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Es ist eine sehr schöne Halle, vor allem im hellen Licht, wie es gerade durch die Fenster flutet. Sehr groß, sehr hell und sehr luftig. Die hohen Säulen, die das Gebilde aus Stahl und Glas tragen, haben Kapitelle im korinthischen Stil und sind aus weißem Marmor. Die Glaselemente des Daches bestehen – wie in einer Kirche – aus Buntglas, und verschmelzen zu harmonischen Ornamenten und Mustern, die durch das hereinfallende Licht die ganze Halle in einen bunten Schein tauchen. Gekrönt wird die Halle von einem riesigen Kunstwerk an einer der Stirnseiten. Es besteht aus einer Mischung von Holz, Stahl, Glas und anderen Materialien, die ich nicht genau bestimmen kann. Doch, es ist eine sehr schöne Halle, trotz der auf den ersten Blick merkwürdigen Zusammenstellung verschiedener Stile. Man – ich – kann sich die ganze Zeit umsehen und immer wieder etwas Neues entdecken.
So vertreibe ich mir die lange Wartezeit

. Mein Zug soll bald abfahren, doch wann genau das sein wird, weiß ich nicht so recht. Ich habe am Schalter keine Auskunft erhalten können, die Frau mit ihrem roten Halstuch hat nur gelächelt und gesagt, dass ich auf jeden Fall nicht zu spät kommen würde. Deshalb habe ich meine Tasche genommen und mich direkt in die Bahnhalle auf eine Bank gesetzt und beobachte nun die Menschen, die wie ich auf ihren Zug warten oder in einen eintreffenden einsteigen, erleichtert, dass es endlich losgeht. Ich seufze. Unglücklicherweise habe ich kein Buch mitgebracht und so suche ich jetzt mehr oder minder verzweifelt nach etwas, das mich von meiner Langeweile

ablenken könnte.
Gerade läuft ein Mann an mir vorbei. Er scheint sehr nervös zu sein: Seine Arme hält er steif an der Seite, seine Hände sind geballt. Als er das Ende des Bahnsteigs erreicht, denke ich, er fällt auf die Gleise, doch er hält gerade noch rechtzeitig an, bleibt einen Moment starr stehen und schaut ins Freie, um dann in umgekehrter Richtung wieder auf mich zuzulaufen. Meine Neugier steigt mit jedem Mal, an dem er an mir vorbeikommt. Sein Gesicht zeigt wirklich eine innere Unruhe; seine von tiefen Ringen umkränzten Augen sehen dabei traurig aus. Ich beginne zu spekulieren, was wohl mit ihm los ist. Ob er jemanden erwartet? Hat er ein wichtiges Treffen? Nach dem vierten Mal traue ich mich endlich, ihn anzusprechen.
„Entschuldigen Sie!“
Er hört mich nicht. Er ist wohl viel zu konzentriert, um mich wahrzunehmen. Als er wieder zurückkommt, stehe ich auf und stelle mich ihm in den Weg. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Sie sehen nervös aus“, sage ich unsicher.
Es scheint, als habe er nur darauf gewartet, aus seinem Bann erlöst zu werden. Einen Moment lang starrt er mich unter seinem strähnigen schwarzen Haar verwirrt an, dann lässt er sich auf die Bank fallen und stützt das Gesicht in die Hände. „Es tut mir so leid. Es tut mir so leid“, stöhnt er auf.
Ich zucke zusammen. Das Leid, das aus seiner Stimme spricht, hatte ich nicht erwartet. Unwillkürlich lege ich ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich bin sicher, egal, was es ist, dass es nicht Ihre Schuld ist“, sage ich mit sanfter Stimme. „Wenn Sie darüber sprechen wollen…“
Er schüttelt zaghaft den Kopf, aber nicht als Ablehnung, sondern eher als Ausdruck seines Gemütszustandes. „Es ist meine Schuld. Ich hätte sie nicht allein lassen dürfen.“ Gequält lehnt er sich zurück. Ich setzte mich wieder und sehe ihm zu, wie er mit geschlossenen Augen redet. „Es - es war doch nur für fünf Minuten! Ich wollte nur kurz zum Laden an der Straßenecke. Das sind maximal zweihundert Meter. Nicht mehr. Nur zweihundert Meter.“ Seine Mimik verkrampft sich.
„Was wollten Sie dort?“, frage ich nach vorsichtig nach.
„Eier kaufen. Ich wollte einen Kuchen backen. Am Morgen war ich noch einkaufen gewesen, aber ich hatte die Eier vergessen. Das habe ich gemerkt, als ich die Einkaufstüte ausgeräumt habe.“
Er richtet sich wieder auf. Er ist sehr aufgewühlt. Bevor er weiterspricht, dreht er sich zu mir. Ich meine, einen Hauch von Alkohol in seinem Atem zu riechen. „Sie hat geschlafen!“, sagt er flehend. „Sie lag in ihrem Bett und hat tief und fest geschlafen, als ich ging! Wie kann das denn sein? Zweihundert Meter! Die Zeit hat doch nie gereicht, dass sie alleine aufsteht, in die Küche geht und die Tüte nimmt und über den Kopf–“
Tränen laufen über seine bleichen Wangen. Ich rieche den abgestandenen Geruch von Bier. Doch ich bleibe, wie ich bin und sehe in seine traurigen Augen, in denen sich das Licht spiegelt.
„Es war doch ihr Geburtstag“, flüstert er und steht auf. Leise frage ich ihn, wie alt sie gewesen war.
„Sie wäre vier geworden.“
Er beginnt wieder, auf- und abzulaufen.
Ich fühle ein tiefes Mitleid für ihn. Kein Mensch hätte es verdient, sein Kind vor sich selbst sterben zu sehen. Er scheint es nicht ausgehalten zu haben.
***
Immer noch warte ich. Züge fahren ein und wieder aus, Menschen strömen die Bahnsteige entlang. Untermalt wird dieses Schauspiel von den grellen Pfiffen der Schaffner und dem Geläute der Lautsprecher, wenn eine Verzögerung verkündet wird. Mein Zug hat es anscheinend darauf abgesehen, meine Geduld

auf die Probe zu stellen, denn immer noch ist weit und breit keine Spur von ihm zu sehen. Ich entscheide mich, ein weiteres Mal zu dem Informationsschalter zu gehen und stehe auf. Gerade, als ich meine Tasche nehmen will, fällt mir ein kleiner blonder Junge auf, der verschüchtert in der Mitte des Steiges steht und sich an einer der Säulen schutzsuchend festhält. Von seinen Eltern ist weit und breit keine Spur. Ich laufe auf ihn zu und gehe in die Hocke.
„Hallo, mein Name ist Katja. Was machst du denn hier so alleine?“
Er klammert sich noch mehr an die Säule. Über seinem rechten Auge zieht sich eine Schramme.
„Ich heiße Jonas. Und ich darf nicht mit Fremden reden.“ Er zieht eine trotzige Miene, aber darunter sieht er verängstigt aus.
„Das ist sehr klug. Haben deine Eltern dir das gesagt? Wo sind sie?“, frage ich freundlich.
„Ich weiß nicht, wo meine Mama ist“, sagt er und verliert ein wenig seine Fassung. „Auf einmal war ich hier allein und Mama ist weg. Weißt du, wo sie ist?“
Ich schüttele den Kopf. „Nein, aber wenn du willst, könne wir gemeinsam nach ihnen suchen.“ Ich stehe auf und halte ihm die Hand hin. Zögerlich lässt er die Säule los und eine seiner kleinen warmen Hände schiebt sich in meine. Wir gehen langsam den Bahnsteig entlang. „Jonas, wir lassen deine Eltern am Besten jetzt über die Lautsprecher ausrufen. Dann kommen sie sicher ganz schnell. Wie heißen deine Eltern denn?“
„Meine Mama heißt Marion.“
„Und dein Papa?“
„Der ist nicht mehr da. Jetzt ist Frank da.“
„Aha.“
Jonas drückt meine Hand. „Ich will aber nur Mama sehen. Frank wird wieder böse.“
Ich sehe zu ihm runter. „Magst du was trinken? Ich kann dir eine Milch holen.“
Jonas strahlt mich an. „Eine mit Schoko?“
***
Wir sitzen nebeneinander, und er hebt mit beiden Händen den Becher an seine Lippen.
„Warte kurz“, sage ich und nehme ihm die Schokomilch ab. Die Ärmel seines grauen Pullovers sind viel zu lang; er wird sich noch die Milch überkippen. Ich nehme seine dünnen Arme und schiebe ihm den Stoff bis zu den Ellenbogen. Da bemerke ich plötzlich etwas. Ich schiebe die Ärmel ein wenig höher. Ich kann nicht anders, als die Flecken in Form von Fingern anzustarren, die sich weit über seine Arme ziehen und eine beunruhigend blau-schwarze Farbe aufweisen.
„Jonas?“, spreche ich ihn an. Es tut mir leid, ihn zu stören. Er hat die Milch mittlerweile wieder in die Hände genommen und trinkt; er sieht glücklich aus. Eine Strähne blonden Haares hängt ihm ins Gesicht. „Wo kommen diese Flecken her?“
Sofort verdüstert sich sein Gesicht. „Ich hab doch nur ein Spiel aus dem Schrank holen wollen. Und da ist Frank gleich so böse geworden. Immer, wenn Mama nicht da ist, wird Frank böse.“
Mein Atem stockt. „Hast du deiner Mama davon erzählt?“
Augenblicklich schaut er mich verängstigt an. „Nein! Frank hat gesagt, wenn ich es Mama sage, dann hat sie mich nicht mehr lieb.“
Hier, mit dem bunten Licht des Glasdaches, das Muster auf sein kleines Gesicht zeichnet, sieht die Schramme über dem Auge noch schlimmer aus. Er hat eine aufgeplatzte Lippe. Ich wende meinen Blick ab. Das ist zu viel. Wenn ich daran denke, was für Qualen dieses Kind erleiden musste, treten mir Tränen in die Augen. Jonas scheint nichts davon zu bemerken; er schlürft weiterhin seine Milch.
Ich bemerkte eine auffällige Gruppe von Kindern, die sich am anderen Ende der Halle eng zusammenscharren. Einige hüpfen hin und her, während andere eng umklammert am Boden sitzen. Als Jonas fertig mit Trinken ist und ich ihm mit einer Serviette den Mund abgeputzt habe, nehme ich wieder eine seiner kleinen Hände und gehe mit ihm auf die Gruppe zu. Die Stimmung der Kinder ist sehr unterschiedlich. Viele von ihnen sind kindlich fröhlich, nur wenige sehen ängstlich oder verwirrt aus. Ich sehe zu Jonas hinab.
„Bleib am Besten hier bei den anderen Kindern. Hier wird dich deine Mutter bestimmt bald finden.“ Jonas blickt von mir zu der Gruppe und drückt unwillkürlich meine Finger. „Hmm. Ich glaub, ich mag die da“, sagt er und deutet auf die Kinder. „Ich bleib hier.“ Er lässt mich los und läuft auf die Kinder zu, die ihn sofort in ihre Mitte aufnehmen. Er dreht sich noch einmal kurz zu mir um und winkt. Ich winke zurück und gehe davon. Die Halle ist noch immer voller Menschen, noch immer voller Züge, die ein- und ausfahren.
Ich bin gerade wieder an ‚meiner‘ Bank angekommen, als ich sehe, dass dort bereits jemand sitzt. Dieser Jemand ist eine Frau um die fünfzig. Sie trägt ein buntes, wollenes Kopftuch, das provisorisch um ihre Stirn geschlungen ist. Ich bin gerade zum Stehen gekommen und will eine andere Bank ansteuern, als sie aufschaut und mich anlächelt.
„Du kannst dich ruhig setzten. Hier ist noch genug Platz“, sagt sie und klopft auf den Platz neben sich. Leicht verunsichert setze ich mich. „Warten Sie schon lange auf ihren Zug?“, frage ich, um die aufkommende Stille zu durchbrechen.
„Nein, nicht besonders. Ich bin gerade erst angekommen, der Zug sollte bald einfahren“, sagt sie überzeugt. Das Lächeln, das diese Worte begleitet, ist so warm und voller Lebendigkeit, dass ich gar nicht anders kann, als mich in ihrer Gesellschaft wohl zu fühlen. „Und du brauchst mich nicht zu siezen. Bitte nicht.“
„In Ordnung“, sage ich leicht beschämt. Ich wurde noch nie so schnell aufgefordert, jemanden zu duzen.
„Ich wünschte, mein Zug würde auch bald kommen: Ich warte schon eine halbe Ewigkeit“, sage ich mit einem Seufzen. Sie lacht. „Der kommt bestimmt bald, du scheinst fast bereit zu sein.“
Ich sehe sie verwirrt an. „Was meinen Sie damit?“ Doch sie wechselt das Thema. „Ganz schön viele Menschen hier, nicht wahr? Und alle haben sie Wünsche, Probleme und Hoffnungen, die sie verarbeiten müssen.“ Ihre Stimme hat einen melancholischen Klang. Ich folge ihrem Blick. Sie sieht sich das große Kunstwerk an einer der Stirnseiten an. Die Sonne ist ein wenig gewandert, das Licht steht in einem anderen Winkel und beleuchtet das Motiv nun direkt. Das verarbeitete Holz sieht aus, als ob es leuchten würde. Die Glasstücke glänzen spiegelhaft. Wieder sehe ich die Frau neben mir an. Ihr blasses Gesicht ist trotz der fehlenden Augenbrauen sehr ausdrucksstark. Immer noch lächelt sie.
„Ich war lange sehr krank. Ich dachte, es müsste jemanden geben, der Schuld ist und habe damit viele Menschen um mich herum unglücklich gemacht, obwohl sie immer für mich da waren. Ich bin froh, dass ich rechtzeitig erkannt habe, dass es Dinge gibt, die man nicht erklären kann und für die es keine Schuldigen gibt. Jetzt bin ich zufrieden.“ Plötzlich sieht sie mich ernst an. „Und was ist mit dir? Bist du zufrieden?“
Das trifft mich vollkommen unvorbereitet. „Wie, äh, wie meinen Sie..du das?“
Meine gestotterte Frage geht im Rauschen eines eintreffenden Zuges übertönt. Der Zug hält vor uns an und wir sehen, wie die Türen aufgleiten. Die Frau neben mir steht auf.
„Das ist meiner“, sagt sie und lächelt wieder. Ich stehe ebenfalls auf und will ihr die Hand zum Abschied reichen. Doch stattdessen zieht sie mich an sich und umarmt mich eine Sekunde lang. „Ich hoffe für dich, dass du deinen Frieden findest.“ Ihre Augen funkeln im Licht. Als sie mich loslässt, erkenne ich schlagartig, dass sie keinesfalls so alt ist, wie ich zuerst dachte. Sie kann höchstens zwei, drei Jahre älter sein als ich. Ich will sie gerade danach fragen, doch ein helles Pfeifen ertönt: Sie schreitet auf die Tür zu und steigt ohne einen Blick zurück ein. Ich sehe dem Zug hinterher, als er mit zunehmender Geschwindigkeit nach draußen ins Licht fährt.
***
Noch immer warte ich. Es kommt mir vor, als ob ich schon seit einer Ewigkeit hier sitze, aber anscheinend geht die Zeit langsamer vorüber als ich denke, denn das Licht, das durch das Glasdach scheint, hat nichts an seiner Stärke verloren und malt noch immer glitzernd bunte Muster auf den Boden.
Ich muss an die Menschen denken, die ich heute getroffen habe. Der Mann läuft noch immer auf und ab; er hat das Gleis gewechselt und ist jetzt am anderen Ende der Halle unterwegs. Wenn ich seinen Steig weiter nach links blicke, meine ich Jonas‘ blonden Schopf unter den Kindern zu erkennen, die dort herumwuseln. Und dann kommt mir wieder das Lächeln der Frau, die so glücklich und erleichtert war, in den Kopf. So glücklich… ich überlege, wann ich das letzte Mal glücklich war.
In letzter Zeit war mein Leben alles andere als einfach. Ich habe viel leiden müssen. Unverdient leiden. Aber –
Und da merke ich es. All diese Menschen, die ich heute getroffen habe, sie alle hatten Probleme. Und diese Probleme waren weitaus schlimmer als das, was ich erlebt habe.
Es war nicht nötig, das zu tun. Und doch, was passiert ist, ist Vergangenheit. Ich sehe auf meine Arme nieder. Ja, ich war verzweifelt. Doch war meine Verzweiflung wirklich Grund genug für meine Tat? Jetzt bezweifle ich es.
Ein Zug fährt ein. Während das Rauschen immer lauter und lauter wird, schiebe ich die Ärmel meiner Bluse hoch und betrachte die tiefen Schnitte, die die Rasierklingen auf meinen Handgelenken hinterlassen haben. Vorbei. Ich bin daran gestorben, jetzt erkenne ich das. Ich stehe in dem Moment auf, als sich die Türen des Zuges öffnen. Und das ist meiner

, denke ich. Für einen Augenblick schließe ich die Augen und spüre das warme Licht auf meinen Lidern. Langsam öffne ich sie wieder und mein Blick fällt auf das Kunstwerk. Der Engel aus Holz und Glas und Licht mit seinen ausgebreiteten Schwingen schwebt über der Ausfahrt und schimmert überschwänglich. Es ist Zeit. Ich habe keine Angst. Ich steige in den Zug ein und sehe nicht zurück.

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Texte: Alle Rechte liegen bei mir
Bildmaterialien: mit freundlicher Genehmigung von 3268zauber by wikicommons
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2012

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