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1. Veränderung



Stöhnend rieb er sich den Hinterkopf und versuchte in eine aufrechte Position zu kommen. Jeder einzelne Knochen im Körper tat ihm weh und in seinem Kopf schien der reinste Trommelwirbel zu toben.
Wie war er nur hierher gekommen?! Was machte er hier, und vor allem, wer war er überhaupt? Angestrengt versuchte er sich an irgendetwas zu erinnern. Da, ganz tief in seinem Inneren, da war etwas. Mühsam trachtete er danach, diesen Gedanken, dieses Gefühl zu erfassen. Immer näher kam es und dann hatte er ein Bild vor Augen. Zwei leuchtend grüne Augen schauten ihn unendlich traurig an. Eine Wehmut erfasste ihn. Wem mochten diese Augen nur gehören?
Seufzend erhob er sich nun endgültig und schaute sich suchend um. Diese Fragen brachten ihn nicht weiter, aber hier musste es doch irgendetwas geben, dass ihm weiterhelfen konnte.
Bäume, Sträucher, eine Lichtung. Das war alles, was er sah. Enttäuscht wollte er sich schon wieder in das weiche Gras sinken lassen, als er hinter sich ein leises Knacken vernahm. Schnell drehte er sich um, nur um in ein paar große und unendlich gütige Augen zu schauen. Vor lauter Schreck fand er sich im Gras wieder. Ein dumpfes Dröhnen kam daraufhin von seinem Gegenüber. Es dauerte einen Moment bis er verstand, dass der Andere lachte. Eine zarte Röte schlich sich auf seine Wangen. Er räusperte sich und schaute mutiger als er sich fühlte auf das Wesen vor ihm.
„Wer bist du? Was bist du? Und wo bin ich hier?“ fragte er zögernd. Eigentlich rechnete er nicht wirklich mit einer Antwort. Umso mehr überraschte es ihn, als das schlangengleiche, geflügelte Wesen anfing mit tief dröhnender Stimme zu sprechen.
„Das sind eine Menge Fragen, kleiner Drache. Doch die wichtigste hast du noch gar nicht gestellt. Ich bin Silberflügel, der Älteste der Wasserdrachen und dies ist mein Heim. Doch nun sag, was dich wirklich beschäftigt.“ Silberflügel legte seinen Kopf auf die Vorderkrallen und schaute ihn wissend an.
„Weißt du, wer ich bin, und wie ich hierher gekommen bin?“ fragte er und schaute Silberflügel hoffnungsvoll an. „Du hast mich eben kleiner Drache genannt. Ist das mein Name?“
„Ich habe dich kleiner Drache genannt, weil du das bist. Tief in dir schlummert eine Drachenseele und wartet darauf befreit zu werden. Mehr weiß ich nicht über dich. Du kamst vor einigen Minuten hier an. Urplötzlich warst du da, von einem Moment auf den anderen.“
Traurig schaute er zu Boden. Silberflügel wusste also auch nicht, wer er war. „Was soll ich denn jetzt machen?“ wollte er niedergeschlagen wissen.
„Komm mit mir, zur Drachentriade. Zusammen mit Feuerzunge und Sturmwind wird uns eine Lösung einfallen.“ schlug Silberflügel vor und erhob sich.
Auch kleiner Drache stand auf und folgte seinem neuen Freund.
„Komm, steig auf meinen Rücken. Der Weg ist weit und auf deinen Menschenbeinen wirst du nie ans Ziel kommen.“ forderte Silberflügel und dann erhoben sie sich gemeinsam ins Blau des Himmels. Unter ihnen zogen Seen und Flüsse dahin. Nun erst bemerkte kleiner Drache, dass hier alles voller Leben war. Er sah Hasen und Rehe. Wildkatzen, die ihren Durst an einem kleinen Bach stillten, und sogar einen Adler, der majestätisch an ihnen vorbei flog. Neugierig nahm er alles in sich auf, und vergaß für einen Moment seine Sorgen. Wie lange sie so dahin flogen, wusste kleiner Drache nicht. Irgendwann übermannte ihn die Müdigkeit und er schlief sicher beschützt auf Silberflügels Rücken ein.

***

Kleiner Drache fühlte sich absolut wohl. Genüsslich kuschelte er sich tiefer in die Kissen und genoss dieses Gefühl. So dämmerte er noch eine ganze Zeit vor sich hin, bis ein leises Kichern ihn aus diesem Zustand riss.
Murrend öffnete er ein Auge und versuchte sich erst einmal zu orientieren.
Da erklang erneut das Kichern und eine Kleine-Mädchen-Stimme rief: „Nun wach schon auf, du Schlafmütze.“
Gähnend setzte er sich auf und sah sich nach der Sprecherin um.
„Na endlich.“ Das Mädchen saß frech am Fußende seines Bettes und spielte mit ihren langen geflochtenen Zöpfen. Dabei lächelte es ihn lieblich an. „Nun steh schon auf! Großvater wartet auf dich.“ trieb sie ihn an und zog seine Decke weg. Danach sprang sie vom Bett und wuselte durch den Raum.
Einen Augenblick später stand sie schon wieder lachend vor ihm.
„Hier hast du ein paar saubere Sachen, die kannst du anziehen. Da hinten ist das Bad.“
Damit schob sie ihn durch den Raum in ein angrenzendes Zimmer.
„Mein Name ist übrigens Salina.“ rief sie noch, dann war die Tür zu.
Kopfschüttelnd machte kleiner Drache sich daran, sich wieder herzurichten.
Nun hatte er auch die Gelegenheit sich selbst im Spiegel zu betrachten.
Was er sah, gefiel ihm, auch wenn er das dumpfe Gefühl hatte, dass eine Kleinigkeit an diesem Bild falsch war. Ihm schaute ein etwa zehnjähriger, blonder Junge entgegen. Seine Augen waren von einer silbergrauen Farbe, die Nase schmal und gerade. Die Lippen vollendeten feingeschwungen das Bild. Alles in allem war er ein hübscher Junge, wie er zufrieden feststellte.
Lächelnd trat er wieder aus dem Bad und schaute sich nach seiner kleinen Gastgeberin um.
Diese saß auf einem Stuhl am Schreibtisch und baumelte ungeduldig mit den Beinen.
„Da bist du ja endlich. Ich dachte schon du willst ewig da drin bleiben.“ teilte sie ihm vorwurfsvoll mit.
Schwungvoll sprang sie auf die Beine und zog kleiner Drache mit sich aus dem Raum.
Zusammen liefen sie durch mehrere Flure und über Treppen, bis sie vor einem Salon zum Stehen kamen.
Schnell klopfte Salina an und öffnete dann die Tür, noch bevor ein „Herein“ erklingen konnte.
„Hier ist er, Großvater.“ rief sie fröhlich einem weißhaarigen älteren Herrn zu und schob kleiner Drache ins Zimmer.
„Guten Morgen, kleiner Drache. Hast du gut geschlafen?“
Schüchtern nickte er und grüßte ebenfalls. „Darf ich jetzt mit ihm spielen, Großvater?“ fragte Salina und war schon wieder halb dabei kleiner Drache aus dem Raum zu zerren.
„Moment, Salina. Was habe ich gestern gesagt?“ fragte der alte Herr leicht vorwurfsvoll.
„Aber er ist doch jetzt wach, und du hast doch gesagt, dann darf ich mit ihm spielen!“ hielt Salina dagegen.
„Salina, hast du ihn geweckt?“
„...“
„Salina?!“
„Er hat sich bewegt...“ schmollte Salina und ließ sich in einen der Sessel sinken. Sprachlos verfolgte kleiner Drache dieses Schauspiel.
Seufzend wandte sich Salinas Großvater an ihn. „Tut mir leid, kleiner Drache. Salina kann manchmal ganz schön stürmisch sein. Wir bekommen hier nicht allzu oft Besuch, musst du wissen. Aber nun setz dich doch.“
„Das macht doch nichts. Ich bin Salina nicht böse, im Gegenteil. Es ist schön, so freudig begrüßt zu werden.“
Kleiner Drache nahm ebenfalls in einem der Sessel Platz, während Salina kurz mit dem Schmollen aufhörte, um ein „Siehste...“ hören zu lassen.
„Hast du Hunger?“ fragte Salinas Großvater fürsorglich und reichte kleiner Drache einen Teller mit Sandwiches.
„Vielen Dank.“ sagte er und griff zu. Dann fiel sein Blick zum ersten Mal in die gütigen Augen in dem alten Gesicht, und er stockte. „Silberflügel.“ hauchte er. Der alte Mund verzog sich zu einem Lächeln und Silberflügel nickte.
„Hat Salina es dir nicht gesagt?“ fragte der Drache und stellte das Tablett wieder zur Seite auf den kleinen Tisch.
Kauend schüttelte kleiner Drache den Kopf. „Nein, sie hat nur gesagt, dass ihr Großvater auf mich wartet.“
„Das ist mal wieder typisch Salina. Wenn sie mal wieder etwas für sich behalten soll, dann weiß es binnen Sekunden die halbe Welt, aber etwas Wichtiges kann sie nicht mitteilen.“ milde lächelnd ließ Silberflügel seinen Blick über seine Enkelin schweifen.
„Nun denn, ich bin Silberflügel, wie du festgestellt hast. Dennoch möchte ich dich um eines bitten. Wenn ich in meiner menschlichen Gestalt weile, dann rufe mich nicht bei diesem Namen. Nicht jeder, der unter diesem Dach lebt, kennt mein Geheimnis.“
„Wie soll ich Euch dann nennen?“
„Mein zweiter Name lautet Salemeth. Rufe mich bei diesem.“
„Wie Ihr wünscht. Gestattet ihr mir einige Fragen?“ fragte kleiner Drache vorsichtig.
„Aber sicher. Was möchtest du wissen?“ Gütig schaute Salemeth ihn an, dabei nippte er immer wieder an seiner Teetasse.
„Nun, zuerst einmal möchte ich erfahren, wo ich hier eigentlich bin.“
„Das ist nicht so einfach zu erklären, kleiner Drache. Wir befinden uns so gesehen noch immer an der Stelle, wo wir uns kennen gelernt haben. Jene Lichtung befindet sich parallel zu diesem Haus. Wenn du aber wissen willst, wo wir auf der Landkarte sind, dann lass dir gesagt sein, das Edingborough lediglich 10 km Luftlinie von hier entfernt ist.“
Kleiner Drache nickte. Von dieser Stadt hatte er bereits gehört.
„Sie Haben gesagt, dass wir zur Triade wollen. Ist das hier?“
„Ja, meine Freunde werden bald eintreffen, dann können wir beratschlagen.“
„Gut, dann habe ich vorerst nur noch eine Frage. Warum helfen Sie mir?“
Wieder lachte Salemeth leise auf. „Du bist ein misstrauischer, junger Mann. Ich helfe dir, weil es in meiner Natur liegt. Dein Wesen ist dem meinem verwandt. Daher ist es eine Selbstverständlichkeit.“ Kleiner Drache fühlte, wie er rot wurde. nun war ihm sein Misstrauen peinlich. „Ich danke Ihnen.“ murmelte er kleinlaut und senkte den Blick. Die nächste halbe Stunde verbrachten Salemeth und kleiner Drache in vergnüglichem Gespräch. Auch Salina gab ihr Schweigen auf und beteiligte sich daran.
Dann endlich öffnete sich die Salontür erneut und zwei Männer traten herein. Sie waren erheblich jünger als Salemeth und doch strahlte aus ihren Augen dieselbe Güte und Ruhe. „Stephanos, Raphasos, wie schön euch zu sehen. kommt herein und setzt euch.“ Salemeth winkte ihnen zu und wies dann auf die noch freie Couch.
Stephanos, hochaufgeschossen mit feuerrotem Haar und stahlblauen Augen, trat auf die kleine Gruppe zu und gab jedem die Hand, bevor er Platz nahm.
Raphasos hingegen hielt sich im Hintergrund. Mit seiner zierlichen, braunhaarigen Gestalt fiel es ihm nicht schwer, die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Seine dunklen Augen nahmen jedoch jede Kleinigkeit in sich auf.
„Kleiner Drache, darf ich dir Stephanos Feuerzunge und Raphasos Sturmwind vorstellen? Mit ihnen ist die Drachentriade komplett.“
Kleiner Drache musterte die Neuankömmlinge neugierig. Er wusste nicht, was er von ihnen halten sollte. Dennoch flößten sie ihm die gleiche Sicherheit ein, wie Salemeth.
„Warum hast du uns gerufen, Salemeth? Hat es etwas mit diesem jungen Mann zu tun?“ fragte Stephanos und ließ seinen Blick über kleiner Drache schweifen.
Der alte Drache nickte und berichtete über sein Zusammentreffen mit kleiner Drache.
Nun erhob Raphasos das erste Mal seine Stimme. „Sieh mich an, kleiner Drache.“ bat er, während er sich vor seinem Sessel auf die Knie sinken ließ. Sanft nahm er seine Hände und schloss die Augen. Ein fahles Licht breitete sich über ihre verbundenen Hände aus. Kleiner Drache spürte, wie ihn ein innerer Frieden befiel. Er ließ sich in dieses Gefühl fallen und schloss ebenfalls langsam die Augen. Einige Minuten saßen sie so reglos verharrend, dann erklang erneut Raphasos sanfte Stimme.
„Ich kann seine Drachenseele spüren. Sie ist sehr mächtig und im Gegensatz zu ihrem menschlichen Ich erinnert sie sich an die Vergangenheit.“ Raphasos öffnete seine Augen und fixierte die stahlgrauen seines Gegenübers.
„Kleiner Drache, dir wurde ein großes Geschenk gemacht. Damit du zu dir selbst finden kannst, wurdest du in diese Form transferiert. Deine Vergangenheit wurde ausgelöscht. Erst wenn du im Gleichklang mit deiner Drachenseele bist, ehrt deine Erinnerung zurück. Bis dahin wird sich jeder Fortschritt deinerseits in deinem Äußeren widerspiegeln. mit jeder Erkenntnis wirst du wieder ein wenig älter werden, bis dein wahres Alter erreicht ist.“ Verwirrt schaute kleiner Drache auf Raphasos. Seine Hände zitterten leicht. „Wer hat das getan?“ fragte er leise. Raphasos strich ihm sanft eine Strähne des blonden Haares aus dem Gesicht, ehe er antwortete.
„Das weiß ich nicht. Aber eines kannst du dir sicher sein. Wer immer das auch war, er muss dich unendlich lieben.“
Ein sanftes Lächeln schlich sich um kleiner Draches Mund und brachte sein gesamtes Gesicht zum Strahlen.
„Ich erinnere mich an grüne Augen, ob das seine sind?“ sprach er mehr zu sich selbst.
Salemeth nickte leicht. „Das wäre durchaus möglich.“

***

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.06.2010

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für alle die Bücher lieben

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