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Teil 1. Dorthe's Geschichte.

29. Juni 1956.
"Mama, Mama!" "Was ist denn los, mein Schatz?", rief ich aufgebracht als mein 6 jähriger Sohn Kalle den Flur entlang gestürmt kam. Sein Gesicht war voll mit Matsch und er verstreute Sand über die ganze Diele. Ich lächelte als ich ihn sah, ich mochte es so gerne, wenn er so voller Lebensfreude war. "Sieh nur!", kreischte er voller Vergnügen und hielt mir eine dicke, braune Kröte unter die Nase. "Ach du meine Güte, Kalle, was zum Teufel ist denn das?!", schrie ich. Er zuckte erschrocken zusammen und flüsterte: "Mama, du machst ihm Angst. Er heißt Kröti." Ich atmete tief aus und sagte: "Kalle, so ein Tier gehört nicht hier ins Haus, es gehört nach draußen, in die Natur!" Traurig sah er mich an. "Aber ich möchte, dass Kröti bei uns wohnt!" Ich drehte mich um und widmete mich wieder dem Abwasch. "Kalle, keine Widerrede. Du bringst ihn entweder nach draußen und baust ihm eine Unterkunft oder du trägst ihn zum Bach zurück! Und beeil dich, es fängt gleich an zu regnen!" Kalle trottete nach draußen und brüllte: "Na dann bring ich ihn zurück zu seinem Zuhause!" "Kalle, nicht in diesem Ton!", widersprach ich. Doch er war schon längst durch die Tür nach draußen geflohen.

29. Juni 1956.
Wo bleibt er denn?, fragte ich mich leise als ich meine Familie zum Abendessen rief. "Günther, Erika, Julia?! Es gibt Essen!" Gleich schon kam meine 12 jährige Tochter Julia angestürmt. "Was gibt es denn?", rief sie mir zu, als sie schon den Topf öffnete. "Igitt, Linsensuppe!" Sie war unser kleiner Wirbelwind. Ich liebte sie sehr. "Tut mir Leid, Julia, aber etwas anderes können wir uns im Moment nicht leisten", antwortete ich ihr. Sogleich trottete meine zweite Tochter Erika herein und murmelte: "Wenn's Linsen gibt hab ich keinen Hunger..." Ich sah sie ermahnend an und Julia fragte: "Mama, wo ist Kalle?" "Er hat eine Kröte gefangen und wollte sie zum Bach zurückbringen. Ich frage mich auch, wo er bleibt." Nun betrat auch mein Mann die Küche und sagte beruhigend: "Ihm wird sicher nichts passiert sein, er ist doch immer so vorsichtig. Vielleicht hat er einen seiner Schulkameraden getroffen und -" "MAMA! Ich bin da!", kreischte sogleich eine Stimme an der Tür. Ich war so beunrihigt, aber seine Stimme zu hören, gab mir wieder Sicherheit. "Wo warst du denn so lange?", fragte ich ihn. "Ich habe unterwegs noch Steine gesammelt, damit Kröti auch klettern kann!", rief er stolz. "Jaja, das ist schön, aber jetzt lasst uns essen."

1. Juli 1956
"Maaaaaaaaaaaamaaaaa!" Er konnte so laut schreien. "Was denn, Kalle?" "Darf ich hinunter zum Bach mit Matthias? Wir wollen sehen, wie Kröti sich bis jetzt eingelebt hat!", teilte er mir mit. "Ja, aber sei zum Essen wieder zurück!", rief ich ihm zu, er nickte und stürmte zur Tür hinaus. Ich wusste nicht, dass das mein letztes Gespräch mit ihm sein sollte. Für immer und ewig. Ich stieg ins Obergeschoss unseres Hauses und putzte den großen vergoldeten Spiegel meiner Urgroßmutter. Ich bemerkte wie ich aussah. Total übermüdet und alt. Mit vielen Falten. Ich musste ein wenig schmunzeln, immerhin war ich noch nicht einmal 39 Jahre alt. Erika saß in ihrem Zimmer und las ein Buch. Ich klopfte an und öffnete die Tür. Sie war immer ein sehr ruhiges Kind. Vielleicht war es das, was sie so besonders machte. Sie dachte lieber für sich allein, hatte nicht viele Freunde. Ihre Lieblingsbeschäftigung war es, am Fenster zu sitzen, nachzudenken und Tag ein, Tag aus die vielen Leute zu beobachten, die an unserem Haus vorbeigingen. Sie sah mich an und fragte: "Was gibt's?" Ich wurde rot und meinte: "Tut mir Leid, wenn ich dich gestört habe, ich wollte einfach nur mal reinschauen..." Sie nickte und dann widmete sie sich wieder ihrem Buch. Wie gesagt, sie redete nicht gerne. Mein Mann tüftelte Tag und Nacht in seiner Werkstatt um die Ecke. Ich hatte das Gefühl, seine Kinder wären ihm egal. Nachmittags hatte ich noch nie viel zu tun. An diesem Tag war Julia bei ihrer Schulkameradin eingeladen, Kalle war am Bach und Erika las. Ich setzte mich in meinen Lieblingssessel und betete: "Herr. Bitte beschütze meine Familie, den Kalle, meinen Einzigen, die Julia, meinen Liebling und natürlich Erika und Günther, meine zwei Beschäftigten. Amen." Und dann schlief ich ein.
Ich wurde von einer Stimme wach. "Dorthe! Dorthe, wach auf!" Es war Günther. "Was ist denn los?" "Es ist 18 Uhr, Erika ist im Bett, Julia malt in ihrem Zimmer und Kalle ist noch immer nicht zurück!" "Wo bleibt er denn? Er sollte um 17 Uhr heimkommen!", sagte ich verärgert, "ich werde ihn jetzt suchen!" Doch damals wusste ich nicht, dass es vielleicht schon zu spät war. Ich stand auf, zog mir meinen Regenmantel an, denn ein heftiges Gewitter hatte bereits begonnen. Draußen war es nass und kalt. Ich rannte die Straße entlang, zum Bach. "Kalle? Kalle wo bist du? KALLE!!", schrie ich. "Kalle, das ist nicht lustig, komm sofort raus, wo auch immer du bist! KALLE!!" Nach 10 Minuten hatte ich ihn noch immer nicht gefunden. Ich beschloss bei seinem Freund Matthias nachzufragen. Vielleicht sind sie ja wegen dem Regen zu ihm gegangen und er hat die Zeit vergessen!, dachte ich mir. Als ich in die Lindenstraße einbog und bei ihm klingelte, öffnete mir eine Frau. "Oh guten Tag! Sie müssen Frau Gredener sein!", sagte sie freundlich. "Möchten Sie hereinkommen?", fragte sie mich und ich antwortete sofort: "Nein. Ich bin eigentlich wegen Kalle hier. Ist er bei Ihnen im Haus?" Sie sah mich unverständlich an und rief Matthias zu sich. "Matthias, hallo, ich bin Frau Gredener, die Mutter von Kalle. Weißt du wo er ist? Ich kann ihn einfach nicht finden!" Er schüttelte langsam den Kopf und stotterte: "Ä-ähm n-nein. Also a-als ich v-vorhin gegangen bin, s-sagte er zu mir, e-er würde noch nicht gehen. Ist er nicht a-am Bach?" "Nein, deswegen bin ich ja hier. Wo kann er denn sonst sein? Also, schönen Abend noch, Frau Menkler!", sagte ich und erzitterte. Sie lächelte mich fremd an und meinte: "Er wird sich sicher wieder anfinden. Guten Abend!" Und schon knallte sie mir die Tür vor der Nase zu. So schnell ich konnte, lief ich nach Hause und alarmierte die ganze Familie. "Günther! Erika, Julia! Alle in die Diele! Sofort!!!", brüllte ich. Als sie unten bei mir standen, konnte ich die Tränen nicht länger zurückhalten. "Kalle.. Er-er i-ist weg!", brachte ich hervor und Günther hielt meine Hand. "Es wird alles in Ordung, mein Schatz! Wir finden ihn!" Alle packten ihre Regenmäntel und die Suchaktion begann.
Wir fanden ihn nicht. Noch nicht mal nach einer 3 stündigen Suche. Also beschloss ich, zur Polizei zu gehen. Ich befürchtete, dass Kalle, mein armer Kalle, entführt wurde und erhob eine Anzeige gegen unbekannt. Außerdem hing ein netter Beamter in der ganzen Stadt Zettel auf. Darauf stand:

VERMISST!

DIESER KLEINE JUNGE WIRD VERMISST.
SEIN NAME IST KALLE GREDENER UND ER WURDE DAS LETZTE MAL AM 1. JULI BEIM LÜBZER-BACH GESEHEN.
HABEN SIE IHN GESEHEN?
BITTE MELDEN SIE SICH BEI DORTHE GREDENER, HALSBECKALLEE 15.

Als wir zu Hause waren, wollte ich nur noch schlafen und den ganzen Tag vergessen.

2. Juli 1956
Es hat sich niemand gemeldet. Niemand hat ihn gesehen. Mein armer, kleiner Kalle!, dachte ich am nächsten Abend und rief die Polizei an. "Ja, Guten Tag, hier spricht Dorthe. Dorthe Gredener. Ich habe gestern die Anzeige machen lassen wegen meinem Sohn... Ja... Nein niemand... Könnten Sie eine Suchaktion starten? In ganz Berlin? Bitte, wenn Sie das für mich tun könnten...Ja?...Ja?... Oh, tausend Dank! Wiederhören." Nach dieser anstrengenden Nacht hörte ich nichts von der Polizei. Und die ganze Familie war wie tot.

5. Juli 1956
Es war schon spät am Abend und wir saßen beim Essen, als das Telefon klingelte. Günther sprang auf und nahm ab. "Hallo?... Herr Schmarter von der Polizei?... Guten Tag.... Was?... Sie haben ihn gefunden???...Ja aber wo und wann und -" Er wurde anscheinend unterbrochen. Die ganze Familie sah ihn mit erwartungsvollen Augen an. "Wie - Sie meinen er ist... tot?...Er ist was bitte?... Im Bach ertrunken?" Als ich dieses Gespräch hörte, schnürte sich meine Kehle zusammen. Ich brachte nichts hervor, sank auf den Tisch und begann zu weinen. Er war tot. Für immer. Und niemand könnte je wieder etwas daran ändern.


Das war erst mal das erste Buch und Fortsetzung folgt. Ich hoffe es hat euch bis hierhin gefallen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 22.05.2009

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Rebecka. Weil wir es uns ausgedacht haben und ich es jetzt hier veröffentliche.

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