln schlagen trifft es wohl wirklich.“
„Dann schlage ich mit dir Wurzeln.“ Chris lachte sein typisches Lachen. Hailey war ihm dankbar, dass er keine Anstalten machte, sie für den Grund ihrer ungewöhnlichen Laune auszufragen. Ruhiger atmete sie nun ein und aus.
„Ich hatte heute einen recht merkwürdigen Tag. Unser Geschichtslehrer glaubt uns wohl irgendeiner Apokalypse nahe und hat uns ans Herz gelegt, möglichst schnell Vorkehrungen zu treffen.“, erzählte Chris. Sein Grinsen war noch breiter geworden.
Hailey hob die Brauen. Sie hatte in den letzten Tagen schon selbst erlebt, dass es hier drunter und drüber ging, sobald sich die Ferien aufdrängten. „Vorkehrungen?“ Sie konnte sich ein Grinsen ebenfalls nicht verkneifen.
„Eine Arche bauen, Tiere sammeln und darauf achten, immer eines pro Geschlecht einzupacken. Solche Dinge halt.“ Chris zuckte lächelnd die Achseln.
„Und das hat euer Lehrer so direkt gesagt?“ Ungläubig knabberte Hailey an ihrer Unterlippe.
„Er hat es angedeutet. Deshalb hatte ich eigentlich vor, mit den Regenwürmern zu starten. Willst du mir nicht helfen?“
„Nicht, dass ich etwas gegen Regenwürmer hätte… aber lieber nicht.“ Hailey fuhr sich lachend durchs Haar. Dass ein Lehrer von jemandem zu Weihnachten eine Regenwurm-Suche verlangen würde… Irgendwie drängte sich ihr der dringende Verdacht auf, dass es sich bei Chris Erklärungen lediglich um ein Schauermärchen handelte, das sie aufmuntern sollte. Doch gleichzeitig liess es Hailey warm ums Herz werden zu wissen, dass Chris sich bemühte, sie glücklich zu sehen. Schmunzelnd blickte sie zu ihm hoch. Auch Chris musterte sie mit einem Lächeln auf den Lippen.
„Wir haben doch davon gesprochen, noch einmal bei Punkt Kürbis – also eigentlich bei Punkt Null - anzufangen?“ Chris trat zögerlich einen Schritt näher. „Aber irgendwie ist mir aufgefallen, dass das so nicht funktioniert.“
„Tut es das nicht?“ Hailey stockte der Atem.
„Ja, alleine von der Logik her tut es das nicht.“ Chris nickte. „Das Internat trägt die Strassennummer sieben. Und da es hier so ungefähr sechs Gebäude gibt, wäre der Oberstufenschlaftrakt dann Gebäude 7 5/6. Verstehst du, auf was ich hinaus will?“ Chris hatte hoffnungsvoll den Kopf schief gelegt.
Hailey lachte. Es war offensichtlich, dass sich Chris einige Gedanken zu ihrer Situation gemacht hatte – was Hailey innerlich Luftsprünge machen liess. So wusste sie zumindest, dass nicht nur sie alleine es war, die sich den Kopf über den Fortgang ihrer Beziehung zerbrochen hatte. „Warum nicht 7 3/6?“, fragte sie neckisch.
Chris betrachtete sie unruhig, ehe er sanft nach Haileys Händen griff. Hailey keuchte auf – sie war nicht gewillt, sich der Berührung zu entziehen. „Bei 7 5/6 ist meine Chance grösser, dass du mir meine Frage mit Ja beantwortest.“
„Ach so.“ Hailey stockte der Atem. Mühsam zwang sie ihren Körper, sich zu beruhigen. „Welche Frage?“, fügte sie schliesslich flüsternd an. Obwohl kein Schüler in der Nähe war, hatte Haileys Stimmvolumen nicht mehr hergeben können.
„Da gibt es doch diesen Ball. Den Weihnachtsball. Eigentlich bin ich nicht gerade scharf auf solche Anlässe.“ Chris musterte sie noch immer unverhohlen. Hailey hoffte inständig, dass er ihr Herz nicht pochen hören würde. Spätestens dann hätte er gewusst, was seine Berührung bei ihr auslöste. Sie schluckte, als seine Finger begannen, sanft über ihren Handrücken zu streicheln.
„Das war jetzt keine Frage“, hauchte sie. Innerlich verfluchte sie ihre Stimme - sie zeigte sich noch weniger kooperativ als an dem Tag ihres ersten Treffens im Bus zum Internat.
„Die kommt erst noch.“ Chris lächelte neckisch. „Irgendwie bin ich zu der wohl absurden Idee gekommen, dass mich so ein Anlass ruhig mal eines Besseren belehren könnte. Also habe ich beschlossen, auf diesen Ball zu gehen.“ Ehe Hailey zu einer Antwort ansetzen konnte, fügte er an. „Wahrscheinlich sind die Lehrer Schuld. Die haben ihre Apokalypse-reife Stimmung wohl auf mich übertragen.“
Hailey lächelte ebenfalls, wenn auch schwächer. Doch gleichzeitig fühlte sie sich ratlos – was sollte sie Chris antworten? Sie hatte keine Ahnung, was er von ihr erwartete. Zudem benebelte ihr heftig schlagendes Herz zunehmend ihren Verstand.
So ergriff erneut Chris das Wort. „Da du ja schon nicht mit mir auf eine Regenwurm-Suche willst und wir bereits bei 7 5/6 angekommen sind…“ Chris zögerte, während sein Griff um Haileys Hände an Druck zunahm. Ernst blickte er sie nun an. „… nun, da habe ich mich gefragt, ob du vielleicht stattdessen mit mir auf den Weihnachtsball kommen willst? Du wärst mir sicher eine Hilfe, diesen Bällen etwas Gutes abzugewinnen.“
Hailey lachte. Sie wusste, dass Chris sich einer Zusage schon fast sicher war. So beschloss sie, eine Antwort nicht weiter hinauszuzögern. „Sicher“, flüsterte sie. Und gleichzeitig fühlte sie ihren Körper Purzelbäume schlagen. Wie war das noch gleich gewesen mit dem Wink des Schicksals? Auf eine saftige Ohrfeige folgt eine sanfte Streicheleinheit; mit rasendem Herzen betrachtete Hailey Chris Daumen, der noch immer zart über ihren Handrücken fuhr. Seine Berührung hinterliess ein wohliges Prickeln auf ihrer Haut.
Hailey war sich nun sicher, dass es mit dem Wahrheitsgehalt dieser Weisheit nicht weit her war. Zugleich stellte sie überrascht fest, dass die Aussicht auf Weihnachten ohne ihre Eltern sie nun weniger betrübt stimmte. Lächelnd hob sie den Blick erneut und betrachtete Chris, während sie sanft seine Hand drückte. Ein Wink des Schicksals musste wirklich nichts Schlechtes bedeuten, wurde ihr nun bewusst.
Mit einer vorsichtigen Bewegung drängte sich Hailey an Lauren vorbei, die nervös mit ihren Fingern gegen ihre Oberschenkel trommelte, und liess sich zu Boden fallen. Neben ihr sass Nicki, die sie mit grossen Augen angrinste. Kaitlin und Juliane befanden sich ebenfalls am Boden und zusammen bildeten sie einen Kreis, der nur von Lauren gestört wurde, die hartnäckig darauf bestand, stehen zu bleiben.
„Kannst du mir noch mal erklären, warum du die Sache mit dem Sitzen als abstossend empfindest?“ Nicki lehnte sich entspannt zurück.
Lauren bedachte sie lediglich mit einem giftigen Blick. Dann seufzte sie schwach und fuhr sich durchs Haar. „Kannst du mir im Gegenzug erklären, wann ich das Wort ‚abstossend’ benutzt habe?“ Ruhiger fuhr sie fort: „Das Bedürfnis stehen zu bleiben setze ich nicht gleich abstossend.“
Nicki legte den Kopf leicht schief. „Du setzt Ungleichzeichen? Und ich dachte immer, du kannst Mathe nicht ab.“
Genervt kniff Lauren die Augen zusammen, erwiderte jedoch nichts.
Hailey lächelte leicht. Selbst jetzt, da sie hier sass und in die Gesichter der anderen Mädchen blickte, konnte sie nicht glauben, dass diese Sitzung hier ihr letztes Treffen darstellte. Tatsächlich meinte sie, einen schwachen Stich im Herzen zu vernehmen, als sie daran dachte, künftig auf die ironieerfüllten verbalen Schlagabtausche zwischen Lauren und Nicki verzichten zu müssen.
„Ruhe jetzt!“ Juliane hatte ungewohnt heftig die Stimme erhoben. Ihre Worte wurden jedoch von dem Anflug eines Lächelns begleitet. „Wie wäre es, wenn wir von Mathe zu Deutsch wechseln? Ihr wisst schon, unsere liebgewonnene Freundschaft wartet auf uns.“
Nicki grinste kopfschüttelnd, sprach ihre Gedanken aber nicht aus. Stattdessen meinte sie: „Kann man in Deutsch eigentlich auch Ungleichzeichen setzen?“
Juliane verbiss sich offensichtlich eine Antwort – mit ihren Fingern fuhr sie anschliessend über ihre schmerzende Unterlippe -, doch Lauren räusperte sich bereits schwach, ein Gähnen unterdrückend. „Und warum, Nicki?“
„Na, würdet ihr fünf uns gleich passend dem Thema setzen?“ Erst Sekunden später hob Nicki verstört die Brauen. „He, Lauren, was willst du mir mit deiner Frage eigentlich sagen?“, protestierte sie.
Lauren verzog gespielt nichtahnend keine Miene. „Mit einer Frage will man normalerweise nichts sagen, man fragt“, stellte sie mit unschuldsgleichem Blick fest.
„Und was wolltest du mich mit deiner Frage fragen?“
„Warum du dich wunderst, ob man in Deutsch Ungleichzeichen setzen kann.“ Laurens Lächeln war zuckersüss.
„Anders gesagt…?“, fügte Nicki an, Laurens Erklärung demonstrativ ignorierend.
„Das willst du wirklich hören?“ Lauren schien ehrlich überrascht.
Nicki zog eine Schnute, nickte dann schliesslich zögernd.
„Ich kenne dich jetzt bereits drei Monate. Das genügt, um zu wissen, dass du nicht davon ablässt, mit komischen Vergleichen aufzuwarten. Heute war’s Mathe und Deutsch, das nächste Mal wird’s Goofy und Mickey Mouse sein. Und da du Bestätigung für diese Vergleiche brauchst, war ich so nett und habe nachgehackt. Zufrieden?“ Lauren stöhnte.
Hailey ahnte, dass sich Nicki obgleich der ausführlichen Antwort nicht zufriedengeben würde.
Tatsächlich zeigte sich das andere Mädchen lediglich erstaunt, „Goofy und Mickey? Die lassen sich nicht vergleichen. Das wäre, als ob man Orangen und Äpfel gleichstellt. Obwohl, wenn man es genauer bedenkt…“
„Also, zurück zu Freundschaft.“, unterbrach Juliane Nicki laut. Es war offensichtlich, dass ihr Ziel darin bestand, eine längere Analyse Nickis ob der Gemeinsamkeiten von Orangen und Äpfeln zu unterbinden.
„Siehst du. Das passt doch.“ Nicki rieb triumphierend die Hände. „Immerhin landen Orangen und Äpfel beide in der Obstschale und müssen über kurz oder lang miteinander reden.“
„Orange und Äpfel reden?“, warf Kaitlin mit piepsiger Stimme ein.
Nicki fuhr unbeirrt fort. „Das heisst gleichzeitig, dass sie sich über die Pein austauschen werden, die sie erdulden müssen, wenn sie von Spucke umhüllt im Schlunde des Löwen – also in Lauren – landen…“
„Nicki!“, zischte Lauren aufbrausend. „Dankeschön für deine Erklärung“, murmelte sie schliesslich seufzend. Doch eine weitere Erwiderung brannte Lauren auf der Zunge, wie Hailey sofort entdecken könnte. Tatsächlich meinte sie dann weiter: „Seit wann benutzt du Wörter wie Pein oder Schlund?!“
Nicki ignorierte sie erneut. „Der beste Teil kommt doch erst noch! Denn, wenn sie erst einmal diese Vorstellungen miteinander ausgetauscht haben, dann schliessen sie durch eine feierliche Umarmung Freundschaft…“
„Orange und Apfel umarmen sich?“ Wieder war es Kaitlin, die den Einwand hervorbrachte.
„…oder aber sie reichen sich die Hand.“, beendete Nicki unbeirrt diese Geschichte.
„Haben sie auch Finger?“ Kaitlin schien ehrlich interessiert.
Juliane bedeutete den anderen mit einer Handbewegung, still zu sein. „Wo wir das jetzt hätten…“
„Lies Johann“, meinte Nicki an Lauren gewandt. „Dieser Mann hat Niveau. Und ein immenses Talent dafür, sich höchst intellektuell auszudrücken.“
„Johann?“ Kritisch verzog Lauren den Mund.
„…und anscheinend alles geklärt ist“, fügte Juliane bestimmt an, „könnten wir vielleicht…“
„Goethe“, erklärte Nicki.
Lauren schüttelte lachend den Kopf. „Du kennst Goethe?“
„…zum eigentlichen Grund für unser Treffen zurückkehren.“ Juliane keuchte atemlos.
„Setzt sich dieser Grund denn nicht daraus zusammen, dass wir einander näher kommen, indem wir über Gott und die Welt diskutieren? Immerhin behandeln wir Freundschaft.“ Nicki hob vielsagend den Blick.
„Gott und die Welt würde ich nicht gerade gleich Orangen und Äpfeln setzen“, protestierte Juliane, ehe ihre Stimme brach. Hilflos wandte sie sich an die anderen Mädchen.
„Wo wir also wieder bei den Ungleichzeichen angekommen wären.“ Nicki grinste neckisch.
Hailey seufzte innerlich. In Gedanken verbesserte sie sich: Garantiert würde sie solche Gespräche vermissen. Sie lächelte, während sie sagte: „Uns fehlen noch die neuen Definitionen. Ihr wisst doch sicher noch, dass wir zu Beginn welche verfasst haben? Unsere neuen sollen doch in etwa ein Fazit bilden.“ Unterbewusst hatte sie entschlossen, Julianes Vorhaben, das Gespräch in eine geordnete Richtung zu leiten, unter die Arme zu greifen.
Juliane nickte dankbar, ebenfalls nicht imstande, ein schwaches Lächeln über den Verlauf dieser Sitzung zu unterdrücken. „Das sollten wir auf alle Fälle machen. Wie wäre es zuerst mit einem kurzen mündlichen Fazit in der Gruppe? Jeder sagt, was den anderen gestört hat.“
„Bananen“, flüsterte Nicki sogleich geheimnisvoll.
„Bananen?“ Hailey musterte ihre Sitznachbarin verwirrt aus den Augenwinkeln.
„Das ist eines der Dinge, die mich gestört haben. Die meisten meiner Gedanken zu Freundschaft waren von Bananen geleitet.“, fuhr Nicki schniefend fort. Gespielt resigniert senkte sie die Schultern.
„Das ist ja dann wohl dein Problem.“, erklärte Lauren achselzuckend. Fassungslos betrachtete sie Nicki.
Diese erklärte weiterhin flüsternd: „Von dir hätte ich mir etwas mehr Verständnis erhofft. Immerhin hast du oft genug erklärt, dass diese Sitzungen hier Gesprächen mit dem Seelendoktor ähneln. Da erwarte ich doch dementsprechend auch etwas Verständnis.“
Juliane unterbrach stöhnend das sich anbahnende Gespräch. „Also Bananen - Bananen stellen ein Defizit unserer Sitzungen dar. Nennen wir Orangen und Äpfel am besten gleich auch noch. Am besten fügen wir sowieso jegliche andere Früchte hinzu, um Mehrfachnennungen zu vermeiden. Sonst noch etwas?“ Tatsächlich blitzten ihre Augen spitzbübisch auf. Ein Zucken fuhr über ihre Mundwinkel.
„Alles in allem haben wir uns doch nicht schlecht entwickelt?“, versuchte es Hailey. Dachte sie nur an ihre ersten Treffen zurück – an das Unverständnis, die Kühle, die Ignoranz – meinte sie, einen klaren Aufwärtstrend erkennen zu können. Sie näherten sich den Gesprächen halbwegs zivilisierter Menschen.
„Von seifenoperähnlichen Vergleichen mit ‚gute Zeiten’-Faktoren zu Orangen. Wirklich, da sehe ich auch eine Verbesserung“, stimmte ihr Lauren ironieerfüllt zu. Sie war mittlerweile dazu übergegangen, ungeduldig von einem Fuss auf den anderen zu treten, während ihre Hände unablässig mit dem Saum ihres türkisfarbenen Kaschmirpullovers spielten.
„Wir haben über drei Monate hinweg mehr Zeit für dieses Projekt aufgewendet, als jede andere Person in unserem Jahrgang“, fügte nun Nicki an.
Juliane registrierte dies mit einem bloss angedeuteten Nicken. „Ein zweiter guter Punkt.“
„Gut würde ich’s nicht gerade nennen“, murmelte Nicki, ihre Worte von einem Seufzen begleitet. „Nicht, dass ich mir Besseres vorstellen könnte, als mit euch tagelang über solch wichtige Themen wie Freundschaft zu diskutieren, aber…“
„Hat jemand einen dritten Punkt vorzubringen?“, warf Juliane hastig ein. Hailey sah, wie sie mit ihrem Stift einen Strich in ihr Notizbuch zog. „Seite 56“ las sie an der Fusszeile des A5-grossen Papiers; die Zahlen musste Juliane selbst angefügt haben. Hatten sie tatsächlich 56 Seiten lang Diskussionen geführt? Im Nachhinein kam es Hailey viel kürzer vor.
Juliane hatte mittlerweile wieder den Blick gehoben und liess ihn gedankenverloren durch den Raum gleiten, ehe sie ihn den anderen Gesichtern zuwandte. „Dann könnten wir jetzt also mit den Definitionen weitermachen.“ Allem Anschein nach zögerte sie. „Und wenn wir das hätten…“ Erneut hielt sie inne, schloss dann aber mit brüchiger Stimme: „… können wir unsere letzte Sitzung für beendet erklären.
Stille trat ein, während der einzig Lauren weiterhin auf und ab trat.
Es dauerte einige Minuten, ehe jemand es wagte, weiterzusprechen. Schliesslich meinte Nicki, offensichtlich genervt: „Lauren, setz dich jetzt gefälligst hin!“ Ein Grinsen umspielte ihre Lippen.
Kommentarlos tat Lauren dem Befehl folge – was Hailey ungläubig den Kopf schief legen liess. Juliane durchbrach Haileys Verwirrung.
„Also, lasst uns beginnen.“
Dienstag, 17.Dezember
Morgens
Lauren wagt es immer noch nicht, Juliane auf die sich anbahnende Romanze mit Dominic anzusprechen. Doch ihrer Zimmernachbarin fällt auf, wie ungewohnt distanziert sie sich ihr gegenüber verhält. Lauren schwindelt vor, es handle sich um ihre Abneigung für Weihnachten, die sich mit dem Näherkommen des Festtages in Wut gipfelt. Juliane verzieht den Mund, sagt aber nichts. Anschliessend flieht Lauren unter dem Vorwand, pünktlich zur Schule kommen zu wollen.
Mittags
Hailey spricht mit Nicki über ihre Verabredung zum Weihnachtsball. Sie deutet ihre Zweifel an, wie sie mit der ganzen Situation umgehen soll.
Nicky rät ihr, ruhig zu bleiben und den Weihnachtsball abzuwarten, ehe sie darüber urteilt. Als sie in ihrem Ratschlag offensichtlich aus Versehen den Ausdruck „zufällige Verabredung“ fallen lässt und daraufhin rot anläuft, fragte Hailey sie nach ihrem Date aus. Daraufhin gibt Nicki zu, dass sie ebenfalls versuchen wird, mit ihrem Urteil den Weihnachtsball abzuwarten. Sie betont ganz entschieden, dass es sich bei ihrer „zufälligen Begleitung“ nicht um Adam handelt.
Hailey beschliesst, Nicki nicht näher danach auszufragen, nachdem die Farbe ihres Gesichts sich nur noch kaum merklich von der ihres Haars unterscheidet.
Abends
Kaitlin beschliesst, sich irgendwann nach den Ferien nach den bestehenden Schülerschaftsgruppen umzuhören. Irgendwie wird es schon klappen, versichert sie sich, während sie eine weitere Tüte Schokonüsse leert.
Mittwoch, 18.Dezember
Morgens
Hailey ruft ihre Eltern an. Sie erzählt ihnen kurz von ihren Erlebnissen im Internat, beschliesst jedoch, Chris nicht zu erwähnen. Mit zittrigen Fingern beendet sie schliesslich das Gespräch. Sie bemerkt erneut, wie sehr sie ihre Eltern vermisst.
Mittags
Juliane trifft sich mit Becky. Ihre Schwester erklärt ihr, dass sie einen Plan hat, sich verbotenerweise in den Weihnachtsball zu schmuggeln – sie würde sich einfach als ihre grosse Schwester ausgeben, da die ja offenkundig nicht gehen wird.
Als Juliane ihr erklärt, dass das so nicht geht und ihr den Grund dafür nennt, verfällt Becky in aufgeregtes Fiepen.
Schliesslich gibt es Juliane auf, ihrer kleinen Schwester beruhigend zuzureden. Sie begibt sich vorzeitig in ihr Klassenzimmer und trifft dort auf Lauren, die sie zuerst – in Gedanken versunken – nicht bemerkt. Als Lauren dies dann endlich tut, zuckt sie überrascht zusammen. Zaghaft teilt sie Juliane mit, dass sie ihr am Samstagabend helfen wird, sich für den Weihnachtsball zurechtzumachen. Ohne direkt von Juliane gefragt zu werden, fügt sie flüsternd an, dass sie eine Beziehung zwischen ihr und Dominic nicht unbedingt schlechtheissen würde. Allerdings rät sie Juliane zudem, alles langsam anzugehen.
Mit glühenden Wangen lässt sich Juliane anschliessend neben Lauren auf den Stuhl fallen. Beide schweigen bis der Unterricht beginnt.
Abends
Nicki entdeckt am Infobrett im Schlaftrakt der Schule einen Flyer, der verkündet, dass am Weihnachtsball selbstverständlich erneut das Verbot zum Konsum illegaler Substanzen gilt. Weiter fügt das Schriftstück an, dass an diesem Abend scharf kontrolliert werden wird, dass sich Mädchen und Jungen einzeln zurück in ihre Zimmer begeben. Nicki kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Gleichzeitig wird ihr bewusst, dass sie sich seit Schulschluss zum ungefähr zwanzigsten Mal in die Lobby begeben hat, nur um Joonas ein weiteres Mal „zufällig“ zu treffen. Sie tut dies jedoch nicht. Schliesslich eilt sie verärgert über sich selbst zurück in ihr Zimmer.
Donnerstag, 19.Dezember
Morgens
Kaitlin sperrt ihre Schokonüsse weg. Sie beschliesst, bis zum Weihnachtsball dünn zu werden, um sich den restlichen Schülern endlich strahlend schön zeigen zu können. Dann fällt ihr auf, dass sich äusserliche Merkmale wie schrecklich strähniges Haar und nervige Sommersprossen nicht einfach so loswerden lassen. Zudem wird ihr bewusst, dass ihr zum Abnehmen lediglich noch zwei Tage bleiben und sie sowieso noch kein Date hat. Deshalb wirft sie ihr Vorhaben kurzerhand wieder über den Haufen und holt die Tüten zurück aus dem Schrank. Bis zu Schulbeginn hat sie weitere drei Packungen geleert.
Mittags
Nicki erklärt Adam, dass sie auf den Weihnachtsball gehen wird. Dieser gibt sich ungläubig und fragt sie, ob sie den ersten April in den Dezember verlegt hat. Als sie verneint, wird er stutzig und erkundigt sich nach ihrer Begleitung.
Zögernd erklärt Nicki Adam, dass er ihn gut kennen würde. Erst nachdem Adam weiter nachhakt, gibt Nicki kleinlaut zu, dass es sich dabei um Joonas handelt.
Adam ist sprachlos, schweigt. Schliesslich fragt er Nicki, was sie auf dem Ball überhaupt tragen will - sie könne doch keinesfalls davon ausgehen, dass eine schwarze Jeans und ein schwarzes Top ein passendes Gewand darstellen. Nicki ist verwirrt über den kalten Ton, den Adam plötzlich anschlägt. So fällt ihr erst auf, wie wichtig Adams Frage ist, nachdem sie sich schweigend zurück ins Klassenzimmer begeben haben. Von Panik erfüllt rennt sie zu Hailey. Die versucht sie während der Mathestunde damit zu beruhigen, dass sie ihr schon irgendwie helfen würde.
Nicki wird wegen Ruhestörung aus dem Unterricht geworfen.
Abends
Lauren erfährt von Dominic, dass sie mit Collin auf den Ball gehen kann. Sie zeigt sich zickig, obwohl sie innerlich laut aufseufzt; so wird sie immerhin ihrem Ruf gerecht. Gleichzeitig hasst sie sich für diesen Gedanken.
Als Dominic beginnt, sich auffallend häufig nach Laurens Zimmernachbarin zu erkundigen, rät ihm Lauren schliesslich genervt, dass er doch selbst mit Juliane sprechen solle. Erstaunt stellt sie fest, dass ihrem sonst so selbstbewussten Bruder dazu offenkundig der Mut fehlt.
Freitag, 20.Dezember
Morgens
Immer noch in Panik überwindet sich Nicki sogar dazu, mit Lauren zu sprechen. Sie befragt sie geradeheraus nach einem passenden Kleid für einen Ball.
Zuerst verhält sich Lauren nicht sehr verständnisvoll, bemerkt dann aber, dass Nicki es ernst meint. Belustigt erteilt sie ihr schliesslich Rat, nicht ohne sie jedoch nach ihrem Date auszufragen.
Nicki führt sich gespielt ahnungslos auf und erklärt anschliessend mit spöttischem Lächeln, dass sie eigentlich daran dachte, mit Lauren zu gehen; sie würden doch ein schönes Pärchen darstellen.
Schnaubend erwidert Lauren, dass sie Nickis sexuelle Orientierung nicht überraschen würde, nachdem sie bereits lange genug habe erleben müssen, dass sie ja eigentlich in allen Bereichen des Lebens total orientierungslos sei. Mit einem letzten giftigen Blick setzt sie sich von Nicki weg und verhält sich ihr gegenüber für den restlichen Morgen kalt und abweisend.
Nicki fühlt sich unterdessen innerlich immer noch auf Adrenalin, spürt aber, dass die grösste Welle der Panik nach ihrem verbalen Schlagabtausch mit Lauren etwas abgeflaut ist.
Mittags
Hailey wird von dem Jungen angerempelt, der in der Geschichtsstunde immer mit dem Ball spielt. Er stellt sich ihr als Matt vor und entschuldigt sich bei ihr für den ungewollten Zusammenstoss. Nachdem er Hailey mit ihren Büchern geholfen und ihr ein letztes Lächeln geschenkt hat, verschwindet er schliesslich.
Hailey muss vor Schulbeginn erkennen, dass er in ihr Geschichtsbuch einen Zettel mit seiner Handynummer und den Worten „Melde dich doch über Weihnachten bei mir“ hinterlassen hat. Überrumpelt setzt sie sich schliesslich in der Stunde in die Ecke der hintersten Reihe, bewusst, dass der Zusammenstoss doch nicht so ungewollt gewesen sein konnte.
Nicki zeigt sich über Haileys Sitzwahl überrascht, kann sich dann aber ein Grinsen nicht verkneifen, als sie einen Blick auf den Zettel wirft. Zufrieden erklärt sie Hailey, dass sie so zumindest eine Alternative hätte, sollte Chris sich am Samstag nicht als der Prinz im Märchengewand erweisen. Auf Haileys ungläubigen Blick erwidert sie, dass Hailey schliesslich so ticken würde – sie stehe halt auf diesen romantischen Kitsch und Nicki hätte jegliche Versuche aufgegeben, sie zu bekehren.
Hailey lacht, fühlt sich aber noch immer verwirrt.
Abends
Unruhig fuhr sich Juliane durchs Haar, während sie sich kritisch im Spiegel betrachtete; sie würde den ganzen nächsten Morgen dazu aufwenden würde, ihr Haar so zu richten, dass sie am kommenden Abend neben Dominic nicht ganz wie eine Vogelscheuche aussehen würde, wurde ihr nun zunehmend bewusst. Vielleicht würde er sich kurzfristig sogar weigern, mit ihr auf diesen Ball zu gehen, sobald er sie noch einmal gründlich gemustert hatte? Diesen schrecklichen Ball, verbesserte sich Juliane sogleich.
Zudem musste sie nun feststellen, dass ihre Nase nicht gerade war. Ob dies vielleicht vom ständigen Brillentragen kam? Mit dem Anflug eines schlechten Gewissens schob Juliane ihre Brille über den Nasenrücken, ehe sie sie schliesslich mit einer einfachen Bewegung vom Gesicht riss und ungewollt heftig zu Boden schmiss. Auf ihrer Nase hätte man ohne weiteres Achterbahn fahren können, dachte Juliane mürrisch weiter. Gleichzeitig blinzelte sie heftig – mit ihrer Brille war auch ihre Sehkraft verloren gegangen. Lautlos fluchend ging sie auf die Knie und tastete sich über den Boden. Warum musste es ausser Reichweite des am Spiegel angebrachten Lämpchens auch so dunkel sein? Juliane ahnte, dass sie besser damit gegangen wäre, sich im Tageslicht ihrer optischen Makel bewusst zu machen. Aber nein – den Tag hatte sie ja unbedingt damit zubringen müssen, sich immer wieder zu versichern, dass ihr bis zum folgenden Abend noch genug Zeit blieb, eine Logik hinter Dominics Verhalten zu erkennen.
Er meint es ernst, fuhr es ihr zum wiederholten Mal durch den Kopf. Und zum ebenfalls wiederholten Mal schüttelte sie daraufhin den Kopf. Er sollte es ernst mit ihr meinen? Juliane seufzte aufgebracht, die Hände immer noch suchend über den Boden gleitend. Am besten würde sie ihn morgen einfach direkt darauf ansprechen, schloss sie.
Nur wenige Meter neben sich hörte sie Lauren flach atmen. Juliane hätte schwören können, dass ihre Zimmernachbarin kurz vor Mitternacht noch nicht schlief – zwar tat Lauren dies normalerweise, doch immerhin war morgen der grosse Tag –, sondern vielmehr dazu übergegangen war, so zu tun, als ob, um Julianes Redefluss zu entgehen. Tatsächlich hatte sie sich in den letzten Tagen ungewohnt redefreudig gezeigt, wurde Juliane erneut klar. Doch hatte sie feststellen können, dass sie nicht gleichzeitig schnell reden und an Dominic denken konnte – warum zeigte ihre glorreiche Zimmernachbarin dann nicht etwas mehr Verständnis für Julianes auswegslose Situation?
Endlich ertasteten Julianes Fingerspitzen das dünne Gestell ihrer Brille. Gerade wollte sie ganz danach greifen, als ein dumpfes Klopfen am Fenster ihren Plan durchkreuzte. Vor Schreck zuckte sie zusammen und fiel gleichzeitig rückwärts zurück, das Brillengestell glitt ihr aus den Fingern. Lauren atmete unterdessen unbekümmert flach weiter. Verärgert schüttelte Juliane den Kopf. Sie konnte doch unmöglich so taub sein und das Klopfen am Fenster überhört haben, dass sich jetzt in regelmässigem Abstand wiederholte? Juliane spürte in sich unvermindert den Verdacht wachsen, dass Lauren lediglich ihr schauspielerisches Können zur Schau stellte.
Seufzend kämpfte sie sich schliesslich auf die Beine, als das Klopfen weiterhin rhythmisch durch das Zimmer hallte. Ob der verminderten Sehfähigkeit und der Dunkelheit leicht torkelnd suchte sich Juliane ihren Weg zum Fenster. Welcher Idiot hielt die späte Uhrzeit nicht davon ab, wie verbissen gegen Julianes Fenster im dritten Stock zu klopfen? Mitten in ihrer Bewegung hielt Juliane inne und konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten. Wie war dieser Idiot überhaupt erst in den dritten Stock gelangt?, schoss es ihr sogleich durch den Kopf. Nun vorsichtiger aber gleichzeitig neugierig schritt Juliane in Richtung des Fensters. Nur Sekunden später spürte sie die kalte Fensterscheibe auf ihrem Handballen – Juliane fühlte regelecht, wie es ihren ganzen Körper fröstelte und ihre Blutzirkulation zugleich in Wallung versetzte.
Mit einem leisen Quietschen liess sich das Fensterschloss öffnen. Kälte fuhr ihr wie unsichtbarer Dunst durch die Glieder und umhüllte ihren Körper im festen Griff. Zögernd wagte Juliane einen Blick nach unten – nur knapp verfehlte etwas ihr Ohr. Erschrocken wich Juliane dem kleinen Gegenstand aus; ein Kieselstein, wie ihr nun bewusst wurde. Der nächtliche Besucher hatte also Kieselsteine benutzt, um Julianes Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Unvermindert neugierig fuhr Julianes Blick über den Bereich unter ihr und erspähte schliesslich eine nur schwach vom Mond beleuchtete Gestalt.
„Endlich!“, hörte Juliane jemanden seufzen.
Gleichzeitig meinte sie hinter sich wahrgenommen zu haben, wie Lauren es der Gestalt gleichtat und ebenfalls ein „Endlich!“ ausstiess. Empört senkte Juliane den Blick. War das alles etwa eine abgekartete Sache?
„Können wir reden?“ Juliane glitt der Mund auf, als sie Dominics Stimme erkannte.
„Was machst du denn so spät hier?“, zischte sie zurück.
Die Gestalt unter ihr bewegte sich kaum merklich, meinte Juliane erkannt zu haben. Schnell rieb sie sich über die halbblinden Augen, um sicherzugehen, dass das Szenario, das sich ihr bot, nicht nur Produkt ihrer Einbildungskraft war.
„Kommst du runter?“, fragte Dominic ungerührt.
Heftig schluckend blickte Juliane an sich hinunter – sie trug ein altes, ausgewaschenes Sweatshirt und zudem ein Paar noch ältere, noch ausgewaschenere Hosen. Und hatte sie sich nicht eben noch vorgenommen, den folgenden Morgen zu nutzen, um sich ausgiebig um ihr Äusseres zu kümmern, ehe sie einen Schritt aus ihrem Zimmer setzte? Unschlüssig biss sich Juliane auf die Lippe. Sie liess sich Zeit mit einer Antwort, währenddessen die nächtliche Kühle weiterhin ihren bebenden Körper in Angriff nahm. „Warum willst du reden?“, stotterte sie schliesslich. Ihr Herz pochte heftig.
Dominic versuchte es mit einem „Lass dich überraschen!“. Seine Stimme klang sanft, doch zugleich meinte Juliane, das Selbstbewusstsein, das er dabei ausstrahlte, mit jeder Faser ihres Körpers spüren zu können.
„Es ist kalt“, erklärte Juliane stattdessen, das heftige Bedürfnis bezwingend, sofort aus dem Fenster und in Dominics Arme zu springen. Juliane ahnte, dass das keine gute Idee wäre, insbesondere, wenn man bedachte, dass sie halbblind ihren Zielort – Dominics Arme – nur mit geringer Wahrscheinlichkeit treffen würde.
„Ich weiss.“ Juliane hörte Dominic lachen – tatsächlich klang ein schwaches Zittern in seiner Stimme mit.
„Nun geh endlich!“ Juliane zuckte unweigerlich zusammen, als sie Lauren hinter sich stöhnen hörte. „Es ist nämlich wirklich verdammt kalt“, stöhnte sie weiter.
Juliane zögerte noch immer. Sie hatte sich zu ihrer Zimmerpartnerin umgedreht, doch viel erkennen konnte sie nicht.
„Schliess das Fenster und geh zu ihm runter! Ihr macht mich beide noch verrückt.“ Lauren gähnte herzzerreissend.
Einen weiteren Moment zögerte Juliane, ehe sie schwach nickte, sich zu spät bewusst, dass weder Dominic noch Lauren diese Bewegung würden sehen können. „Ich komme ja schon!“, rief sie schliesslich mit brüchiger Stimme.
Doch tatsächlich brauchte Juliane etwas länger, ehe sie das Fenster geschlossen hatte und sich in der Dunkelheit etwas zu Recht fand. Sie beschloss, dass die Zeit zu knapp war, um die Suche nach ihrer Brille oder Schuhen starten zu können. Nachdem ihre Hände auch erfolglos nach ihrem Parka getastet hatten, beschränkte sich Juliane darauf, nach ihrem Zimmerschlüssel zu greifen und dann möglichst leise zum Ausgang des Schlaftraktes zu gelangen. Ihre nackten Füsse kämpften sich unbeholfen über den kitzelnden Teppichboden, während Juliane bereits fror, als sie nur schon einen Gedanken an die Kälte zuliess, die sie bald empfangen würde.
Die Kälte traf sie mit noch immenserer Kraft, als Juliane je gewagt hätte, sich vorzustellen. Einige Sekunden kämpfte sie mit ihren Lungen, die ihr damit den drohten, ihren Dienst zu verweigern. Heftig keuchend schaffte Juliane schliesslich sie umzustimmen. Dann erst liess sie vom Türgriff ab und die Tür zum Wohngebäude einschnappen. Die Dunkelheit war hier draussen noch vorherrschender, als sie von Julianes Zimmer aus den Eindruck erweckt hatte.
Vorsichtig wagte sich Juliane ein paar Schritte weiter und fand sich direkt vor Dominic wieder. Trotz der Finsternis konnte Juliane erkennen, dass er sie ungläubig angrinste.
„Da hat aber jemand etwas übereilig sein Zimmer verlassen“, stellte er vergnügt fest, nachdem er sie unverhohlen gemustert hatte.
Verärgert verschränkte Juliane die Arme. Sie unterband den Drang, laut mit den Zähnen vor Kälte zu klappern, während sie mit ihren Füssen auf der Stelle tappte, um sie nicht taub werden zu lassen. Gleichzeitig spürte sie ihr Herz vollkommen entgleist gegen ihre Brust klopfen – Julianes innere Stimme flüsterte ihr leise zu, dass dies nichts mit der allgegenwärtigen Kälte zu tun hatte. „Du wolltest schliesslich, dass ich runter komme“, protestierte Juliane bibbernd.
„Aber nicht so.“ Dominics Lächeln genügte, dass Juliane wusste, was er mit „so“ meinte – ihre nackten Füsse, das dünne Sweatshirt, die alten Hosen. Zudem musste sie feststellen, dass er in eine dicke Jacke gehüllt war, die Füsse in festen Schuhen, das Haar ohne Frage perfekt sitzend; trotz Halbdunkel und verringerter Sehkraft war Juliane sich letzterem sofort bewusst.
Juliane zuckte als Antwort lediglich mit den Achseln. Sie wollte Dominic nicht erklären, wie sie sich heute – gestern, wie Juliane bewusst wurde, als sie in der Ferne das Geräusch der Kirchenglocken zwölf Mal vernahm – aufgeführt hatte. „Worüber wolltest du reden?“ Sie war sich fast schon sicher, dass er ihr für morgen Abend absagen würde, spätestens jetzt, da er sie „so“ gesehen hatte.
„Über alles. Über morgen… heute Abend.“ Dominics Stimme war leiser geworden, doch das Selbstbewusstsein, das sie ausstrahlte, konnte gleichzeitig keinesfalls abgestritten werden.
Nur mühsam konnte Juliane ein „Ha!“ unterbinden. Ein „Ha!“ das davon sprach, wie Recht sie mit ihrer Vermutung doch gehabt hatte. Dominic wollte mit ihr also über den folgenden Abend sprechen – er wollte ihr absagen, fügte Juliane in Gedanken hinzu.
Stattdessen: „Ich hoffe doch, dass unsere Verabredung noch immer steht?“
Überrascht schnappte Juliane nach Luft. Diese Frage hatte sie eindeutig nicht erwartet. Mit noch schneller schlagendem Herzen suchte sie nach einer Antwort. „Ich hoffe doch“, sprach sie ihm schliesslich nach. Was sollte das alles überhaupt?, lautete nun wieder die Frage, die sich in Julianes Gedächtnis drängte. Sie sprach sie nicht aus, schluckte anstelle dessen heftig.
„Gut.“ Mehr sagte Dominic nicht. Vielmehr lächelte er nun belustigt, wie Juliane aus seiner Stimme heraushören konnte. „Du hast deine Brille vergessen, nicht wahr?“
Verlegen fuhr sich Juliane übers Gesicht. „Warum meinst du?“, tat sie ahnungslos.
„Du blinzelst. Ständig.“ Dominic lachte schallend. „Nur weil ich einmal erwähnt habe, dass du Kontaktlinsen ausprobieren solltest, heisst das nicht, dass ich eine Brille an dir nicht mag.“
„Aha.“ Juliane beliess es dabei. Sie wollte Dominic nicht erklären, dass es nicht an ihm lag, dass sie ihre Brille in dieser Nacht nicht trug – obwohl ihr gleichzeitig bewusst wurde, dass dies sein Selbstbewusstsein noch vielmehr stärken musste. Unentschlossen rieb sie sich die Arme; die Kälte war beissend geworden. Juliane spürte, wie ihre Haut unangenehm prickelte.
„Du wirst dich erkälten“, stellte Dominic nun fest. War seine Besorgnis um Julianes Gesundheitszustand tatsächlich aufrichtig? Zweifelnd trat Juliane weiterhin auf und ab, ihre Füsse so einigermassen lebendig haltend.
„Kann schon sein“, gab sich Juliane trotziger, als sie geplant hatte zu klingen.
Dominic legte den Kopf schief, noch immer lachend. Dann – im Bruchteil einer Sekunde – war er vorgetreten und hatte seine starken Arme um Juliane geschlossen. Selbst durch die Jacke meine Juliane jeden seiner Muskeln zu spüren.
Sie schauderte nur kurz. Ebenso kurz keimte in ihr der Gedanke, sich aus der ungewohnten Berührung zu winden – dann erfüllte tiefe Wärme Julianes Körper. Sie fühlte, wie ihre Wangen glühten, ohne sie dazu berühren zu müssen.
Schüchtern schmiegte sie sich an seine Brust, ihrem Körper nicht mehr Herr. Was wollte Dominic ihr mit dieser Berührung bloss sagen? Juliane fühlte sich fast schon kindisch unsicher. Ihre zittrigen Finger fuhren unkontrolliert über seinen Rücken.
Doch so schnell Dominic seine Arme um Juliane gelegt hatte, so schnell entzog er sich der Umarmung auch wieder. Lächelnd blickte er zu ihr herab – er war ungefähr einen halben Kopf grösser als sie selbst, stellte Juliane erstmals fest. Dies, obwohl sie eigentlich eher gross gewachsen war.
„Dir scheint nicht mal so kalt zu sein“, flüsterte er nun. Obgleich seine Stimme ungemein sanft war, hörte Juliane diese unterschwellige Nuance heraus, ein Zeichen für sein Selbstbewusstsein.
„Hmm.“ Von Julianes Stimme war nicht mehr viel übrig geblieben. Leise räusperte sich, kämpfte sich so zurück zu alter Stärke. Endlich war ihre Stimme wieder etwas ruhiger geworden. „War es mir aber“, fügte sie nun an.
„War?“ Dominic lächelte, offensichtlich belustigt. Noch immer befand er sich nur Millimeter von Juliane entfernt. Sie war sich sicher, dass er ihr Herz würde schlagen hören. Vielleicht lächelte er auch deshalb – über ihre kindische Naivität?
„Nicht mehr“, meinte Juliane stockend. Sein Lächeln verwirrte sie zunehmend.
„Nicht mehr, also“, wiederholte Dominic. Sein Lächeln war weiterhin unbeschwert.
„Nicht mehr“, wiederholte auch Juliane. Sie fühlte sie dumm dabei, nicht wie sonst klug und beherrscht. Verstört fuhr sie sich über ihre glühenden Wangen – ihre Finger fuhren dabei über Dominics Finger, der seine Arme gesenkt gehalten hatte.
Wie paralysiert trat Juliane einen Schritt zurück – und bereute es im gleichen Moment. Doch sie ahnte, dass es mehr als merkwürdig gewesen wäre, wäre sie diesen Schritt wieder auf Dominic zuzutreten. So hielt sie inne und zwang sich stattdessen, die Arme wieder zu verschränken.
„Es freut mich, dass ich helfen konnte.“ Obwohl es Dominic nicht offen zeigte, musste auch er über Julianes plötzlichen Rückzieher verwirrt sein. Aber insbesondere mit halbblindem Blick konnte Juliane keine Regung in Dominics Gesicht erkennen. Unvermindert lächelte er.
„Ich sollte vielleicht besser wieder rauf gehen“, schloss Juliane aus dieser Starre. Es gefiel ihr nicht, dass sie nicht wusste, was ihr Gegenüber fühlte. Es gefiel ihr ebenso wenig, im Dunkeln gelassen zu werden, was die ganze Sache mit Dominic betraf. Sie lechzte danach, das alles zu verstehen. Juliane dachte seufzend, dass sie die Sache mit dem Dunkeln wirklich bereits perfekt hingekriegt hatte. Unruhig fuhr sie sich durch das strohige Haar, löste so ihr Arme aus der Verschränkung. Selbst jetzt – Minuten nach der Umarmung – ging ihr Dominics Berührung noch immer durch Mark und Bein.
„Solltest du wahrscheinlich.“ Als hätte er Julianes fragenden Blick bemerkt, fuhr Dominic fort: „Immerhin musst du morgen… heute gesund sein. Krank kannst du mich nicht gut zum Ball begleiten.“ Er lächelte erneut, wie Juliane meinte wahrzunehmen. „Und ohne dich will ich nicht gehen.“
Mühsam unterdrückte Juliane ein herzzerreissendes Seufzen – wenn Dominics Worte doch nur wirklich der Wahrheit entsprächen. Schwach nickte sie, sich sicher, dass er die Bewegung dennoch würde wahrnehmen können.
Julianes Füsse waren mittlerweile wirklich taub geworden, wie sie entsetzt feststellen musste, als sie versuchte, sich vom Fleck zu bewegen. Mit zusammengebissenen Zähnen stolperte sie ein paar Schritte rückwärts. „Das mit dem barfuss gehen war wohl doch keine so gute Idee“, gab sie stöhnend zu.
Dominic lachte. Dann jedoch trat er die verlorenen Schritte zu Juliane vorwärts – zielstrebig – und legte unaufgefordert die linke Hand auf ihren Rücken. Juliane zuckte schwach zusammen. Dominic hatte jedoch bereits seinen rechten Arm unter ihre Knie geschoben und stemmte sie nun in die Höhe, als wäre dies der nachvollziehbarste Schluss.
Juliane gab auf, sich gegen seinen Griff zu wehren, als sie die Tür erreicht hatten.
„Selbst Schuld“, lachte Dominic unvermindert weiter. „Oder ist die Sache mit den nackten Füssen im Winter so eine Masche, die uns Männern sagen soll, dass wir euch die Welt zu Füssen legen sollen?“
„Wohl eher die Hände zu Knien“, zischte Juliane. Nie hätte sie zugegeben, dass ihr die Selbstverständlichkeit gefiel, mit der er sie in die Luft gehoben hatte.
Ohne auch nur ein Zeichen der Schwäche zu zeigen, stemmte Dominic sie die Treppe hoch. Juliane hingegen zählte jede Stufe – ihr Herz war ihr ebenfalls in die Kniekehlen gerutscht, wie ihr nun bewusst wurde. Dann - nach 42 Stufen – setzte Dominic Juliane mit einer einfachen Bewegung zurück auf die Füsse. Stützend war seine Hand auf ihrem Rücken liegen geblieben; keine Fehlentscheidung, wie Juliane bewusst wurde, als ihre Füsse unbeherrscht am Boden nach Halt suchten. Erst, als sie festen Halt gefunden hatte, liess Dominic von der Berührung ab.
Nun nachdenklich musterte er sie. „Dann also bis heute Abend?“, fragte er erneut.
Juliane lächelte schwach – und hasste sie gleichzeitig dafür. Sie war sich sicher, dass er das Durcheinander in ihrer Gefühlswelt bemerkt hatte. „Sicher.“ Ihre Stimme war nur noch ein Hauchen.
„Bis dann also!“ Mit einem einfachen Nicken hatte Dominic sich von ihr abgewandt und kämpfte sich nun die Treppe in die vierte Etage hoch. Nur kurz wagte er einen Blick zurück – und Juliane durfte feststellen, dass sein Haar noch immer perfekt sass. Auf der Unterlippe knabbernd sah sie ihm nach, bis er um die Ecke verschwand. Dann erweckte sie mit einem schaudernden Kopfschütteln aus ihrer Starre. Und erneut keimten Fragen wie lodernde Zungen in Julianes Verstand auf – warum hatte er sie zu dieser Uhrzeit nachts sprechen wollen, nur um sich zu versichern, dass sie die Verabredung einhielt? Warum umarmte er sie, um ihr dann zum Abschied lediglich zuzunicken? Was wollte er überhaupt von ihr? Die Frage, die Juliane bereits seit Tagen, Wochen quälte. Seufzend begab sie sich halbblind zurück in ihr Zimmer.
Lauren gab erneut vor zu schlafen.
(15)- Darf ich bitten? –
Samstag, 21.Dezember
07.00-07.30
Juliane wacht auf und fragt sich, ob sie die Erlebnisse der letzten Nacht nur geträumt hat. Sie begnügt sich schliesslich damit, nach ihrer Brille zu suchen und findet sie mit verbogenem Gestell neben ihrem Bett. Sie flucht laut.
07.30-9.00
Nicki schreckt schweissüberströmt aus einem Alptraum auf - in diesem ist sie in schwarzer Jeans und schwarzem Top auf dem Ball erschienen und von allen schräg gemustert und belächelt worden. Nach einem kurzen Blick in den Spiegel rennt sie kurzerhand zu Hailey. Diese murrt erst über den frühen Besuch, erlebt dann aber Nickis Verzweiflung hautnah mit.
09.00-12.00
Lauren zwingt sich aufzustehen und wird von Juliane mit ihrem Versprechen konfrontiert. Sie besteht auf eine kurze Dusche und empfiehlt es Juliane gleichzutun. Anschliessend kümmert sie sich widerwillig um Julianes Haar und ihr Make-up (und kämpft gegen Julianes Unverständnis in Bezug auf „Farbe im Gesicht“). Sie verflucht sich in Gedanken selbst für ihr Versprechen.
Um 12.00 Uhr fällt ihr auf, dass sie selbst eigentlich auch ein Date hat und ärgert sich darüber, dass ihr Körper auf diese Erkenntnis mit Nervosität reagiert.
12.00-14.00
Kaitlin isst eine Packung Schokonüsse, während sie mit dem Gedanken spielt, dem Ball ebenfalls einen Besuch abzustatten. Kurzerhand entschliesst sie sich dazu, Hailey nach Rat zu fragen, und trifft bei ihr auf eine verstörte Nicki. Sie erklärt sich dazu bereit, Nicki etwas Nervennahrung auszuhändigen. Dann stellt sie fest, dass ihre Ration Schokonüsse aufgebraucht ist. Kaitlin ist ebenfalls verstört.
14.00-14.10
Lauren wütet sturmgleich durch ihr Zimmer und durchfrostet es nach Kleidern. Schliesslich stellt sie fest, dass sie die Fassung verliert und ist nun auch verstört.
14.10-16.00
Juliane leistet ganze Arbeit dabei, Lauren zur Seite zu stehen. Trotzdem wird sie angeschnauzt und flüchtet schliesslich in ihren Teil des Zimmers. Sie lernt für die Schule, um sich selbst zu beruhigen.
16.00-17.00
Hailey überredet die frustrierte Nicki und die ebenso frustrierte Kaitlin zu einem Spaziergang. In Gedanken erfreut sie sich an der Idee, dass am morgigen Tag alles vorbei sein und sie Ferien haben würde.
Während des Spaziergangs meint sie Chris im Gespräch mit einem anderen Jungen erspäht zu haben – der Unbekannte kommt ihr merkwürdig bekannt vor. Sie sagt sich selbst, dass sie sich irren muss.
17.00-18.00
Hailey, Nicki und Kaitlin spielen Scharade, um sich abzulenken. Nicki erwähnt erstmals, dass es sich bei ihrem „zufälligen Begleiter“ um Joonas handelt.
Hailey grinst, verkneift sich aber eine Antwort, als sie Nickis warnenden Blick entdeckt.
18.00-20.00
Lauren taucht in Julianes Zimmerhälfte auf. Sie regt sich über den Ball auf, Juliane zeigt sich aber nicht gewillt, Gegenargumente zu liefern. Stattdessen schweigt sie und überredet Lauren schliesslich dazu, zurück in ihre Raumhälfte zu gehen und sich zu beschäftigen.
Um 19.00 Uhr flüchtet sich Juliane schliesslich zu Lauren und ergreift Initiative für einen letzten Rundum-Check. Lauren gibt leise zu, dass ihre Zimmernachbarin gut aussieht. Juliane glaubt ihr nicht. Währenddessen bemerkt sie, dass es kurz vor acht ist. Ihr wird flau im Magen.
Wann würde es weniger auffallen, dass Kaitlin alleine auf den Ball ging – wenn sie sich früh oder spät unter die Schülermenge mischte? Kaitlin schloss, dass sowieso alle grosse Augen machen würden, würden sie Kaitlin überhaupt in der Nähe des Gesellschaftsraums der Schule entdecken. Dies alleine genügte, um von der Tatsache abzulenken, dass sie ohne Partner dort auftauchte.
Kaitlin seufzte. So war es kurz nach acht, als sie ihr Zimmer schliesslich verliess. Sie hatte den Nachmittag mit Hailey und Nicki zugebracht und sich ihnen nicht einmal sonderlich aufgezwungen gefühlt. Trotzdem war sie früh genug gegangen, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sie sich in ihrem Liebesglück weideten, während Kaitlin alleine blieb.
Kritischen Blickes betrachtete sie nun ihr Kleid: Es fiel frei fallend bis zu den Knöcheln, schmiegte sich zugleich jedoch unvorteilhaft um ihre Taille. Zudem hatte es eine giftgrüne Farbe, die sich ungünstig mit ihrer dunkelgrünen Kette schnitt. Kaitlin war dies ziemlich egal gewesen, als sie sich schliesslich auf den Weg gemacht hatte. Ihre Devise lautete nun, so lange vor dem Eingang zu stehen, bis sie sich nicht mehr wie ein Eindringling fühlte. Vielleicht würde dies den ganzen Abend über dauern, vielleicht auch nur einige Minuten. Kaitlin wusste nicht, welche Aussicht besser war – lange draussen in der Kälte zu verharren oder sich schon früh in das gedämpfte Licht des stickigen Saals zu stellen, nur um dann noch aufdringlicher und einsamer zu wirken.
Erneut seufzte sie, während sie dem Kiespfad um eine Windung nach rechts folgte. Weiter vorne zeigte ein Lichtpunkt im Dunkel das Gebäude, in dem sich die versammelte Schülerschaft des Obergymnasiums wiederfinden würde.
Der Gesellschaftsraum des Internats wurde nur zu seltenen Anlässen als Location benutzt. Meist funktionierte das Direktorat lieber Klassenzimmer in Versammlungsräume um, anstatt sich des eigens dafür geschaffenen Gesellschaftsraums zu bedienen. Kaitlin ahnte, dass mit ein Grund für die seltene Benutzung des weitläufigen Saals nicht nur die Grösse, aber auch die Entfernung zum Internatsausgang sein könnte. So brauchten allfällige Besucher eine weitaus längere Strecke zurückzulegen, mussten sie sich im Gesellschaftsraum einfinden. Weihnachtsbälle hingegen schienen dem Direktorat ein willkommener Anlass gewesen zu sein, sich wieder einmal des Gebäudes am Nordost-Ende des Internats zu bedienen.
Kaitlin fröstelte, als sie dem Lichtpunkt schliesslich direkt gegenüber stand. Helligkeit flutete bis nach draussen und beleuchtete den schmalen Vorhof. Hier hatten sich bereits einige Schüler versammelt – alle in edlen Roben oder teuren Anzüge gekleidet – die dem Treiben innerhalb des Gebäudes noch auswichen. Kaitlin hatte schon auf ihrem Weg zum Gesellschaftsraum gewusst, dass der eigentliche Ball erst gegen neun Uhr richtig starten würde.
Ausserdem roch Kaitlin Zigarettenrauch und den schalen Geruch von Bier in der kühlen Abendluft. Obwohl Alkohol und Tabakwaren normalerweise verboten waren, war es allgemein bekannt, dass an besonderen Anlässen Aufsichtspersonen dazu neigten, ein Auge zuzudrücken. Wie von Jugendlichen nicht anders zu erwarten, kosteten sie diese Grosszügigkeit schamlos aus. Erst wenn erste angetrunkene Schüler den Raum stürmen würden, würde dem Alkoholrausch ein rasches Ende gesetzt werden.
Unsicher stellte sich Kaitlin etwas abseits der Schülergrüppchen auf. Hier und da erspähte sie bekannte Gesichter, doch zumeist handelte es sich um Schüler des höheren Jahrgangs, die sich hier tummelten.
Ein weiteres Mal seufzte Kaitlin. Schliesslich warf sie einen raschen Blick auf die Uhr. Sie würde warten, ehe sie einen Schritt in das Gebäude setzte, sagte sie ein weiteres Mal zu sich selbst. Mit einem müden Lächeln akzeptierte sie das Bier, das ihr ein Schüler der Abschlussklassen anbot, der unbemerkt auf sie zugetreten war – vielleicht wäre es nicht schlecht, sich mit Alkohol die Wartezeit ein wenig zu versüssen.
Zum wiederholten Mal musste sich Lauren dazu zwingen, ein Gähnen zu unterdrücken. Wessen Schuld es auch immer war – die ihres Bruders oder die Collins -, es kümmerte sie nicht. Einzig wusste sie, dass ihre Geduld bald ein Ende finden würde. Zwei Minuten Verspätung waren ja durchaus im Bereich des Akzeptablen, aber addierte man acht Minuten dazu, überzog dies einfach den Bogen.
Ungeduldig schritt Lauren in Julianes Zimmerhälfte auf und ab. Die sass auf ihrem Bett, den Blick gesenkt, das Haar fast so perfekt sitzend wie Laurens eigenes. Dominic würde sich später bei ihr für die von ihr geleistete Arbeit zumindest bedanken müssen, schloss Lauren zufrieden.
„Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“, knurrte sie schliesslich. Soeben war der Zeiger ihre Uhr ein Skalastrichchen weitergesprungen.
Zaghaft sah Juliane auf. Lauren erkannte sofort die Unsicherheit in ihren Augen und musste nicht erst die Antwort abwarten, um zu wissen, dass es um Julianes Gemütszustand kritischer stand, als es zuvor noch den Anschein gemacht hatte.
„Ich bin nicht ruhig“, räusperte sich auch sogleich Juliane. Sie klang ausserordentlich fest und gelassen, stellte Lauren überrascht fest.
„Weisst du, wenn ich nicht wüsste, dass es mein Bruder ist, über den du dir den Kopf zerbrichst… Ich würde lauthals lachen.“ Lauren stöhnte. Musste Verliebtheit ätzend sein.
„Danke auch.“ Vergnügt registrierte Lauren, dass nicht nur sie mit ihrer Langweile kämpfte – Juliane gähnte gerade lautlos.
„Und was hast du heute Abend vor? Wirst du dich auf die Tanzfläche wagen? Dich unter die Leute an der Bar mischen und dich zutrinken? Auf Zweisamkeit mit meinem Bruder machen?“ Lauren spürte das Bedürfnis, die Zeit irgendwie an sich vorbeiziehen zu lassen. Notfalls war sie sogar gewillt, die Wartezeit mit unsinnigen Diskussionen zu überbrücken.
Juliane kannte jedoch offenkundig dieses Verlangen nicht. Sie bedachte Lauren lediglich mit einem kritischen Blick und erhob sich vorsichtig. Juliane auf hohen Schuhen bei Gehen zu beobachten – Lauren wusste, dass zumindest dies ihr Vergnügen bereiten würde.
„Weißt du, wenn ich nicht wüsste, dass du auch ganz anders sein kannst, würde ich dir jetzt den Hals umdrehen“, erwiderte Juliane schliesslich mürrisch, nachdem sie Halt an der Wand gefunden hatte.
„Ganz anders?“ Erstaunt hob Lauren die Brauen.
Juliane hingegen blieb ihr eine Antwort schuldig – in diesem Moment ertönte ein heftiges Klopfen an der Tür.
Schnell warf Lauren einen Blick auf ihre Uhr. „Lassen wir sie dreizehn Minuten warten?“, schlug sie hoffnungsvoll vor.
Juliane grummelte leise, während sie sich zur Tür kämpfte. Lauren fasste dies als Nein auf und trat ebenfalls zögernd ein paar Schritte vor.
„Diese Schuhe bringen mich noch um“, hörte sie Juliane genervt murmeln, als sie sich schliesslich am Türgriff festkrallen musste, um sich so vor dem Fall aus vier Zentimetern Absatzhöhe zu bewahren.
Lauren lachte amüsiert, während Juliane die Tür aufriss – und augenblicklich erstarrte. Kurz verdrehte Lauren über das Verhalten ihrer Zimmernachbarin die Augen, dann schritt sie ebenfalls zur Tür – grazil trotz hoher Schuhe – und griff Juliane beim Arm. „Hi Bruderherz.“ Sie schenkte ihm ihr vernichtendstes Lächeln. „Schön dich auch noch zu Gesicht zu bekommen. Ihr wart wohl mit Schminken beschäftigt? Oder musste etwa euer Haar noch hochgesteckt werden? Die Sache mit der Kleiderwahl war sicher auch nicht einfach. Es freut mich, dass ihr es trotz all dieser Strapazen noch pünktlich geschafft habt.“ Sie hoffte inständig, dass ihr Bruder den Wink mit dem Zaunpfahl verstand, während sie ihren Blick dem anderen Jungen zuwarf. Sie zwang sich zu einem schwachen Lächeln. „Collin.“ Ihre Stimme klang abschätziger als geplant.
„Hübsche Frau, darf ich bitten?“ Collin war wie Dominic hoch gewachsen und muskulös vom Fussballspielen. Zugleich standen seine honigfarbenen Augen jedoch im starken Kontrast zu den dunkeln ihres Bruders. Obgleich das zimtfarbene Haar perfekt sass, war es weniger leuchtend als das goldblonde ihres Bruders. Zudem war es länger und reichte ihm bis zum Kinn. Lauren war nur zu allzu bekannt, dass Collin der gleichen Ruf wie ihrem Bruder nachhing. Dass sich hier zwei Menschen – Dominic und Collin – gefunden hatten, liess sich wirklich nicht abstreiten.
Sie unterdrückte ein Seufzen und hackte sich bei dem ihr angebotenen Arm von Collin unter. Hinter sich hörte Lauren Juliane laut Schlucken, während sie aus den Augenwinkeln erkannte, dass ihr Bruder sich unruhig durchs Haar fuhr. Dass er dabei immer noch ungemein selbstbewusst wirkte, war wohl wirklich ein Gen, das den meisten Menschen unglücklicherweise vorenthalten geblieben war.
Dieses Mal konnte sie ein schwaches Stöhnen nicht unterdrücken. Collin musterte sie erstaunt. „Das wird ein langer Abend werden“, erklärte Lauren bloss gelangweilt.
Hailey knabberte unruhig an ihrer Unterlippe, während ihr Blick konzentriert der Tür galt. Sie wusste, hätte sie jemand so gesehen, hätte sie glatt den Stempel „liebeskrank“ auf die Stirn gedrückt bekommen.
Chris hatte ihr gesagt, er würde sie um halb neun abholen, doch wie Hailey ihr nervös pochendes Herz verriet, hielt es die Spannung nicht mehr aus. Aber wie konnte man zehn Minuten einfach aus dem Zeitplan streichen? Hailey zwang sich dazu, nicht an die restliche Wartezeit zu denken, ihr Blick unvermindert konzentriert auf die Tür gerichtet.
Ihre Zimmerpartnerin hatte den Raum bereits vor einer halben Stunde verlassen, was nicht unbedingt eine grosse Hilfe gewesen war. Zwar wechselte Hailey freiwillig nicht viele Worte mit dem platinblonden Mädchen, aber zumindest hatte es ihr bis zu ihrem wortkargen Abgang etwas Ablenkung verschafft. Hailey hätte schwören können, dass das Mädchen zu der Gruppe Schüler gehörte, die sich vor dem Ball einfanden und sich einen ‚kleinen’ Willkommenstrunk erlaubten. Wie sie an den Alkohol kamen – Hailey wollte es nicht wissen.
Mittlerweile war Hailey dazu übergegangen, ihre Füsse in den hochhackigen Schuhen über den Boden streichen zu lassen. Es vermittelte ihr das Gefühl, etwas zu tun, ohne den Blick von der Tür lösen zu müssen.
Es war in diesem Augenblick, da das Klopfen an ihrer Tür ertönte. Wie auf Knopfdruck spürte Hailey ihr Herz mit noch kürzeren Unterbrüchen rasen. Schneller, als sie denken konnte, war sie aufgesprungen und zur Tür gestürzt – was sich in den Schuhen als ungemein schwierig darstellte. Doch Hailey liess sich keine Zeit über die Tücken ihres Schuhwerkes nachzudenken. Stattdessen riss sie die Tür auf – und stolperte. Mit einem schwachen Aufschrei registrierte Hailey, dass ihr Gleichgewichtssinn aussetzte, doch da war es bereits zu spät; auf unerwartet weichem Grund prallte Hailey schliesslich auf.
Sie presste ihre Augen ein paar Sekunden des Schocks aufeinander, ehe sie sie vorsichtig öffnete. Mit glühenden Wangen starrte sie geradewegs in Chris Gesicht – ihre Arme noch immer hilfesuchend um seinen Körper geschlungen.
„Hoppla!“ Chris hatte sein Eisblöcke schmelzendes Lachen aufgesetzt. „Auf so eine Begrüssung hätte ich nicht gesetzt.“ Mit einem Ruck half er Hailey zurück auf die Beine.
Beschämt strich sich Hailey das Haar zurecht. „So war das eigentlich auch nicht gedacht.“ Sie fühlte das Deja-vu- Erlebnis, ehe sie klar denken konnte. Dann erst schickte ihr ihr Verstand Bilder des ersten Treffens mit Chris im Bus. War sie ihm da nicht auch aus Versehen in die Arme gefallen? Oder zumindest so nahe gekommen, dass sie dieses Wortspiel benutzt hatte?
Auch Chris schien sich der Erinnerung bewusst. „Eigentlich hast du dir mit dem ersten ‚in die Arme fallen’ ganz schön Zeit gelassen. Ich hätte nicht gedacht, dass ich so lange darauf würde warten müssen, als du mich vorgewarnt hattest.“ Er grinste neckisch, während Hailey hinter sich die Tür zuzog.
„Das war damals keine Warnung“, protestierte Hailey. „Es war eine Feststellung. Aber irgendwie zieht es mich immer wieder in deine Arme. Merkwürdig, nicht?“ Sie seufzte schwach.
Chris lächelte, legte dann seinen eigenen Arm um ihre Hüfte. „Ich könnte mich daran gewöhnen“, meinte er bloss.
Nicki rieb sich fröstelnd die Hände. Nie hätte sie freiwillig ein Kleid und Schuhe mit Keilabsatz getragen, wäre sie nicht zu diesem Ball gegangen. Nie wieder, schwor sie sich sogleich in Gedanken. Doch eigentlich war das Szenario, das sich ihr bot, schon zur Genüge absurd: Sie – Nicki – war auf dem Weg zu einem Schulball, würde sich bald unter Menschen wissen, zu denen sie normalerweise wohlbedacht einen Sicherheitsabstand hielt. Im Grunde war es wie bei den Büchern – Lesesucht wie auch übertriebene Eitelkeit erfüllten Nicki mit einem Schaudern.
Dementsprechend aufgezwungen war das Lächeln, das sich um ihre Lippen kräuselte, als sie ihren Zielort erreichte. Lichtflecken erhellten den Vorhof, der erfüllt war vom Lärm angetrunkener Jugendlicher. Nicki zuckte zusammen, als sie Kaitlin plötzlich neben sich erblickte, ein Bier in der Hand.
„Das dritte“, erklärte sie fast schon stolz.
Nicki nickte zögernd. Das Letzte, was sie nun wollte, war sich wegen dem ekelhaften Geruch von Bier erbrechen zu müssen. Alleine der Gedanke daran, einen Schluck Bier zu trinken, liess ihre Kehle brennen und ihre Zunge trocken werden.
Inständig hoffte Nicki, dass sich Lesesucht und Alkohol nicht miteinander vertrugen. Joonas hier irgendwo betrunken vorzufinden – dies wäre Grund genug für Nicki zur Flucht gewesen. Hatte er sich gar mit ihr hier treffen wollen, um sie abzufüllen? Nicki wusste, dass dieser Gedanke erbärmlich war, doch als idealer Ort für „zufällige Treffen“ hätte sie diesen Vorhof auch nicht gerade gehandhabt.
„Weißt du, ausnahmsweise sind die Leute hier mal richtig nett und verteilen einfach so Bier“, sagte Kaitlin nun.
Nicki blickte ungläubig in das Gesicht des anderen Mädchens; seine Züge begannen sich bereits zu verwischen, was keine Zweifel für den überhöhten Konsum von Alkohol liess. „Nett würde ich es nicht gerade ausdrücken“, erwiderte Nicki deshalb. Sie beliess es dabei und sah davon ab, zu erklären, das ‚verlogen’ es besser getroffen hätte. Andere Schüler abzufüllen… Nicki war es zuwider.
Eine weitere Person war auf sie zugetreten. Nicki seufzte erleichtert, als sie Joonas erblickte. Gleichzeitig spürte sie, wie ihr Verstand aussetzte – kein gutes Zeichen, bedachte man nur, dass sie so hilflos den zugedröhnten Leuten hier ausgesetzt wäre. Joonas trug einen dunklen, perfekt sitzenden Anzug, wie Nicki nun bewundernd feststellen durfte. Nicht so schimmernd und grässlich Aufmerksamkeit erheischend wie ihr eigenes rotgoldenes Kleid, in dem sie sich fast schon wie ein Mensch gewordener Weihnachtsbaum präsentierte. Zudem war es zu lang, da Hailey nicht so klein war wie Nicki selbst.
Nicki hob die Brauen, während sie registrierte, dass Joonas ihr die Hand hinhielt. Unsicher ergriff sie sie und lächelte schwach. „Wie wär’s zur Abwechslung mit einem ‚Hallo’?“ Sie versuchte, locker zu klingen, während Joonas sie wortlos in Richtung des Eingangs zog. Erst vor der Tür hielt er inne und musterte sie vergnügt.
„Die Farben harmonieren perfekt mit deinem Haar.“
Nicki seufzte, bemerkte aber, dass sie rot wurde. Vielleicht würde dies in einem roten Kleid nicht so arg auffallen? Sie hoffte es zumindest. „Also kein ‚Hallo’“, stellte sie fest. Dann fügte sie an: „Dein Anzug… er steht dir wirklich gut.“ Sie wusste, dass dieser Kommentar überflüssig war, doch Nicki hatte den Drang verspürt, irgendwie auf das Kompliment reagieren zu können. Eigentlich war es klar gewesen, dass dieser Drang sie nur in die Sackgasse bringen würde. Verlegen hob sie den Blick und sah, dass Joonas sie unvermindert interessiert musterte.
„Bist du bereit für viel kitschige Farbe, schlechte Musik und ungeniessbare Drinks?“ Joonas zeigte Anzeichen eines Lächelns, was Nickis Herz noch schneller schlagen liess.
Doch anscheinend schlug es nicht schnell genug, dass sich nicht ein weitere Gedanke in ihr Verstand drängen konnte; Sie wandte sich um und entdeckte Kaitlin, nun alleine, gierig an ihrem Bier nippend. „Vielleicht sollten wir…“ Nicki seufzte, während sie nach Luft schnappte. „Wir sollten Kaitlin wohl besser in unser zufälliges Treffen einbinden.“
Joonas folgte ihrem Blick und nickte schwach. „Das wäre wohl wirklich besser.“
Resigniert schritt Nicki mit Joonas zurück zu dem anderen Mädchen. Einzig der Gedanke, dass sie ihre Hand in der seinen verschränkt hielt, besänftigte die düsteren Vorstellung von dem weiteren Fortlauf dieses Abends. Ein angetrunkenes Mädchen an ihrer Seite übertraf wirklich jedes Horrorszenario, das sie sich für diesen Abend ausgemalt hatte. Aber – und Nicki konnte sich nicht erklären warum – fühlte sie sich tatsächlich für Kaitlin verantwortlich.
(16) - Zusammen -
„Weisst du eigentlich, dass heute offiziell Winterbeginn ist?“ Julianes Körper glühte, wie sie verwirrt feststellte. Seit Dominic vor ihrem Zimmer wie automatisch nach ihrer Hand gegriffen hatte, fühlte sie sich schon fast im wie im Fieberwahn gefangen. Dass er nun zudem unablässig mit seinem Daumen über ihren Handrücken strich… Noch immer schauerte Juliane bei der wohligen Berührung.
„Ich habe es wohl verdrängt.“ Sowie er nach Julianes Hand gegriffen hatte, hatte er auch seinen Blick unverhohlenen Interesses auf sie gerichtet. Selbst jetzt machte er noch keine Anstalten, seinen Blick zu senken. „Warum meinst du? Ist es ein weltverändernder Termin?“
Juliane lächelte und liess im Gegenzug ihren Blick durch den Raum schweifen. Es war stickig im Raum und obwohl sie etwas abseits standen, griff die rauchgeschwängerte Luft auch zu ihnen hinüber.
Da Juliane sich jedoch das erste Mal auf einem Anlass wie diesem wiederfand, hätte sie nicht urteilen können, ob das immer der Fall war. Stattdessen war sie dazu übergegangenen, mit nicht versteckter Bewunderung die Dekoration zu mustern; der Raum, der in etwa die Grösse zweier grosser Schulzimmer hatte und eine rechteckige Form aufwies, war der Wand entlang mit weissen, schneegleichen Bändern und mit Kugeln und Engeln verhangenen Nadelzweigen geschmückt worden. Dazu ragte am Nordende des Raums ein grosser Weihnachtsbaum in die Höhe, pompös und unübersehbar. An der linken Raumseite ging ein schmaler Gang zu den Toiletten ab. Daneben war ein Bartresen aufgestellt worden, der in seiner Weihnachtsdekoration der des Raums in nichts nachstand. Über ihren Köpfen hingen überall an dünnen Fäden befestigte, silbern funkelnde Schneeflocken herab, die im gedämpften Licht des Saals leicht auf und ab zu wippen schienen. In der Mitte befand sich die Tanzfläche, die von einem weissen, kristallenen Leuchter in Szene gesetzt wurde.
Juliane seufzte zufrieden, während sie sich eine Antwort überlegte. Neben ihr und Dominic befanden sich Lauren und Collin, die mit ihrem eisigen Schweigen eher Grabes- als Weihnachtsstimmung verbreiteten. Doch ihr Schweigen wurde von den Stimmen anderer Schüler erstickt; Bereits jetzt war der Raum mehrheitlich ausgefüllt. Die meisten Schüler fanden sich seitlich der Tanzfläche wider, nur die wenigsten hatten es bisher gewagt, sich dem Lichtkegel zu nähern. Juliane verstand die Skepsis der anderen Schüler durchaus: Keine zehn Pferde hätten sie zu dieser Tanzfläche bewegt.
„Immerhin ist damit der Herbst zu Ende“, erklärte sie schliesslich. „Und damit die peitschenden Winde, die farbige Laubschmückung der Bäume und die langen Tage.“
Dominic nickte kritisch. „Und was erhalten wir im Gegenzug?“
„Schnee.“ Sogleich fröstelte es Juliane, doch der Anflug der Kühle wurde sofort im Keim erstickt, als sie Dominics Daumen auf ihrem Handrücken beobachtete. „Kälte. Dunkelheit.“, flüsterte sie schliesslich angewidert.
„Das klingt ja grauenvoll.“ Dominic lachte. „Wie wäre es stattdessen mit Weihnachten? Oder mit Skifahren? Mit Spaziergänge durch die Schneelandschaft?“
„Kalt“, murmelte Juliane bloss und lächelte ebenfalls. Schwach schüttelte es sie bei dem Gedanken an Schnee - sie wusste, dass sie mit dieser merkwürdigen Form von Regen nie Freundschaft schliessen würde. So gerne sie Kunstschnee auch als Form der Dekoration sah – echter Schnee durfte ihr durchaus fernbleiben. „Du willst mir doch nicht sagen, dass du freiwillig Spaziergänge durch diese furchtbar kalte Schneelandschaft machst?“ Misstrauisch musterte Juliane Dominic. Er verzog keine Miene, bedachte sie weiterhin eines nicht deutbaren Blickes.
„Bisher nicht.“, gab er grinsend zu. „Aber vielleicht sollten wir gemeinsam mal einen dieser Spaziergänge machen? Dann siehst du, wie toll der Schnee sein kann.“
Ihr Bauch kribbelte. Irritiert rieb sich Juliane mit der freien Hand über die kribbelnde Stelle. Hatte sie vielleicht etwas Falsches gegessen? „Und was erhältst du im Gegenzug?“, fragte Juliane, noch immer mit misstrauisch verzogenem Mund.
„Deine Begleitung ist mir Geschenk genug.“, erklärte Dominic und betrachtete sie aus unschuldigen Hundeaugen.
Juliane schüttelte amüsiert den Kopf. „Sicher.“ Gleichzeitig spürte sie jedoch, dass sich ihr Herz irgendwie mit dem kribbelnden Bauch verbündet hatte. Juliane stockte. Sie hoffte inständig, dass das Direktorat hier nirgends Mistelzweige aufgehängt hatte – das hätten ihre Nerven und vor allem ihre vom vielen Herzklopfen geschundene Psyche nicht überlebt, schloss Juliane nun.
Erstaunt stellte Juliane fest, dass sich Hailey und Nicki in Begleitung zweier Jungen genähert hatten. Haileys Begleiter meinte Juliane schon einige Male zu Gesicht bekommen zu haben, zugleich jedoch war ihr Nickis Partner völlig unbekannt. Während Hailey ihre Hand fest in der ihres Begleiters verschlossen hielt, trottete Nicki etwas weniger selbstbewusst hinter dem blonden Mädchen her. Und schliesslich ganz am Ende der Truppe erkannte Juliane Kaitlin, die kränklich weiss im Gesicht war.
„Vier Bier“, erklärte sie, als sie zu den vier Pärchen aufgeschlossen hatte. Der Alkohol hatte ihre Stimme rauer werden lassen, erkannte Juliane sofort.
„Da wären wir also wieder vereint. Ich hätte nicht gedacht, dass das so schnell geht.“ Es war das erste Mal seit einer Stunde, da Juliane Laurens Stimme hörte. Sie klang genervt, doch – was weitaus erstaunlicher war – auch erleichtert.
„Zufälle gibt’s doch.“ Nicki grinste ihre Begleitung – einen Jungen mit weissblondem Haar und eisblauen Augen – verstohlen an. Er lächelte zurück.
„Ich schätze, dann wäre es jetzt wohl angebracht, wenn jemand Getränke holen geht.“, schlug Dominic vor. Juliane erkannte, dass er Kaitlin dabei kritisch musterte, offensichtlich unentschlossen, was er in ihrem Falle tun sollte. „Ich mach das“, meinte er gleich weiter.
Niemand erwiderte etwas dagegen. Nur Nickis Begleiter hob überrascht die Brauen. „Du willst neun Getränke alleine tragen?“
Juliane nahm aus den Augenwinkeln wahr, wie Kaitlin bei der Erwähnung der Menge leise gluckste – eine ungerade Zahl. Sie spürte instinktiv, dass dieses Mädchen nicht ohne Grund diesen Abend bereits etwas zu alkoholreich eingeläutet hatte. Mit dem Anflug von Besorgnis sagte sie: „Ich gehe mit.“
Dominic lächelte neckisch. „Das hatte ich eigentlich auch gehofft.“
„Und das geht für euch in Ordnung?“ Lauren schien nicht überzeugt.
„Ich gehe auch mit“, meldete sich nun Kaitlin erneut zu Wort. Sie lächelte etwas verzerrt. „Ich brauche Bewegung.“
Juliane wagte es nicht zu widersprechen. Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn Kaitlin sich ihren Rausch mit etwas Bewegung austrieb? Gleichzeitig jedoch spürte sie Bedauern dafür, nicht mit Dominic alleine sein zu dürfen. Verstört über ihr Gefühlschaos knabberte sie an ihrer Unterlippe. Schliesslich zwang sie sich ruhiger zu atmen, und fragte: „In Ordnung. Wer will was?“
Kaitlin ging aufgewühlt hinter Juliane und dem blondhaarigen Jungen her. Trotz ihres nicht sehr guten physischen Zustandes hätte sie schwören können, dass sein perfekt sitzendes Haar und die Gesichtszüge eine Verwandtschaft mit Lauren verrieten. Dominic, erinnerte sie sich schliesslich an den Namen des Jungen.
Möglichst klein folgte sie den beiden bis zur Bar. Sie wirkten so glücklich, sich so nah. Keiner der beiden war einsam. So war Kaitlin nicht gewillt, diese Zweisamkeit irgendwie zu stören.
Kaitlin stöhnte leise. Langsam lösten Kopfschmerzen das Gefühl von Schwindel ab. Sie schwor sich, an diesem Abend nur noch Limonade zu trinken. Keinesfalls wollte sie sich weiter blamieren.
Vor sich hörte sie den Jungen lachen, was Kaitlins Schläfen noch mehr pochen liess. Verwirrt kratzte sie sich an der Stirn. Konnte Juliane lustig sein? Erneut stöhnte sie. In diesem Augenblick wünschte sie sich in ihr Bett, weit, weit weg von diesem stickigen, von glücklichen Pärchen verseuchten Saal.
„Ich werde dich ganz einfach auf die Tanzfläche zerren“, erklärte Dominic gerade.
Kaitlin hörte Juliane protestieren, doch ihre Gegenwehr beschränkte sich auf ein mürrisches Grummeln.
Tatsächlich wäre auch Kaitlin nie freiwillig auf die Tanzfläche gegangen. Abgesehen davon, dass sie zwei linke Beine hatte, dröhnten im Fünfminutentakt die grässlichsten Schnulzen aus den grossen Lautsprecherboxen zu beiden Seiten der Tanzfläche.
„Keine zehn Pferde bringen mich da rauf“, meldete sich Juliane schliesslich doch zu Wort.
Kaitlin konnte ihr nur zustimmen.
„Schön, dass ich kein Pferd bin“, erwiderte Dominic lediglich.
Eine gute Antwort. Kaitlin begann Gefallen daran zu finden, den beiden bei ihrem Gespräch zu lauschen. Es fehlten lediglich Schokonüsse und alles wäre perfekt gewesen.
Überrascht stellte Kaitlin fest, dass sie die Bar bereits erreicht hatten. Ein junger Mann – wahrscheinlich ein Student und früherer Schüler an diesem Internat – war für das Mixen der Getränke zuständig. Mit einem kurzen Nicken bedeutete er ihnen zu warten, bis sie an der Reihe waren.
Juliane hatte sich mittlerweile umgewandt und Kaitlin konnte sehen, dass sie noch immer darum kämpfte, der Tanzfläche möglichst fern zu bleiben.
„Sie ist leer“, stöhnte Juliane nun. „Die Tanzfläche ist leer. Die Schüler wissen, was gut für sie ist. Können wir nicht auch zu diesen belesenen Schülern gehören?“ Sie bettelte nun schon fast, wie Kaitlin lächelnd feststellte.
Dominic bedachte sie mit einem spitzbübischen Lächeln. „Bald nicht mehr. Bald muss man sogar für einen Platz auf dieser Fläche die Fäuste spielen lassen.“
„Untersteh dich!“ Hilfesuchend hatte sich Juliane an Kaitlin gewandt. So zumindest schätzte Kaitlin den Blick ein, den sie nun einfing.
„Ihr könnt ja den anderen einfach beim Tanzen zuschauen?“, schlug Kaitlin zögernd vor. Viel lieber als sich einzumischen lauschte sie dem Gespräch der beiden.
„Das können wir aber auch tun, während wir selbst tanzen“, entgegnete Dominic.
Nun galt Julianes kritischer Blick der Tanzfläche „Ich soll Augen für andere Leute haben, wenn ich doch selbst schon genug Mühe habe, mich beim Tanzen auf zwei Beinen zu halten?!“
„Also, ich zumindest habe nichts dagegen, wenn du nur Augen für mich hast“, stellte Dominic neckisch grinsend klar.
Ehe Juliane jedoch etwas erwidern konnte, hatte sich der Student hinter dem Tresen an sie gewandt. „Was darf’s sein?“
Nur mit einem Ohr hörte Kaitlin zu, als Dominic das Bestellen übernahm. „Für mich eine Limonade“, warf sie gerade noch rechtzeitig ein.
Der Barkeeper bedachte sie mit einem überraschten Blick. „Limonade? Da bist du die erste, die so was bestellt.“ Fast schon wirkte er bei seinen Worten sogar angeekelt. Schliesslich drehte er sich jedoch achselzuckend um und machte sich daran, ihre Getränke vorzubereiten. Ein Gähnen unterdrückend schaute Kaitlin ihm dabei zu, wie er geschickt mit den Flaschen hantierte.
Als Erstes schob er die Limonade über den Tresen. Entgeistert blickte Kaitlin dem Glas nach, als es über den Tresen glitt und am anderen Ende des Tisches gegen einen Aschenbecher stiess. Einige Limonadentropfen spritzten bis zu benachbarten Personen. Einige Schüler blickten auf, andere blieben weiterhin in ihre Gespräche vertieft.
„Dort drüben hat es frische Zitrone“, erklärte der Barkeeper gelangweilt. Nachdem er Kaitlins empörten Blick bemerkt hatte, fügte er an: „Du wolltest Limonade, Kleine, nicht ich.“ Erneut wandte er sich ab, um die restlichen Getränke vorzubereiten.
Kaitlin spürte Julianes Hand beschwichtigend auf ihrer Schulter. „Das ist ein Idiot. Hol du dir die Zitrone und deine Limonade, wir warten unterdessen auf die Getränke.“, schlug das andere Mädchen nun vor.
Kaitlin nickte zögerlich und wirbelte herum. Hinter sich hörte sie Dominic noch fragen: „Du fluchst?“, doch dann erstickten bereits andere Stimmen Julianes Antwort.
Mühsam kämpfte sich Kaitlin an zwei Grüppchen vorbei – eines bestehend aus vier aufgeregt schnatternden Mädchen, eines bestehend aus drei in schwarze Anzüge gekleideten Jungen aus dem Abschlussjahrgang. Die Anzüge sahen verschlissen aus, verbreiteten einen schalen, nicht genau deutbaren Geruch. So schob sich Kaitlin möglichst weit an ihnen vorbei. Sie wusste, dass es nur Pech sein konnte, dass sich ihr Glas direkt neben der Gruppe der drei Jungen wiederfand. Seufzend griff sie über den Tresen nach einer Zitronenscheibe und steckte sie sich an den Glasrand.
Als sich Kaitlin wieder umdrehte, musterte sie einer der Jungen spöttisch: Raspelkurzes, schwarzes Haar und ebenso dunkle Augen liessen ihn düster erscheinen. Kaitlin schauderte es. Schnell machte sie sich auf den Weg zurück zu Juliane und Dominic und versuchte gleichzeitig, den kalten Blick aus ihrem Gedächtnis zu verbannen.
Nicki nippte widerstrebend an ihrem Glas. Das Getränk roch säuerlich und zudem hatte der Barkeeper nicht an Alkohol gespart. Nicki hatte den Verdacht, dass es auch auf ihre Körpergrösse zurückzuführen war, wie wenig Alkohol sie doch vertrug. Angewidert schüttelte sie den Kopf.
„Du siehst so aus, als würdest du dich am liebsten in deinem Drink waschen“, stellte Joonas schwach lächelnd fest.
Nicki legte den Kopf schief. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, wie Hailey und Chris sich von der Gruppe lösten und in Richtung Ausgang verschwanden. Frische Luft hätte auch Nicki jetzt gut getan, doch sie beschloss, sich zusammenzureissen.
„Unbedingt“, murmelte sie grinsend. „Dann würde zumindest mal jemand eine neue Duftnote an dieser Schule setzen. All diese teuren Parfums… langweilig“, erklärte sie möglichst überzeugend.
„Dann würdest du dich aber von Verehrern nicht mehr retten können.“ Joonas verzog den Mund gespielt besorgt.
Nicki versuchte ihn mit der nächsten Frage aus der Reserve zu locken. „Und da hättest du nichts dagegen?“ Ihre Stimme brach. Wo war ihre Schlagfertigkeit bloss hin verschwunden? Nun, da Joonas nur wenige Zentimeter entfernt stand, um dem Lärmpegel möglichst zu entgehen und mit ruhiger Stimme weitersprechen zu können – wäre es da nicht Nickis Aufgabe gewesen, irgendwie die Initiative zu ergreifen? Oder tat das doch besser der Mann? Sie seufzte schwach.
„Ich würde mich mit Johann verbünden“, erklärte Joonas schlicht und lächelte breiter.
Nicht die Antwort, die Nicki hatte hören wollen. „Und du lässt mich einfach so wie ein begossener Pudel in einem Rudel aus Verehrern verschwinden?“, versuchte sie es weiter.
„Du bist ein begossener Pudel?“, fragte Joonas, offenkundig amüsiert.
„Nachdem ich mir mein unglaublich leckeres Getränk über den Kopf geschüttet habe, um mich darin zu waschen – sicher.“ Nicki grinste zaghaft zurück. Nun, da Joonas Goethe erwähnt hatte, tauchte eine weitere Frage in ihrem Kopf auf. Sie wagte es nicht, sie auszusprechen.
So entstand ein Schweigen. Nicki sah, wie Joonas sie nachdenklich musterte. Sie widerstand dem Drang, heftig zu schlucken, und fuhr sich stattdessen mit der freien Hand über den Kopf, um zu testen, ob ihre Frisur noch sass. Eine Strähne hatte sich gelöst, stellte Nicki betrübt fest. Eigentlich hätte sie es wissen müssen – immerhin hatte sie schon seit über sechzehn Jahren miterleben müssen, wie sich ihr Haar mit fortschreitendem Alter zunehmend unbändiger und lockiger gezeigt hatte.
Erstaunt zuckte Nicki zusammen, als Joonas ihr die Frage schliesslich aus dem Mund nahm. „Bist du unseren Johann eigentlich seit damals ein weiteres Mal besuchen gegangen?“
Nicki nickte schwach. Sie wagte es nicht, zu erwidern, wie sehr sie dieser Brief verwirrt hatte. Nicht nur der Inhalt war einem Meer aus verwirrenden Andeutungen gleichzusetzen gewesen – zugleich hatten auch Nickis Nerven, die für jegliche Gefühlsregungen verantwortlich waren, verwirrend reagiert. Sie war sich sicher, dass Joonas dies nicht hätte hören wollen.
„Dann hast du… zufälligerweise vielleicht einmal etwas in einem der Bücher gefunden?“, forschte Joonas weiter nach. Er hatte die Lippen aufeinander gepresst, Nicki nahm an, weil es sich auch als schwierig für ihn darstellte, sie auf den Brief anzusprechen.
Nicki hingegen spürte, dass sie sich entspannte. Tatsächlich brachte sie ein Lächeln zustande. „Zufälligerweise könnte ich mal etwas gefunden haben.“, gab sie zu.
„Ein Zettelchen?“
„Mit ominösem Absender.“ Nicki nickte erneut und fuhr sich verlegen über die trockenen Lippen.
Joonas lächelte nun ebenfalls schwach. „Das klingt wirklich… ominös. Ich weiss wirklich nicht, was mich da geritten hat.“
„Höre ich da etwa Schuldgefühle heraus? Soll das ein Geständnis sein?“ Nickis Herz schlug heftig. Redete er sich jetzt etwa mit der Aussage aus der Sache, dass er sich an diesem Tag merkwürdig gefühlt hatte?
„Ich gestehe.“ Joonas hob abwehrend die Hände, dann fügte er leiser an. „Das Gespräch am Vortag ging mir irgendwie nicht mehr aus dem Kopf und da hatte ich plötzlich einen Stift in der Hand…“
Nickis Herz schlug noch schneller. Diese Ausrede gefiel ihr eindeutig besser als „Ich weiss nicht, was mich da geritten hat“. „Sollte das Briefchen etwa ein Gedicht darstellen?“, hackte sie von ihrer Neugier getrieben nach.
Joonas lachte schallend. Überrascht hob Nicki die Brauen.
„Das überlasse ich wohl besser Johann“, erklärte er achselzuckend.
„Und…“ Nicki zögerte. „Wie deutest du das, wenn dir ein Gespräch nicht mehr aus dem Kopf geht?“ Nicht, dass sie ihn falsch verstand, schloss sie in Gedanken.
Erneut zuckte Joonas die Schultern. „Wenn ich das bloss wüsste. Das passiert mir nicht so häufig. Eigentlich war es sogar das erste Mal.“
Wäre ein Herzchirurg in der Nähe gewesen – er wäre ob Nickis schnellem Herzschlag in Panik geraten. „Dann fühle ich mich also geehrt.“
Joonas lachte. „Das solltest du. Du bist etwas Besonderes.“
Nicki glaubte, ihr Herz würde nun ganz aussetzen. Atemlos hauchte sie: „Danke.“
Joonas lächelte sie zögernd an. Dann spürte Nicki, wie sich seine Hand in ihrer verschränkte. Sie seufzte schwach, während sich ein wohliges Schweigen zwischen ihnen ausbreitete.
der Fortlauf dieses Abends hatte erneut all ihre Erwartungen übertroffen. Aber dieses Mal fühlte sich Nicki bei dem Gedanken daran glücklich, leicht, sorgenlos. Wortlos musterte sie Joonas – und er starrte mit sanftem Blick zurück. Jede Faser ihres Körpers genoss diese ihr völlig neue Wärme.
Lauren hörte Kaitlin schwach husten – das dritte Mal in zwei Minuten.
„Alles in Ordnung?“ Wie sie empfand, eine äusserst grosszügige Frage. Sich für solche Belange und kleinere Problemchen zu interessieren… Das wäre normalerweise nicht Laurens Ding gewesen. Aber sie zwang sich zu scheinheiligem Interesse, insbesondere, weil Collin neben ihr dazu übergegangen war, müde zu grinsen. Lauren hatte das tückische Gefühl, dass dieses Grinsen von seinen Hoffnungen für den Ausgang dieses Abends rührte. So legte sie auch noch ein gesundes Mass Besorgnis in die Stimme, als sie meinte: „Vielleicht war das mit dem Alkohol doch nicht so eine gute Idee.
„Das war Limonade“, krächzte Kaitlin zurück. Sie fuhr sich über die feuchte Stirn, das Gesicht kalkweiss.
Kritisch musterte Lauren das leere Glas in Kaitlins Hand. „Trotzdem. Zuvor waren es wie viele Bier?“
„Vier.“ Kaitlins Stimme brach. Lauren sah, wie Kaitlin sich nun die Hand über die Augen legte. Sie hörte das andere Mädchen pfeifend einatmen. „Ich werde wohl bald gehen“, erklärte Kaitlin nun schwach.
Lauren antwortete nichts darauf. Sie brauchte nicht zu erwidern, dass der Ball erst gerade richtig anfing; ein Blick auf die Tanzfläche verriet ihr, dass zunehmend mehr Schüler gefallen an den Schnulzen fanden. Bedachte man nur den durchschnittlichen Alkoholpegels eines jeden Schülers hier… Lauren überraschte der plötzliche Tanzwille nicht.
Kaitlin war Laurens Blick gefolgt. „Ich weiss…“, hauchte sie. „Ich kann sowieso nicht tanzen.“
Einmal abgesehen von der Tatsache, dass sie sowieso keinen Partner gehabt hätte, zischte Laurens innere Stimme – sie sprach ihre Gedanken nicht aus. Stattdessen zierte ein zuckersüsses Lächeln ihr Gesicht. „Übernimm dich bloss nicht.“ In Gedanken jedoch fragte sich Lauren: Wie konnte man so tief sinken, dass man Besorgnis vorheischte, nur um den Anbändelungsversuchen irgendeines Idioten zu entgehen?
Lauren wusste, dass ihre Gedanken bei Dominic keinen Gefallen gefunden hätten – immerhin handelte es sich bei Collin um seinen besten Freund. Doch dieser war vollends gerade damit beschäftigt, die sich heftig widersetzende Juliane zur Tanzfläche zu dirigieren.
„Mir ist etwas schwindelig“, stöhnte Kaitlin nun.
Lauren fühlte sich in ihrem Element. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie Collin dazu angesetzt hatte, sie nach einem Tanz zu bitten. „Sollen wir uns setzen gehen?“, meinte sie mit in Falten gelegter Stirn. Nun verstummte er.
„Geht schon.“
„Noch eine Limonade?“, fügte Lauren schnell an, als sie meinte, Collin hätte erneut die Lippen geschürzt.
„Glaub mir, dieses Prozedere willst du dir nicht antun. Das ist irgendwie nicht so spassig.“, entgegnete Kaitlin seufzend.
„Wenn du meinst.“, sagte Lauren düster. Sie ahnte, dass sie Collins Bitte nicht mehr lange würde ausweichen können – keine gute Vorstellung für den weiteren Verlauf dieses Abends. So stimmte sie in Kaitlins Seufzen ein.
„Ich kann nicht tanzen“, versuchte Juliane es ein letztes Mal. Geschweige denn in diesen Schuhen überhaupt gerade laufen, fügte sie in Gedanken an. Doch sie wusste, dass alles zwecklos war: Sie und Dominic befanden sich bereits auf halbem Weg zur Tanzfläche. Sie fühlte seine drängenden Hände auf ihrem Rücken und seufzte leise. Gleichzeitig nahm sie die Blicke wahr, die eifersüchtige Mädchen rings um sie herum austauschten. Auch deshalb war Juliane gewillt gewesen, etwas abseits - oder besser noch; möglichst weit in einer Ecke der Halle - ihren Zufluchtsort zu finden.
Spätestens nachdem sie Dominic mit den Getränken geholfen hatte, hatte sie regelrecht gerochen, wie der Neid anderer Mädchen die Luft verpestet hatte. Nun jedoch fühlte sich alles noch schrecklicher an, insbesondere, da ihr Zielort kein geringerer als die Tanzfläche war.
Mit leisem Grummeln erklomm Juliane die zwei Stufen zu der Fläche, die unter normalen Umständen als Bühne diente. Nun gab es kein Zurück mehr, wurde ihr schaudernd bewusst. Ihre letzte Hoffnung schwand; der Vorhang war gefallen.
Doch ihr blieb keine Zeit, nach Luft zu schnappen, da hatte Dominic sie auch bereits auf dem Absatz herumgewirbelt. Selbstbewusst legte sich seine linke Hand um ihre Hüfte, während die rechte auf ihrer Schulter ihren neuen Standort fand. Neckisch grinste er sie an. „Ich musste wirklich die Kraft von elf Pferden aufwenden, um dich auf die Tanzfläche zu bewegen.“
„Kann schon sein.“, gab sich Juliane kleinlaut. In Gedanken rieb sie sich jedoch schadenfreudig die Hände – so war sie zumindest nicht die einzige, die an diesem Abend hatte leiden müssen.
Unsicher versuchte Juliane nun, den Takt des Liedes herauszuhören, das gerade aus den Boxen dröhnte. Ein Midtempo-Song, dem Juliane für den Rest ihres Lebens nicht mehr würde lauschen können, wie sie sich sicher war. So, wie sie sich eben blamierte… Erneut schauderte es Juliane.
Newton Faulkner erkannte Juliane den Sänger, während er mit melancholischer Stimme die nächsten Zeilen einstimmte. You do so much that you don't know. It's true and I know now who I am. Gitarrenklang unterstrich die Bedeutung seiner Worte. Juliane seufzte schwach. Der Text war wunderschön – ihre Darbietung dafür umso weniger.
Da spürte sie Dominiks warmen Blick auf ihrem Gesicht, der ihre Wangen noch weiter erglühen liess. Sein Griff um ihre Hüfte wurde fester, während er sein Gesicht an ihr Ohr legte und leise flüsterte: „Entspann dich. Lass dich fallen.“
Juliane schmiegte sich noch enger an ihn, bei Dominic Schutz vor all den neidischen Blicken suchend, die sie selbst jetzt während des Tanzens noch trafen, und versuchte, über Dominics Ratschlag nachzudenken. Sich fallenlassen? Juliane stellte es sich als äusserst schmerzhaft vor. Zudem drückten ihre Schuhe bereits genug…
„Hab keine Angst. Ich fang dich auf.“ Dominics Stimme war sanft. Sein Atem prickelte wohlig an Julianes Ohr. Schwach seufzte sie. Sollte sie es versuchen?
In weiter Ferne nur noch nahm sie das Lied war, Newton Faulkner, der mit herzergreifender Intensität sang: Dream catch me when I fall.
Da wusste es Juliane. Ganz gab sie sich den letzten Takten hin. Die gitarrenlastige Melodie liess ihre Beine erzittern, doch es machte ihr nichts mehr aus. Sie konzentrierte sich vollends auf die Musik, auf Dominic, der seinen Kopf nun langsam zurückschob, nur um Juliane dann Auge in Auge zu mustern.
Juliane zwang sich dazu, all die verletzenden Blicke der anderen Mädchen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen, all die Zweifel zu seinen Gefühlen, die sie in den letzten Wochen geplagt hatten, fand schliesslich Zuflucht in Dominics Blick – sie verschmolz in der Dunkelheit, der pulsierenden Wärme seiner Augen, nahm nichts Anderes mehr wahr. Und dann – Juliane hätte es nicht mehr sagen können, ob sie oder Dominic es war, der den letzten Schritt tat – fanden sich ihre Lippe auf seinen wieder. Es war ein leidenschaftlicher Kuss, der keinen Raum für Skrupel ob der Aufrichtigkeit der Gefühle liess. Sie genoss es, wie seine Zunge mit ihrer spielte, genoss die ungewohnte Vertrautheit. Juliane hatte sich ganz fallen lassen.
In einiger Entfernung hauchte Newton Faulkner seine letzten Worte: Hold it close won't let this go…
Während die Melodie des nächsten Liedes den Raum einnahm, durchbrach ein schriller Schrei die stickige Luft.
„Sie ist bewusstlos!“, kreischte irgendwo eine Frauenstimme durch den Raum.
„Atmet sie noch?“
„Der Puls ist schwach!“
„Ruft den Notarzt!“ Panik schwang in der Stimme des Jungen mit, die nun durch den Raum schallte.
Das muntere Geschehen im Raum fand ein abruptes Ende, Tumult breitete sich aus.
In allen Köpfen keimte die Frage: Was war nur passiert?
(17) - Vertrauensbruch -
Gierig sog Hailey die frische Nachtluft ein. Nun, da der eigentliche Weihnachtsball erst richtig anfing und die Temperaturen in die Minusgrade gesunken waren, waren fast alle Schüler in das stickige Innere geflüchtet. Nur vereinzelt fanden sich noch drei, vier kleine Grüppchen auf dem Vorhof wieder. Wie Hailey mit einem verlegenen Lächeln dachte, war ihr das durchaus Recht. Unschlüssig blickte sie zu Chris auf, der nur ein kleines Stückchen von ihr entfernt stand.
„Es tut gut, wieder draussen zu sein, nicht?“ Er zeigte sein typisches Lächeln und Hailey spürte, wie ihr dabei wärmer ums Herz wurde.
„Das tut es“, stimmte sie zu. Innerlich brodelten ihre Gedanken über – wie weit sollte sie heute hier draussen gehen, wo sie doch erst gerade entschlossen hatten, einen Neustart zu wagen? Wie weit wollte Chris überhaupt gehen? Und warum verspürte Hailey bloss das innige Verlangen, Chris zu küssen? Unsicher trat Hailey einen Schritt näher.
„Ist dir kalt?“, fragte Chris besorgt. Sein Blick war über ihre dünne Strickjacke geglitten, die Hailey über dem Kleid trug.
Schwach schüttelte Hailey den Kopf. Zwar stimmte dies nicht ganz – Gänsehaut hatte sich über ihren gesamten Körper ausgebreitet –, doch gleichzeitig verspürte sie tatsächlich Hitze in sich aufwallen.
„Das kommt mir alles so irreal vor“, erklärte Chris nun. „Du und ich hier. Daran hätte ich nie freiwillig gedacht.“
Gespielt empört hob Hailey die Brauen. Sie hoffte, er würde ihre Mimik trotz dem Halbdunkel erkennen können. „Empfindest du das ‚uns’ oder unseren Standort als irreal?“, hackte sie nach. Nur mühsam konnte Hailey ein Lächeln unterdrücken. Sie glaubte die Antwort bereits zu kennen, ehe Chris weiter ausführte.
„Den Standort“, sagte er bestimmt. Er lachte schallend – dann hielt er inne. „Du sprichst von einem ‚uns’“, stellte er beherrschter lächelnd fest.
„Das tue ich“, erwiderte Hailey ebenso bestimmt. Sie zwang sich dazu, ihre Schüchternheit beiseite zu schieben, indem sie heftig schluckte. Ob auch der Drink, den sie sich genehmigt hatte, ihr zu dieser Offenheit verholfen hatte… Hailey hätte es nicht sagen können.
„Hmm.“ Dieses Mal war Chris weiter auf Hailey zugetreten. „Weißt du, mir gefällt Punkt 7 5/6.“
„Stimmt. Die Aussicht von hier ist toll.“ Hailey lächelte. Die Zukunftsaussicht, ergänzte sie in Gedanken.
Unweit vor Hailey hielt Chris in seiner Bewegung inne und griff nach Haileys Händen. „Ich hätte dir schon längst erklären sollen…“ Chris zögerte. „Die Sache mit dem Notfallgroschen“, versuchte er es dann erneut.
Hailey lächelte breiter. Nur zu gut erinnerte sie sich daran, wie sie sich ihm selbst als Notfallgroschen beschrieben hatte. Neugierig, wie er selbst sie sah, legte Hailey den Kopf schief.
Doch Chris erhielt keine Möglichkeit auszusprechen. Eine grössere Menge Licht flutete durch den Vorhof, als im nächsten Augenblick die Eingangstür zum Gesellschaftsraum aufgerissen wurde – so heftig, dass die Tür gegen die Wandverkleidung prallte. Ein ohrenbetäubendes Quietschen ertönte, während Hailey ob der plötzlichen Helligkeit gezwungen war, heftig zu blinzeln.
„Was…?“, flüsterte sie ungläubig, als sie schliesslich die Augen zu Schlitzen verengt öffnete. Schüler strömten durch die Tür, schrien wild durcheinander. Verängstigt wand sich Hailey aus Chris Händedruck. Sie sah, dass er ebenso überrascht aussah, wie Hailey sich fühlte. Doch ihr blieb keine Zeit, nach den Zusammenhängen zu forschen, da erfasste ihr Blick bereits ein Mädchen, dessen wallende rotbraune Mähne hinter ihm herpeitschte. Nicki – sie stürmte geradewegs auf Hailey und Chris zu.
„Es ist Kaitlin!“, rief sie bereits aus einigen Schritten Entfernung. Schliesslich kam sie schlitternd zum Stehen, keuchte erschöpft. „Ihr… ihr müsst sofort reinkommen. Sie atmet nicht richtig.“
Hailey erstarrte. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. „Was ist passiert?“, hauchte sie schwach.
„Sie… sie ist bewusstlos“, stotterte Nicki bloss, offensichtlich über ihre eigenen Worte irritiert. „Es ging alles so schnell. Eben stand sie noch neben mir, und dann… Der Notarzt ist unterwegs.“ Wie in Zeitraster war Nicki herumgewirbelt und wollte eben zurück zum Gebäude eilen, doch da griff Hailey am Arm.
„Warte!“, flüsterte Hailey. „Was ist passiert?“, wiederholte sie ihre Frage.
„Ihr geht es nicht gut… Sie muss einfach durchkommen.“ Nickis Stimme zitterte.
Chris war es, der Hailey die Aufgabe abnahm, ein drittes Mal danach zu fragen: „Verdammt noch mal, Nicki, was ist da drinnen passiert?“
Überrascht von der Lautstärke von Chris‘ Stimme hob Nicki erstmals den Blick – ihre Augen waren schockgeweitet. „Es heisst…“, stotterte Nicki unbeholfen, schien sich dann aber etwas zu fassen. „Es heisst, dass jemand Kaitlin etwas in den Drink gemischt hat. Drogen.“
So schnell sie ihre Füsse trugen, war Hailey hinter Chris und Nicki zurück zum Gebäude geeilt. Panik machte sich nun auch in ihr breit.
Sofort erkannte sie, dass tatsächlich etwas geschehen sein musste: Eine Menschentraube hatte sich am linken Flügel des Raums gebildet. Hektische Stimmen fuhren durch den Raum und Gerüchte verbreiteten sich wie Fegefeuer.
„Vielleicht hat es was mit der Sache an Halloween zu tun. Ralph war doch auch bewusstlos.“, hörte Hailey eine Schülerin raunen, als sie sich näher an den Kern des Geschehens drängten. Manche stöhnten protestierend auf, während Nicki und Chris den anderen bedeuteten, ihnen Platz zu schaffen.
„Drängt euch nicht vor!“, knurrte ein Junge.
Ein anderer erwiderte: „Mit der Neugier kann man’s auch übertreiben.“
Doch neben den Vorwürfen erlauschte Hailey weitere Wortfetzen, die im Zusammenhang mit Kaitlins Zusammenbruch standen: „Drogen waren’s, ich könnte es schwören!“, meinte ein Junge grossspurig. Dann erklärte er: „Ich habe dem Mädchen vier Bier gegeben – die hat sie vertragen, ohne gleich umzukippen. Wenn du mich fragst, waren’s die Drogen.“
„Aschfahl ist sie geworden… dann einfach umgekippt. Lauren soll sie zum Glück aufgefangen haben. Lauren Newcole“, gab sich ein Mädchen ungläubig.
Endlich erspähte Hailey Juliane und Lauren in der Menge. Beide starrten zu einem Punkt in der Mitte des Kreises, die Münder vor Schreck weit geöffnet. Keuchend kamen Hailey, Chris und Nicki bei ihnen an.
„Ihr werdet wahrscheinlich bereits vom hartnäckigsten Gerücht gehört haben?“ Lauren hatte die Arme verschränkt. Ehrlich besorgt blickte sie auf den leblosen Körper zu ihren Füssen.
Als würde sie nur schlafen, lag Kaitlin reglos auf dem Boden, die Augen fest verschlossen. Lediglich der vor Schreck verzerrte Mund und die kränkliche Gesichtsfarbe sprachen davon, dass nicht nur Schlaf ihr so zugesetzt haben konnte.
Hailey musste mit den Tränen kämpfen, als sie das andere Mädchen so sah. Nun erfasste auch sie der Unglaube. Mühsam schluckte sie den Drang zu weinen hinunter.
Dominic und Joonas kauerten neben Kaitlin. Der eine Junge stützte ihren Kopf, der andere hielt die Finger auf ihr Handgelenk gedrückt und mass augenscheinlich den Puls.
„Er ist weiterhin schwach“, hörte Hailey Joonas leise flüstern. „Verdammt. Wo bleibt nur die Ambulanz?“
„Wenn ihr wirklich jemand Drogen in die Limo gemischt hat…“ Nicki hob drohend die Faust, antwortete so auf Laurens Frage.
„Das Schlimme daran ist, dass ich es hätte verhindern können.“ Erstaunt stellte Hailey fest, dass die sonst so kontrollierte Juliane schwach schluchzte. „Ich stand neben ihr an der Bar, habe nichts gross gesagt, als der Barkeeper ihr Glas einfach unbeaufsichtigt ans andere Ende des Tresens gestossen hat. Da waren diese merkwürdigen Typen – verschlissener Anzug, kaltes Lächeln. Oder vielleicht war es gar der Barkeeper selbst?“ Juliane vergrub ihr Gesicht in beiden Händen.
„Du trägst keine Schuld!“ Lauren legte dem anderen Mädchen beruhigend die Hand auf die Schulter, doch dieses wich schaudernd zurück. Das leise Geräusch nahender Sirenen begleitete die Szenerie.
„Ich war untätig. Einfach nur untätig“, flüsterte Juliane weiter, ehe ihre Stimme brach.
Laurens Bruder Dominic hatte nun ebenfalls den Blick gehoben, die Hände immer noch schützend unter Kaitlins Kopf platziert. Besorgt musterte er Juliane, ehe er erklärte: „Von euch braucht sich keiner ein schlechtes Gewissen zu machen. Habt ihr es denn nicht gehört? Überall murmeln sie es: Es war dieser schmierige Typ… Trevor.“ Angeekelt verzog Dominic den Mund. Seine Worte wurden von dem Geräusch von lauter werdenden Sirenen begleitet. In der Ferne hörte Hailey im nächsten Augenblick bereits die Wagentüren zuknallen und Schüler erleichtert aufschreien, während Dominik mit verärgerter Stimme anfügte: „Graham. Trevor Graham.“
Kaum waren erste Sanitäter in der Kern der Schülertraube vorgestossen, hatte sich Hailey auf dem Absatz gekehrt und war nach draussen gestürmt. Fragen schossen wie giftige Pfeile auf sie ein. Gleichzeitig spürte sie unbändige Wut in sich aufkeimen – über ihre Naivität, über Trevor Graham, doch am meisten über sich selbst. Christopher Graham, sprach sie in Gedanken nach und spürte ihr Herz gleichzeitig reissen. Bereits zum zweiten Mal an diesem Tag sah sich Hailey in einem Déja-vu gefangen: Sie, wie sie an ihrem ersten Abend schüchtern vor dem alten Hausmeister stand, ihm nervös dabei zuschaute, wie er in seinen Akten blätterte. „Graham?“, hatte er damals bei Chris nachgehackt, kaum hatte der Junge ihm seinen und Haileys Namen mitgeteilt. Dann hatte der schrullige Mann Hailey in ihr Zimmer geschickt, wollte lieber noch eine Weile alleine mit Christopher Graham sprechen.
Weitere Erinnerungen peitschten sogleich auf ihr heiss glühendes Gedächtnis; Chris‘ ausserordentlich guten Kenntnisse zum Gelände während ihrer ersten Fahrt zum Internat. All die Tage, da sie Chris mit diesem merkwürdigen, unsympathischen Jungen gesehen hatte. Der Morgen, da er Hailey aus dem Weg gehen wollte, weil er zuvor heftig mit diesem Jungen diskutiert hatte. Einer der Morgen kurz nach Halloween, ergänzte Hailey ihre Erinnerungen – und ein weiterer Moment aus der Vergangenheit holte sie bei der Erwähnung von Halloween ein. Ein Moment, der ihr Herz endgültig entzwei brechen liess.
„Der Beinahe-Kuss“, flüsterte sie wortlos. Tränen erstickten die auflodernde Wut. Blind rannte sie über den Vorhof, blieb schliesslich stehen. Plötzlich schien Hailey die Luft unerträglich heiss, als sie an diese wenigen Minuten der Zweisamkeit zurückdachte. Und dann hatte Chris sie unerwartet zurückgestossen, als die Polizei das Internat gestürmt hatte. Hatte sie dazu gedrängt, in ihr Zimmer zu verschwinden.
An diesem Abend war dieser andere Junge… Ralph… Opfer einer erhöhten Dosis Drogen geworden. Vielleicht hatte man ihm auch Tabletten in sein Getränk gemischt? Oder in sein Essen? Vielleicht war er genauso unschuldig, wie Kaitlin es nun war…
Für die Dummheit und Ignoranz eines Menschen – Trevor Graham – schwebte Kaitlin in Lebensgefahr. Hailey konnte es einfach nicht fassen. Ihr ganzer Körper erzitterte, war ausser Kontrolle.
Chris hatte es die ganze Zeit gewusst, schoss ihr der nächste Gedanke wie ätzende Galle durch den Kopf. Er musste es gewusst haben. Schliesslich war er sein Bruder. Oder irrte sich Hailey etwa? Hailey mochte nicht an diese Möglichkeit glauben. Nun, da sie das Puzzle zusammengesetzt hatte, passte alles zusammen. Alles sprach für ihre Theorie.
Schritte erklangen hinter Hailey. Wie in weiter Entfernung nahm sie das plötzliche Geräusch wahr. Sie wusste augenblicklich, wer ihr nach draussen gefolgt war.
„Hailey … ich … ich …“ Chris.
Tränen rannen über Haileys Wangen, während sie hörte, wie Chris hinter ihr stockte, nach seiner Stimme suchte. Wie wollte er ihr all das erklären? Wie wollte er ihr weiss machen, dass er die Attacke auf Kaitlin nicht hätte verhindern können?
„Es tut mir Leid.“, lautete schliesslich seine einfache Antwort.
Fest presste Hailey die Lippen zusammen, während sie sich langsam umdrehte. Doch sie schaffte es nicht, Chris in die Augen zu schauen, ihm so ihre Verletzlichkeit zu offenbaren. Stattdessen starrte sie wie in Trance zu Boden.
„Trevor…“ Chris sprach nicht weiter. Hailey wollte nicht wissen, wie schwer es Chris fiel, die richtigen Worte zu finden – sie wollte es nicht wissen um ihretwillen. Ein weiteres Mal würde sie sich nicht von ihm verletzen lassen.
„Er ist dein Bruder“, murmelte sie schwach.
Chris musste genickt haben, denn er erwiderte nichts. Erst nach geraumer Zeit setzte er zu einer genaueren Erklärung an.
„Ich und er… Wir sind so verschieden. Ich habe nicht viel mit ihm zu tun. Ich weiss fast nichts über ihn!“, begann Chris sich zu rechtfertigen.
Hailey liess ihn nicht weiterreden. Endlich fand sie die Stärke, den Blick zu heben. Gegen einen Weinkrampf ankämpfend musterte sie ihn angeekelt. „Aber du hast gewusst, dass er mit Drogen zu tun hatte, nicht? Bereits an Halloween hattest du ihn verdächtigt.“
Dieses Mal sah es Hailey, als Chris nickte. Seine Schultern waren gesenkt, sein Blick ehrlich: Er sprach von Schuldgefühlen, Scham und Angst. Und doch glaubte Hailey Chris nicht. Sie konnte ihm einfach nicht mehr glauben. Nicht nach allem, was passiert war.
„Wenn ich geahnt hätte, wie weit er gehen würde…“, sprach er weiter.
„Aber du hast ihn nicht beim Direktor gemeldet oder?“, zischte Hailey aufgebracht. Wenn er das getan hätte… Hailey schluckte. Vielleicht hätte er dann ein Menschenleben gerettet. Hailey vermochte sich nicht auszumalen, dass Kaitlin tatsächlich sterben könnte. Eine weitere Welle der Trauer liess ihren Körper erbeben, während sie sich mit zittrigen Fingern über die nassen Augen strich. Alkohol und Drogen – beides in überhöhter Dosis bewirkte den schlimmsten Schaden im Körper.
„Das habe ich nicht.“ Chris seufzte schwach. „Er ist mein Bruder. Nach der Sache an Halloween… Er hatte mir versprochen, damit aufzuhören. Ich war so blöd und habe ihm vertraut. Weil er mein Bruder ist.“
„Kaitlin könnte sterben, verdammt!“ Ungewohnt laut fuhr Haileys Stimme über den Hof. Einige Köpfe drehten sich interessiert zu ihr um, wandten sich dann aber wieder dem Ambulanzwagen zu: Eben wurde Kaitlin verladen. Selbst aus der Ferne sah Hailey Kaitlins weissen Körper, der in den blauen Lichtkegel der Sirene getaucht wurde.
„Es tut mir Leid.“
Hailey tat es auch Leid. Tränen strömten nun haltlos über ihre Wangen, während sie mit ihren Fingern dagegen kämpfte. „Ich weiss doch, dass es nicht deine Schuld ist“, flüsterte sie schliesslich schwach.
„Doch das ist es“, widersprach ihr Chris kopfschüttelnd. „Ich habe meinen Bruder falsch eingeschätzt… Ich…“
„Ich habe Angst um Kaitlin“, ergänzte Hailey. Wenn sie nur daran dachte, wie viel Zeit sie in den letzten Monaten mit dem anderen Mädchen verbracht hatte… Sie spürte ihren Magen bei dem Gedanken daran heftig rebellieren.
„Ich weiss.“, flüsterte Chris. „Ich weiss nicht, wie ich das je wieder gut machen kann…“
„Das kannst du nicht.“ Hailey seufzte schwach.
„Die Sache mit Trevor sollte dem Direktor mittlerweile bereits bekannt sein. Aber ich werde jede freie Minute…“
Hailey liess Chris nicht aussprechen. „Ich kann dir nicht mehr vertrauen“, hauchte sie. Ihre Stimme brach. Doch sie wusste, dass es dabei um die Wahrheit handelte. Denn obwohl ihre starken Gefühle für Chris unvermindert gegen ihr Herz drückten, sie zum Schweben verleiteten… Nichts würde mehr so sein können, wie vor diesem Abend. Wie bloss sollte sie ihm und seinen Worten je wieder Glauben schenken können? Hailey wusste es nicht.
„Ich… ich sollte gehen.“ Sie zuckte schwach die Achseln.
Sie sah, wie Chris resigniert nickte. „Es tut mir Leid… Das alles. Meine Gefühle für dich…“ Er schluckte. „Es wäre wohl wirklich besser, wenn du gehst.“
Hailey erwiderte Chris Nicken, Tränen verschleierten ihren Blick. Kraftlos schlang sie die Arme um ihre Schultern. Sie hatte Angst, schreckliche Angst vor der Zukunft. Was würde mit Kaitlin sein? Wie würde sie ohne Chris zurecht kommen? Was sollte sie bloss als Nächstes tun?
Sie war bereits ein paar Schritte in Richtung des Gebäudes zurückgegangen, als Chris weiter sprach. Der Ambulanzwagen donnerte im selben Augenblick an Hailey vorbei, so laut, dass sie Chris Worte nicht verstand.
„Was hast du gesagt?“ Zögernd wandte Hailey sich um.
„Wegen dem Notfallgroschen. Ich schulde dir noch eine Erklärung.“
Hailey nickte mit tränenverklärtem Blick. Eine weitere Angst hatte sich eben in ihr Herz geschlichen – die Angst vor Chris Erklärung. Würde sie ihr Herz in noch kleinere Teilchen splittern?
„Du bist nicht mein Notfallgroschen. Du bist mein Überlebensgroschen.“ Chris Miene war starr. „Den Groschen, den ich morgens immer einpacke. Ein Lächeln von dir genügt, dass ich bereit bin, mich dem Tag und all diesen neureichen Kindern einigermassen vorurteilslos zu stellen. Mittags ist es der Groschen, der mich daran erinnert, dass – würde ich tatsächlich einmal an einem der grünen Fleischklösschen aus unserer Kantine ersticken – trotzdem irgendwie weiteratmen würde. Für dich. Abends ist es mein letzter Gedanke, der dem Groschen gilt. Er entführt mich in eine dumme, kitschige Traumwelt, die Hoffnung zulässt.“ Chris seufzte schwach. „Du bist mein Überlebensgroschen“, wiederholte er ungläubig über sich selbst den Kopf schüttelnd.
Wortlos betrachtete Hailey Chris. Von ihrem Herz war nichts mehr als die Erinnerung daran übrig. Eine weitere Erinnerung, die sie innerlich zunehmend ersticken liess. „Dankeschön“, murmelte Hailey. Mehr vermochte sie nicht zu sagen. Tränen glühten auf ihren heissen Wangen. Einen letzten Blick warf sie Chris zu – dann zwang sie sich, ihren Gang zum Gebäude fortzusetzen. Und mit dem nächsten Schritt liess sie all die quälenden Erinnerungen los, davon treiben in das Dunkel der Nacht.
Hailey war nur wenige Schritte weit gekommen, als sie beinahe mit Lauren zusammenstiess. Neben ihr standen Nicki und Juliane, denen beiden der Kummer mittels roten Augen in ihre Gesichter gemeisselt war.
„Sie wird wieder werden. Ihr Zustand ist kritisch, aber die Sanitäter rechnen ihr gute Chancen ein“, erklärte Lauren zögernd. Dann, nach ein paar Sekunden, fügte sie an: „Was haltet ihr von einem Spaziergang zum Krankenhaus?“
„Das hört sich nicht schlecht an.“ Nicki zuckte mit aufgezwungenem Lächeln die Achseln.
„Eine schöne Idee“, schloss sich Juliane an.
„Machen wir das.“ Hailey seufzte leise, zu erschöpft, um nachzudenken. Abwechslung würde ihr gut tun. Ausserdem musste sie wissen, wie es Kaitlin ging. Sie durften sie nicht einfach alleine lassen – dass hatten sie den ganzen Abend über bereits getan, wie Hailey nun beschämt bewusst wurde.
Wortlos reihte sich Hailey neben Juliane ein. Dann schritten sie zu viert zurück über den Kiespfad, in Richtung des Internatausgangs. Dicke Rillen verrieten, wo Autoreifen eben erst notfallweise über den Fussweg geschlittert waren. Autoreifen, die zu dem Ambulanzwagen gehörten, der ihre gemeinsame Freundin nun ins Krankenhaus brachte. Hailey tat es gut, sich in der Obhut der anderen drei Mädchen zu wissen.
„Dieser Abend… Er hat alle meine Erwartungen übertroffen“, murmelte Nicki nun leise.
Niemand widersprach ihr. Stattdessen nickten alle drei Mädchen zustimmend. Ja, dachte Hailey, das hatte er wirklich getan.
Arbeit zu „Freundschaft“
DEFINITIONEN (laut eigener Meinung), zum Ende der Arbeit verfasst
Juliane: Freundschaft ist ein Band zwischen Personen, das aus den verschiedensten Charakterzügen zweier Menschen geflochten ist. Dazu gehören Respekt gegenüber der fremden Meinung, Mut, Ehrlichkeit. Egal, wie verschieden man ist – Freundschaft akzeptiert alle Tugenden.
Hailey: Freundschaft ist wie eine Blume, zuerst eine Knospe, die durch viel Pflege und Sorgfalt erblüht, doch schnell durch Kleinigkeiten verwelken kann. Alles setzt sich aus Vertrauen zusammen. Vertrauen bildet den Grundstein für einen gesunden Nährboden. Vor allem aber braucht Freundschaft Zeit.
Nicki: Freundschaft kann man nicht wirklich definieren. Dazu müsste man seine Meinung ständig revidieren. Selbst die grössten Philosophen geraten bei solchen Themen ins Stocken (Ja, ich habe den Hang dazu, mich zu wiederholen). Doch es ist etwas, dass es überall gibt, unter Menschen verschiedener Haarfarbe, verschiedenen Temperaments (oh ja!), bei grossen und kleinen, jungen und älteren, hübschen und durchschnittlichen Personen, zickigen und strebsamen sowie rotbraunhaarigen und seidig-schwarzhaarigen Menschen… oder so ähnlich. Selbst bei mir.
Lauren: Obwohl Mensch und Freundschaft oft im Widerspruch zu stehen scheinen, gibt es Momente, die an dieser Logik zweifeln lassen. Kleine Lichtblicke, die sich sicher erst im Nachhinein als solche zu erkennen geben.
Kaitlin: Freundschaft setzt sich über Nichtbeachtung hinweg. Es bedeutet Zusammenhalt, eine Stärkung.
ENDE BAND 1
Tag der Veröffentlichung: 20.02.2010
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für meine Mutter. Danke für alles.