Kapitel 1
Einhornträume
Die Nacht war dem Tag gewichen und Jessa rieb sich müde die Augen. Das Gras unter ihr war feucht vom Tau. Caleb lag neben ihr. Er sah friedlich aus und atmete in langsamen Zügen. Sie betrachtete ihn eine Weile und stellte fest, wie gut er doch aussah. Die markanten Gesichtszüge, dunklen Augenbrauen und die sinnlichen Lippen.
Sie setzte sich auf und blickte durch das dichte Astwerk über ihr in den flimmernden Himmel. Das war ihre Lieblingszeit. Denn sie liebte die verschwommenen Pastelltöne der Morgenstunden, die sich mit einem satten Blau mischten.
Ein paar Vögel zogen vorbei.
Plötzlich schreckte Orion neben ihr hoch, die Ohren nach Vorn gerichtet. Dabei klingelte das kleine silberne Amulett an seinem ledernen Halsband. Dann hörte auch sie das leise Hufgetrappel, das auf sie zu kahm. Sie blickte erst in den Wald und dann auf Caleb hinab. Doch der schlief fest. Und dann sah sie es. Graziös trat es aus den Büschen hervor, die lange Mähne hing seidig glänzen an seinem muskulösen Hals hinab.
Sie hatte schon so lange kein Einhorn mehr gesehen und sie freute sich sehr darüber, denn diesen Wäldern war ein derart schönes Geschöpf selten geworden. Das gedrehte Horn schimmerte silbern und die tiefen, blauen Augen sahen sie liebevoll an. Dann setzte sich das weiß leuchtende Pferd wieder in Bewegung und im nächsten Moment war es zwischen den Büschen verschwunden. Auf Jessas Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. Sie streckte die Hand aus und kraulte Orions weiches, weißes und seidiges Fell. Und schließlich stand sie auf und ging mit geschmeidigen Bewegungen zum Fluss hinüber um sich das Gesicht zu waschen. Sie tauchte die Hände in den plätschernden Bach und ließ sich das kühle Nass ins Gesicht klatschen. Sie nahm einen Schluck. Es schmeckte klar und kalt.
Dann band sie sich die langen blonden Haare zu einem Zopf zusammen und lief wieder über die Lichtung zurück. Orion folgte ihr dabei wedelnd auf Schritt und Tritt. Sie blickte erneut zu Caleb. Ungeduldig setzte sie sich wieder. Es war nicht seine Art, so lange zu schlafen. Aber der Kampf der letzten Nacht war wohl sehr anstrengend für ihn gewesen. Sie waren gestern Abend auf einen Vampir gestoßen, während sie die nahen Wälder durchstreiften. Caleb hatte sich ohne mit der Wimper zu zucken verwandelt. Er hatte Jessa nur über die Schulter zugeflüstert, sich zu verstecken. Der Kampf dauerte lange und war brutal ausgegangen. Caleb hatte gewonnen. ‚Ich musste das tun. ‘ hatte er gesagt. ‚Bei meinen Todfeinden darf ich keine Ausnahmen machen. ‘ Doch sie wollte nicht mehr daran denken.
Jetzt regte er sich endlich und schlug die Augen auf. Dunkelbraune, fast schwarze Augen. Mit einem draufgängerischen, wilden Ausdruck darin. Er schenkte ihr nur ein gezwungenes Lächeln und stand auf und streckte sich. Jetzt war Jessa sicher, letzte Nacht hatte ihn ziemlich mittgenommen. ‚Ist alles in Ordnung? ‘ fragte sie vorsichtig. ‚Ja, ich denke schon‘ erwiderte er und versuchte, dabei sehr überzeugt zu klingen. Aber es klang mehr nach Zweifel, als er dachte. ‚Ich habe heute wieder eins gesehen‘ sagte sie strahlend und versuchte so, das Thema zu wechseln. Caleb wusste sofort, was sie meinte aber er reagierte nicht. Er zog sich schwungvoll mit beiden Händen an den Ästen des Baumes empor, unter dem sie geschlafen hatten und holte ihre Rucksäcke. Als er wieder herunter sprang, fasste er sich plötzlich ruckartig an den linken Arm und verzog schmerzerfüllt das Gesicht. Aber als er Jessas Blicke auf sich spürte, nahm er die Hand schnell wieder herunter. ‚Ist wirklich alles in Ordnung mit dir? ‘ harkte sie nach. ‚Nein‘ gab er zu, und sie sah wie schwer es ihm fiel, über seinen Schatten zu springen.
Langsam zog er das dünne, schwarze Hemd aus und deutete mit dem Zeigefinger auf den Arm. Jessa erschrak, als sie die große Wunde an seinem Arm sah. Verängstigt sah sie ihn an. Sie öffnete den Mund um zu fragen, warum er ihr das nicht sofort gesagt hatte? Immerhin kannten sie sich schon über sechs Jahre. Stattdessen fragte sie nur: Tut es sehr weh? ‘ und er nickte. Sie wusste er würde nicht weinen, auch wenn die Schmerzen höllisch wären. Er zeigte ohnehin nie Emotionen, das war schon immer so und würde immer so sein, dachte sie sich.
Sie hatte ihn noch nie weinen sehen. Nicht einmal beim Tod seiner Eltern, die bei einem Überfall starben.
Nicht einmal da.
Er zog sich wieder an und packte seinen Rucksack. ‚Lass mich die Wunde wenigstens verbinden! ‘ rief sie ihm nach, sprang auf und griff nach dem verletzten Arm. ‚Lass das! Lass mich einfach in Ruhe! ‘ fuhr er sie an und riss den Arm weg.
Traurig wendete sie sich ab. Warum vertraute er ihr denn immer noch nicht? Was machte sie falsch? Sie wollte ihm doch nur helfen, wieso sah er das nicht ein?
Wütend stapfte Caleb davon, mitten zwischen die Bäume und achtete nicht darauf, dass sie noch nicht einmal ihren Rucksack angezogen hatte. Missmutig griff sie danach und lief ihm nach. Es würde niemandem etwas bringen, wenn er sich jetzt auf stur stellte. Also entschied sie, nicht weiter mit ihm zu streiten, obwohl sie doch nur helfen wollte.
Bald hatte sie ihn eingeholt und sah ihn von der Seite an. Er hatte die dunklen Augenbrauen zusammengeschoben und blickte zu Boden, während er schnell vorwärts schritt. Sein ganzer Körper war angespannt. Jessa seufzte. ‚Der kriegt sich schon wieder ein. ‘ wisperte sie Orion zu. Der große Wolf lauschte ihren Worten, hielt den Blick aber stets nach vorn gerichtet. ‚Tut mir leid‘ sagte er plötzlich. Ihre Schritte knirschten im Kies. Sie war überrascht, ließ es sich aber nichts anmerken. Kühl sagte sie ‚Schon gut. Du musst es selbst wissen. ‘ Bedrückende Stille zwischen ihnen. Es war eine seltsame Situation für Jessa, denn sie hätte ihn nur zu gern umarmt oder seine Hand gehalten, ihn ihre Freundschaft spüren lassen, doch er hatte sich in der letzten Zeit zu sehr verändert. Nachdem sie stundenlang schweigend den Wald durchquert hatten, kam dessen Ende in Sicht. Orion war schon voraus gerannt und nahm neugierig die unbekannten Gerüche auf. ‚Es muss ein Dorf in der Nähe sein‘ dachte Jessa.
Kapitel 2
Können Augen hypnotisieren?
Es war Abend und Caleb hatte mit ihrem wenigen Geld eine kleine Hütte für sie und Orion gemietet. Er hatte Schuldgefühle, das sah sie ihm an. Denn er hatte sie noch nie so angeschrien. Und als sie sich ungezogen hatte, legte sie sich in das kleine Doppelbett in der Mitte des Zimmers. Orion rollte sich am Ende des Bettes zusammen. Caleb war noch unterwegs obwohl es schon lange dunkel war. Aber sie achtete nicht darauf, er war abends öfter für unbestimmte Zeit weg.
Sie genoss es, endlich wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Es war etwa elf Uhr, als sich die Türe langsam öffnete. Caleb trat ein, warf seinen Rucksack in eine Ecke und schleppte sich in das winzige Bad. Bei dem Geräusch von Wasser wachte Jessa auf. Sie sah sich schlaftrunken in dem Zimmer um. Als sie realisierte, dass Caleb zurück war, legte sie den Kopf wieder zurück und stellte sich schlafend. Er kam aus dem Bad. Als sie sah, dass er nur eine kurze Hose trug, wanderten ihre Blicke an ihm hinab. Sie betrachtete gebannt seinen perfekten, muskulösen Körper. Seine dunklen, schulterlangen, strähnigen Haare waren nass und kräuselten sich leicht. Dann entdeckte sie wieder die Wunde auf seinem Arm. Neben ihr hob sich die Decke. Schmetterlinge stiegen in ihrem Bauch auf und sie traute sich kaum zu atmen. Er legte sich vorsichtig neben sie und zog sich die Decke über die Schultern. Und Jessa hörte, wie er immer gleichmäßiger atmete. Er war eingeschlafen. Diesen Moment hätte sie gegen nichts auf der Welt eingetauscht.
Am nächsten Morgen war Caleb schon weg. ‚Ganz der alte‘ dachte Jessa vergnügt. Sie stand auf, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Als sie gerade dabei war, ihre kurze, grüne Hose anzuziehen, öffnete sich die Haustür. Caleb war da! Schnell zog sie sich an ging zurück in das Zimmer mit dem Bett. Auf dem Bett lagen ein Brot und zwei Äpfel. Caleb lehnte an der Wand, sein Gesicht im Schatten, hatte die Arme verschränkt, und warf ihr ein verschmitztes Grinsen zu. Dieses Grinsen war ihr nur zu gut bekannt. Jetzt wusste sie, dass er sich wieder eingekriegt hatte. Das war der Caleb, den sie liebte.
‚Die Äpfel habe ich eben gepflückt. Lass es dir schmecken! Ich muss nochmal gehen. ‘sagte er. ‚Wohin denn? ‘ wollte sie wissen. ‚Das ist nicht wichtig. ‘ sagte er. Und bevor Jessa etwas erwidern konnte, war er schon zur Tür hinaus gegangen. Das war seltsam aber nicht selten bei Caleb. Also machte sie sich keine Sorgen um ihn und griff hungrig nach dem Brot.
Caleb war bereits mehrere Stunden fort und Jessa hatte plötzlich Lust, sich in dem kleinen Dorf umzusehen. Sie steckte den roten, glänzenden Apfel in die Tasche ihrer dünnen Jacke und pfiff leise, worauf hin sich Orion aufrichtete und zu ihr herüber trottete. Sie strich ihm liebevoll über den Kopf und öffnete die Tür. Als sie heraustrat vielen ihr warme Sonnenstrahlen ins Gesicht. Auch Orion genoss die Wärme.
Seite an Seite schlenderten sie durch die Straßen und Gassen. Plötzlich bog neben ihr ein Pferd mit Reiter in hohem Tempo um die Ecke und rannte sie beinahe über den Haufen. Vor Schreck sprangen die beiden zur Seite und mit einem Schrei rutsche Jessa aus und fiel der Länge nach zu Boden. Zehn Meter weiter bremste der Reiter das Pferd und sprang flink vom Rücken des Schimmels. Es war ein Junge, etwa in ihrem Alter. Er kam ebenfalls erschrocken zu ihr gerannt und half ihr hoch. Als sie den Kopf in seine Richtung drehte, blickte sie in zwei strahlend eisblaue Augen. Der Junge lächelte sie an und bückte sich, um etwas Dreck von ihrem Knie zu wischen. Sie bückte sich ebenfalls und ihre Blicke trafen sich erneut. Sie konnte nicht anders, als in seine Augen zu starren, und er wich ihrem Blick nicht aus, sondern fixierte sie. Er war ziemlich bleich. Vielleicht ein Vampir. Dann sagte er verlegen ‚Tut mir sehr leid. Ich wollte dich wirklich nicht umrennen, aber ich habe es eilig, weißt du. Ich bin übrigends Chip. Und wie ist dein Name? ‘ Er hatte ein sehr weiche, harmonische Stimme, die Jessa irgendwie schmeichelte.
‚I- ich b- bin Jessa. ‘ sagte sie, immer noch zitternd. ‚Ein sehr schöner Name. Hey! Ich habe da eine gute Idee! Wie wäre es, wenn ich dir etwas zu Trinken spendiere? Als Wiedergutmachung? ‘ sagte er lächelnd. ‚Ja‘ sagte sie ‚wieso nicht? ‘ ‚Toll! ‘ rief er aus und deutete auf sein Pferd ‚Darf ich bitten? ‘
Im Bann der wunderschönen Augen stieg sie auf. Und Chip setzte sich hinter sie. Er fasste unter ihren Armen hindurch und nahm die Zügel auf.
Während des Rittes spürte sie plötzlich, wie er die Zügel in eine Hand nahm und mit der anderen ihre Taille berührte. Sie war eisig kalt. Erschrocken zuckte sie innerlich zusammen. Sie drehte den Kopf und sah ihn an. Seine halblangen, blonden Haare hingen ihm vom Wind ins Gesicht und der süße Mund lächelte sie verspielt an und seine strahlend weißen, spitzen Eckzähne waren zu sehen. Sie lächelte auch. Er war hypnotisierend. Und seine Ausstrahlung!
‚Moment mal! Was mache ich denn hier? ‘ schoss es ihr in den Kopf. ‚Ich liebe doch Caleb! ‘ dachte sie erschrocken und wendete den Blick nach vorn. ‚Halt bitte an Chip! ‘ sagte sie bestimmt. ‚Wieso? Was hast du plötzlich? ‘ fragte er überrumpelt. ‚Ich muss noch etwas erledigen‘. Und er zog an den Zügeln, das Pferd blieb stehen. Sie sprang ab und begann zu rennen. ‚Wann sehe ich dich wieder? ‘ rief er ihr nach. Jetzt klang seine Stimme plötzlich klagend und endtäuscht.
Sie antwortete nicht und drehte sich auch nicht um. Sie wusste nicht, warum sie das getan hatte. Es waren diese Augen. Sie wusste nicht wieso aber sie hatten eine unglaubliche Wirkung auf sie. Aber wieso war sie weggerannt? ‚Es war doch nichts passiert‘, redete sie sich ein. Und sie hatte Chip Unrecht getan! Sie überlegte, umzudrehen, entschied sich aber anders.
Kapitel 3
Kalte Nähe
Wieder an der Hütte angekommen, drehte sie sich zum ersten Mal um. Nach Luft schnappend sah sie sich nach Orion um. Orion! Sie hatte ihn völlig vergessen! Genauso Caleb… Sie fühlte sich so schuldig und begann zu rufen. Wieder und wieder. Aber Orion kam nicht. Als ihr Hals schließlich schmerzte, gab sie auf. Verzweifelt sank sie an der Tür entlang zu Boden und heiße Tränen rannen über ihre Wangen.
Sie war ja so wütend!
Und zwar auf sich selbst! Nur sie war schuld, weil sie sich von einem Wildfremden hatte ablenken lassen! Sie konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen, denn die Tränen rollten immer weiter. Sie zog die Beine an die Brust und umfasste sie mit beiden Armen. Und wie ihre Tränen, vielen langsam Regentropfen vom Himmel. Bald war ein Sommergewitter daraus geworden und Blitze durchzuckten den wolkenbehangenen Himmel. Die Luft war feucht und schwül. Donner grollte. Jessa saß immer noch vor der Tür und sah dem Gewitter zu.
Ganz langsam zeichneten sich die Umrisse einer Gestalt ab, die auf sie zukam. Die Umrisse wurden zu Linien und Jessas Hoffnungen, es könnte Orion sein, lösten sich auf. Sie konnte nicht viel erkennen, da es bereits dämmerte und die Tränen ihren Blick verschwommen machten. Einige Meter vor ihr blieb der Schatten stehen, groß und schmal. Sie sprang auf und schlang ihre Arme um seine Schultern. Kräftige Arme umschlangen ihre. Sie hatte ihn gleich erkannt, obwohl ihre Augen brannten und sie kaum sehen konnte.
Sie drückte ihn fest und Caleb streichelte zärtlich ihr Gesicht und fuhr ihr durch die jetzt regennassen Haare, obwohl er nicht mal wusste, warum sie weinte. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie. Langsam fuhren seine Hände von ihrem Kopf zu ihrer Taille. Er war völlig durchnässt und sein dünnes Hemd klebte auf seiner Haut, so dass jedes Detail zu sehen war. Seine Haare sahen jetzt aus als wären sie ganz schwarz. Sie tropften. Regentropfen rannen über sein ganzes Gesicht und umspielen seine Lippen. Er war so perfekt! Jetzt sah sie ihm in die Augen und ihr fiel auf, dass sie sich noch nie so nah gewesen waren! Ihre Hände fuhren langsam von seinen Schultern abwärts. Doch nach ein paar Zentimetern stoppte sie. Sie traute sich nicht. Caleb zog den rechten Mundwinkel hoch. Sie ließ ihn los. Jetzt wurde sein Gesicht wieder ernst.
‚Was ist denn? ‘ fragte er ruhig. ‚Ich habe Orion verloren! ‘ rief sie aus und hatte wieder Tränen in den Augen. ‚Wie?‘ Jetzt überlegte sie. Sie konnte ihm doch nicht von Chip erzählen! Also sagte sie kurz angebunden ‚Ich habe nicht aufgepasst. Es tut mir so leid! Wenn ihm etwas passiert…‘ ‚Ist schon gut‘ hauchte er, -immer noch ruhig, und drückte sie fest. Sie hatte erwartet, dass er wütend sein würde. Aber er nahm ihre Hand und zog sie in die Hütte. Jetzt fühlte sich Jessa wie in Trance. Sie ließ sich von ihm auf das Bett setzen und in eine Decke wickeln und später legten sie sich schlafen.
Als sie an diesem Morgen aufwachte spürte sie Calebs Arm um sich gelegt. Er lag ganz nah neben ihr und schlief friedlich. Vorsichtig schob sie seinen Arm zur Seite und stieg langsam aus dem Bett, bückte sich noch einmal über ihn und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Dabei öffnete er leicht die Augen, aber sie merkte es nicht.
Jessa drehte sich um und ging ins Bad um sich anzuziehen. Sie trat heraus, ging durch das Zimmer um die Tür zu öffnen. Da richtete sich Caleb im Bett auf und blickte zu ihr herüber. ‚Jess? Alles ok bei dir?‘ ‚Ja. Ich muss jetzt nach Orion suchen. ‘ sagte sie, wendete sich ab und ging hinaus. Als sie die Tür von außen schloss, fing sie Calebs besorgten Blick auf.
Sie suchte den ganzen Nachmittag, konnte Orion jedoch nicht finden. Niedergeschlagen kehrte sie am Abend in die Hütte zurück. Sie war leer. Caleb suchte vielleicht auch nach Orion. Da klopfte es plötzlich an der Tür und Jessa hatte eigentlich Caleb erwartet, aber es war Chip! War er ihr gefolgt? Woher sollte er sonst wissen, wo sie wohnte? Er lehnte mit der Schulter am Türrahmen und hielt einen Strick hinter dem Rücken. ‚Was...‘ weiter kam sie nicht, denn er zog plötzlich an der Leine und Orion trat ein paar Schritte vor. Freudig ging Jessa auf die Knie und umarmte ihn umständlich. ‚Ich glaube du hast ihn vergessen, als du vor mir weggelaufen bist. ‘ sagte Chip. Und in seiner Stimme klang leichte Enttäuschung mit.
Orion befreite sich aus der innigen Umarmung, schlüpfte flink aus seinem Halsband und lief ins Haus. Jessa sah ihm nach und wurde plötzlich von Schuld- und Glücksgefühlen geschüttelt.
Verlegen sah sie zu ihm auf. Da waren sie wieder. Die leuchtend blauen Augen. Sie fühlte sich von ihnen in einen Bann gezogen, der sich nicht mehr loszulassen schien. Endlich umarmte sie ihn und hauchte ihm ein erleichtertes ‚Danke‘ ins Ohr. Er legte einen Arm um sie und schob sie ebenfalls nach Drinnen. Dabei sagte er langsam ‚War mir ein Vergnügen…‘ Sie setzten sich auf das Bett. ‚Ich kenne dich zwar kam, aber… ich würde alles für dich tun Jessa. ‘ Geschmeichelt und überrascht saß sie auf dem Bett und sah zu, wie er näher kam. Immer näher. Jetzt schloss er die Augen und spitzte leicht die Lippen. Gleich würden sich ihre Lippen berühren. Jeden Moment. Und Jessa saß immer noch regungslos da.
Plötzlich öffnete sich die Tür Jess zuckte zusammen. Caleb hielt in der Bewegung inne, seine Augen überrascht aufgerissen. Plötzlich änderte sich sein Blick. Er zog die dunklen Brauen zusammen und Blick wurde starr. Hass flammte in seinen Augen auf. Tiefer, dunkler Hass. Sein Blick wanderte zu Chip.
Jessa sah, wie er die Fäuste ballte, bis seine Knöchel weiß hervortraten.
Sie war nicht sicher, doch es sah aus, als wären Calebs Augen jetzt ganz schwarz.
Kapitel 4
Ein Monster?
Jetzt spannte sich Calebs ganzer Körper an. Aus seinen Händen wurden Klauen, seine Haltung wurde gebeugt. Am seinem ganzen Körper begann ein dunkles Fell zu wachsen. Seine Zähne wurden lang uns scharf. Sein Hemd riss auf und hing in Fetzen über seiner Brust. Er verwandelte sich! Und das war gefährlich. Er sah wieder zu Jessa. Stinksauer. Und endtäuscht. Neben ihr richtete sich Chip auf. Er hatte eine abwehrende, drohende Haltung eingenommen. Die Hare hingen ihm wild ins Gesicht. Mit einem fauchenden Geräusch bleckte er die Zähne. Anstatt anzugreifen machte Caleb auf dem Absatz kehrt und knallte die Tür hinter sich zu. So stark, dass sie aus den Angeln fiel und Orion erschrocken aufjaulte. Jessa sprang auf, doch Chip fasste ihren Arm. ‚Wer ist dieser Kerl? Was hast du mit diesem Werwolf zu tun? ‘ fragte Chip angespannt. ‚Ist er dein Freund?‘
‚Nein‘ sagte sie, irgendwie enttäuscht. ‚Und was sollte das gerade? ‘ Jetzt klang er gereizt. ‚Ich habe keine Ahnung‘ gestand sie. Denn sie wusste wirklich nicht, was sie von Calebs Reaktion halten sollte. Hatte er auch Gefühle für sie? Das schien die einzige Erklärung zu sein.
In Jessas Kopf drehte sich alles. Ihr war übel, ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, das Blut pulsierte in ihren Adern und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sie wusste nur eins: wenn nicht jetzt, dann nie! Sie musste Caleb folgen. Sie sah Chip kurz an und er schien sofort zu verstehen, denn er nickte kurz und sah zur Tür, auf dem Boden. Sie drehte sich um und rannte hinaus, sah sich hecktisch um. Neben ihr lag der Wald. An den ersten Bäumen tiefe Kratzer. Sie rannte los, direkt zwischen die Bäume, sie rannte und rannte, folgte den Kratzspuren, bis sie Seitenstechen hatte. Kein Zeichen von Caleb, aber sie spürte seine Gegenwart. Sie blickte auf und entdeckte ihn auf einem Baum. Er saß auf einem dicken Ast, mit dem Rücken an den Stamm gelehnt, die Beine leicht angewinkelt, die langen Krallen tief in den Ast gekrallt. Er sah starr nach vorn und als sie näher kam, bemerkte sie seine glasigen Augen und die spitzen Fangzähne, die aus seiner leicht geöffneten Mund ragten.
‚Was sollte das eben? Warum hast du das gemacht? ‘ rief sie mit hoher Stimme. Keine Antwort. Sie kam einen Schritt näher. ‚Die Frage ist, was du da eben gemacht hast! Er ist ein Vampir! ‘ Seine Stimme klang heiser und tief. Während er sprach, drehte er langsam den Kopf und sah sie an. So hatte sie ihn noch nie erlebt. Den Starken Caleb, der nie Gefühle zeigte.
‚Ich weis‘ sagte sie, immer noch überrumpelt. ‚Aber das kann dir doch egal sein‘. ‚Es ist mir aber nicht egal! Außerdem geht es nicht darum‘ ‚Das verstehe ich nicht. Du tust ja so, als wären wir ein Paar! ‘ Bei den letzten Worten wurde ihre Stimme brüchig und sie merkte, wie ihr Kopf rot anlief. Das merkte Caleb und mit einem Satz stand er vor ihr. ‚Nein, das sind wir nicht. ‘ Bis auf die Zähne sah er wieder wie ein ganz normaler Mensch aus. Er wendete sich ab. Tatsächlich! Er hatte Gefühle für sie! Anders konnte sie sich sein Verhalten nicht erklären. Sie begann mit ihm zu spielen: ‚Hättest du gerne, dass wir ein Paar sind? ‘ fragte sie und lächelte verführerisch. ‚Ich- ich weiß nicht‘ stotterte er, sichtlich überrascht. ‚Achso‘ sagte sie. ‚Schade. ‘ sie drehte sich um. ‚Ähm… Jess? ‘ fragte er zögernd. ‚Ja?‘ Ihr Plan schien aufzugehen! ‚… nein, vergiss es, -war nicht wichtig. ‘
Ihre Enttäuschung war groß, doch sie verbarg sie geschickt. ‚Ich gehe dann mal‘ sagte sie traurig. Er antwortete nicht, sondern sah nach unten auf den Boden.
Jessa drehte sich um, lief los und wandte sich noch ein Mal um und sah ihn an. Es war die perfekte Gelegenheit gewesen, doch keiner von beiden hatte sie genutzt. Warum nicht? Jetzt hätte sie ihm ihre jahrelange Liebe gestehen können, hatte sich aber nicht getraut. Er stand immer noch da, die Hände in den Hosentaschen, den Blick gesenkt, das zerrissene Hemd über den Schultern. Zaghaft ging sie auf ihn zu und hauchte ihm rasch einen Kuss auf die Wange. Etwas überrascht lächelte er sie an. Sie war sicher, dass ihr Kopf nun knallrot sein musste. Genauso schnell, wie sie ihn geküsst hatte, drehte sie sich auch schon wieder um und lief in Richtung Hütte. Sie hatte irgendwie Angst vor seiner Reaktion. Also wartete sie nicht darauf.
Kapitel 5
Neue Gesichter, neue Erfahrungen
Bei der Hütte musste sie erst die Tür wieder in die Verankerung hängen. Chip war verschwunden. Müde von den heutigen Ereignissen ging sie hinein und lies sich auf das Bett fallen und schlief sofort ein.
Heute wurde sie von Vogelgezwitscher geweckt. Sie setzte sich im Bett auf und fuhr sich durch die zerzausten Hare. Vergnügt sah sie aus dem Fenster. Plötzlich spürte Jess eine Hand an ihrem Rücken, die mit ihren Haarspitzen spielte. Sie wendete den Kopf. Caleb lag halb zugedeckt da, eine Hand unter dem Kopf. Seine Hare waren auch ganz verstrubbelt. Sie fand, dass er so am niedlichsten aussah. Auch, wenn sie ihn so gut wie nie so sah. Er lächelte amüsiert. Sie lehnte sich zurück und legte ihren Kopf auf seine Brust. Seine Haut war warm und weich. Jess genoss jede Sekunde mit Caleb. Endlich konnte sie ihm richtig nahe sein. Doch etwas wollte sie unbedingt wissen: ‚Caleb? Liebst du mich? ‘ flüsterte sie und blickte zu ihm auf. Er rutschte weiter nach unten, biss er auf gleicher Höhe mit ihr war. Jetzt kam er ganz nah und küsste sie zärtlich auf den Mund. Auch seine Lippen waren hauchzart und weich. ‚Ja‘ flüsterte er. ‚Und du?‘ ‚Ja‘ glücklich beugte er sich noch einmal herüber und küsste sie wieder. Diesmal wilder, romantischer. Dabei strich er über ihre Wange. Er war ja so ein guter Küsser! Und niemand hatte sie je besser geküsst.
In seinen Armen schlief sie wieder ein und erwachte erst mittags. Jetzt war er weg. Etwas enttäuscht stand sie auf, mechanisch wusch sie sich, kämmte ihre Haare und zog sich an. Trotzdem schwebte sie auf Wolke sieben. Fröhlich ging sie hinaus und währen sie durch das Dorf schlenderte, lies sie sich von der Sonne aufwärmen. Orion war auch dabei und diesmal würde sie besser auf ihn achtgeben. Da wurde sie von einem Mädchen angesprochen. Sie hatte große, grüne Augen und ein zuckersüßes Lächeln. Ihre braunen, lockigen Hare wurden von einem roten Tuch zusammengehalten. ‚Hallo! Ich bin Olivia. Ich wollte fragen wie dein wunderschöner Hund heißt. ‘ sagte sie heiter. ‚Sein Name ist Orion. Aber er ist kein Hund. Er ist ein Wolf. ‘ sagte sie. ‚Ich bin Jessa. ‘ ‚Freut mich sehr Jessa! ‘ Sie streichelte Orions Kopf und sah ihn liebevoll an. ‚Ich wünschte ich hätte auch so ein schönes Tier aber meine Eltern erlauben es nicht. ‘ Jetzt sah sie traurig aus. ‚Das tut mir leid. ‘ ‚Schon in Ordnung. Ist nicht so schlimm. ‘ ‚Was machst du heute noch? ‘ fragte Jessa um sie aufzuheitern. ‚Eigentlich nichts. Wieso? ‘ fragte Olivia. ‚Wir könnten einen Spaziergang machen und du könntest mir dabei euer Dorf zeigen. ‘ schlug Jessa vor. ‚Oh ja! Sehr gern!‘
Während ihrer Dorfführung hatte Jessa ein schlechtes Gefühl in der Magengrube. Und konnte sich kaum auf Olivia konzentrieren, die ununterbrochen redete und erzählte. Jessa hatte Angst, Chip zu begegnen. Und genau das geschah. Sie entdeckte ihn in einiger Entfernung. Auf einmal kam Olivia näher, da sie Jessas Blicke bemerkt hatte. ‚Niedlich, nicht wahr? ‘ flüsterte sie. ‚Ja schon‘ flüsterte Jessa zurück und tat so, als würde sie ihn nicht kennen. ‚Nur leider unerreichbar für mich’ sagte Olivia niedergeschlagen. ‚Ach was! Du müsstest ihn nur ansprechen. Denke ich‘ ‚Schon versucht‘ gab sie zurück. ‚Mister Perfekt hält sich eben für etwas Besseres! ‘ Dann lief Olivia plötzlich rot an. Und im nächsten Moment spürte Jessa eine eisige Hand auf ihrer Schulter.
Sie drehte langsam den Kopf. Mit einem aufgesetzten Grinsen sah er sie an. ‚Halo Jessa, lange nicht gesehen. ‘ Sie hörte den Sarkasmus in seiner Stimme. ‚Ja… ähm- hallo Chip. ‘ sagte sie gepresst. Olivia blickte sie ungläubig an. ‚Achso, ihr kennt euch also? ‘ ‚Ja, aber noch nicht so lange. ‘ erwiderte Chip ihr und nahm die Hand von Jessas Schulter. Jessa erinnerte sich an gestern. Sie dachte an das Chips Fauchen, ein lautes, drohendes Geräusch. Aber jetzt war seine Stimme wie immer: weich und süß. Er sah sie an. Eindringlich. Er zog sie förmlich mit seinen Blicken aus. Das merkte Olivia. Sie stützte eine Hand in die Hüfte. ‚Ähm Chip, das ist Olivia. ‘ Er reichte ihr die Hand, sagte aber nichts. ‚Hallo‘ sagte sie schüchtern und zuckte bei der eisigen Berührung ebenfalls zusammen. ‚Jessa, ich muss mit dir reden. Allein. ‘ sagte Chip dringend. ‚Gut. Dann lasse ich euch mal allein. ‘ sagte Olivia. Und ihre Stimme klang verletzt. Jessa hätte nur zu gern gewollt, dass sie geblieben wäre. Doch Olivia war bereits um die nächste Hütte gebogen. Als sie sich wieder Chip zuwandte, küsste er sie plötzlich. Alles ging ganz schnell. Die Kälte brannte auf ihren Lippen, währen er sie wild küsste. Dabei legte er seine Arme um ihren Oberkörper. In dieser Umarmung schaffte sie es nur schwer, ihn schließlich doch von sich weg zu drücken. Sie gab ihm einen kräftigen Stoß und er trat einige Schritte zurück. Sie fasste sich an die schmerzenden Lippen. Er stand unbeweglich da und das Har hing ihm wild über der Stirn. ‚Was ist? ‘ fragte er heiser ‚findest du mich nicht attraktiv? ‘ ‚Doch sehr, aber ich liebe einen anderen. ‘ ‚Aber ich liebe dich! Es kommt vielleicht plötzlich aber ich habe seit unserer ersten Begegnung immer an dich gedacht! Immer! Es zerfrisst mich fast! ‘ Bei diesen Worten wurde Jessa starr. Meinte er das ernst? So etwas hatte ihr noch niemand gesagt! Jetzt war sie hin und hergerissen. Im Gegensatz zu Caleb konnte Chip seine Gefühle wenigstens zeigen. Während diesen Gedanken sprach Chip weiter: ‚Ich werde um dich kämpfen, wenn es sein muss! ‘ ‚Nein! Caleb ist viel zu stark! Er könnte dich töten. ‘ ihre Stimme versagte. ‚Das ist mir egal! Und wenn ich sterbe!‘ ‚Du bist verrückt, Chip! ‘ ‚Ja, nach dir.‘ ‚Hör auf mit dem Quatsch!‘ Er ließ einfach nicht locker.
Kapitel 6
Eine alte Bekannte
Es dämmere bereits.
Chip bückte sich wieder vor und küsste sie wieder. Diesmal zog Jess den Kopf weg. Plötzlich durchzuckte sie ein anderer Schmerz. Es waren nicht Chips Lippen. Ein dünnes Rinnsal von Blut lief an ihrem Hals hinunter. Als sie den Kopf weggerissen hatte, hatte sie sich die Lippe an Chips scharfen, langen Vampirzähnen aufgerissen. Erschrocken sah sie ihn an. Sie wusste, was gleich passieren würde. Ein Tropfen Blut hing an seinem Mund. Langsam schleckte er ihn ab und sein überraschter Gesichtsausdruck wich einem teuflischen Grinsen. Die hellen Augen wurden schwarz, so dass nichts Weißes mehr darin zu sehen war. Schwarz. Schwarz wie die Nacht, die begonnen hatte. Hastig drehte sich Jessa um und begann zu rennen. Da wurde sie plötzlich an eine Hauswand geschleudert. Vor Schmerz stöhnte sie auf. Sie saß mit dem Rücken zur Wand, die langen Haare klebten in blutigen Strähnen in ihrem Gesicht. Und schon stand er vor ihr und bückte sich langsam. Dabei leckte er sich die Zähne. Die Arme rechts und links von ihrem Kopf an die Wand gestemmt grinste er sie an. Dann fasste er sich kurz und stand auf. Während er mit sich kämpfte, schrie er: ‚Lauf! Schnell! Ich will dir nicht weh tun! ‘ seine Stimme klang seltsam verzerrt. Und Jessa stand mit Schmerzen auf und rannte los, ohne sich umzudrehen. Bis sie bei ihrer Hütte war. Sie rannte hinein und knallte die Tür hinter sich zu, ging schwer atmend ins Bad und erschrak beim Anblick ihres blutverschmierten Gesichts. Mit zitternden Händen drehte sie den Wasserhahn auf und wusch sich. Traumatisiert legte sie sich hin und grübelte die halbe Nacht über die vergangenen Ereignisse nach.
An diesem Morgen beachtete sie Caleb nicht wirklich, sondern ließ ihn schlafen und endschied, dass er von Chips Ausraster nichts wissen musste. Er würde sich nur aufregen, dachte sie. Es war noch sehr früh und Jess beeilte sich, raus zu kommen. Diesmal ließ sie Orion zu Hause. Sie wollte allein sein.
Um den Kopf frei zu bekommen, entschied sie sich für einen Spaziergang im Wald. Hier würde Chip sie nicht finden. Sie folgte einem Weg aus gelblichen Kieseln. Es roch nach Tannen, Gras und warmer Erde. Die Sonne schien warn zwischen den Ästen hindurch und warf ihre Strahlen auf den Kies. Langsam entspannte sie. Als sie schon fast zwei Stunden unterwegs war, und immer noch kein Ende des Waldes in Sicht kam, setzte sie sich unter eine große Eiche und lehnte sich zurück.
Und plötzlich hörte sie es wieder. Leises Hufgetrappel. Interessiert schaute sie um sich. Zuerst erschien das leuchtende Horn, dann der feine Kopf mit der langen Mähne und dann der Rest des Einhorns. Langsam und vorsichtig stand sie auf und trat ein paar Schritte vor. Auch das Pferdchen machte ein paar Schritte in ihre Richtung. Jessa betrachtete es fasziniert. Es war dasselbe, das sie schon vor Kurzem gesehen hatte. Ganz langsam kam Jess näher. Bis sie schließlich an der Schulter des Einhorns stand. Es wieherte leise und sah sie an. Ihre Köpfe waren etwa auf gleicher Höhe und sie hielten Augenkontakt. Bei genauerem Betrachten konnte Jess einen Wasserfall in den Augen des Einhorns sehen. Erstaunt blickte sie an ihm hinab. Die lange Mähne glänzte, die kleinen Hufe schimmerten silbern wie das Horn auf der Stirn. Langsam hob sie ihre Hand und streichelte ihm sanft die Schulter. Das Fell war seidig weich und flauschig. Zaghaft wanderte sie mit der Hand am Rücken des Einhorns entlang. Da hörte sie plötzlich eine Stimme: ‚Hallo, mein Name ist Penelope. ‘ Die Stimmer war beruhigend und vertraut. Ohne erschreckt oder misstrauisch zu sein sagte Jess ‚Ich bin Jessa, Hallo. ‘ ‚Ich weiß. ‘ ‚Schön, dass du mich besuchen kommst. ‘ fügte sie leise hinzu. ‚Was liegt dir auf dem Herzen? Man sieht es dir an. ‘ ‚Naja, ich glaube ich muss mich zwischen zwei Menschen entscheiden‘ Obwohl es eigentlich gar keine Menschen sind, dachte sie. ‚Ja. Entscheidungen sind schwer. ‘ sagte Penelope ruhig. Traurig blickte Jess auf. Sie dachte daran, dass Chip sie gestern fast getötet hätte. ‚Du hast Angst vor ihm, nicht wahr? ‘ ‚Was? Woher weißt du das? ‘ Jess war überrascht. ‚Zwischen uns ist eine Verbindung Jessa. Und wenn ich mit einem Menschen verbunden bin, denke ich, was er denkt, fühle, was er fühlt und spüre, was er spürt. Das ist immer so. Und bei dir fühle ich Unentschlossenheit und Zweifel. ‘ ‚Ja, das kann sein. ‘ ‚Aber wen von beiden liebst du? ‘ ‚Caleb‘ sagte Jess, ohne zu zögern. ‚Du liebst ihn, aber willst du ihn auch? ‘ Diese Frage machte Jess nachdenklich. Wollte sie ihn tatsächlich? Aber natürlich wollte sie ihn! Oder redete sie sich das nach all den Jahren nur ein? Doch dann dachte sie an das Gefühl, wenn er an ihr vorbeiging, sie mit einem Blick streifte, sie berührte. Und, wie ihr Herz geschlagen hatte, als sie sich geküsst hatten. Jetzt war sie sich sicher, sie wollte mit Herz und Seele nur bei Caleb sein. Penelope lächelte. ‚Ja. So ist es gut. ‘ Sie warf den kleinen Kopf leicht nach oben und die Mähne glitzerte. ‚Ich muss jetzt los. Doch bevor ich gehe, will ich dir etwas schenken: Kraft, um alles zu überstehen, dass noch auf dich zukommt. ‘ Sie trat ein paar Schritte zurück und berührte Jessa sanft mit der Spitze ihres gewundenen Horns am Handrücken der rechten Hand. Die Spitzte leuchtete für einen Augenblick hell auf. Ein unbeschreiblich schönes Gefühl fuhr von Jessas Fingerspitzen durch ihren ganzen Körper. Penelope sah sie noch einmal an. ‚Leb wohl, Freundin. Viel Glück.‘ Dann trabte sie elegant an und verschwand. Jess konnte ihr Leuchten noch eine ganze Weile sehen und blieb unbewegt stehen, bis es sich langsam aufgelöst hatte.
Kapitel 7
Konkurrenz?
Diese Woche ging Jess Chip aus dem Weg. Sie wollte ihn nicht mit seinem Ausraster konfrontieren. Oder wollte eigentlich nur sie nicht damit konfrontiert werden? Auch Olivia war wütend auf sie, weil sie anscheinend dachte, Jess und Chip hätten ein engeres Verhältnis. Und das schien sie sehr eifersüchtig zu machen. Jeden Tag wunderte sie sich über ihre Begegnung mit Penelope. Vor allem aber über den weißen Stern, den das Horn auf ihrer Hand hinterlassen hatte. War es ein Zeichen? Oder ein Zauber? –Wenn ja, hatte sie keine Ahnung, wie man ihn anwandte. Aber früher oder später würde sie es herausfinden.
Caleb war in fast nie da gewesen. Also gab es keine Möglichkeit, ihm näher zu kommen. Manchmal war er die ganze Nacht weg. Und Jess hätte nur zu gern gewusst, wo er sich immer herumtrieb. Doch sie zügelte ihre Neugier.
Es war ein Donnerstag und Jessa ging früh aus dem Haus, um sich wie immer mit Olivia zu treffen. Sie hatte sich wieder eingekriegt, war aber zurückhaltender und verschlossen geworden. Anstatt nachzufragen, schwieg Jessa. ‚Ich habe diesen Caleb getroffen. Er ist nett. ‘ sagte Olivia eitel. ‚Ja, das ist er. ‘ Jessa musste an ihn denken und lächelte. ‚Wir haben uns sehr gut verstanden. ‘ Jessas Lächeln war mit einem Mal verschwunden. ‚Ach ja? ‘ fragte sie. ‚Ja. Und ich treffe mich bald wieder mit ihm. ‘ ‚WAS?!‘ ‚Wieso? Stört es dich? ‘ Jessa fasste sie wieder. ‚Nein nein. Mach nur. ‘ Aber die Worte blieben ihr fast im Hals stecken. ‚Gut. Wir treffen uns nämlich heute Abend. ‘ sagte Olivia und grinste dabei. Jessa ballte die Fäuste. ‚Worüber habt ihr denn so gesprochen? ‘ ‚Über alles Mögliche: Freizeit, Hobbys, Vorlieben, dich…‘ ‚Was? Über mich!?!‘ ‚Ja.‘ ‚Was hat er über mich gesagt? ‘ ‚Dass ihr gute Freunde seid. ‘ ‚Mehr nicht?‘ ‚Nein. Eigentlich nicht.‘ Niedergeschlagen sank Jess auf eine Bank und hatte für den Rest des Tages schlechte Laune. Am Abend traf sie Caleb an, als sie ihn an der Tür antraf. Er war gerade dabei gewesen, zu gehen. Jetzt geht er zu Olivia, dachte sie. ‚Schön, dich auch mal wieder zu sehen. Ich dachte schon, du wärst verschwunden! ‘ sagte vorwurfsvoll. Er blieb stehen. ‚Tut mir leid‘ ‚Und noch etwas, ich hab gehört, du hast dich mit Olivia unterhalten? ‘ ‚Ähm –ja. Hab ich‘ ‚Und? ‘ fragte sie ungeduldig. ‚Sie ist okay. ‘ sagte er tonlos. Und auf einmal brach es aus ihr heraus: ‚Und warum hast du zu ihr gesagt, wir wären nur Freunde? ‘ ‚Sind wir das nicht? ‘ fragte er. ‚Doch, aber ich dachte wir wären mehr als gute Freunde…‘ sie setzte ein enttäuschtes Gesicht auf. Keine Antwort. Sie hasste das. Er zeigte wie immer keine Gefühlsregung. Verdammt! Wieso macht er den Mund nicht auf?! Dachte sie traurig. Hatte er ihr seine Liebe nur vorgespielt? Aber wieso hätte er das tun sollen? Sie wusste, dass er nicht mehr antworten würde, also ließ sie ihn einfach stehen, indem sie ohne ein Wort in die Hütte ging und die Tür zuknallte.
Jetzt hoffte sie, dass sich die Tür hinter ihr öffnete, dass er herein kam, sie küsste, sie umarmte oder wenigstens bei ihr war. Und nicht bei Olivia.
Kapitel 8
Wie du mir, so ich dir
Jessa merkte, dass sie und Caleb sich immer mehr entfernten. Und sie konnte nichts dagegen tun. Er traf sich bereits regelmäßig mit Olivia. Was fand er nur an ihr? Obwohl Jessa zugeben musste, dass sie neidisch war. Olivia hatte eine dünne Figur, lange Beine, große Augen, einen kleinen süßen Mund und lockiges rotes Haar. Vielleicht war sie genau Calebs Typ. Sie wusste es nicht. Aber ein wusste sie: Olivia liebte es, ihr unter die Nase zu reiben, wie viel Spaß sie mit ihm hatte. Aus diesem Grund hatte Jess aufgehört, mit Olivia zu reden. Wollte sie sich vielleicht wegen der Sache mit Chip rächen? Dieses Biest!
Irgendwann wurde ihr so langweilig und mies zu Mute, dass sie sich auf die Suche nach Chip machte. Sie musste ihre Angst vor ihm überwinden. Stark sein. So wie Penelope gesagt hatte. Und mittlerweile war sich der Meinung, das Zeichen auf ihrer Hand war eine Art Erinnerung. Was sie nicht wusste, war dass sie ihre Meinung bald ändern würde…
Endlich fand sie Chip beim großen Brunnen in der Dorfmitte. Doch bei seinem Anblick wurde sich plötzlich unsicher. Doch nach der ganzen Sucherei würde sie jetzt nicht wieder umdrehen. Leise schlich sie auf ihn zu, da sie ihn überraschen wollte. Etwa fünf Schritte von ihm entfernt, drehte er sich auf ein Mal um. Verflixt! Jessa hatte vergessen, das er als Vampir viel besser hören konnte als sie. ‚Was machst du hier? Du müsstest doch Todesangst vor mir haben! ‘ sagte er ungläubig. ‚Ich habe keine Angst. ‘ doch sie war nicht sicher, ob sie das ernst meinte. ‚Bitte! Geh weg! Und komm nicht mehr zu mir! ‘ ‚Aber ich will bei dir sein. ‘ Sie war ganz ruhig und gab sich überraschend selbstbewusst. ‚Aber…‘ Chips Mund blieb offen stehen, als sie weiterredete. ‚Ich würde sehr gerne mit dir reden, mit dir Zeit verbringen und dich kennenlernen. Und nicht gleich mit wilden Küssen überfallen werden. ‘ sie lächelte ihn an. ‚Na gut. Aber wenn du klug wärst, wüsstest du wie gefährlich ich bin. ‘ er senkte den Blick. Sie hob die Hand und streichelte über seine Wange. ‚Wollen wir uns setzten? ‘ Wortlos ließen sie sich auf dem Brunnenrand nieder.
‚Also los! Erzähl mir etwas über dich. ‘ ‚Da gibt es nicht viel zu erzählen… mein Leben ist recht langweilig. ‘ ‚Du bist ein Vampir! Wie kann die Leben langweilig sein? ‘ ‚Tut mir leid aber es gibt Dinge, die du besser nicht weißt. ‘ ‚In Ordnung. Ich werde das Thema nicht mehr ansprechen. ‘ Sie schwiegen wieder.
‚Was sind deine Hobbys? ‘ fragte er schließlich. ‚Ich habe mehrere‘ sagte Jessa. ‚Ich tanze gerne, ich singe ab und zu…‘ ‚Unter der Dusche? ‘ fragte er neckisch. Jetzt war das Eis gebrochen und die Beiden unterhielten sich angeregt. Schließlich tanzte Jessa ihm sogar etwas vor. Sie lachten sehr viel, bis Jessa Bauchschmerzen hatte und sich den Bauch halten musste.
Und als es Abend wurde, dachte Jessa wehmütig an die dunkle, leere Hütte, die sie erwartete. Was würden Caleb und Olivia wohl gerade tun? Hatten sie auch so viel Spaß wie sie und Chip?
Dann kahm ihr eine Idee: ‚Hey, Chip? Hast du Lust auf einen Spaziergang? ‘ ‚Oh ja. Sehr gern.‘ Nebeneinender gingen sie durch das Dorf. Einige Leute, an denen sie vorbei gingen, sahen sie seltsam an. Was haben die denn? Dachte sie. Sie sind wohl neidisch. Schon bald waren sie beim Wald und sie unterhielten sich immer noch. Mit langsamen Schritten folgten sie den Weg.
Als es schließlich ganz dunkel war, wurde es kalt. Jessa fröstelte. Chip merkte es, zog seine Lederjacke aus und legte sie sanft über ihre Schultern. Unter der Jacke trug er ein weißes T-Shirt. Ihr fiel auf, dass Chip fast so muskulös war, wie Caleb. Und fast so perfekt. Sie fragte sich, ob alle Vampire so schön waren. Bisher hatte sie noch keinen näher kennengelernt oder überhaupt auf ihn geachtet. Denn Caleb hatte ihr immer wieder gesagt, wie gefährlich und bösartig sie waren. Doch Chip war alles Andere als bösartig. Er hatte eigentlich ein sehr ruhiges Wesen.
Fortsetzung folgt…
Tag der Veröffentlichung: 29.11.2011
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