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DER SEZIERMEISTER


novelle


Reiner Heidorn

Gebückt entließ ich meinen dringenden Urinstrahl in das fleckige Pissoir. In dem gelben Strudel kreisten schmutzige Zigarettenstummel. Erleichtert richtete ich mich auf. Und ich stieß mir den Kopf, ich sage, ich stieß mir den Kopf. Es knirschte in meinem Genick, augenblicklich schossen Tränen in meine Augen, ich kam beinahe um dabei. Suchte Halt, fluchte. Ein eisernes, weiß getünchtes Leitungsrohr. Irgendwie hatte ich es beim Eintreten umgangen und anschließend wieder vergessen. Ich war übertrieben groß. Es blutete nicht. Eine Handvoll Pils dämpfte meinen Schmerz. Wir begannen. Publikum saß reglos auf hunderten von Stühlen. Tom spielte ein Bass-Solo über acht Chorusse, wir ließen ihn. Mein Kopf schmerzte, ich hängte mich nicht unbedingt rein. Nachdem der letzten Nummer packte ich mein Horn in den Koffer, warf meinen Tweedmantel über. Hände schütteln, an parfumierten Grüppchen vorbeidrängen. Ich entkam der Turnhalle. Über nasse Bürgersteige zu einer Anlage von kleinen Häuschen hinter Vorgärtchen. Läutete bei "Ehrenschwendner", unserer Pension. Feuchtkalter Herbstwind blies Ungemütlichkeit in meine Unterwäsche. Ein Mädchen öffnete. Silke, Vierzehn, pfirsichhaft einfältig und stand nicht auf Jazz. Mein Genick fühlte sich hart und verspannt an, mir war leicht übel. Ich musste Silkes erstarrtes Lächeln bereits während einer über die Grenzen der menschlichen Belastbarkeit ausgedehnten Kaffewilkommensstunde am Nachmittag ertragen.
"Der Herr Musiker!" sagte sie, lächelte.
"Jawoll", ich hastete an ihr vorbei. Entkleidete mich im Zimmer, verstaute den Instrumentenkoffer unter dem apricotfarben bezogenen Bett. Adrian übernachtete im selben Raum. Er war in Ordnung, aber praktisch nicht am Leben. Adrian war der Kopf der Band. Sein Name prangte auf dem Plakat. Wir die üblichen musikalischen Mitbringsel eines großartigen Solisten. Die Leute kamen wegen Adrian. Er spielte himmlisch. Ob auf einer Abschlußfeier der Konditoreninnung oder im Wiener Opernhaus. Adrian verschenkte alles, war unglaublich. Musiktheorie und Harmonielehre beherrschten ihn, Tonleitern motivierten ihn, zu existieren. Er vergaß zu essen, wenn man ihn nicht daran erinnerte. Er wechselte nicht seine Kleidung, wenn man ihm nicht etwas Frisches über den Stuhl legte und die alten Sachen im Hof verbrannte. Adrian war ein Geist. Er bewegte sich nur in seiner irdischen Hülle bewegte, um Finger zu besitzen, die seinen genialen Geist ein über Klaviertastaturen hinauf und hinunter improvisieren ließen. Irgendwann würde er keine Notwendigkeit mehr erkennen, ein- und auszuatmen und dahin zurückkehren, wo er hergekommen war. In einen Kosmos von kreativen Geistwesen, die ab und an aus Langeweile einen menschlichen Körper bestiegen, um den übrigen unscheinbaren Menschen eine Ahnung von Größe zu vermitteln. Es war vollkommen klar. Seit ich mit Adrian tourte, stellte er den klaren Beweis für die Existenz eines kreativen, unerreichbaren Universums dar, das man allerhöchstens durch den Verlust seines Lebens und der daraus resultierenden Eintrittskarte erlangen konnte. Mit einem real nicht existierenden Menschen dieser Art eine Nacht in einem Zimmer zu verbringen kann anstrengend sein.
Ich befühlte meinen Kopf, keine Beule. Ich verspürte einen höllischen Druck auf Stirn und Schläfen. Ich ging an Silkes Türe vorbei ins Bad, billiger Ravekrach dröhnte aus ihrem Zimmer. Ich goss etwas ph-neutrales ins Wasser streckte mich im ansteigenden Wasserpegel aus.

Jemand berührte meine Schulter, lachte. Adrians Geist. Ich nahm sein Gesicht wie durch eine Fischaugenlinse wahr. Das Wasser längst schaumlos und lauwarm. Ich setzte mich auf.
"Adrian! Wahnsinn!" sagte ich, "wie bist du reingekommen?"
Er hielt ein Zehn-Pfennig-Stück in die Höhe. Ich hasste diese Badezimmertüren, man konnte sich nie wirklich einschließen und sich in Ruhe die Pulsadern öffnen. Ich stand auf, angelte ein Handtuch von einem Halter. Der Druck in meinem Kopf hielt an. Adrian lehnte am Waschbecken.
"Was ist? Du hast ganz blau unterlaufene Augen."
"Geht schon", mein Blick wurde unscharf.
"Wie spät ist es?" frage ich Adrians Geist. Schwarz. Spät ist es? hallte im Dunkel.

Nackt auf dem Rücken, weiß, reglos. Auf einer Bahre in einem kahlen, rotbraun gefliesten Raum. Unter meinem Genick stak eine hölzerne, lederbespannte Stütze, sie hielt meinen Hinterkopf freischwebend über dem Ende der Bahre. Ein voluminöser Mann mit dunklem Bart und Gummischürze über mir. Er setzte mit geübten Griff ein Skalpell hinter meinem rechten Ohr an, drückte das Messer durch die Kopfhaut auf meine Schädeldecke und zog einen sauberen Schnitt über meinen Hinterkopf bis zu meinem linken Ohr. Fuhr mit gummibezogenen Fingern unter die Haut und zerrte sie mitsamt Haaren ruckweise über den Kopf, tief in mein Gesicht. Meine grau-weiße Schädeldecke lag frei. Er suchte mit einer Knochenfräse den passenden Ansatz, um meinen Kopf zu aufzusägen. Die Säge kreischte in den Knochen, es rauchte und stank nach verbranntem Gewebe. Er gelangte mit der rasenden, Aschenbecher-großen Sägescheibe von der entgegengesetzten Seite wieder bei der Ansatzstelle an, legte das Gerät beiseite, nahm Hammer und Meißel zur Hand und klopfte mit einigen gezielten Schlägen den hineingesägten Spalt an meiner Stirnfront auf, spaltete die gesamte Schädeldecke ab und holte mein Gehirn in einer galant eintauchenden Bewegung heraus. Ich wurde seziert. Assistenten mit sanft wasserspeienden, schwarzen Schläuchen und langen, fürchterlich, fürchterlich scharfen Klingen legten das Halbrund meines Gehirns auf einer Arbeitsablage und zerschnitten es. Scheibe für Scheibe, unter einem steten Wasserstrahl. Alle gleich starken Scheiben ordneten sie an und begutachteten sie. Der bärtige Seziermeister selbst war inzwischen damit beschäftigt, einen langen, tiefen Schnitt von meinem Hals bis zu meinem Geschlecht hinab zu führen. Danach nahm er die besagte Säge wieder zur Hand und sägte meinen Brustkorb auf, um Herz, Lunge und das übrige Zeug herauszunehmen und ebenfalls fachmännisch in Scheiben zu zerlegen. Sie kamen zu der Erkenntnis, dass mein Zustand - Tod möchte ich ihn nicht nennen - durch eine Gehirnblutung, eine Embolie in den dortigen Blutgefäßen zustande gekommen sei. Nachdem sie jedes zerlegte Detail zufriedenstellend besehen hatte, packten sie sämtliche Teile, die sie nicht für das pathologische Institut verwenden wollten, wieder in meinen Körper. Das blutig-knochige Dreieck des zersägten Brustkorbs, Darmschlaufen, Hände voll der vielen Fleisch- und Innereienstücke. Behende nähte der Seziermeister mit von sicherer Hand geführten Stichen meinen ausgebeuteten und chaotisch gefüllten Körper zusammen, auch die Kopfhaut zog er endlich von meinem zusammengerutschten Gesicht über die wieder eingepasste Schädelhälfte und verband die Naht geschickt unter den Haaren mit grauem, widerstandsfähigen Faden. Sie schoben meine Bahre an eine Wandseite. Ich wartete, was wohl als nächstes geschehen würde. Sie nahmen sich einer der drei ebenfalls im Raum befindlichen Leichen an und unterwarfen sie derselben Prozedur, mechanisch, präzise und sachlich. Es dämmerte. Die Assistenten wuschen die Messer, verräumten die Gerätschaften, zogen mit Gummischiebern den Fliesenboden ab und verließen die Sezierhalle. Nur der Seziermeister saß an einem Tisch in der Nähe eines großen und verstrebten Fensters über Unterlagen. Hie und da strich er Stellen mit einem Kugelschreiber an, notierte etwas. Biss krachend in einen Apfel.

Ich saß in meinem lebendigen Körper neben Yvette auf der Bettkante. Das pastellgrün gestrichene Zimmer in dem Pariser Hotel. Hastig knöpfte ich mein Hemd auf. Keine Schnitte, keine Narben. Yvette lachte.
"Ich hab´ dich nicht tätowieren lassen, keine Angst."
"Keine Narben", sagte ich. Sah Yvette an. Sah mich im Zimmer um, suchte die Mauern der Sezierhalle. Warmgetönte Blumentapeten, Anrichte mit Spiegel, ein Schrank. Ein verhangenes Fenster am Ende des schmalen Zimmers, Autoverkehr, schnell sprechende Franzosen auf der Straße. Sommer. Yvette schmiegte sich an mich. Im unzulänglich zugeknöpften Hemd, hellblauer Slip. Ihre Nase war außergewöhnlich schmal, ihr Mund voll und sinnlich. Sie strich ihre seidenglatten Haare aus dem Gesicht, amüsiert:
"Ich hab´ dir ja gesagt, du sollst nicht soviel von dem Pot reintun. Der Stoff hat´s in sich, hab´ ich dir doch gesagt!" Sie lachte. "Du bist gestern abend schlotternd umgefallen und hast bis jetzt geschlafen. Achtzehn Stunden", holte Luft, lachte weiter. Ihre Schneidezähne um ein erkleckliches Stück länger als die folgenden.
Ich fühlte schneidende Angst. Vorsichtig umfasste ich Yvettes hübsches Gesicht mit beiden Händen. Sie verschwand nicht. Ich gab ihr einen angstvollen, beinahe groben Kuß. Stand auf, freihändig im Zimmer, auf dem grauen Läufer. In Shorts und Unterhemd. Alles blieb an seinem Ort. Yvette machte "Au!", lachte. Ich betrachtete mein Gesicht in einem runden Spiegel
"Eine Zeitreise!" Meine Stimme klang wie meine Stimme.
"Was?"
"Ich bin ein Zeitreisender! Ich lebe! Ich war hier schon mal", ich stockte und sah sie an, "bist du zum ersten mal hier?"
Sie zog ein Gesicht. Warf ein Kissen nach mir und befahl, sofort mit Spinnen aufhören, sie würde mich sonst kalt duschen.

"Äpfel sind mir zuwider", sagte der Seziermeister. Als Kellner verkleidet. Natürlich erkannte ich ihn sofort. Er selbst trug einen wissenden Blick, obgleich er sich sehr gut zu verstellen wusste. In den weißen Kunststoffstühlen eines Straßencafés wartete ich auf Yvette. Sie behauptete, wir würden dort die anderen treffen.
"Ich verstehe den Wunsch mancher Leute nicht, in einen Apfel zu beißen", fuhr er fort, "dieses Gesundheitsbewusstsein und dieser Drang nach Frucht... haben Sie das schon mal beobachtet? Manche schneiden Äpfel in Viertelstücke und essen sie, nachdem sie das bisschen härtere Kerngehäuse entfernt haben. Oder sie essen alles und behaupten, das Kerngehäuse sei das Gesündeste, und man müsste es unbedingt mitessen! Was ist das auch für ein Wort: Kerngehäuse! Nein, also ich sage Ihnen, Äpfel sind mir ganz und gar zuwider, wirklich."
Ich sah ihn skeptisch an. Er stand höflich bereit, meine Bestellung entgegenzunehmen.
"Wieso sprechen Sie Deutsch?"
"Aber Monsieu! Sie waren doch schon hier!" rief er erheitert aus.
"Ich weiß. Und Sie wissen das auch?"
"Natürlich! Sie und Ihre Band, seit ein paar Tagen bediene ich Sie. Ich bin deutschstämmig, wissen Sie."
"Haben Sie schon mal eine Leiche seziert?"
Er lachte. Er war es mit hundertprozentiger Sicherheit. Das bärtige, volle Gesicht des Mannes, der mich ausgeweidet und wieder zusammengenäht hatte.
"Sie stellen Fragen!" sagte er, "als kleiner Junge habe ich zuhause die Ziegen ausgenommen, das ist wahr, aber das liegt einige Zeit zurück."
"Was sind Sie? Medizinstudent? Arbeiten Sie irgendwo in der Pathologie?"
"Aber nein! Ich bin nur einfacher Kellner. Was darf ich Ihnen bringen?"
"Ein Pils, bitte."
"Sehr wohl."

Wir spielten in einem alten Theater, als abschließender Programmpunkt einer modernen, avantgardistischen Tanzaufführung. Mit Martin Kolberger, einem furiosen Gitarristen. In den wenigen Minuten bis zu unserem Auftritt suchte ich in sämtlichen Räumen hinter der Bühne nach einem beschissenen Notenständer, machte alle anwesenden französischen Tänzerinnen, Bühnenarbeiter und nicht zuletzt die Musiker völlig konfus. Normalerweise spielten wir das gesamte Repertoire ohne Noten. Ich konnte kein Stück mehr auswendig. Las als einziger vom Blatt.

Tänzerinnen und Varietékünstler in einer Bar. Gedämpftes Licht, modern-erotische Ölmalerei. Ich lebte, ich lachte. Ich rauchte, ich trank. Ich küsste Yvette. Sie servierten edlen Wein. Mein Wissen über mein zukünftiges Leben schien doch nur eine gravierende Halluzination aufgrund des immensen Drogenkonsums vom Vortag. Der Seziermeister ausgerechnet in Gestalt des Kellners bestärkte meinen Glauben an einen Drogenwahn. Ich grinste über mich selbst, suchte die grün verwitterte Toilette auf. Wahnsinnig schlechte Musik aus billigen Lautsprechern. Hatte ich in der Bar nicht wahrgenommen. In dem gelben Strudel kreisten schmutzige Zigarettenstummel. Erleichtert richtete ich mich auf. Und ich stieß mir den Kopf, ich sage, ich stieß mir den Kopf. Es knirschte in meinem Genick, augenblicklich schossen Tränen in meine Augen, ich kam beinahe um dabei. Suchte Halt, fluchte. Ein eisernes, weiß getünchtes Leitungsrohr. Irgendwie hatte ich es beim Eintreten umgangen und anschließend wieder vergessen. In der Bar zwinkerte ich im Rauch verhüllten Licht altmodischer Leuchter. An der Theke unterdrückte ich meine Kopfschmerzen. Weinmatt stützte ich mich auf den Tresen. Eine junge Tänzerin mit bekanntem Gesicht redete auf mich ein. Sie war Vierzehn, sprach Deutsch. Ein junges Mädchen während dieser Unzeit in einem Pariser Nachtlokal. Ich musste ich einen Moment meine Hände in meinem Gesicht vergraben, schloss meine Augen. Es ging mir nicht gut. Das monotone Gesprächsgewir, untersetzt von hellem Damenlachen; das Gläserklirren, die Musik - verschwand. Die Stimme des deutschen Mädchens. Ich nahm abwärts reibend meine Hände von meinem Antlitz, sah sie an. Eine milchhelle Mädchenscheibe.

"Kannst du mich hören? Na endlich! Ich hol´ jemanden!"
Silke sprang auf und lief behende hinaus, rief "Mama!"
Durch einen Spalt der Zimmertüre zeichnete sich ein schmaler Lichtfinger auf einem altmodischen Perserteppich. Mein Bett duftete süßlich. Im Halbdunkel konventionelles Mobiliar. Frau Ehrenschwendner eilte herbei, ohne Vorwarnung die kitschige Zimmerbeleuchtung. Ein grünes Pferdeposter an der Wand. Hinter ihr standen Adrian und die anderen. Nackt, feucht und mit starken Genickschmerzen lag ich unter wohlwollenden wie besorgten Mienen. Ein Arzt gab sich als solchen zu erkennen, klärte mich über eine Kreislaufschwäche auf. Ich erzählte von dem heftigen Stoß in der Toilette. Ernste, betroffene Blicke. Der Arzt befühlte meine Halswirbel, drehte meinen Kopf vorsichtig, leuchtete in meine Augen und trug Frau Ehrenschwendner auf, umgehend einen Krankenwagen zu besorgen. Silkes Gesicht atmete mich an. Es sei ihr Bett und ihr Zimmer. Das hektische Pack verstreute sich. Adrian beugte sich zu mir.
"Mann, du warst richtig weg. Was war denn nur los?"
"Ich war in Paris." Ich lachte.
"Spinnst du?"
"Eine Erinnerung. Ein Traum. Ich war in Paris. Mit Kolberger."
"Ach so", er atmete erleichtert auf, "Kolberger, stimmt, ihr wart ja mal auf Tour. Der ist ja leider umgekommen. Bei ´nem Hotelbrand."
"Ich weiß."
"Geht´s dir sehr schlecht?"
"Nicht wirklich. Ich bin durcheinander. Mein Genick tut beschissen weh."
Männerstimmen und Schritte.. Frau Ehrenschwendner hastete voraus, drückte sich an eine Wand, glotzte.
"Soll ich mit ins Krankenhaus?" fragte Adrian.
"Nein. Werde ich jetzt wieder seziert?"
Adrian lachte. Bullige Sanitäter trugen eine Bahre an Frau Ehrenschwendners wabbelndem Busen vorbei, betteten mich um. Abtransport. Ich war sehr groß und ebenso schwer, sie hatten einiges auszuloten und keuchten. Die Anstrengung erheiterte sie. Auf dem Treppenabsatz Silkes Gesicht. Sie strich durch meine verschwitzten Haare. Seltsames Mädchen. Im Krankenwagen verstärkten sich meine Genickschmerzen immens. Sie verabreichten mir ein Spritze.

Silkes Stimme. Sommerliches Vogelgezwitscher. Erwärmte Atmosphäre, summende Insekten. Ich lag in einem Stück Wiese. Im Schatten. Oranger Farbstich in meinen geschlossenen Lidern. Ich wagte kaum, meine Augen zu öffnen.
"Wach endlich auf!" rief Silke.
Ich blinzelte. Es war nicht Silke. Ein Mädchen aus meiner Schulzeit. Siebte oder achte Klasse. Sabrina. Starb noch vor Schuljahresende an Leukämie. Auf Gras ruhten wir im Schatten einer ausladenden Kastanie. Möglicherweise halluzinierte ich im Krankenwagen, im fiebernden Delirium. Alles wirkte authentisch. Ich setzte mich auf und riss Grashalme aus. Sie waren echt. Ich steckte einige in den Mund, kaute, es schmeckte und roch, wie Gras schmeckt und riecht. Sabrina lachte ausgelassen. Ich spuckte die Halme aus.
"Wacht der auf und frisst Gras! Du bist so doof, sowas Doofes habe ich noch nie gesehen!" Sie lachte. Sabrina war sehr dünn, hatte unvermutet erwachsene Züge und dünnes, blondes Haar. Ihre Zähne glänzten sehr weiß. Ich sah an mir hinunter. Ich war Zwölf. Konnte nichts sagen.
"Was ist denn!" fragte sie, immer noch lachend. Ich war nicht wirklich hier. Ich wollte einen der umherliegenden Steine nehmen und Sabrinas weiße Stirn zertrümmern; zwickte sie in ihr ausgestrecktes Schienbein. Sabrina machte "Au" und zog eilig ihr helles Baumwollkleidchen über die Knie.
"Sabrina", ich mit Jungenstimme, "was ist passiert?"
"Nichts", sagte sie sanft, "du bist eingeschlafen."
"Und was hast du gemacht?"
"Hausaufgaben."
"Hausaufgaben!"
"Kannst meine abschreiben." Sie warf mir ein hellblau eingebundenes Heft in meinen Schoß.

Rechnungswesen - Sabrina Auermann

8 C

"Brauch ich nicht."
"Machst du´s selbst?"
"Ich brauch´s nicht."
"Wenn du meinst... aber der Herr Preksch fragt morgen bestimmt ab."
"Der Herr Preksch", erinnerte ich mich laut, "mann, war das ein Arsch!"
"Wann?" wollte Sabrina wissen.
"Na.... immer."
"Findest du? Ich weiß nicht. So gemein wie die Suderheim ist er nicht."
"Suderheim."
Felder, Hügel, Waldränder und Dächer eines nahegelegenen Dorfes. Wunderschön. Damals hatte ich jeden Dienstag Musikunterricht, mit Sabrina. Sie spielte Klarinette, ich Trompete. Auf dem Heimweg haben manchmal zusammen Hausaufgaben gemacht. Ich saß in der Schule neben ihr. Deswegen titulierten uns die übrigen Bauernkinder als Liebespaar. Wollten ständig wissen, ob wir schon bumsen. Zu Sabrinas Beerdigung sind alle hingegangen und haben stupide-gierig das anschließend ausgegebene Eis gefressen, während ich mir die Augen aus dem Kopf heulte. Ich schlug ihr Heft auf. 16. Juni über der zuletzt beschrifteten Seite. Ende Juli würde sie einen schlimmen Rückfall erleiden. Die Ärzte konnten der leidvollen Familie nichts weiter raten, als sie in Frieden daheim sterben zu lassen. Das tat sie dann über Nacht. Ich betrachtete sie. Dieses entzückende, sanfte, unschuldige Kindchen würde in einem Monat sterben. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte all die Jahre vergessen, was für strahlend blaue Augen Sabrina besessen hatte. Ich nahm ihre feine Hand
"Was hast du denn?" fragte sie, "hast du Angst?"
"Vor was?"
"Vor Rechnungswesen, morgen."
"Nein. Hab´ ich nicht."
Was fing ich eigentlich an, wenn ich länger in meiner Vergangenheit zugegen sein musste? Dann schrieb ich morgen Vormittag Rechnungswesen bei Herrn Preksch. Ein Alptraum. Sabrina erhob sich. Ich blickte zu ihr auf.
"Ich hab dich immer gern gehabt", sagte ich.
"Wieso gehabt?"
Sie stemmte ihre Hände in die Hüften und nahm eine albern-entrüstete Haltung ein, drohte mit dem Zeigefinger. Sie war wirklich lustig. Auch das hatte ich vergessen. Hinter ihr lagen unsere Instrumentenkoffer. Ich sprang auf und holte meine Übungstrompete vom Instrumentenbaumeister Hitthaler aus Peißenberg heraus. Falls ich als Zwolfjähriger so spielen konnte wie in der Gegenwart, müsste ich morgen wohl kaum zu Herrn Preksch in die Rechnungswesenstunde.
"Pass mal auf!" Ich stellte mich mit dem glänzenden Instrument spielbereit auf, holte Luft. Ich wollte ein irrsinnig kompliziertes Stück von Thelenious Monk runterreißen. Ein Motorrad knatterte lautstark an. Sabrinas Vater. Ich erinnerte mich nicht an sein Aussehen. Er trug einen altmodischen Helm, saß auf einer unästhetischen Honda, sie spuckte, er stellte sie nicht ab
"Hallo ihr beiden!" rief er über das Motorgeräusch, "übt ihr immer noch? Sabrina, komm´, Oma is auch schon da, es gibt Essen!"
Die hauchdünne Sabrina nahm behende ihren Instrumentenkoffer und den ledernen Schulranzen auf, schwang sich auf die Sitzbank und klemmte beide Teile zwischen sich und ihren Vater. Der Vater nahm in der Hitze den Helm ab und strich sich durch die Haare. Der Seziermeister. Mir stockte das Blut in den Adern. Unsere Blicke trafen sich. Schon hatte er den Helm wieder über und klappte das Kunststoffvisier herunter. Sabrina winkte zum Abschied, er gab Gas, beide fuhren schaukelnd auf dem staubigen Kiesweg davon. Ich stand auf dem Hügel unter der großen Kastanie im lauen Sommerwind. Ein heiserer Hofhund bellte entfernt. Vögel sangen. Sabrinas weißes Kleid leuchtete wie ein flimmernder Nadelstich auf dem Kiesweg. Sie war so nett gewesen. Meine Trompete fiel ins ungemähte Gras. Tränen gingen mir aus den Augen. Ich weinte um Sabrina. Ich weinte sehr.

"Wackel´ nicht so!"
Eine rauhe Männerstimme. Es war dunkel, schneidend kalt. Ich wischte mit dem Handrücken Tränen aus meinem Gesicht. Mit dem ausgestreckten Arm hielt ich eine Taschenlampe und beleuchtete ein verschneites Gebüsch. Ich fixierte den Mann, wollte ihm sofort mit der Taschenlampe den Schädel einschlagen, wenn ER es sein sollte. Ein stämmiger, bartloser Jäger in Försterskluft. Zielte mit einem schwarzen Gewehr auf das Gebüsch.
"Höher! Halt sie höher!" Im Gebüsch tauchte die glänzende Schnauze eines Rehs auf. Weiße Atemwölkchen traten stoßweise aus seinen Nüstern, die Augen schreckgeweitet. Der Kopf des Tieres wankte auf seinem Hals im Atemrhythmus hin und her. Als Fünfzehnjähriger hatte ich das erlebt. Ein angefahrenes Reh gefunden und den Förster geholt. Das nahm mich damals sehr mit. Meine Gedanken kreisten nun um den Seziermeister. Emotionslos richtete ich den Lichtkegel auf den Kopf des Tieres. Der Schuss biss grell in die Nacht. Der Jäger zog ein fürchterliches Messer aus seinem Gürtel, weidete aus. Ich ging. Im Straßengraben lag tatsächlich mein altes Fahrrad. Ich hob es auf. Man hatte einen guten Blick über das Tal, die verschneiten Hügel, über das Dorf.
Ich schloss die Augen, wünschte einen Szenewechsel, irgendwohin. Von mir aus nach Paris oder in die Sezierhalle, nur fort von hier. Ich konnte jetzt doch nicht nach Hause radeln. Ein Auto fuhr vorüber. Stille. Die Schritte des Jägers näherten sich. Ich setzte mich auf mein Fahrrad, rollte ins Dorf. Ich passierte Ortsschild. Unmöglich, meine Mutter zu besuchen. Sie würde mich umarmen, durch mein Haar streichen, mich nach der Schule fragen. Bei diesem Gedanken wurde mir ernsthaft übel. Keinesfalls wollte ich diese Zeiten mit meiner bis zum Umfallen arbeitenden, Migräne-anfälligen Mutter nochmals durchleben. Der Dorfplatz. Ein tristes Bushäuschen unter einer riesenhaften Kastanie. Im Bushäuschen eine Frau. Sie grüßte. Ich hielt. Eine junge Frau, um die Dreißig. Ich kannte sie. Wir hatten uns nie wirklich unterhalten. Ihr Name war Hanni.
"Hanni?" Sie schlug ihren Mantelkragen hoch.
"Grüß Gott. Der junge Lohmann, ge?"
"Ja", antwortete ich, "der junge Harry Lohman."
Mein Name war Harald, die Dorfbewohner nannten mich Harry. Sie wühlte in ihrer Manteltasche, holte ein Stück Staniol hervor.
"Magst ein Stück Schokolade?"
Das Licht der Straßenlaterne reichte nur bis zu ihren Knien. Ich hielt sie damals für die attraktivste Frau im Dorf. Ich nickte.
"Gern."
"Magst dich zu mir setzen?"
"Klar", sagte ich, lehnte mein Rad an das Häuschens. Sie legte das Päckchen auf meinen Schoß und sah mir in die Augen. Hannis Gesicht war schmal, an den Wangenknochen kantig, klassischer Schnitt. Ihr Mund war rund, sie konnte nur mit Mühe die vollen Lippen über ihre großen Zähne schließen. Sie lächelte. Ihr massives Gebiss drängte ins Freie. Ich packte die Schokolade aus.
"Iss auf", sagte sie, "ich mag keine mehr."
"Danke" Ich aß kalte Rippen.
"Warten Sie auf den Bus?"
"Ich wollt´ meinen Mann abholen. Er hat gesagt, er kommt um neun. Jetzt ist es halb zehn. Er kommt wohl nicht mehr."
"Der Bus?"
"Der Bus war da."
"Ihr Mann war nicht dabei?"
"Nein."
Ich sah sie an. "Er war nicht dabei", wiederholte sie.
Sie duftete nach einem dieser billigen Parfums, die einen aufgrund der lasziven Naivität des Trägers dennoch verrückt machen konnten.
"Soll ich Sie heimbringen?" Ich deutete mit einer Kopfbewegung auf mein Fahrrad. Sie lachte verhalten.
"Aber ich wohn´ doch gleich hinter der Kirche." Sie deutete auf den Turm. Hakte sich bei mir unter.
"Du kannst mich begleiten."
Ich nickte. Wir standen auf. Ich führte sie an der Kirche vorbei. Wortlos gelangten wir an ein Siebziger-Jahre Wohnhaus mit kleinem Vorgarten und bemalten Fensterläden. Sie nahm mich in dem süßlich riechenden Hausflur sogleich bei der Hand, zog mich in einen geräumigen Raum mit Fernseher, Kanapees, Sesseln und einer Menge Pflanzen. Machte Licht. Braune Augen. Sie zog ihr Kopftuch ab. Eine reiche Flut brauner Wellen fiel über ihren Mantel. Eine schöne Frau. Ich in Jeans, Shirt, Anorak. Turnschuhe.
"Du bist groß für dein Alter."
"Ich weiß."
"Willst du was trinken?"
"Nein, nichts."
"Zieh´ deinen Anorak aus."
Ich ließ den Anorak auf den Boden fallen. Sie tat dasselbe mit ihrem Mantel. Darunter hatte sie einen gestrickten Rock. In ihrem blauen Pullover zeichneten sich die Konturen ihrer Brüste ab. Sie setzte sich auf ein dunkelbraunes Kortstoffsofa.
"Komm´ zu mir."
Sie nahm ihre Beine weit auseinander, legte sich zurück. Ich zog ihren Strickrock rauf. Sie öffnete ihre Lippen. Ihr Gebiss glänzte. Atmete entspannt. Sehr entspannt. Ich griff in ihren Schoß. Sie presste meine Finger gegen ihr Geschlecht, wand sich. Ich schob Pullover und Unterhemd bis in ihren Hals, küsste ihre Brüste. Sie duftete angenehm. Auf einem Tischchen erblickte ich einen stehenden Messingrahmen mit Fotografie. Der Seziermeisters. Ich sprang auf. Hannis Brüste wogten in ihrem Atem.
"Was ist?"
"Wer ist das?"
"Mein Mann. Aber der kommt heut´ Nacht nicht mehr."
Ich zog eilig meinen Anorak über.
"Wo ist er?"
"In Bad Wiessee. Im Spielcasino."
"Danke."
Ich lief hinaus. Wie konnte ich nur so dumm sein, auf realistische Zustände zu hoffen und Hausfrauen aus meiner Vergangenheit vögeln zu wollen. Der Seziermeister war der Schlüssel. Ich rannte. Der Boden schwand.

Wärme. Ich bewegte meine Arme. Widerstand. Wasser. Badewanne, Badezimmer. Zu meinem gänzlichen Unverständnis Adrians Stimme. Der Messingknopf drehte sich langsam nach links, sehr langsam. Adrian schwang die Türe auf. Ein Zehncentstück in der Hand. Ich saß in der Wanne. Ich fasste es nicht, wieder in dieser beschissenen Wanne zu sitzen, in der beschissenen Wohnung der beschissenen Frau Ehrenschwendner. Ich rieb mein Gesicht. Adrian lachte.
"Harry, biste eingeschlafen!" Er reichte mir ein Handtuch.
Ich stand auf. Fühlte nichts, keine Kopfschmerzen, keinen Druck, nichts. Ich trocknete mich ab. Adrian lehnte am Waschbecken, verschränkte seine Arme.
"Wieso bist du gleich abgehauen?" Ich war durcheinander.
"Was?"
"Wieso bist du gleich abgehauen?"
Ich stieg in meine schwarze Stoffhose, zog einen dunkelgrauen Pullover über.
"Ich hab mir den Schädel angeschlagen. Im Schulklo. Deswegen. Ich hatte Kopfweh."
"Ach so.Geht´s jetzt besser?"
Ich kämmte mich.
"Ja."
"Gut. Die sitzen alle unten. Abendessen. Außerdem ist ein Agent da. Der sucht noch Bläser für ein Studioprojekt. Klingt sehr lukrativ."
"Lukrativ? Wie lukativ? Ich könnte Geld brauchen. Ich könnte wirklich Geld gebrauchen."
"Frag ihn. Mach hin, die haben schon den Braten aufgetragen."
Er ging. Ich starrte in den Spiegel. Unzählige Parfumprobefläschchen darunter. Gehörten sicher Silke Ehrenschwendner. Ich fühlte mich einigermaßen bei Verstand. Keine Kopfschmerzen. Alles nur in der Badewanne geträumt. Ich als Toter in einer Sezierhalle. Albern. Erleichtert striff ich Socken über, stieg in meine Schuhe und schritt die teppichbelegte Treppe hinunter. Im Esszimmer ein geschäftiges Stimmendurcheinander. Ich bückte mich unter einen Mauerdurchbruch und betrat einen hellen Raum mit großen Glasfenstern. Eine monumentale Tiffany-Glaslampe hing von der Decke. Kerzenleuchter brannten auf Vitrinen. An einer Tafel ungefähr zehn Leute. Sie prosteten sich mit Gläsern zu, schnitten von einem Braten großzügige Scheiben und unterhielten sich emsig. Der Bassist sah mich.
"Ah! Endlich! Harry, Mensch, wo bleibst du denn? So´n Riesenkerl, seht ihn euch an! Und der ist nicht 1,80 m, auch nicht 1,90 m oder 1,98 m. Nee!" rief er breit in die gesamte Tischrunde, "er ist 2 m und 4! Ehrlich!" Alle lachten und sprachen durcheinander. Silke Ehrenschwendner rückte einen Stuhl für mich an den Tisch. Ich setzte mich und sah in die Gesichter. Am Tafelende ein Herr mit schwarzem Schnurrbart. Der Seziermeister. Er lächelte und drehte mit seinen Fingern an einem Bartende. Ein Schlag in meine Magengrube. Mir schwindelte. Meine Hirngefäße schlagartig blutleer, mit offenem Mund versuchte ich zu inhalieren, konnte mich nicht bewegen.
"Geht´s dir nicht gut?" sagte der Bassist.
Ich streckte meinen Arm, deutete auf den Seziermeister. Aus meiner Kehle formte ich endlich Laute. ER. Alle blickten zum Seziermeister. Schweigen.
Rasend schnellte ich von meinem Sitzplatz, warf mich schreiend auf IHN. Im Aufspringen hebelte ich mit meinen Schenkeln die gesamte Tafel um, mein Stuhl fiel zur Seite. Geschirr, Braten, Suppenterrinen, Flaschen, Besteck klirrten und krachten durcheinander. Ich riss den Seziermeisters mit einem heftigen Ruck an seinem Jackenaufschlag zu mir, saß auf seinem Bauch, würgte seinen Hals. Ich verspürte nichts als nackte Panik vor dem Mann, der mit meinem Verstand spielte, wie es ihm gefiel. Ich schrie, spuckte.
"Wer bist du? Der Teufel?! Ein Engel?! Wenn du mich holen willst, dann hol´ mich, aber hör auf, mich verrückt zu machen!!"
Mehrere Hände umklammerten mich, zogen mich von seinem Hals, ich ruderte, machte mich frei. Ein Tosen von Zurufen und verschreckten Lauten aus Frauenkehlen. Ich stand, ließ die Arme sinken, stierte in die Runde. Die Rufe ebbten ab. Bewegungs- und atemlos starrten sie mich an, pures, lautloses Entsetzen über meinen Wahnsinn war in ihre Gesichter geschrieben. Nur der Seziermeister hielt seine Kehle und schnappte in großen Zügen nach Luft, hustete. Ich zeigte auf den am Boden liegenden Kerl mit dem Schnurrbart, atmete angestrengt aus, hub zu einer Erklärung an.
"Dieser Mann..." begann ich.
Zwecklos. Was hätte ich sagen sollen? Niemand würde mir einen derartigen Blödsinn abkaufen. Das Widerwärtige an dieser Situation war meine heilige Gewißheit, nicht verrückt zu sein. Ich zweifelte nicht eine Sekunde an der außerordentlichen Besonderheit meines momentanen Daseins. Aber wer sollte diese Geschichte glauben? So wandte ich mich langsam ab, schritt durch die verwüsteten Küchen- und Geschirrgegenstände, beständig zu Boden blickend sagte ich:
"Entschuldigung. Ich habe ihn wohl verwechselt. Es tut mir leid. Ich gehe schlafen. Morgen reden wir über den Schaden... die Behebung des Schadens. Gute Nacht."
Niemand widersprach mir, keiner folgte mir. Das war gut so. Denn als ich um die Ecke in das Wohnzimmer bog, lief ich so schnell als möglich nach oben, warf eilig meinen Mantel über, schnappte meinen Trompetenkoffer und kletterte aus dem Fenster auf das Vordach eines sich dort an die Hauswand lehnendes Gartenhäuschen. Es war immer noch unangenehm naßkalt, tiefschwarz. Das Dach war mit Kupfer beschlagen und glitschig. Ich verdreckte mich ungemein, als ich mit meiner unbrauchbaren Größe umständlich über den Rand glitt und mich in die feuchte Wiese fallen ließ. Ich stand auf und schritt einfach über den Gartenzaun. Währenddessen tauchte in dem noch erleuchteten Fenster meiner Unterkunft ein Kopf auf. Silke. Ich glaubte nicht, daß sie mich in dem Dunkel ausmachen konnte, aber sie stand unbeweglich in dem Fensterrahmen. Wie ein entflohener Sträfling rannte ich über die nächtliche Straße davon.

In einem Zug. Den noch feuchten Koffer auf dem Schoß haltend, versuchte ich mir vorzustellen, in welcher Weise ich den Schaffner schnellstmöglich niederstrecken könnte, falls ER es sein würde. Als das monotone Die Fahrkarten bitte und behäbige Schritte sich allmählich näherten, erlebte ich einen vehementen Schweißausbruch. Glücklicherweise saß mir keine Person gegenüber, der mein unruhiges Verhalten und körperliches Unwohlsein merkwürdig vorgekommen wäre.
"Abend. Die Fahrkarten, bitte."
Ich zwinkerte hilflos, mit vor Aufregung hämmernden Schläfen, zu dem Mann in blauer Bundesbahnuniform.
"Ist Ihnen nicht gut?"
Es war ein Schaffner, ein gewöhnlicher, blonder Schaffner, glattrasiert, korpulent und mit einem gütigen, wenn auch tolpatschigen Bernersennhundgesicht. Ich wühlte nach meiner Fahrkarte.
"Doch. Mir tun nur die Augen bißchen weh. Zuviel gelesen", antwortete ich und reichte ihm den Schein. Er nickte verständnisvoll und entwertete meine Reise-legitimation. Ich war wahnsinnig. Diese Erkenntnis zwängte sich mir bedrückend auf, trotz der Perfektion meiner erlebten Zeitverschiebungen. Ich fühlte mich bei dem Gedanken wahnsinnig zu sein nicht allzu unwohl. Assoziativ und unkonzentriert aber warf ich in meinem Kopf Therapie, Psychoanalyse, Schizophrenie oder Halluzination durcheinander. Gleichzeitig, und mit weitaus größerer Intensität wob sich in meiner Gedankenwelt ein Gebilde davon, was, um Gottes Willen, ich nur anstellen sollte, wenn ich IHM das nächste mal begegnete? Diese Planung schien mir um meines Verstandes Willen von außerordentlicher Brisanz. Ihn ignorieren. Ich müßte ihn ignorieren. Falls er nicht mit einem Messer auf mich zuginge oder mich ansonsten in irgendeiner Weise behelligen würde, konnte ich ihn einfach ignorieren. Als eine gewöhnliche, förmliche Begegnung wahrnehmen, wie man sie täglich zu hunderten unbewußt durchsteht. Und mich erst anschließend um meinen eigenen Geisteszustand sorgen. Ich atmete auf. Zum einen glaubte ich insgeheim nicht an ein wiederholtes Treffen mit dem Seziermeister, und weiter erleichterte mich die Zuflucht zu meiner Ratio, falls ich ihm doch wieder gegenüberstünde. Und doch sehnte ich mich geradezu nach dem Seziermeister. Wenn ich ihn nur einmal dazu bewegen könnte, sich erkennen zu geben, dann wäre er mit Sicherheit imstande, das nötige Licht in meine Zeitwandlungen zu werfen. Ich schloß die Augen. Und starb.

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Tag der Veröffentlichung: 01.08.2011

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