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Es ist erst halb fünf in der Früh, als mein Wecker klingelt. Ich strecke mich genüßlich und denke schon an das, was mich heute erwartet. Mit einem Finger drücke ich die Taste, die den Wecker verstummen lässt und schwinge mich aus meinem Bett. Zwanzig Minuten später stecke ich schon zumindest in der Motorradhose und weitere zehn Minuten später kontrolliere ich noch einmal, ob ich gestern auch wirklich an alles gedacht habe.
Im Topcase sind die wichtigsten Sachen, die nicht mehr in das Paket gepasst haben, das schon gestern auf die Reise ging. Es ist schwer, sicherlich über den zugelassenen drei Kilo, aber ich denke das wird schon gehen. Der Tankrucksack ist ebenfalls gut gefüllt. Sonnenbrille, Haustürschlüssel, meine Papiere, das Handy und zwei Trinkpäckchen mit dem Multivitaminsaft, den ich so gerne mag, ein Schokoriegel und eine kleine Dose mit zwei geschmierten Broten. Verhungern werde ich definitiv nicht, stelle ich belustigt fest und sehe nach, ob ich auch die beiden Straßenkarten für Süd- und Norddeutschland eingepackt habe, auf denen die schönsten Motorradstrecken in blau hervor gehoben sind. Klar, alles dabei, an alles gedacht. Das Sichtfenster des Tankrucksacks ermöglicht mir einen Blick auf die von mir herausgeschriebe Route. Knapp 350 Kilometer, quer durch Deutschland.
Um kurz nach fünf habe ich Topcase und Tankrucksack fachmännisch montiert. Schnell noch ein Check in der Wohnung. Habe ich meinen Vögeln genug zu Fressen gegeben? Ist der Herd auch wirklich aus? Steht auch alles zur Versorgung der Tiere bereit, wenn meine Bekannte kommt? Ja, alles ist in Ordnung. So kann ich beruhigt meinen Weg antreten.
Schnell schiebe ich das Motorrad von der Wand weg zu der Stelle, an der ich aufsteigen will und lasse mich auf den bequemen Sitz gleiten. Gehörschutz und Sturmhaube sind schnell angelegt. Es folgen Helm und Handschuhe, alles Routine. Der Griff zum Anlasser lässt den Motor protestierend aufheulen.
Pssst, nicht so laut, ist doch erst fünf...
Langsam fahre ich los, halte die Drehzahl gering, um noch schlafende Nachbarn und Bürger nicht zu belästigen. Als ich auf die Hauptstraße abbiege, fährt ein schwarzer Mercedes vorbei, darin ein noch müde aussehender Mann. Ich ermahne mich, das zu so früher Stunde sicherlich noch mehr als sonst mit Fehlern Anderer zu rechnen ist und krabble langsam hinter dem Auto her, bis ich endlich aus dem Ort heraus komme und vor mir eine gerade Strecke quer durch Wiesen und Felder liegt. Mit einer leichten Bewegung der rechten Hand schießt die Maschine vorwärts. Alles ist leer, keine Autos, kein anderes Motorrad, keine Radfahrer oder Fußgänger.
Durch das leicht geöffnete Visier weht der kühle Morgenwind hinein, bringt die Düfte nach feuchtem Gras, süßen Blüten und zartem Nebel. Ich genieße schon auf den ersten Metern meiner Fahrt das sanfte Vibrieren der Maschine unter mir, die unverfälschten Gerüche der Natur und den Anblick, der sich mir bietet, als die Sonne die ersten wärmenden Strahlen über den Horizont schickt. Die Welt um mich herum erwacht gerade aus ihrem nächtlichen Schlaf und ich darf dabei sein!
Wie verzaubert folge ich dem Weg, der mich durch dunkle Wälder führt, vorbei an hoch aufragenden Bäumen und dunklem Gestrüpp am Boden. Das Licht hier ist gedimmt, grün, taucht die Umgebung in eine einzigartige Atmosphäre, in der der Mensch nur Gast sein kann. Ich atme tief und inhaliere diese saubere Luft, schmecke hölzerne Feuchte und rieche das Moos und den Boden des Waldes. In der ganzen Zeit begleitet mich meine Maschine wie eine gute Freundin, folgt scheinbar allein dem sanft kurvigen Verlauf der Straße, der Motor ruhig und kraftvoll. Sein Brummen und das Rauschen des Windes, der an meinem Helm vorbei fliegt mischen sich miteinander. Zusammen mit den ersten Vögeln des Tages ergibt sich eine eigene Komposition.

Welch wundersames Erlebnis, wenn man sich darauf einlassen kann!

Eine halbe Stunde später biege ich nach rechts auf eine Autobahn ab. Noch vor dem Berufsverkehr will ich an der nächsten großen Stadt vorbei sein, will den früh-morgendlichen Verkehr und die damit verbundenen Staus meiden. Kaum dass ich auf das breite Band aus Asphalt auffahre, ist es wie ein Schock. Viele Autos rasen von links nach rechts, verbreiten Lärm, Unruhe und Gestank. Ich denke an den Fahrer des schwarzen Mercedes und reihe mich zwischen den großen Blechgefährten ein.
Die rechte Hand dreht am Gasgriff, der Motor heult, die Drehzahl steigt und die Maschine unter mir beschleunigt schnell. Meine Augen müssen plötzlich überall sein, doch der Körper bleibt entspannt. Weit vor mir fährt ein Polofahrer hinter einem Lastwagen hervor ohne zu blinken. Den muss ich im Auge behalten, denke ich mir. Mein Kopf arbeitet auf Hochtouren. Vergessen die Ruhe und Entspannung allein im Wald und zwischen den Feldern, hier geht es zu Sache. Schnell, beinahe hektisch und oft unüberlegt, wie mir ein silberner Van deutlich zeigt, als er in meinen Sicherheitsabstand einschert, sodass ich bremsen muss.
Ich blinke, sehe nach hinten und schwenke dann auf die linke Spur. Die Rechte dreht noch weiter am Gashahn, die Tachonadel wandert im Uhrzeigersinn bis auf die einhundertvierzig. Der Wind hier ist rau, wild und ungestüm, zieht mit aller Kraft an meiner Kleidung, reißt am Helm und kriecht kalt wie Eis durch die oberste Schicht meiner Hose. Ich akzeptiere den unangenehmen Luftstrom, denn ab einer Geschwindigkeit von etwa einhundertdreißig habe ich nicht mehr das Gefühl, zu fahren, sondern vielmehr zu fliegen.
Leicht wie eine Feder fühle ich mich auf dem schwarzen Gefährt unter mir, dessen gewaltige Kraft mich trägt. Der kastrierte vierunddreißig PS-Motor arbeitet auf Hochtouren, tut beinahe alles in seiner Macht stehende. Willig treibt er die Reifen an, überfliegt Kilometer nach Kilometer. Die Drehzahl ist jetzt so hoch, das ich das altbekannte Vibrieren nicht mehr spüren kann. Es ist, als gleite ich über den rauen Asphalt, als fliege ich wenige Zentimeter über der Erde dahin. Gerne würde ich meine Augen schließen und einfach das Gefühl genießen, das mir geboten wird, doch die Realität erlaubt es mir nicht.
Die Fahrt auf der Autobahn bleibt eine Herausforderung. Schnelle Reaktionen, den Blick überall um sich herum, weit vorausschauend folge ich dem zementierten Weg durch Wälder und Wiesen, über Berge und Brücken. Ich achte auf den Wind, wie er sich ändert, wenn ich ein Auto passiere, wenn ich in den Windschatten eines Lastwagens eintauche. Präzise Lenkimpulse neutralisieren die Kraft, die auf mich wirkt noch bevor ich weiß, wie stark sie sein wird.
Erst jetzt, als ich diese Zeilen schreibe wird mir dieses kleine Wunder bewusst, das jeder Motorradfahrer täglich immer wieder bewirkt, ohne es zu merken.

Endlich, nach fast neunzig Kilometern erscheint vor mir die Ausfahrt. Ich drossele den Motor und folge betont langsam der scharfen Kurve, die meinen Weg bestimmt. Schwarze Streifen an der Leitplanke der Außenseite lässt mich kurz nachdenken, wie viel Motorradfahrer genau dieses wohl nicht getan haben. In meiner ersten Fahrstunde schon zeigte mein Lehrer mit bedeutungsvoller Mine auf jene Abzeichen. Sein Blick kommt mir gerade in den Sinn und ich weiche unwillkürlich noch ein Stück weiter in die Mitte der Bahn.
Mein weiterer Weg führt mich dem Sauerland immer näher. Die von mir ausgesuchte Straße ist nicht stark befahren und führt mich durch viele kleine und größere Orte. Mir macht es Freude, in gemäßigtem Tempo durch die Kurven zu gleiten und auf geraden Strecken kurz und hart am Gas zu drehen. Langsam erkennt mein Körper, das der Stress der Autobahn vorbei ist und ich fühle jene tiefe Entspannung, mit der ich normalerweise meine Maschine bewege. Mein Geist findet wieder Raum, um auf die Signale zu hören, die ihren Weg durch das Motorrad finden. So habe ich Zeit, das kleine Steinchen zur Kenntnis zu nehmen, über das ich gerade gefahren bin und dem großen Rotmilan über mir einen bewundernden Blick zu schenken.
Nach einiger Zeit muss ich kurz anhalten, um einen Blick auf meine Karte zu riskieren. Ich finde einen verlassen wirkenden Waldparkplatz, bremse den Motor sanft ab und rolle auf den geschotterten Platz. Leicht quer stelle ich das Motorrad vor dem begrenzenden Holzzaun und steige von ihm herab. Meine Beine begrüßen die Abwechslung und ich beschließe spontan, eine Frühstückspause einzulegen. Mit dem Trinkpäckchen in der einen, dem Brot in der anderen Hand lehne ich mit überschlagenen Beinen an meiner Maschine und sehe hinaus auf das Land, das sich vor mir erstreckt.
Es ist erst kurz vor sieben und das Tal, auf das ich blicke ist erst vor Kurzem von der Sonne wach geküsst worden. Vor mir liegt eine grüne Wiese, in deren Mitte sich glitzernd ein kleiner Bach seinen Weg sucht. Wie kleine Diamanten schimmern Milliarden von Tautropfen an den Spitzen der Grashalme in der schräg einfallenden Sonne. Ein kleiner Vogel sitzt auf einem niedrigen Baum am Rande des Baches und singt ein Lied, von irgendwo her kann ich einen Eichelhäher und einen Kolkraben hören.
Welch Idylle!
Ich lehne stärker an mein Motorrad, als ich hinter mir eine weitere Maschine höre. Ein Blick zeigt mir, das ich offenbar Gesellschaft bekomme von einer schwarzen Harley und ihrem Fahrer. Der Mann parkt neben mir und wir begrüßen uns freundlich. So von Biker zu Biker. Er ist schon etwas älter und mir sofort sympathisch. Tiefe Lachfältchen zeichnen sein Gesicht. Er sagt mir, das er öfter vorbei kommt, weil es hier so ruhig ist und ich kann ihn verstehen.
Wir unterhalten uns fast eine halbe Stunde, ehe es mich weiter drängt. Mit einem kräftigen Handschlag verabschiede ich mich von ihm und steige auf meine Maschine. Sofort erbebt der Motor, als würde er sich freuen, das es nun endlich weiter geht. Ich bin froh, angehalten zu haben. In meinem Inneren fühlt sich alles gut an, auch weil ich so ein nettes Gespräch hatte. Mein Weg führt mich quer durch das Sauerland, dessen Eindrücke ich in mir aufsauge.
Die Straßen folgen den Formationen der Natur, anstatt sie zu zerschneiden und ich finde Spaß daran, mit deutlich gesetzten Lenkimpulsen um die Kurven zu flitzen. Die Zeit fliegt ebenso schnell vorbei wie die Kilometer und so langsam spüre ich die Anstrengung in meinen Gliedern. So präzise und leicht meine Maschine auch reagiert, ich brauche doch Kraft, um die zweihundert Kilo bei vollem Tempo dazu zu überreden, mir zu gehorchen. Deswegen bin ich schon fast froh, als ich nach dreihundert Kilometern Wegstrecke wieder auf die Autobahn abbiege. Eine halbe Stunde noch, dann bin ich daheim.
Ein letztes Mal beschleunige ich das Motorrad auf über einhundertzwanzig Stundenkilometer, fliege über die freie Strecke vor mir. Der Wind kommt mir nun nicht mehr anstrengend vor und ich erwische mich dabei, wie ich lächelnd die Geschwindigkeit genieße.
Endlich erreiche ich die Abfahrt. Noch zehn Kilometer. Der Motor unter mir brummt zufrieden und seine Hitze erwärmt meine Beine. Ich streiche wie beiläufig mit dem dicken Handschuh über die Wölbung des Tanks als ich an der letzten Ampel anhalten muss. Wie als würde ich „Danke“ sagen wollen. Vielleicht will ich das ja tatsächlich.
Die letzten Meter fahre ich langsam. Es ist zwar keine Schulzeit, aber in der Nähe ist ein Kindergarten. Mit einem Seufzer biege ich in die Straße ab, in der meine Mutter wohnt und stelle die schwarze Maschine in den Weg zur Treppe des Hauses. Ganz an den Rand, wo sie niemandem im Wege steht. Noch bevor ich absteige drehe ich den Lenker, sodass ich abschließen kann und ziehe die Handschuhe aus. Dann schwinge ich das rechte Bein über den Sitz und strecke meinen Rücken, bevor ich den Helm vom Kopf ziehe.
Im Augenwinkel bemerke ich eine Bewegung und sehe mich um. Hinter mir kommt ein Postbote den Weg hinauf, ein Paket in der Hand, das ich sehr gut kenne. Ein breites Grinsen erfüllt mein Gesicht. Das ist das Paket, das ich gestern selbst bei mir im Ort zur Post gebracht habe! Mit einem Lächeln nehme ich es an, klemme Helm und Tankrucksack unter meinen Arm, nehme das Topcase ab und klingle an. Der Öffner summt leise und als ich durch die Türe ins Innere des Hauses trete schweift mein Blick noch einmal kurz zu jener schwarzen Perle, die draußen im Eingangsbereich steht und ohne die ich sicherlich nicht an den wunderbaren Erlebnissen dieser Reise hätte teilhaben können. Obwohl ich froh bin, mein Ziel heil und sehr erschöpft erreicht zu haben bekomme ich erwartungsvolle Herzklopfen bei dem Gedanken an die Rückfahrt.
Danke.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 21.03.2011

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Werk widme ich allen Bikern, die den Blick abseits der Straße genauso würdigen wie ich. Das Copyright liegt ausschließlich bei mir

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