Autoren sind Zeitgenossen. Sie schreiben aus ihren Erfahrungen heraus, erzählen die Geschichte ihrer
Lebensspanne. Keiner kann sich der Prägung durch seine Zeit entziehen.
Diese Auswahl der Geschichte ist eine ernste Auseinandersetzung der Gefühle zweier Menschen - sehr lebendig gebliebene Texte. Es geht um das menschlich Interessante, um das typische Leben miteinander. Die Entwicklungen und Stimmungen des Lebens.
Dieses Erleben ist eine glühende, fast zerstörbare
Leidenschaft.
Das alte Wort Beschwörung hat in unserer Sprache einen doppelten Sinn. Es meint das geisterhafte Heraufrufen und sinnliche Erscheinenlassen von Gestalten, die nicht mehr oder gar nicht von dieser Welt sind. Man kann das gut vergleichen mit den Episoden eines Lebens. Und das Wort auch meint den Apell an andere oder den Nächsten, meint Überzeugungsarbeit unter dem Druck drängender
Lebensphilosophie. Man kann das gut mit einer literarischen Arbeit vergleichen: Menschenbeschwörung.
Musch Elisabeth Becker
wurde in Paderborn (Westfalen) geboren und wuchs im Nordschwarzwald auf.
Sie ist verheiratet, hat zwei Töchter, einen Enkelsohn und lebt im Schwarzwald glücklich vereint.
Die meisten Menschen sind irgendwann, meist in den Lebensabschnitten ihrer Entwicklung, bei den Lebenswenden mit der Situation der Mutter- und Vaterliebe in Berührung gekommen. Die Sensibilität und Berührung, die Zustimmung der Herzen ist gefragt.
Schlurfend kommt sie mir den Gang entgegen, alt, gebeugt, schlohweisse Haare umrahmen ein eingefallenes Gesicht, Augen von der Alzheimerischen Krankheit gezeichnet schauen mir trübe entgegen. Ganz kurz leuchten sie auf. Ein Erkennen. „Ja, wer kommt denn da“. Schlaganfälle nahmen die Kraft, den Glanz aus den Augen, machten sie zitternd um jeden Schritt bangend.
Meine Mutter.
Ich möchte die Geschichte erzählen von ihr und mir. Von einer Kindliebe, die getränkt von Heimweh, Schmerz und Trauer mein ganzes Leben zeichnet. Von einer Liebe, welche irgendwann im Laufe der Jahrzehnte langsam sich verzehrte und die heute Mitleid und Wehmut zeichnet. Eine Geschichte, die es wert ist aufgeschrieben zu werden.
Ich weiß nicht viel von ihrer Kindheit und Jugend. Geboren wurde sie als zweitältestes Kind von fünf Geschwistern in dem kleinen Schwarzwalddorf Hundsbach. Ihre Großeltern waren Wirtsleute, Reiche zu jener Zeit.
Sechs Rösser standen im Stall, Holz wurde geschleppt, die Pferdefuhrwerke wurden beim Straßenbau zum Steintransport und im Winter zum Bahnen
der Schneemassen eingesetzt.
In der Dorfwirtschaft „Zum Löwen“ wurden Hochzeiten gefeiert. Ein feudales Mahl, auch für die ärmlichen Familien, wurde traditionell gereicht. Nach der kirchlichen Trauung in der Kapelle auf dem Kirchenbuckel gab es Kalbfleisch-Geschnetzeltes in feiner Buttersoße mit Weck. Zum Mittagessen Nudelsuppe, gekochtes Rindfleisch oder Ochsenfleisch, Meerrettichsoße, Salzkartoffeln, Preiselbeeren, Rote-Rüben-Salat. Danach reichten eifrige Bedienungen in weißen, gestärkten Schürzen den Gästen Weinsauerkraut, mit geräuchertem Schinken gekocht oder „Schäufele“, Kartoffeln und nach Jahreszeit gekochte Kastanien. Zur Freude aller gab es Dessert: Weinsoße mit Bisquit oder Karamelsoße. Am Nachmittag Kaffee und Kuchen. Kinder stürmten nach der Schule den Saal um sich eine Scheibe Holzofenbrot mit frisch geschlagener Butter und Marmelade zu ergattern.
Abends servierten die Mädchen den schon oft sehr lustigen Gästen Flädle- oder Grünkern-Suppe mit Weck- oder Fleischbällchen, selber gemachte breite Nudeln, eingemachtes Kalbfleisch und Salat. Zu später Stunde gab es nochmals Kaffe, Hefekranz, Gugelhupf, Apelkuchen oder Blechkuchen.
Manche Brautleute mussten ihre Vermählung beim den Wirtsleuten lange abbezahlen und die Erinnerung an den Festtag blieb ihnen im Gedächtnis.
Fremdenzimmer wurden eingerichtet, die Kurgäste kamen von der Stadt, der guten Luft wegen und nicht zu vergessen, der Stammtisch an dem nach getaner schwerer Arbeit die Holzfäller sich so manchen schweren Rausch antranken und nur mit Mühe den oft langen Heimweg zu den abgelegenen Gehöften fanden.
Stille breitet sich aus an den Abenden nach getaner Arbeit und eine Schwermut die den Schwarzwäldern in die Wiege gelegt wird.
Schneereiche, lange Winterabende, einen kurzen Frühling, einen Sommer, der mit dem Mähen der steilen Hängen, mit Wenden des Grases und im Spätsommer das Einfahren des Heues für das Vieh, seinen Abschluss fand.
In diesem abgelegen Gebirgsdorf wurde meine Großmutter Elis als zweites Kind von acht Kindern den Wirtsleuten Theresia und Bernhard geboren. Im gleichen Jahr kam mein Großvater Reinhold zur Welt. Hundsbach hatte zwei neue Erdenbürger. Auch seine Eltern waren Wirtsleute. “ Zur Forelle“ nannte sich das mit Schildern bedeckte Wirtshaus. Für meine Großeltern gab es in dem stillen, abgelegenen Schwarzwalddorf Hundsbach keinen Broterwerb. So zogen sie mit ihrer Kinderschar in das nächst größere Industriestädtchen, in dem mein Opa eine Anstellung fand.
Auf Fotos stehen sie würdig, ernst und verschlossen. Groß war die Verantwortung für meine Großmutter. Ihre Augen sprechen ihre eigene Sprache.
Geduldig soll sie gewesen sein, sich selbst treu.
Seit Generationen - Südtiroler waren es von denen sie abstammte – die Welt der Wälder und der Ruhe.
In dieser neuen Welt wuchs meine Mutter zwischen ihren vier Geschwistern zu einer Persönlichkeit heran. Stolz, Eigensinn, Schönheit zeichneten ihren späteren Lebensweg schon in ihrer Jugendzeit ab. Lehrerin wollte sie werden, aber dafür war kein Geld da. Einen Nähkurs durfte sie machen und wurde zu einer guten Schneiderin. In späteren Jahren sicherte sie sich damit ihren Lebensunterhalt. Sie war eine Schönheit, die Männer verrückt nach ihr. Charme und ein Lächeln dem niemand widerstehen konnte.
Augen, die versprachen und lockten. Führend schon da, mit einem Hauch der Unterwürfigkeit, so lernte sie ihren Mann kennen, meinen späteren Ziehvater.
Die junge Familie zog in unmittelbare Nähe meiner Großeltern.
Fortsetzung folgt.
Musch Elisa Becker
Tag der Veröffentlichung: 23.06.2009
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