Cover


Für meine Töchter Diana und Tanja
im Gedenken an ihre Oma Liesel



Eine Geschichte zum Schaukeln




Der Schein der Kerzen erhellt die Umrisse und wirft Schatten auf Dielen, braun und gewachst.
Still ist es im Zimmer, draußen beginnt der Abend mit einem Abendrot das die Zeit vergessen läßt.
Fast andächtig die Stimmung. Ruhe durchströmt die Räume des Häuschens. Die Türen sind geöffnet, bereit Gäste zu empfangen. In der Ecke umrahmt von alten Fotografien steht ein Schaukelstuhl. Langsam gehe ich auf ihn zu und im Gehen wandern meine Gedanken Jahrzehnte zurück. Jung war die werdende Mutter, fast selbst noch ein Kind. Jung verheiratet, den Hausrat zusammengetragen aus Geschenken. „Nimm ihn mit, den könnt ihr noch gebrauchen,“ Oma Liesel rief es durch den Speicher.
Einsam und abgedeckt stand ein Schaukelstuhl braunlackiert auf dem Dachboden. Groß war die Freude über das neue, geschenkte Möbelstück. Am nächsten Tag wurde er liebevoll verpackt und sorgfältig in den Wagen geladen um die Reise anzutreten in die



zweihundert Kilometer entfernte erste, gemeinsame Wohnung auf dem Land in der Nähe von Ingelheim am Rhein. Braunlackiert, zu jener Zeit für junge Menschen altmodisch, unmöglich und einfach nicht zeitgemäß.
Weiß war die Farbe – voll im neuen Zeitgeist. Weiß war das Mobiliar, weiß sollte auch er werden. Abgebeizt, geschmirgelt und mit viel Geduld und Hingabe wurde er weiß gestrichen. Schön stand er da. Jung und modisch, ein schöner Stuhl zum Schaukeln. Stolz auf ihn und auf die gelungene Arbeit wurde er begutachtet und für den schönsten Schaukelstuhl erklärt.
Die Zeit ging ins Land. Das Frühjahr hielt seinen Einzug und verwandelte die Wiesen hinter dem Hause auf dem Lande in ein Blütenmeer. Die Apfelbäume blühten in jenem Jahr so prächtig als wollten sie auf einen Schönheitswettbewerb gehen. In dieses kleine Naturwunder kam in den frühen Morgenstunden ein Mädchen auf diesen Erdenball und begrüßte die Welt mit lauthalsem Geschrei.




Die Tulpen vor der Klinik erschraken aus ihrem tiefen Schlaf und hoben ihre Köpfchen der aufgehenden Sonne entgegen. "Das ist bestimmt ein Junge“, flüsterten sie sich zu. "Nein, nein, ein Mädchen, Diana soll sie heißen, wir wissen es genau. Der kleine freche Spatz sitzt auf der Fensterbank und hat es uns zu gepfiffen", riefen die Osterglocken. "Ein Mädchen, ein Mädchen, sie wird so schön werden wie wir“, die Tulpen hüpften vor Freude, faßten sich bei den Händen und sangen ihr Willkommenslied für das kleinen Mädchen.
Tage danach winkten die Tulpen, Osterglocken und alle Spatzen dem Baby zum Abschied. Die kleine Diana und ihre Mama bemerkten dieses nicht, aber die Tulpen, Osterglocken und Spatzen gaben die Botschaft weiter an alle ihre Verwandten auf der ganzen Welt.





“Begleitet dieses Mädchen mit euren Farben und dem Gezwitscher über den ganzen Planeten“ und so kam es, dass Diana nie alleine sein wird, denn alle Blumen und Vögel heissen sie willkommen. Schläfrig und hungrig kamen die Beiden in der kleinen Wohnung an. Aber wie freute sich der allerschönste Schaukelstuhl. Aufgeregt wippte er hin und her. "Ein Baby, ein Baby", jubelte er. Müde setzte sich die junge Mutter mit ihrem Kind in den Stuhl und schaukelte ganz sachte hin und her, hin und her, hin und her, hin ... Diana war eingeschlafen. Ein friedliches Lächeln lag über dem Gesichtchen. Der Schaukelstuhl war glücklich, so glücklich. Wann hatte er etwas so Schönes erfahren, er mußte scharf nachdenken, aber er konnte sich nicht mehr erinnern. Dass er so ein Glück nocheinmal erleben durfte auf seine alten Tage. Alles würde er tun um das kleine Mädchen glücklich zu machen. Fläschchen um Fläschchen nuckelte das Baby in den Armen der Mama in dem Schönsten aller Möbelstücke. Das erste Lachen, Juchzer voller Lebensfreude.



Der Sommer hielt Einzug auf der Wiese hinter dem Haus. Hoch stand das Gras zwischen den Apfelbäumen. Hummeln und Bienen summten ihre Lieder um die Wette. Glücklicher Sommer.
Lange Sommerabende im Freien, still und friedlich der Schaukelstuhl, als ob er lächelte stand er zwischen herabragenden Zweigen auf dem weichen Polster des Grases, bedacht seine Arbeit gut zu tun.
Die Äpfel wurden rot, als ob sie sich schämten, manche versteckten sich hinter dem dichten Blätterwald.
Die Abende wurden kürzer.



Aaron Rödel



An einem Abend stöhnte das beste Stück kurz auf, tat einen Seufzer und sein Herz brach entzwei.
Das Baby auf dem Arm hob verwundert das Köpfchen, was war geschehen? Sein Herz war alt - die Sitzfläche war gebrochen. Trauer spiegelten sich auf den Gesichtern. Er wollte doch das Baby begleiten, schaukeln, trösten und sie in den Schlaf wiegen.
"Wir lassen ihn nicht im Stich. Er kommt in ein Stuhlhospital, speziell für Schaukelstühle.
Ganz in der Nachbarschaft, er muß uns nicht lange verlassen.
Nur ganz kurz, dann bist du wieder bei uns“, strich ihm behutsam die junge Mutter über die Lehne.
“Nein, nein, er kommt mit mir, ich kenn da ein Schaukelstuhlhospital, viel besser und größer“, schaltete sich Oma Liesel ein. So nahmen sie Abschied.
Wieder wurde er verpackt, in ein Auto verstaut und verschwand in der ersten Rechtskurve aus ihrem Leben.





Wie leer war die Wohnung. Er fehlte, der Platz war frei und kein Möbelstück konnte seine Stelle ausfüllen.
“Er kommt bald wieder“, seufzte die Mama und strich dem kleinen Mädchen tröstend über den Kopf.
Ihr fehlte er am meisten. Sein Schaukeln so zärtlich und beruhigend.
Monate vergingen. "Wo ist denn der Schaukelstuhl?" Fragen über Fragen. Aber keine Antwort.
"Vielleicht gibt es ihn nicht mehr, vielleicht ist er verschenkt, verkauft, oder einfach verloren gegangen“, rätselte die Mutter.
Monat um Monat, Jahr um Jahr. Aus dem Baby wurde ein Kindergartenkind, ein Schulkind, ein Teenager, aber wo war der erste Gefährte, der sie schaukelte, besänftigte und die ersten Monate ihres Erdenlebens miterlebte.
Es gab ihn nicht mehr.
Das Baby von einst wurde 18 Jahre. "Was wünscht du dir denn von mir“, fragte die Oma Liesel erwartungsvoll ihre Enkelin Diana. "Ach weißt du, Oma.


Gib mir doch einfach den Schaukelstuhl zurück, den von früher, als ich noch klein war", erwiderte das Geburtstagskind. Die Spannung war groß. Wie würde sie ihre Enkelin erfreuen. Der Schönste aller Schaukelstühle würde er zum Leben erwachen. Der Tag des Geburtstages war gekommen. Freudenstrahlend überreichte Oma ein Kuvert. "Kauf dir einen schönen Schaukelstuhl." Die Enttäuschung verbergend bedankte sich die nun Volljährige.
Wo ist er - der Schönste aller Schaukelstühle - all die Jahre. Was war mit ihm geschehen?
Frühling, Sommer, Herbst und Winter ein Kreislauf der Zeiten. Als der Winter die Oma heimholte zum ewigen Schlaf lüftete sich das Rätsel um den verloren Gegangenen.






Abgedeckt, wieder braunlackiert, sein kaputtes Herz operiert stand er wie vor über dreißig Jahren auf dem Dachboden. Kein Sonnenstrahl, kein Kinderlachen konnte ihn erfreuen.
Ab dem heutigen Tage darf er wieder lachen und schaukeln.
Er wartet wie vor Jahrzehnten auf eine junge Mutter mit ihrem Baby, die er schaukeln, beruhigen und besänftigen kann. Wieder wird er auf einer Sommerwiese stehen und sich erfreuen an Menschen, die ihn brauchen und die ihren Kindern und Enkeln die Geschichte erzählen


von dem
Schaukelstuhl, der nicht schaukeln durfte.


Musch Elisa Becker

 

Impressum

Texte: Copyright by Musch Elisa Becker Layout und Fotos: Dieter Becker Salentin
Tag der Veröffentlichung: 30.05.2009

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